DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Peitsche statt Knast Kommunitäre Justiz in Bolivien Von Gaby Weber . Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 04. Dezember 2009, 20:10 ? 21:00 Uhr "Peitsche statt Knast - Verfassungsreform in Bolivien". Von Gaby Weber. Sprecherin: Gregoria ist aus Morocomarka, einem Dorf im Hochland. Sie ist 19, als sie sich in Basilio verliebt. Er, ein Jahr älter, erwidert ihre Liebe. Sie treffen sich heimlich. Denn Gregoria ist die Cousine von Basilio, und eine Ehe zwischen Neffe und Nichte untersagen die Traditionen. Doch es kommt heraus, und nun beginnt die Tragödie. Der Familienrat wird einberufen, und der befiehlt den Liebenden, ihre Verbindung umgehend zu beenden. Er verhängt eine Strafe, denn die Sitten sind mißachtet und Schande über die Gemeinschaft gebracht worden. Die Strafe lautet: Chicote, öffentliche Auspeitschung. Chicote wirkt, die beiden meiden einander. Eine Zeit lang. Dann ist die Liebe stärker. Wieder werden Gregoria und Basilio angezeigt, diesmal beim Rat der Dorfältesten. Der lädt sie und ihre Familien vor. Alle Seiten werden gehört. Am Ende spricht der Ältestenrat sein Urteil: diese Liebe verstoße gegen die Sitten. Er verhängt eine Strafe, weil der Befehl der Familie nicht befolgt worden ist: Gregoria wird eine Nacht in der Kapelle eingesperrt. Basilio muss die Nacht auf dem Friedhof verbringen, gefesselt an Händen und Füßen. Danach werden sie erneut vorgeladen und müssen geloben, sich nie wieder zu sehen. Basilio zahlt eine Geldstrafe, 2.000 Bolivianos - der Wert eines Ochsen. Gregoria zahlt den Preis eines Lamas. Beide unterschreiben das Urteil. Bei Zuwiderhandlung droht die Verbannung aus der Gemeinschaft. Die Eltern sind mit dem Spruch zufrieden. Sprecherin: Gregoria und Basilio flüchten in die Stadt. Doch sie schmerzt die Trennung von den Ihren, und sie kehren ins Dorf zurück. Wieder wird der Ältestenrat angerufen, doch bevor er die Sünder ergreifen kann, haben die sich abgesetzt. So wird Basilios Familie eine Geldstrafe auferlegt. Sie hat den zurückgekehrten Sohn beherbergt. Sein Vater verspricht, seinen Sohn den Dorf-Obersten auszuliefern, wenn er zurückkehrt. Sonst wird die ganze Sippe verstoßen. Sprecherin: Es kommt, wie es kommen musste. Nach einem Jahr kehren Gregoria und Basilio zurück, ein Baby auf dem Arm. Sie sagen: "Wir wollen dort leben, wo wir hingehören, bei unseren Familien". Erzählerin: Der Rest ist schnell erzählt: Stunden später umzingeln Dorfbewohner das Haus, in dem sich die junge Familie aufhält, und alarmieren den Ältestenrat. Der hätte eigentlich, nachdem seine Schlichtungsversuche gescheitert waren, den Fall an die mit dem Richteramt beauftragten Weisen abgeben müssen. Das ist der Brauch in Morocomarka. Stattdessen beschließen die Eltern den Tod ihrer unbelehrbaren Kinder. Der junge Mann kann fliehen, Gregoria wird vom eigenen Vater getötet. Indianische Justiz im heutigen Bolivien. Erzählerin: "Wir kennen zwei Grundgedanken der kommunitären Justiz", sagt Víctor Hugo Cárdenas. 1. Zitator: Einen, den ich befürworte und den ich in einer früheren Regierung vorangetrieben habe: Ich habe in den neunziger Jahren als Vizepräsident der Nation die kommunitäre Justiz in unserer Verfassung fest schreiben lassen, allerdings war die indianische Gerichtsbarkeit den allgemeinen Gesetzen (und den Menschenrechten) untergeordnet. Jeder hatte das Recht auf eine zweite Instanz vor einem (bürgerlichen) Gericht, wenn er mit dem Richterspruch der kommunitären Justiz nicht einverstanden war. Dann stellte Evo Morales die kommunitäre Justiz der allgemeinen Rechtsprechung gleich, um unsere traditionellen Bräuche als politische Waffe zu benutzen. Im Kampf um die Macht, und als Revanche gegen alle Nicht-Indianer. Erzählerin: Im Januar 2009 wurde die neue Verfassung in einem Referendum bestätigt. Sie garantiert den indigenen Völkern mehr als nur kulturelle Rechte und das Anrecht auf ihre angestammten Ländereien. Sprecherin: Diese Rechte hatten in den vergangenen zwanzig Jahren in vielen Ländern Lateinamerikas Verfassungsrang erhalten. Die neue Verfassung Boliviens aber geht viel weiter. Sie löst den Nationalstaat praktisch auf und erklärt das Land zu einem "plurinationalen Staat". Sie schreibt die Koka als festen Bestandteil des "kulturellen Erbes" fest und stellt in Artikel 179 die traditionelle indianische Justiz der normalen Justiz gleich. Fällt die "kommunitäre Justiz" ein Urteil, müssen alle anderen staatliche Stellen Amtshilfe leisten, auch die Polizei. Erzählerin: Seitdem besteht die bolivianische Justiz aus zwei gleichwertigen Systemen. Dies hat, sagen Kritiker, zu einer extremen Rechtsunsicherheit geführt. Denn nirgendwo sind die Gesetze der kommunitären Justiz aufgeschrieben. Die neue Verfassung definiert Bolivien als einen Staat bestehend aus 36 indianischen Völkern - zuzüglich der Mestizen und Weißen. Und jedes dieser 36 Völker hat eigene Gewohnheiten, ein eigenes Rechtsempfinden und folglich eigene Gesetze. So hat das Rechtsempfinden in Morocomarka einem Bauern die Tötung seiner Tochter erlaubt, nur weil sie gegen den väterlichen Willen einen jungen Mann geheiratet hat. Sprecherin: Es gilt nicht mehr: Alle sind vor dem Gesetz gleich. Es ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, die Rechte und Pflichten regelt. Völkische Justiz. Erzählerin: Menschenrechte und die Rechte der Frauen haben nicht überall denselben Wert, so der ehemalige Bauernführer und Rechtsanwalt Leoncio Gutierrez aus Oruru: 2. Zitator: Die traditionelle Rechtsprechung betrachtet viele Sexualdelikte (gegen Frauen) als minder schwere Vergehen und sieht nicht den moralischen und psychologischen Schaden des Opfers. Ein Vergewaltiger schafft meist seine Tat durch Zahlung einer kleinen Summe aus der Welt. Erzählerin: Die indigene Justiz basiert auf ihrer "Kosmovision", der Auffassung der andinen Völker von der Welt und ihrer universalen Umgebung. Diese ist vor vielen hundert Jahren entstanden. Seit der spanischen Eroberung wurde sie gewaltsam an ihrer Weiterentwicklung gehindert. Sie ist auf dem Stand des Mittelalters geblieben, fünfhundert Jahre. Sprecherin: In unseren Breitengraden sprachen damals Recht: die Schergen des Adels und der Stände sowie die heilige Inquisition. Seitdem hat sich unser Rechtssystem und Rechtsempfinden weiterentwickelt, was die individuellen Rechte und was die Rechte von Minderheiten und Frauen angeht. Erzählerin: Dies ist auch an Bolivien nicht vorbei gegangen. Dort machen selbstbewusste Frauen, nicht nur aus der Oberschicht, Karriere und bekleiden hohe Ämter. Sie fordern nicht nur Freizügigkeit, sondern leben sie auch ? zumindest in den Städten. In Dörfern wie Morocomarka hingegen werden Verstöße gegen die alten, archaischen Vorschriften immer noch unterdrückt. 2. Zitator: In unserer paternalistischen Gesellschaft haben die Frauen Rechte erobert. Sie haben sich in vielen Berufen Respekt verschafft und nehmen ihre Lebensplanung in die eigenen Hände. Sie sagen offen: Wir wollen dies, dies steht uns zu, und das machen wir auch. Das hat natürlich zu Konflikten geführt. Die Männer verlieren die Kontrolle in der Familie, in der Beziehung und in der Gesellschaft. Sie fürchten, Macht zu verlieren, fühlen sich bedroht und wehren sich. Sprecherin: Dieser Rollback, so Rechtsanwalt Gutierrez, verkleidet sich in Bolivien nicht als Fundamentalismus à la Taliban, sondern als "politisch korrekt". Der "Ethno-Nationalismus" beruft sich auf die "legitimen Gebräuche und Sitten" der Indianer. Erzählerin: Für die einen steht die indigene Justiz für Gerechtigkeit für die bisher Benachteiligten, andere fürchten einen Rückfall ins Mittelalter. 1. Zitatorin: Die Fälle von Selbstjustiz haben rapide zugenommen. Erzählerin: ... sagt Mirjam Campos, Projektleiterin im Justizministerium. Julio Mallea, Juraprofessor in La Paz, widerspricht. Lynchjustiz habe mit der indigenen Justiz nichts zu tun: 3. Zitator: Die kommunitäre Justiz basiert auf der öffentlichen und mündlichen Verhandlung. Sie ist gratis und zügig, und beinhaltet soziale Kontrolle und soziale Beteiligung. Es treten nicht nur die Anführer und Richter auf, sondern auch die (lokalen) politischen und gewerkschaftlichen Akteure, Frauen, Kinder und Jugendliche. Die Dorfbewohner versammeln sich auf einem öffentlichen Platz und suchen gemeinsam nach der richtigen Strafe, um das Gleichgewicht in der Gesellschaft wieder herzustellen. Es geht zuallererst um die Reparatur des angerichteten Schadens. Erzählerin: Valentin Ticorna, Vize-Minister für Justiz und indianischer Herkunft, nickt: 4. Zitator: Die kommunitäre Justiz hat dasselbe Gewicht wie die normale Justiz. Zuvor wirkte die kommunitäre Justiz nur im Verborgenen und wurde diskriminiert und kriminalisiert. Erzählerin: Dies sei falsch, entgegnen Kritiker. Bereits die Verfassung aus dem Jahr 1994 erkannte die indianischen Schlichtungsstellen an. Sie hatten sich bei kleineren Delikten bewährt, während Verbrechen wie Mord an die staatliche Justiz überwiesen wurden. In Artikel 171, Absatz drei der alten Verfassung heißt es: 5. Zitator: "Die natürlichen Autoritäten der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaft dürfen eine eigene Verwaltung einrichten und eigene Normen als alternative Konfliktlösung einsetzen, gemäß ihrer Gewohnheiten und Traditionen ? solange sie nicht gegen die Verfassung und Gesetze verstoßen". Erzählerin: Dieser Zusatz ? dass das Strafrecht und die Menschenrechte nicht verletzt werden dürfen - wurde im neuen Verfassungstext gestrichen. Dort heißt es lediglich, dass das Leben geschützt werden muss, die Todesstrafe ist ausgeschlossen. Sprecherin: Doch Lynchjustiz greift um sich. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht vermeintliche Diebe von einer aufgebrachten Menge gefoltert und gehängt werden, in fern abgelegenen Dörfern ebenso wie in den Städten. Und die Behörden sehen zu und greifen nicht ein. 1. Zitator: Ich war einer der Hauptbefürworter der Anerkennung der kommunitären Justiz. Erzählerin: ... sagt Victor Hugo Cárdenas, ein Aymara. Spanisch war seine zweite Muttersprache. Er gehört der Bewegung Tupac Katarí an, benannt nach einem indianischen Kämpfer gegen die spanische Kolonialmacht. Seine Ehefrau tritt in der traditionellen Tracht auf, mit bunten Röcken, Zöpfen und Filzhut. Sprecherin: Er war in den neunziger Jahren Vizepräsident der konservativen Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada. Morales und sein Vizepräsident sprechen weder Aymara, noch Quechua oder Guaraní, obwohl sie angeblich für die Indianer kämpfen, sagt Cárdenas, ein scharfer Kritiker der Regierung. Lange Zeit wurde er als Präsidentschaftskandidat gehandelt, im letzten Moment zog er sich zurück. Ein rechtes Bündnis fordert die Regierung am Sonntag heraus, doch am Wahlsieg von Morales zweifelt kaum jemand Sprecherin: Dabei ist die wirtschaftliche Situation Boliviens alles andere als rosig. Statt eine eigene Produktion aufzubauen, lebt das Land nach wie vor vom Schmuggel. Morales hat die Koka legalisiert. Experten schätzen, dass sich seitdem der Anbau verfünffacht hat, während der traditionelle Konsum des Blattes konstant geblieben ist. Wie nie zuvor wird Kokain hergestellt, vor allem für den europäischen Markt. Erzählerin: Die Mittelschicht ist enttäuscht, die vor vier Jahren die MAS, die "Bewegung für den Sozialismus", gewählt hatte. Sie wollte mehr Demokratie, doch statt Transparenz habe ihnen Morales die kommunitäre Justiz beschert ? drei Schritte nach hinten statt einen nach vorn, so Cárdenas: 1. Zitator: Ich habe die neue Verfassung als undemokratisch und autoritär bezeichnet. Sie bringt den Indianern keine Vorteile, sondern schadet uns. Deshalb wollte mich die Regierung zum Schweigen bringen. Erzählerin: Cárdenas, einst Initiator der indigenen Justiz, wurde Opfer einer Kampagne, die unter der Parole der "indigenen Justiz" geführt wird. 1. Zitator: Am Mittag des 7. März drangen MAS-Aktivisten, die aus anderen Dörfern herangekarrt worden waren, in mein Haus ein. Dort hielten sich meine Frau, ihre Schwägerin, der Bruder meiner Frau, meine beiden Söhne und seine Kinder auf. Sie wollten unser Haus anzünden und uns lebendig verbrennen. Sie schlugen auf meine Familie mit Knüppeln ein. Dies ist auf den Videoaufnahmen zu sehen. Erzählerin: Das Fernsehen brachte die Bilder, und Cárdenas bezichtigte die Regierung der Anstiftung zum Mord. Take: "Hemos entregado la documentación ... vhcardenas8 - 50´´ 1. Zitator: Wir haben alle Beweise den Staatsanwälten übergeben, und bisher wurden wegen des Attentats vier Männer unter Anklage gestellt. Gegen acht weitere Personen, die aufgrund der Videoaufnahmen identifiziert werden konnten, wird ermittelt. Mein Haus habe ich noch nicht zurück bekommen. Die Regierung verteidigt nicht meine Rechte als Opfer sondern vertuscht die Umstände des Attentats und deckt die Täter. Deshalb habe ich Strafanzeige gegen den Kabinettschef erstattet. Und wenn mir die Regierung nicht bald mein Haus zurück gibt und meine Rechte schützt, werde ich internationale Gerichte anrufen. Erzählerin: Verlautbarungen aus dem Regierungspalast stellten den Angriff auf Cárdenas´ Haus als eine Aktion der indigenen Justiz dar. Die Dorfbewohner hätten das Gebäude enteignen und dort ein Altersheim errichten wollen, hieß es. Unsinn, kontert Cárdenas: 1. Zitator. Die Aymaras kennen keine Altersheime. Die Großeltern sterben im Kreis ihrer Familie, bei ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln. Nicht im Altersheim. Erzählerin: Zunehmend werden gewalttätige Auseinandersetzungen und die Einschüchterung des politischen Gegners als "indigene Justiz" entschuldigt. Marcial Fabricano Noe, der historische Anführer der Tiefland-Indianer, hatte sich mit den neuen, regierungstreuen Wortführern zerstritten. Er wurde bei einer Veranstaltung ergriffen und ausgepeitscht. Fabricano landete im Krankenhaus, die Bilder im Internet. Seine Peiniger, ebenso wie die Regierungssprecher, verteidigten die Aktion, Fabricano habe seine politischen Verbindungen zur persönlichen Bereicherung benutzt. Anklage wurde nicht erhoben. Die körperliche Züchtigung war bei den Aymaras üblich, so Cárdenas. 1. Zitator: Wir haben auch schlechte Bräuche. Aber in unserer heutigen Gesellschaft dürfen Auspeitschen und Schlagen keinen Platz mehr haben. Sie müssen abgeschafft und durch andere Strafen ersetzt werden. Bolivien hat alle internationalen Konventionen über die Menschenrechte unterzeichnet. Daran müssen wir uns halten. Und daran muss sich auch die kommunitäre Justiz halten. Erzählerin: Nichtregierungs-Organisationen haben eingeladen, um über die Verfassungsreform zu diskutieren. "Das Land steht vor einem Strukturwandel, und der bringt politische Probleme", warnt Simon Tocehurst (englische Ausprache) von Oxfam. 5. Zitator: Wir sind besorgt, weil die Leute so wenig informiert sind. Auch wir als ausländische Hilfsorganisationen wissen nicht, um was es wirklich geht. Es wird zwar viel über die neue Verfassung geschrieben und kommentiert, aber das Thema wurde politisiert, eine offene Diskussion unmöglich. Der Verlauf der verfassunggebenden Versammlung war undurchsichtig und machte die konfuse Situation noch komplizierter. Erzählerin: Loyola Guzman saß für die Regierungspartei MAS in der Verfassungsgebenden Versammlung. Sie ist als Menschenrechts-Aktivistin bekannt. In den sechziger Jahren kämpfte sie, zusammen mit Ernesto "Che" Guevara. 2. Zitatorin: Die Versammlung sollte zwischen sechs und zwölf Monaten dauern. Sie wurde im August 2006 eröffnet. Und dann wurde monatelang nur über Verfahrensweisen diskutiert. Erzählerin: Laut Gesetz darf eine Verfassung nur mit Zweidrittel-Mehrheit geändert werden, doch für die Regierung von Evo Morales sollte die einfache Mehrheit genügen. Am Ende gab sie nach, trommelte aber für die Abstimmung ihre Anhänger zusammen, die den Einzug vieler Oppositioneller verhinderten, sodass am Ende nur zwei Drittel der Anwesenden und nicht zwei Drittel aller Mitglieder für das Projekt stimmten. Loyola Guzman: 2. Zitatorin: Auf keiner Vollversammlung mit ihren 255 Mitgliedern konnten wir auch nur einen einzigen Artikel inhaltlich diskutieren. Die Debatte fand in der Militärschule statt ? kaum ein geeigneter Ort für eine Verfassungsreform, die einen gesellschaftlichen Wandel einleiten soll. Ich bin aus Protest nicht hingegangen. Dann wurde die Versammlung nach Oruro verlegt, aber nicht alle Parteien konnten teilnehmen. Am Ende wurde das Inhaltsverzeichnis der neuen Verfassung verlesen und darüber abgestimmt. Das war nicht korrekt, und das Ergebnis wird unser Land spalten. Erzählerin: Nach der Abstimmung in Oruro verkündete die Regierung siegesgewiß, dass, so wörtlich, "am verabschiedeten Text kein Komma geändert wird". Die Gouverneure der vier Departments des Tieflands ? Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando ?drohten mit Bürgerkrieg, falls der Entwurf in dieser Form angenommen würde. Sie wollen einen Staat nach westlicher Prägung und begegnen der andinen Kultur mit Verachtung und Rassismus. Sprecherin: Schließlich kehrten alle an den Verhandlungstisch zurück. Monatelang wurde, hinter verschlossenen Türen, der Entwurf "nachgebessert", geändert wurde am Ende jeder dritte Artikel. Ständig kursierten neue Versionen und niemand wußte, wer was und warum korrigiert hatte. Das war verfassungswidrig, kritisiert Loyola Guzman: 2. Zitatorin: Es steht dem Parlament nicht zu, die Verfassung umzuschreiben. Das war Aufgabe der Verfassunggebenden Versammlung. Das von ihr verabschiedete Ergebnis darf nicht von irgendwelchen Abgeordneten manipuliert werden. Doch man wollte wohl Blutvergießen verhindern. Ich fürchte, das Ergebnis wird unsere ohnehin schon schlechte Justiz noch einmal verschlechtern. Erzählerin: Der Autonomieminister Carlos Romero nickt. Nicht alle Probleme seien gelöst worden, gibt er zu. Aber man habe einen Schritt nach vorne gewagt. Alle bisherigen Verfassungen seien Lippenbekenntnisse gewesen. Schon lange besitzen die Indianer dieselben Rechte wie die Weißen, aber nur in der Theorie. 6. Zitator: Schon die bürgerliche Revolution von 1952 erkannte uns als Bürger dieses Landes an. Die Verfassung von 1994 gesteht uns sogar kollektive Rechte zu. Aber nichts davon wurde umgesetzt. Deshalb werden wir jetzt ein "plurinationaler" Staat und erkennen die Indianer als eigene Nation und eigenes Volk an. Erzählerin: Die rechten Parteien konnten in den Verhandlungen durchsetzen, dass das Recht auf Privateigentum und das Recht, Land zu vererben, in die neue Verfassung aufgenommen wurde. Für Senator Carlos Börth von der Oppositionspartei Podemos ist das Verhandlungsergebnis ein Kompromiß: 7. Zitator: Ich möchte lieber von den Herausforderungen reden statt von den Fortschritten, die wir (nach den Änderungen im Kongreß) gemacht haben. Die größte Herausforderung wird die Schaffung des plurinationalen und interkulturellen Staates sei. Die Verfassung sieht den Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft vor. Erzählerin: Wie diese "multikulturelle Gesellschaft" und der "juristische Pluralismus" umgesetzt werden soll, steht in den Sternen. "Dass wir springen werden, ist gewiss", so Senator Börth, "ungewiss ist, ob wir einen Sprung nach vorne machen oder ins Leere springen." Leider hat der Kompromiß nicht Rechtssicherheit gebracht sondern Verwirrung: 7. Zitator: Der Wortlaut der neuen Verfassung ist ohne Zweifel wenig orthodox, wenig akademisch. Er wurde mitten in einem Volksaufstand verfaßt. Erzählerin: Nicht gelöst wurden vor allem drei Hauptprobleme, so der Senator: Sprecherin: Erstens: für wen gilt die kommunitäre Justiz und für wen nicht? Zweitens: in welchem Gebiet hat sie Geltung und drittens: welche Delikte werden bestraft und welche nicht? Erzählerin: Wenn zum Beispiel er, fragt Börth, mit seinem Auto auf der Landstraße, in einem Indianerdorf, eine Kuh überfahre, werde dann er, der Senator mit europäischen Vorfahren, von der kommunitären Justiz abgeurteilt? Muss er damit rechnen, ausgepeitscht oder gar aufgehängt zu werden? Oder gilt die normale Justiz? Die indianische Justiz ahndet Viehdiebstahl unverhältnismäßig streng, denn der Verlust einer Kuh kann im Hochland Elend über eine Bauernfamilie bringen. Sprecherin: Und, fragt der Senator, dürfen Quechuas, Aymaras und Guaranís, die in Städten leben, dort nach ihren Sitten Urteile fällen? Gibt es also "städtische Indianer"? Schon heute werden in den Vorstädten Menschen zu Tode geprügelt, weil sie eine Gasflasche im Wert von zehn Euro gestohlen haben oder gestohlen haben sollen. Die Regierung findet das richtig, weil in ihren Augen auch "städtische Indianer" Indianer sind. Erzählerin: Und schließlich: wer sind die "traditionellen Autoritäten", die ein Richteramt bekleiden dürfen? Sind sie wirklich die Weisen des Dorfes oder, wie die Erfahrung zeigt, lokale Gewerkschaftsführer oder einflußreiche Kokabauern? Sprecherin: Die indianische Justiz kennt nur eine Instanz. Es gibt keine Berufung. Auch in diesem Punkt hat der Kongreß nachgebessert. Künftig kann eine Entscheidung der kommunitären Justiz dem Verfassungsgericht vorgelegt werden. War sie verfassungswidrig, wird sie aufgehoben. Aber welche Gewichtung die künftigen Verfassungsrichter vornehmen werden, muss abgewartet werden, meint der Senator und weist darauf hin, dass beim Verfassungsgericht, wie im Wahlgerichtshof, indianische Vertreter sitzen. Auch hier habe man nachgebessert und, so Börth, bestimmt, dass diese wenigstens eine akademische Ausbildung besitzen müssen. Erzählerin: Was ist strafbar und was nicht? Homosexualität etwa ist in den Gemeinschaften geächtet und wird mit Steinigung, zumindest aber mit Vertreibung bestraft. Und werden nicht die Rechte der Frauen beschnitten, wenn nun Gepflogenheiten zum Gesetz erhoben werden, die aus dem Mittelalter stammen? Sprecherin: Die Ehe zwischen Homosexuellen und die Kriegsdienstverweigerung habe man nicht im Verfassungstext festschreiben können, bedauert die Abgeordnete der Regierungspartei, Elizabeth Salguero: 3. Zitatorin: Wir glauben, dass die indianischen Bräuche nicht dazu führen dürfen, dass international verbriefte Menschenrechte und nationale Gesetze verletzt werden. Wir werden noch ein Gesetz erarbeiten, wie indianische Justiz mit der normalen Justiz in Einklang gebracht werden soll. Das betrifft auch die Rechte der Frauen. Wir haben durchgesetzt, dass in Zukunft bei Straftaten, in die Frauen (als Opfer oder als Täter) verwickelt sind, auf der Richterbank Frauen sitzen. (In meinen Augen soll die) kommunitäre Justiz nicht Delikte, die das normale Strafrecht klar definiert, anderen Regelungen unterwerfen oder geringer bestrafen. Dies gilt etwa für Vergewaltigungen. Sie werden in den indianischen Gemeinschaften oft nur mit der Vertreibung geahndet. Oder der Täter muss eine bestimmte Menge Ziegelsteine überreichen oder sein Opfer heiraten. Sprecherin: Dieses Gesetz, das die Zuständigkeiten und den Geltungsbereich klären soll, gibt es noch nicht. Und solange legt jeder die Verfassung so aus, wie es dem Rechtsempfinden der Volksgruppe, zu der er sich zugehörig fühlt, entspricht. Und wenn dabei, wie in Morocomarka geschehen, die Tötung der eigenen Tochter herauskommt, nur weil sich Gregoria dem Willen ihres Vaters widersetzt hat ? dann ist das in den Augen des Staates nicht zu beanstanden. Erzählerin: Renata Hofmann lebt seit dreißig Jahren in La Paz und leitet dort das Schweizer Arbeiterhilfswerk. "Auch ich habe vor vier Jahren Evo Morales gewählt und hatte die Hoffnung, wie die meisten Bolivianer, dass mit ihm ein Wechsel kommt, der wirklich eine demokratischere Gesellschaft ermöglicht, in der auch die indigene Bevölkerung gleichberechtigt leben und sich entwickeln kann. Aber diese Hoffnung ist enttäuscht worden". Erzählerin: Die Mittelschicht wollte weniger Korruption, Beteiligung am politischen Geschehen und bessere Gerichte. Stattdessen wurde die "indianische Justiz" mit den Menschenrechten "gleichgestellt": "Mit dieser Gleichstellung werden ganz wesentliche bürgerliche Rechte und Pflichten verletzt. Es existieren Widersprüche mit den Menschenrechten, beispielsweise gibt es dabei kein verbrieftes Recht auf Verteidigung. Das, was rechtens ist oder nicht, das ist eigentlich sehr willkürlich, weil von Dorf zu Dorf und von Fall zu Fall entschieden werden kann, ohne dass es Präzedenzen gibt. Es gibt keine Berufung in der Kommunaljustiz, so wie die neue Verfassung das definiert hat, das heißt, wenn ich also im Kommunalrecht verurteilt worden bin, hab ich keine Berufungsmöglichkeiten. Es ist eine noch offenstehende Frage, ob man irgendetwas wie ein interkulturelles Verfassungsgericht entwickeln kann, aber das widerspricht dem Grundgedanken der Kommunaljustiz". Erzählerin: Radikale Fundamentalisten haben Aufschwung. In Achacachi, 70 Kilometer von La Paz entfernt, haben "Ponchos rojos" vor laufenden Kameras lebenden Hunden die Kehlen durchgeschnitten und am Zaun aufgehängt ? eine Drohung an die Gegner der Regierung. Der Clip landete bei YouTube. Sprecherin: Achacachi ist die Hochburg der mit roten Ponchos bekleideten bewaffneten Kämpfer für die indianische Sache. Einige wollen die Regierung mit Guerilla-Methoden verteidigen, anderen ist Evo Morales zu gemäßigt. Erzählerin: Achacachi geriet durch seine Lynchjustiz in die Schlagzeilen ? etwa als auf einem Fest elf Taschendiebe erwischt wurden. Die Meute führte sie in das Stadion, übergoß sie mit Benzin und zündete sie an. Ein Rückfall ins Mittelalter, urteilt Renata Hofmann. "Es gibt sehr viele Fälle von Lynchjustiz, denn auch wenn der Text im Vorschlag zur neuen Verfassung ausdrücklich erwähnt, dass Todesstrafe nicht akzeptiert wird, hat diese ganze Aufwertung zu einer Politisierung der Frage um die Kommunaljustiz geführt und die Leute sind wirklich der Überzeugung, dass sie das Recht haben, Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Lynchjustiz wird von den Leuten heutzutage als ein Recht betrachtet zur Selbstjustiz, da die offizielle Justiz nicht korrekt funktioniert". Erzählerin: Leider nehmen viele europäische Anthropologen, Entwicklungshelfer und Solidaritätsgruppen diese Entwicklung kaum zur Kenntnis und machen sich lieber ein Bild vom Indianer als dem "edlen Wilden". "Mit den Anthropologen ist eben doch eine sehr romantisierende Sicht der indigenen Welt begründet worden, und das hat zum Teil dann auch in der Entwicklungshilfe sehr großen Einfluss gehabt. Das heißt, dass Gesetze gemacht wurden, mit sehr viel Lobby, dass insbesondere die indigenen Kulturen gestärkt werden müssen, was auch korrekt ist, denn das sind die Bevölkerungsschichten, die am meisten unter Armut leiden. Aber die Vorstellung dabei, dass eben die Politik auch ethnische Prinzipien gestellt werden muss, das ist ein Punkt, den ich kritisiere". Erzählerin: Die Polizei schreitet gegen die Lynchjustiz fast nie ein. Professor Julio Mallea zuckt die Achseln. 3. Zitator: Was der Staat tut oder nicht tut, ist Angelegenheit der zuständigen Behörden. Erzählerin: Als Hochschullehrer für Rechtswissenschaften und Projektleiter für kommunitäre Justiz an der Universität von La Paz sollte er mit dem indianischen Rechtssystem vertraut sein. Doch vieles ist auch für ihn vage, gibt er zu, etwa die Formulierung, dass in Zukunft bei der Ausbeutung von Bodenschätzen die indigenen und bäuerlichen Autoritäten vor Ort "konsultiert" werden müssen. Sprecherin: Müssen sie lediglich informiert werden? Oder müssen sie zustimmen? Erhalten sie einen Teil des Gewinnes? Gilt künftig für ausländische Bergbaugesellschaften ebenfalls die kommunitäre Justiz, wenn sie dort schürfen? Erzählerin: Diese Fragen beantwortet die Verfassung nicht. Sind diese Dorfgemeinschaften überhaupt in der Lage, mit Konzernen wie ExxonMobil, Chevron und Shell auf einer Augenhöhe zu verhandeln? Professor Mallea bleibt die Antwort schuldig: 3. Zitator: Ich will ehrlich sein: wir sind noch dabei, dies auszuarbeiten. Die Frage (nach der Beteiligung an den Bodenschätzen) hat mit meinem Spezialgebiet nichts zu tun. Erzählerin: Die Frage, wo die Paragraphen und Normen der kommunitären Justiz fest geschrieben sind, beantwortet er mit einem Vortrag über 500 Jahre Unterdrückung. 3. Zitator: Bevor Kolumbus nach Amerika kam, gab es hier großartige Kulturen. Und ein Produkt einer Kultur ist das Rechtssystem. Es existierten Regeln zur Rechtsprechung und sie existieren immer noch. Sie basieren auf der mündlichen Verhandlung, einem System von Autoritäten und einer Art Strafprozessordnung, wie ein Urteil gefällt wird. Es gibt verschiedene Sanktionen. Dies alles ist eingebettet in die andine Kosmovision. Wer die indianische Rechtsprechung verstehen will, muss die Grundlagen der kollektiven indianischen Kosmovision studieren. Erzählerin: Diese Kosmovision hat mehr mit einer Philosophie oder einer Religion gemein als mit einem gesetzlichen Regelwerk. Sie bestimmt das Verhältnis das Menschen zu seiner unmittelbaren und sozialen sowie zu seiner spirituellen und universalen Umgebung im Kosmos. Sie wurde seit Jahrhunderten mündlich überliefert und in den letzten Jahren von Anthropologen zu Papier gebracht. Sie betrachtet als Fehlverhalten: 5. Zitator: Das Verlassen des Heimes Respektlosigkeit anderen, vor allem Älteren, gegenüber, schlechte Verwaltung der gemeinschaftlichen Gelder, Diebstahl, Veruntreuung geliehenen Geldes, Mord, sexuelle Gewalt und Bigamie. Auch die Befehlsverweigerung den Eltern oder den Dorfältesten gegenüber ist unstatthaft. Dagegen hatten Gregoria und Basilio verstoßen und wurden dafür zum Tode verurteilt. Erzählerin: Die kommunitäre Justiz kennt keinen Freiheitsentzug. Sie straft, bei leichten Vergehen, mit öffentlicher Bloßstellung, Geldstrafen und physischer Züchtigung. Mit Chicote (sprich: tschikótte), Peitschenhieben. Schwere Vergehen werden mit Verstoß aus der Gemeinschaft und sogar mit dem Tod geahndet, etwa die Befehlsverweigerung und Viehdiebstahl. Sprecherin: Verstoßen öffentliche Peitschenhiebe gegen die Menschenrechte? Der Vize-Justizminister Valentin Ticorna verneint. Er ist Quechua, empfängt Besucher in seiner traditionellen Kleidung: 4. Zitator: Wer peitscht aus, und warum peitscht er aus? Die Peitsche hat nicht der Anführer des Dorfes in der Hand, sondern derjenige, der für alle ein Vorbild ist: der noch nie gestohlen hat, der sich nichts zuschulden kommen ließ, der fleißigste Arbeiter. Der von fünf Uhr morgens bis spät arbeitet. Der mit seiner Frau nicht streitet. Was ist die Alternative? Ein oder zwei Jahre Gefängnis oder ein paar Peitschenhiebe? Was würdest Du wählen, wenn du gestohlen hast? Ein Jahr Gefängnis, in dem du deine Familie nicht siehst, oder ein paar Peitschenhiebe? Was ziehst du vor? Sags mir! Erzählerin: Nach 500 Jahren sieht Ticorna zum ersten Mal das Ende der Unterdrückung in greifbare Nähe gerückt. Für ihn und die Mehrheit seiner Landsleute hat die westliche Kultur wenig beziehungsweise gar keinen Fortschritt gebracht. Sie leben in bitterer Armut, haben keinen Zugang zu einem modernen Renten- und Gesundheitssystem und werden, weil sie Indianer sind, diskriminiert. Die "Menschenrechte" haben für sie keinen Wert. So heißt es in der Präambel der neuen Verfassung: 5. Zitator: "Wir kannten den Rassismus nicht, bis wir ihn am eigenen Leib erlebt haben. Wir wollen den Staat des Kolonialismus, der Republik und des Neoliberalismus hinter uns lassen". Erzählerin: Dass sie den Neoliberalismus und den Kolonialismus überwinden wollen, ist verständlich. Frage an den Vizeminister, was ihnen die Republik Böses getan habe? Das Wort "Republik" stammt vom lateinischen "Res Publica" und bedeutet: die öffentliche Sache. Regieren mit Öffentlichkeit, statt mit geheimen Kabinettsbeschlüssen wie in Monarchien. Sprecherin: In Bolivien hatte 1952 eine bürgerliche Revolution dem Feudalismus ein Ende gesetzt und die Republik ausgerufen, die öffentlich und demokratisch regieren sollte. Was ist an diesem Gedanken so falsch, dass die neue Verfassung die Republik verdammt? Ticorna versteht die Frage nicht: 4. Zitator: Manche Artikel werden noch richtig interpretiert werden müssen. Nach dem Plebiszit wird die Regierung das neue Konzept eines plurinationalen Staates erklären. Heute verstehen das viele nicht. Erzählerin: Ticorna zählt die Vorzüge der neuen Verfassung auf: Sprecherin: Spanisch bleibt Amtssprache, neben ALLEN anderen, indigenen Sprachen. Artikel fünf listet 36 Sprachen auf. Künftig müssen alle amtlichen Dokumente in mindestens zwei Sprachen geschrieben sein. Erzählerin: Kapitel Zwei verbietet die Einrichtung ausländischer Militärbasen. Das ging an die Adresse der USA, aber gelten wird dies auch für Venezuela und Kuba, die Militärberater geschickt haben. Sprecherin: Jedem Bürger wird das Recht auf die Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln zugesprochen, auf Erziehung ohne Diskriminierung und eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Das Wasserwerk darf nicht privatisiert, Lizenzen nicht vergeben werden. Beim Strom, Gas und der Telekommunikation sind gemischte Unternehmen möglich. Ausländer dürfen an den Kommunalwahlen teilnehmen, sofern ihr Herkunftsstaat dies auch Bolivianern erlaubt. Erzählerin: Laut Artikel 112 verjähren weder Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit noch Beamtenbestechung, die dem Land einen großen Schaden zufügen. Sprecherin: Artikel 30 erklärt die indianischen Institutionen zum "Teil der allgemeinen Struktur des Staates". Erzählerin: Was sich dahinter verbirgt, wird nicht verraten. Nahe liegt, dass diese indianischen Amtspersonen, wie ihre Recht-Sprecher, wie normale Richter bezahlt werden. Dann werden viele neue Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen werden. Ticorna nickt. Man wolle die kommunitäre Justiz um eine Instanz erweitern: 4. Zitator: Meiner Meinung nach werden wir drei Instanzen haben. Die in der Gemeinschaft. Eine zweite auf regionaler Ebene, etwa eine für die Aymara, eine für die Quechuas, eine für Amazonien und eine für die Guaraní. Vier große indigene Gerichtsbezirke also. Aber daran arbeiten wir noch. Und es kann das Verfassungsgericht angerufen werden, falls Grundrechte verletzt wurden. Erzählerin: Warum niemand gegen die Lynchjustiz einschreitet? In den Vororten von La Paz hängen Strohpuppen an den Laternenpfählen ? was Dieben vor Augen führt, was sie erwartet. Vizeminister Ticorna tut so, als ginge ihn das nichts an: 4. Zitator: Wo gelyncht wird, haben die Staatsanwaltschaft und die Polizei versagt. Selbstjustiz hat mit indianischer Kultur nichts zu tun. Wir nehmen einem Bruder nicht das Leben und respektieren das Leben und die Menschenrechte. Erzählerin: Aber warum sein Ministerium nicht gegen die Urheber vorgeht, die einen vermeintlichen Dieb unter dem Beifall der Menge erst foltern, dann ermorden und dies als "Befreiung vom neoliberalen Diktat" feiern? Im Hochland geben heute nicht die Regierung sondern bewaffnete Gruppen den Ton an. 4. Zitator: Dafür ist das Ministerium für Öffentliche Angelegenheiten und die Staatsanwaltschaft zuständig. Wir können da wenig machen. Wir können auch nicht gegen den von einigen Dörfern ausgerufenen "zivilen Ausnahmezustand" vorgehen. Erzählerin: Stattdessen toleriert die Regierung diese Entwicklung. Mit Stillschweigen oder sogar mit Verständnis. Sprecherin: Die bolivianische Gesellschaft radikalisiert sich, warnt die Juristin Mirjam Campos, die im Justizministerium Projekte zur Förderung der indianischen Dorfgemeinschaften leitet. Sie ist nicht grundsätzlich gegen die traditionelle Justiz. Sie habe sich in den entfernten Dörfer des Hochlandes bewährt. Konflikte um Grenzziehung, Erbschaftsangelegenheiten und Familienstreitereien werden meist in den Dörfern geregelt. Doch die verfassungsrechtliche Gleichstellung der kommunitären mit der staatlichen Justiz werde die Frauen weiter benachteiligen. Rechtlich seien sie schon seit 1831 gleichberechtigt, doch in der Praxis wurde Indianerinnen stets der Zugang zu Grund und Boden verwehrt. 1. Zitatorin: Gemäß des herrschenden Erbrechts erbte nicht die Tochter das Land ihrer Eltern sondern nur die Söhne. Sie besaß kein eigenes Land, auch wenn sie aus einer Bauernfamilie stammt. Sie war auf das Land ihres Ehemanns angewiesen. Das wurde 1996 geändert und inzwischen gibt es Fortschritte. Erzählerin: Die Sexualmoral habe mit der einer modernen Gesellschaft wenig gemein, so Frau Campos. Untreue Ehefrauen müssen mit Steinigung rechnen. Ihr sei kein Fall bekannt, wo Homosexualität geduldet würde. Schwule müssen in die Städte ziehen. 1. Zitatorin: (Homosexualität) wird sehr streng bestraft. In der indigenen Kultur wird die Vorstellung eines "weibischen" Mannes nicht toleriert. Der Mann muss Symbol für Stärke und Virilität sei. Erzählerin: Auch wenn die Frau oft die gesamte Familie ernährt, muss sie sich dem Mann unterordnen: 1. Zitatorin: Häusliche Gewalt ist an der Tagesordnung, aber wir erfahren nur selten von ihr. Es wird darüber nicht gesprochen. Die Frau darf sich über Dinge, die in ihrer Ehe passieren, nicht beklagen. Noch mehr tabuisiert wird der sexuelle Mißbrauch von Mädchen durch Mitglieder der eigenen Familie. Das kommt häufig vor, im Hochland wie im Tiefland, aber nur die wenigsten Fälle werden angezeigt. Die kommunitäre Justiz betrachtet Vergewaltigung nicht als Verbrechen. Sie kann mit der Schenkung einer Kuh oder eines Schafes bereinigt werden. Oder man zwingt das Mädchen, ihren Vergewaltiger zu heiraten. Erzählerin: Frau Campos ermuntert die Frauen, Mißbrauch anzuzeigen. Aber sie hat die Erfahrung gemacht, dass ihnen eine Mitschuld unterstellt wird. Man sagt: das Mädchen habe die Vergewaltigung provoziert. Am Ende wird das Opfer bestraft, nicht der Täter. 1. Zitatorin: Eine 14-Jährige erzählte ihrer Mutter von der Vergewaltigung durch den eigenen Vater. Doch sie glaubte, dass die Tochter zu Unrecht den Vater beschuldigt habe und verstieß sie aus der Familie. Jemand aus dem Dorf half dem Mädchen und zeigte das Verbrechen bei der normalen Justiz an. Daraufhin wurde der Vater verhaftet und die Tochter in einem Heim in Sucre untergebracht. Der Mann wurde nach sechs Monaten auf freien Fuß gesetzt, und das Mädchen musste in Sucre bleiben. Sie arbeitet dort als Hausangestellte, ihr Baby ist bei der Geburt gestorben. Das war für alle eine sehr harte Erfahrung. Inzest gilt als Tabu. Und als er öffentlich wurde, bestraften die Dorfbewohner die Familie, weil im ganzen Land bekannt geworden war, dass unter den Guaranis so eine Schande vorgekommen sei. Sie sagten, man hätte das untereinander regeln müssen. Erzählerin: Die Juristin ist, sagt sie, für einen gesellschaftlichen Wandel. Die Benachteiligung der indianischen Bevölkerung hätte aber anders angegangen werden können, etwa mit einem Quotensystem, das Stipendien, Studienplätzen und Jobs im öffentlichen Dienst für Indianer reserviert. Die kommunitären Schiedsgerichte hätten gefördert und um die positiven Elemente des westlichen Rechtssystems, wie die Menschenrechte, erweitert werden müssen. Sprecherin: Dies wäre mit einem Gesetz, mit einfacher Mehrheit, möglich gewesen, statt sich jahrelang in der Verfassunggebenden Versammlung Saalschlachten zu liefern. 1. Zitatorin: Über Quoten wird nicht diskutiert. Bis zum Amtsantritt von Evo Morales war es unvorstellbar, dass eine Indianerin, die aussieht wie eine Indianerin und sich anzieht wie eine Indianerin, ein Ministeramt bekleidet. Dass dies heute möglich ist, verdanken wir nicht einem Quotensystem sondern politischen Absprachen. Erzählerin: Auch die einstige Mitstreiterin von Che Guevara - Loyola Guzman - glaubt, dass eine Chance vertan wurde. Sie hat lange gezögert, ob sie ihre Einwände öffentlich machen soll. Sie wollte der rechten Opposition keine Munition liefern. 2. Zitatorin: Ich habe gegen die Verfassung gestimmt. Nicht, weil ich gegen den Wechsel bin. Im Gegenteil. Aber dafür fehlen die wichtigsten Schritte. Die neue Verfassung wird die Kräfte, die für den Wechsel sind, schwächen. Erzählerin: Das Regierungslager fiel über Loyola Guzman her. Das Haus zündete man ihr, im Gegensatz zu Cárdenas, nicht an. Aber man warf ihr in einem offenen Brief vor, die Seite gewechselt zu haben. 5. Zitator: "Es war schmerzhaft, deine Haltung zu akzeptieren. Du, die du berühmt warst wegen deines Engagements in ?ancahuazú, wo du auf der Suche nach dem neuen Menschen in den Reihen des Che gekämpft hast. Du, die du in ganz Lateinamerika die Hinterbliebenen der von den Diktaturen Ermordeten organisiert hast. Du bist heute auf den Zug des Feindes gesprungen." Erzählerin: Es folgten die Unterschriften zahlreicher bolivianischer Intellektueller. Erzählerin: Wird die gerade erst verabschiedete Verfassung Bestand haben? Wird sie erneut umgeschrieben werden? Oder wird ihr ein ergänzendes Gesetz Schranken einschränken? Sprecherin: Auch Victor Hugo Cárdenas spricht von einer Übereinstimmung des frauenfeindlichen "Gewohnheitsrechts" der männerdominierten, linken Regierungspartei mit der frauenfeindlichen Tradition der männerdominierten, indigenen Kultur. Er, selbst Aymara, lehne beides ab: 1. Zitator: Bei uns reden die Männer, nicht die Frauen. Auf einer Versammlung soll eine Frau nicht das Wort ergreifen. Aber ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der wir alle denselben Wert haben. Die Demokratie der Aymaras, die Kultur der Aymaras und das Justizwesen der Aymaras muss die positiven Werte anderer Kulturen sehen und annehmen. Sprecherin: Das sind kluge Worte. Aber im Wahlkampf war es kaum um die Rechte der Frauen und der sexuellen Minderheiten gegangen. Sie werden weiterhin auf der Straße erstritten werden müssen, in den Städten und irgendwann in Dörfern wie Morocomarka. Sonst wird das Schicksal Gregorias und Basilios kein Einzelfall bleiben. Sprecherin: Gregoria wurde von ihrem Vater getötet, weil sie sich seiner Autorität nicht unterworfen hat. Ihr Mann konnte mit ihrem Baby in die Stadt fliehen. Auch seine Familie musste Morocomarka verlassen, um nicht selbst wegen Befehlsverweigerung bestraft zu werden. Der Fall wurde bei der nationalen Justizbehörde angezeigt. Aber die verfolgte ihn nicht. Es läge kein Mord vor sondern ein Tötungsdelikt der indianischen Justiz und dies sei legitim und legal, hieß es in der Begründung. Der Staatsanwalt aus La Paz hätte ohnehin nicht in Morocomarka ermitteln können. Das Gebiet gilt als No-Go-Area. Mehrere Stämme streiten sich seit fünfzig Jahren um den Grenzverlauf. Im Moment liegt das Kriegsbeil begraben, und niemand will Öl ins Feuer giessen. So gebietet es die Staatsraison, und als Rechtsgrundlage zieht sie die "indigene Justiz" heran. Die Liebe von Gregoria und Basilio kam dagegen nicht an. 1