DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 06.07.2010 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Ein alter Mann und seine Schuld Der Prozess gegen John Demjanjuk Von Tim Aßmann und Rainer Volk Co-Produktion BR/DLF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo Theater Sprecher: Ein alter Mann im Rollstuhl, große Brille, Baseballmütze auf dem Kopf, Decke über Beinen und Oberkörper. Er stöhnt jedes Mal, wenn seine Helfer mit dem Rollstuhl an eine Kante stoßen. Atmo Gerichtssaal Blitzlichtgewitter Sprecherin: Der alte Mann ist ein Schauspieler. Das Stück heißt "Die Demjanjuk-Prozesse" und wird am Theater in Heidelberg gespielt. Ob der andere alte Mann auch schauspielert, fragt sich alle Welt. Am 30. November 2009 wird der Angeklagte John Demjanjuk in München in den Gerichtssaal geschoben. Kameras klicken, er stöhnt. Die Zuschauer stehen auf, um etwas zu sehen. Sound O-Ton-Collage: "Die USA schieben John Demjanjuk ab: Der frühere KZ-Wächter wird von Cleveland nach München geflogen. An Ohio man accused of being a Nazi prison guard has been deported. John Demjanjuk is headed to Germany to face charges that he participated in thousands of murders in world war II. München. Vor dem Landgericht hat einer der vermutlich letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse begonnen. Angeklagt ist der inzwischen 89-jährige John Demjanjuk. Die Anklage wirft dem Ukrainer vor, als Wächter im NS-Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord an 27 900 Menschen geleistet zu haben." Sound Zitator: Ein alter Mann und seine Schuld Der Prozess gegen John Demjanjuk Ein Feature von Rainer Volk und Tim Aßmann O-Ton (Stockinger): "Wir haben ihn wegen Beihilfe zum 27 900fachen Mord angeklagt. Wir gehen davon aus, dass die ganzen Taten damals nur möglich waren; weil Personen wie der Angeklagte das System aktiv unterstützt haben, sodass es nur so möglich war, diese Vernichtung im Lager Sobibor durchzuführen." Sound Zitator: Späte Anklage ? der lange Weg zum Prozess O-Ton "Obviously the object of our investigation here ... ought to be convicted.? Voice-Over: "Ziel unserer Arbeit war es, einem anderen Land eine Gelegenheit für eine Anklage nach strafrechtlichen Gesichtspunkten zu schaffen. Natürlich befriedigt es auch, wenn man sieht: Die Justiz arbeitet zwar langsam, aber kommt dann doch an ihr Ziel. Die Beweise gegen Demjanjuk sind überwältigend stark. Sein Alibi ist komplett erlogen ? es kann unmöglich historisch so gewesen sein." Sprecher: Ein Büro in Washington. Jonathan Drimmer arbeitet inzwischen als Jurist in einer internationalen Kanzlei. Zuvor aber war er das, was man einen "Nazi-Jäger" nennt ? als Ermittler des "Office of Special Investigations", kurz "OSI" - einer Sonder-Abteilung des US-Justizministeriums, gegründet, um Einwanderer aufzuspüren, die etwas aus ihrer Vergangenheit verbergen wollen. Sprecherin: Als John Demjanjuk 1952 in die USA einreist, macht er offensichtlich falsche Angaben über sein Vorleben. Deshalb die Abschiebung aus den USA im Mai 2009. Für den Ermittler Jonathan Drimmer war dies der Moment, in dem sechseinhalb Jahre Arbeit endlich Früchte trugen. Sprecher: Schon seit Mitte der 70er-Jahre ist das OSI John Demjanjuk auf der Spur. Es vermutet, Demjanjuk, in der Ukraine geboren unter dem Namen Iwan, habe im Zweiten Weltkrieg im Dienst Nazi-Deutschlands Juden ermordet. Er sei "Iwan der Schreckliche" gewesen, ein besonders grausamer Helfer der SS im Konzentrationslager Treblinka. In den 80er-Jahren wird Demjanjuk deshalb von den USA an Israel ausgeliefert. In erster Instanz wird er zum Tode verurteilt. Doch im Berufungsverfahren stellt sich heraus: "Iwan der Schreckliche" war ein anderer. Nun wird Demjanjuk frei gesprochen. Er darf sogar zurück in die USA. Ein Debakel für das OSI. Sprecherin: Trotzdem: In seiner Wahlheimat Cleveland, bleiben viele dabei, dass sich Demjanjuk in der Nazi-Zeit schuldig gemacht hat, vor allem Sprecher der jüdischen Verbände sagen bis heute: John Demjanjuk war KZ-Wächter, dafür gebe es Beweise. Wenn nicht in Treblinka, dann in Sobibor, einem weiteren Lager. Bei der Zeitung "Cleveland Jewish News", dem Blatt der jüdischen Gemeinde, beobachtet Marilyn H. Karfeld den Fall seit vielen Jahren. O-Ton (Karfeld) "We had one person ... that that's the case, that he was there.? Voice-Over: "Wir hatten eine Kollegin, die hat einmal einen Artikel geschrieben mit der Überschrift: "Das unglaubliche Mazel von John Demjanjuk" ? "Mazel" heißt "Glück" auf hebräisch. Er hat es immer irgendwie geschafft, davon zu kommen. Die ganzen Jahre. Die Akten sind jetzt da. Ich war vor Gericht dabei, als sie vorgestellt wurden ? sieben Dokumente hatten die Staatsanwälte. Sie beweisen: Er hat in drei Konzentrationslagern gedient. Er wurde als Trawniki, als SS-Wachmann, ausgebildet. Und ich denke: Es war wirklich so ? er war dort." Sound Zitator: Die Geschichte der Trawniki ? von Rädchen im System Sound Sprecherin: Sobibor ? ein paar Häuser an einer Bahn-Nebenstrecke. Die nächsten Orte in dieser hintersten Ecke des damaligen Ostpolen heißen Chelm und Wlodawa. Die Gegend ist sumpfig und kaum bewohnt. Im März 1942 beginnen die Deutschen mit dem Bau eines Vernichtungslagers. Man nutzt dabei Erfahrungen aus Treblinka und Belzec. Die SS plant die "Aktion Reinhardt", die geheime Vernichtung der Juden im Generalgouvernement. Sprecher: Auszug aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München gegen John Demjanjuk, geboren am 3. April 1920 als Iwan Mykolajewitsch: Sound Zitator: "Am 27.März 1943 wurde der Angeschuldigte in das Vernichtungslager Sobibor abkommandiert, wo er in der Nacht, spätestens am 28. März 1943, eintraf. Er wusste, dass der Zweck der Lager die Vernichtung der dorthin transportierten Juden war und dass es seine Aufgabe war, sich hieran zu beteiligen. Gleichwohl floh er nicht aus dem Lager, obwohl er hierzu die Möglichkeit hatte ... Er nahm damit freiwillig an der Ermordung von mindestens 27 900 Personen teil ... Er und die anderen Täter und Teilnehmer im Vernichtungslager Sobibor handelten in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung. Darüber hinaus nahm er den Rassevernichtungswillen der NS-Ideologie in sich auf und wirkte bereitwillig an der Tötung der Juden mit, weil er selbst deren Tötung aus rasseideologischen Gründen wollte." Sprecher: "Beihilfe zum Mord". Zum Massenmord. Aus Rassenhass. Eine solche Anklage muss Merkmale wie Heimtücke oder Grausamkeit erfüllen. John Demjanjuk müssen konkret einzelne Morde oder die Beihilfe dazu nachgewiesen werden. Die Juristen nennen das Einzeltatnachweis. Sprecherin: Im Fall Demjanjuk gibt es jedoch eine neue "vereinfachte Theorie". Sie stammt von einem freundlichen mittelgroßen Herrn mit wallendem Nackenhaar und Brille. Thomas Walther, 66 Jahre, pensionierter Richter und Ex-Ermittler der Ludwigsburger "Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen". Walther hat ? angeblich per Zufall - Anfang des Jahres 2008 erfahren, dass die USA Demjanjuk wegen seiner falschen Angaben bei der Einwanderung abschieben wollen. Er habe dann einfach nachgedacht, erzählt er: O-Ton: "Ich habe mir die Situation klar gemacht, dass weder die Väter des StGB 1871 noch die gesamte Zeit danach überhaupt Gelegenheit hatte, nach einer juristischen Konfliktlösung für einen Massenmord im industriell betriebenen Weg zu suchen, weil: Dieser Gedanke war noch gar nicht gedacht. Und die industrielle Tötung von Menschen in einer Tötungs-Fabrik, da ist die Fabrik, die Tötungsfabrik bereits die Tat an sich. In dem Moment, in dem ich in dieser Fabrik meine Arbeit tue, an welcher Stelle auch immer, nehme ich teil an der Produktion des Endproduktes Asche ? Asche aus Mensch. Und das ist dann die Tat." Sprecher: Die Anklage bezeichnet John Demjanjuk als Mitglied einer Einheit von sogenannten "fremdvölkischen Hilfswilligen". Die meisten waren Balten, deutsch-stämmige Russen oder Ukrainer. Nach ihrem Ausbildungslager heißt diese Gruppe der ausländischen Nazi-Helfer bis heute kurz "Trawniki". Sprecherin: Doch die Faktenlage über die Trawniki ist dünn. Klar ist: Sie wurden für die "Aktion Reinhardt" ausgesucht und ausgebildet. In den Vernichtungs- und Konzentrationslagern hielten sie Wache und trieben auch Menschen ins Gas. Doch selbst Spezialisten für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wissen nicht, ob es 4- oder 5-tausend Männer waren. Die Historikerin Angelika Benz schreibt eine Doktorarbeit über die Trawniki. O-Ton "In den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt zumindest, also Belzec, Sobibor und Treblinka, haben die Trawnikis den größten Teil der Wachmannschaften gestellt, immer eben bewacht oder angeleitet von der SS. Aber zahlenmäßig waren es einige hundert Trawniki-Männer und 20 bis 40 SS-Männer. Die Trawniki-Männer selber, die ausgesagt haben, haben natürlich alle aus Schutz gesagt, dass sie nur die "Postenkette 2" waren, also außerhalb des Lagers standen. Die SS-Männer wiederum, die Aussagen nach dem Krieg, sagen natürlich aus, die Trawnikis haben das gemacht. Wir waren die zweite Außenkette. Also es lässt sich schwer sagen. Sprecher: Als die Medien über die Ausweisung Demjanjuks nach Deutschland berichten, lauten die Überschriften "Ein ganz gewöhnlicher Handlanger", "Iwan der Anpasser" oder "Leiharbeiter des Todes". Dabei lässt sich der Fall Demjanjuk nicht vergleichen mit den Prozessen gegen deutsche Wächter in den Vernichtungslagern. So ist zum Beispiel nur schwer zu sagen, wie viel Ermessensspielraum die Trawniki bei ihrer blutigen Arbeit hatten und was ihnen drohte, wenn sie nicht gehorchten: O-Ton "Es sind so viele desertiert, dass es natürlich die Möglichkeit gab zu fliehen. Allerdings wissen wir von vielen, die wieder aufgegriffen wurden, dass sie eben ermordet wurden und dass sie, um ein Exempel zu statuieren, vor ihren Kameraden umgebracht wurden. Also die akute Todesbedrohung für die Trawniki bestand in jedem Fall." Sound Zitator: Das doppelte Drama ? Theatralik im Gerichtssaal und auf der Bühne O-Ton: "Grazyna, Musik! ... "There once was a man called John Demjanjuk ... Musik O-Ton: (Garfinkel) "It's been a big transformation ... by accident." Voice-Over: "Die Produktion war sehr aufregend. Diese ganze Erfahrung, dieses Wissen um Geschichte, verändert meinen Text auf eine Art, die ich mir - ehrlich gesagt - nicht vorstellen konnte, als ich ihn schrieb. Daher habe ich einige Veränderungen vorgenommen, quasi beim Zuschauen. Ich hatte mir ja nie vorgestellt, dass ich den Demjanjuk-Prozess einmal besuchen würde. Es war bizarr, ihn im Gericht zu sehen." Sprecher: Jonathan Garfinkel ist Kanadier, Jahrgang 1973. Vor fünf Jahren hat er das Theaterstück "Die Demjanjuk-Prozesse" geschrieben. Text-Basis waren die beiden Verfahren in Israel. Als vor dem Landgericht München II der Prozess gegen John Demjanjuk eröffnet wird, sitzt Garfinkel im Publikum. Nun hockt er im "Zwinger", der Studiobühne des Stadttheaters Heidelberg, und schaut einer Probe seines Stückes zu. O-Ton "Mr.Demjanjuk - Sie behaupten, Sie hätten die meiste Zeit des Zweiten Weltkriegs in Chelm in der Ukraine verbracht? ? Ja. ?Bei Ihrer ersten Befragung 1978 - Da waren diese Einzelheiten noch frisch in Ihrem Gedächtnis ? Ja ? Und 1978 haben Sie Chelm gar nicht erwähnt. ? Weil es mir damals nicht eingefallen ist ? Sie haben anderthalb Jahre in Chelm verbracht ? Ich kann doch nichts dafür, was ich vergesse ? Ihr Alibi ist dahin Mister Demjanjuk, verstehen Sie, was das heißt? ? Ja ? Und es gibt keinen einzigen Zeugen, der ihre Aussagen bestätigen kann. Außerdem ist Ihre Aussage vage und widersprüchlich. Sprecherin: Mit erstaunlich wenigen Requisiten kann Theater Ähnlichkeit mit dem realen Geschehen erzeugen. Im Heidelberger Stück genügen Rollstuhl, Brille und Baseball-Mütze ? und man glaubt, vor dem "echten" Angeklagten zu sitzen. Das Drama versucht, sich der Frage der Schuld aus der Sicht des Täters zu nähern. Der Zuschauer soll Seelenforschung betreiben, sich hinein versetzen in den Angeklagten, der im Gerichtssaal beharrlich schweigt. Was in der Realität nicht möglich ist, das gelingt jedoch auch auf der Bühne nicht. Sound Zitator: Lebenslanges Trauma ? die Opfer O-Ton: (Blatt) "Ich sehe einen anderen Weg, looking at him ... a Wachmann, a guard, in another place, in a Gefängnis ... was guarding a prisoner who shouldn't escape ... there is no Preis zu bezahlen ... Ich wollte sagen, dass es gibt viele Leute jetzt, die sagen: Holocaust ? das ist eine jewish Lüge ... he was right in the middle of this hell. And that's what I would like to hear ... Sprecher: In den ersten Tagen ist es fast unmöglich, sich der Dramatik des Demjanjuk-Prozesses zu entziehen. Zum Auftakt drängen sich morgens stundenlang vor dem Eingang des Münchner Justizzentrums die Reporter aus aller Welt. Es herrscht eine fiebrige Stimmung. Vor Gericht: Zum ersten Mal ein Trawniki. Ein Kriegsgefangener, der angeblich zum KZ-Wächter wurde. Ein Ukrainer im Dienste Nazi-Deutschlands. Ein Mann, der sich Richtern und Staatsanwälten lange entzog. Der seine Auslieferung mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Der seine Gebrechlichkeit vor den Fernsehkameras demonstrierte und dessen Abschiebung dann zum weltweiten Medienereignis wurde. Die Journalisten sind in einen schmalen Korridor eingepfercht zwischen Metallgittern. Daneben hat ein gedankenloser Justizbeamter ein Schild aufgestellt: "Demjanjuk-Sammelzone". Das Foto dieses Schildes geht um die Welt. Münchens Justiz ist blamiert. Einige ältere Männer und Frauen werden an den Wartenden vorbei geschleust. Es sind die Nebenkläger in diesem Verfahren: Kinder von Ermordeten aus dem KZ Sobibor - oder Überlebende wie Thomas Blatt, der in einer Mischung aus jiddisch, deutsch und englisch Interviews gibt: Sprecherin: Obwohl in den Anfangstagen die Zuschauerplätze voll besetzt sind: Es sind eigentlich Thomas Blatt und die anderen Nebenkläger, die eine seltsame Lebendigkeit in den nüchternen, braun-beigen Gerichtssaal bringen. Kleine Szenen sind zu beobachten: wie sie sich gegenseitig ermuntern, sich zärtlich streicheln und trösten. Wenn einer von ihnen im Zeugenstand spricht, dann wird klar: Es geht hier nicht um Fälle und um Zahlen, sondern um bewegende Einzelschicksale. 28 000 Mal. Diese Menschen haben teilweise erst nach Jahrzehnten erfahren, dass sie Juden sind und dass die, die sie für ihre Eltern hielten, in Wirklichkeit nur ihre Beschützer waren. Alte Männer wie Paul Hellmann, Leon Viejra und Robert Franzman, alle Ende 60: Over-Voice: (Hellmann) "Das letzte Mal, als ich meinen Vater sah, war ich sieben Jahre alt. Er brachte mich in ein Versteck, in einem ganz anderen Teil des Landes, und dort ließ er mich und sagte, das sind sehr gute Menschen, die sich gut um dich kümmern werden, und wir werden uns eines Tages wiedersehen. Dann verließ er den Garten und das ist das letzte Bild, das ich von ihm habe. Er ging nach rechts, ich erinnere mich noch, nach rechts in die Straße. Zum Bahnhof." O-Ton (Viejra - deutsch) "Ich bin geboren in 1942 im April und nach vier Tage sind zwei Leute gekommen. Polizisten. Das waren auch holländische Polizisten, die zusammenarbeiten mit den Deutschen, und dann hat ein Nachbar gesagt: "Sie sind jetzt noch im Krankenhaus" und dann sind sie gegangen. Und meine Mutter hat uns versteckt. Mein Vater hat auch versteckt, aber der wurde verraten und er ist nach Sobibor geschickt. Und dann war das eine sehr schwere Sache. Sie müssten leben ohne Vater. Man konnte nicht fragen: Wie ist der Vater? Wer war der Vater? Ich musste schauen zu andere Leute, zu lernen zum Angeln, Fußball. Ganz normale Sachen, die man lernt oder sieht von die Eltern. Overvoice: (Franzman) "Meine Eltern wurden von der Polizei abgeholt und ins Lager Westerbork gebracht. Von dort kamen sie mit dem ersten Zug am 6. April 1943 nach Sobibor. Ich war an zahllosen Orten, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann. Es müssen mehr als zehn oder fünfzehn gewesen sein. Ich kann mich nur an das letzte Haus erinnern. Das Haus war weiß und ich saß hinter jemandem auf einem Fahrrad. Mir wurde auch gesagt, ich müsse ganz still sein, weil Soldaten nach mir suchten, und mich unter dem Fußboden verstecken. Ich weiß noch, wie ich unter diesem Boden lag. Dann kam 1945. Ich war fünf Jahre alt und der Krieg war vorbei." Sprecher: Die Mehrzahl der Nebenkläger sind Niederländer. Denn im Sommer 1943, als Demjanjuk nach Ansicht der Staatsanwälte in Sobibor war, wurden dort vor allem niederländische Juden ins Gas getrieben. Sprecherin: Thomas Blatts Erinnerung wirkt anfangs frischer, aber bei längerem Zuhören merkt man: Es ist einfach das Temperament dieses kleinen Mannes. Blatt ist impulsiv, kämpferisch. Zum Beispiel, wenn er von der Ankunft in Sobibor berichtet: O-Ton: This SS-Mann sagt: Frauen und Kinder on one side, men on another. Was tut ein Kind in dieser Lage? Ich war in diesem Jahr 15-einhalb Jahre. Aber instinctively habe ich gefühlt, ich habe eine better chance as a man. Und wenn this SS-Mann sagt: "Frauen und Kinder on one side, men on another" I said to my Mummy good-bye. Ich habe Gott gebeten: Please let them take me out, let them take me ? ihr sollt mich herausnehmen . And at a point he said: Komm heraus, du Kleiner, du wirst meine Schuhe putzen. Und er hat mich herausgenommen. Sprecherin: Als Schusterjunge und als Helfer beim Haare scheren kämpfte der heute 89-Jährige ums Überleben. Die Versuche der Richter und Anwälte, seiner Erinnerung noch weitere Details zu entreißen, scheitern: Knapp 70 Jahre danach kann Thomas Blatt - wie die meisten Opfer- Selbst-Erlebtes und nachträglich Erfahrenes nicht mehr trennen. So muss er auch bei der wichtigsten aller Fragen passen: ob er John Demjanjuk in Sobibor gesehen hat. O-Ton: "I have seen them all but ich weiß nicht was his Name Demjanjuk or was it Koslowski oder war es ganz anderer Name. Ich kann mich nicht erinnern an Gesicht von meine Eltern. How could ich erinner mich Demjanjuk? Aber ich wisse, was solche Leute getun haben und das, was ich erzähle. Ich sag nicht, Demjanjuk ist ein Mörder. Gericht soll das durchforschen, aber ich wisse, was diese Leute getun haben." Sound Zitator: Vom Opfer zum Täter ? Die Fronten im Gerichtssaal O-Ton: (Busch) "I think, that he is definitely sick and they should respect it and they should not say, that he is doing a show. ? Do you think he will make to the end of the trial or are you worried about his health? ? I'm always worried about his health, I'm always worried that he might die if it takes too long ... Sprecher: Praktisch ab der ersten Minute steht neben dem Angeklagten ein fast zwei Meter großer, schlaksiger Mann mit gepflegtem weißem Backenbart im Blickpunkt: Doktor Ulrich Busch, Wahlverteidiger von John Demjanjuk. Sprecherin: Busch ist sozusagen "Demjanjuks Stimme", denn der Angeklagte selbst hat im Prozess noch kein einziges Mal den Mund aufgemacht. Busch ist Einzelkämpfer. Gegen das Gericht, das er für voreingenommen hält. Gegen die Staatsanwaltschaft. Und gegen die Öffentlichkeit. Die Rolle des David. Sie gefällt Ulrich Busch. Die Verteidigungsstrategie ist schnell klar: Danach war sein Mandant nicht in Sobibor, und selbst wenn er Trawniki-Wachmann war, so war er selbst ein Opfer, das keine andere Wahl hatte als mitzumachen. Sprecher: Die Anklage im Demjanjuk-Prozess vertritt Hans-Joachim Lutz. Der 41-Jährige ist der einzige Ermittler der Münchner Staatsanwaltschaft für sogenannte NSG-Verfahren, für Delikte aus der Nazizeit also und er hat Erfahrung mit langen und aufwendigen Prozessen. Sprecherin: Im Demjanjuk-Prozess meldet sich Hans-Joachim Lutz nur selten zu Wort. Er ist von der Stichhaltigkeit seiner Anklage überzeugt, auch wenn er weiß, dass der Vorwurf des Mordes aus Rassenhass wohl nicht zu halten sein wird. Wenn es darum geht, mutmaßliche NS-Verbrecher wie John Demjanjuk zu verfolgen, spielt für Hans-Joachim Lutz das Alter der Angeklagten keine Rolle. O-Ton (Lutz) "Ja, wir haben ja auch das Legalitätsprinzip. Wir müssen Straftaten verfolgen, solange sie verfolgbar sind, und da Mord nicht verjährt, müssen wir was tun. Wär en schlechter Jurist, wenn ich nicht diese Meinung hätte ,und auch insgesamt mein ich, dass diese NSG-Verfahren durchaus wichtig sind. Man muss allerdings auch immer berücksichtigen, dass es nicht darum geht, Geschichte aufzuarbeiten oder Derartiges. Ich bin Staatsanwalt. Wir wollen Menschen verfolgen, die eben Schuld auf sich geladen haben, und nur darum geht es. Nicht um Geschichtsaufarbeitung." O-Ton Cleveland ? Ukrain. Museum Sprecher: Das Ukrainische Museum in Cleveland. In der Millionenstadt im US-Bundesstaat Ohio gibt es eine große Gemeinde ukrainischer Emigranten. Sie steht mehrheitlich hinter John Demjanjuk. Taras Szmagala Senior, ein munterer alter Herr mit Brille und buschigem Schnurrbart, ist Vorsitzender des Museums-Direktoriums. Er führt gerne durch das Haus, das vor mehr als 100 Jahren gegründet wurde. Nebenbei kommentiert er den Fall Demjanjuk: O-Ton (Szmagala) "I don't know ? he's suffering again.? Voice-Over: "Ich weiß nicht, was John Demjanjuk getan hat ? und was er nicht getan hat. Ob er schuldig ist, wessen er schuldig ist. Im Augenblick würde ich dazu nicht Stellung beziehen wollen - die meisten Mitglieder der ukrainischen Gemeinde hier wohl auch nicht. Was ich weiß, ist: Er hat hart gearbeitet, bei Ford in der Autofabrik. Er ist durch die Hölle gegangen, er hat gelitten. Und jetzt, wo es ihm gesundheitlich nicht gut geht, leidet er erneut." Sprecherin: Wer Schuld trägt an den Qualen John Demjanjuks, ist aus der Sicht der Ukrainer in den USA ganz einfach: der KGB und dessen Nachfolger. Man misstraut allem Russischen. So entsteht eine Art "Rache-Theorie", derzufolge Moskau bis heute alle ehemaligen Gegner im Zweiten Weltkrieg kriminalisiert. Sprecher: Verteidiger Ulrich Busch greift diese Gedanken im Gerichtssaal häufig auf. Für Busch ist Demjanjuk, der Ex-Rotarmist und Kriegsgefangene der Wehrmacht, vor allem Eines: Ein Opfer der Deutschen. Ein Opfer, das nun im Land der Täter vor Gericht steht. O-Ton (Busch) "Wenn man Trawniki wurde, wurde man dies ausschließlich deshalb, weil man ansonsten dem Hungertod in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern ausgeliefert gewesen wäre. Man hatte also überhaupt keine Wahl, keine freiwillige Wahl, Trawniki zu werden oder nicht. Es ging schlichtweg ums Überleben. Um die Frage Leben, Weiterleben oder Tod?" Sound Zitator: Der alte Mann und sein Schweigen Sprecherin: Und was hält John Demjanjuk von dem Treiben im Gerichtssaal? Man kann es über Monate nur ahnen. Denn der Greis schweigt. Einige Male schläft er ein, während sich die Anwälte einige Meter entfernt Wortgefechte liefern. Das irritiert viele Beobachter und verletzt die Nebenkläger wie Michael Koch, einer ihrer Anwälte, sagt. O-Ton (Koch) "Ganz viele leiden im Prinzip auch darunter, dass Demjanjuk, was ne recht raffinierte Methode bislang ist, sich ja dem Anblick bereits entzieht. Er tut ja so als wär er gar nicht da. Er erinnert mich ein bisschen an eine Katze, die sich unsichtbar macht, indem sie die Augen schließt, mehr als einer der Mandanten hat zu mir gesagt: Wenn er doch wenigstens mal die Augen aufmachen würde. Ich würd' ihm gern mal in die Augen schauen. Er soll auch sehen, dass wir hier sind." Sprecherin: Wenn man Demjanjuk beobachtet und gleichzeitig die Berichte des medizinischen Gutachters hört, kann man Zweifel nicht verdrängen. Ist der Greis wirklich krank - oder nur verstockt und uneinsichtig? Anfangs dreht er sich in seinem Krankenbett weg von den Zuhörern, zeigt ihnen und damit auch den Nebenklägern den Rücken. Das untersagt ihm das Gericht. Er muss auch die Baseball-Mütze weglegen, die er bei Prozessbeginn auf hat, weil ihn angeblich die Saallampen blenden. Seitdem trägt er eine dunkle Brille. Sprecher: Im April jedoch - Demjanjuk hat seinen 90.Geburtstag begangen ? ändert er seine Strategie. Verteidiger Ulrich Busch überrascht alle mit einer 2-einhalb-seitigen Erklärung seines Mandanten. Sie enthält kein Geständnis, sondern eine Anklage gegen das Gericht und gegen den Staat, auf dessen Boden das Verfahren stattfindet: Zitator: "Ich bin persönlich den Menschen dankbar, die mir in meiner aussichtslosen Lage als Schwerkranker helfen, sei es in der JVA, sei es hier im Gerichtssaal. ... Im Übrigen weise ich auf Folgendes hin: Erstens ? Deutschland ist schuld daran, dass ich durch einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion meine Heimat, mein Vaterland, verloren habe. Zweitens ? Deutschland ist schuld daran, dass ich in Kriegsgefangenschaft geraten bin. Drittens ? Deutschland ist schuld daran, dass ich in Kriegsgefangenenlagern durch absichtliche Verweigerung genügender Nahrungsrationen mit Millionen anderen gefangenen Rotarmisten zum Hungertod verurteilt war und nur mit Gottes Hilfe überlebt habe. ... Ich erlebe jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat seit dem 12. Mai 2009 als Kriegsgefangener Deutschlands. Ich erlebe diesen Prozess als eine Fortsetzung des unbeschreiblichen Unrechts, welches mir von Deutschen in meinem Leben angetan worden ist. ... Ich empfinde es als mit der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit unvereinbar, dass ich mich nunmehr seit 33 Jahren als ein immer wieder gejagtes Justizopfer ... der USA und der dahinterstehenden Kreise, insbesondere des World Jewish Congress und des Simon-Wiesenthal-Centers, die vom Holocaust leben, verteidigen muss. ... Ich habe nicht mehr die Kraft zum Widerstand." Sprecher: Zwölf Mal heißt es formelhaft "Deutschland ist schuld". Die beleidigte Diktion wie die überzogenen Argumente sorgen im Saal für Aufregung. Viele wundern sich über Andeutungen des Papiers, die so gedeutet werden können, als räume Demjanjuk seinen Dienst als Trawniki ein. - Das Landgericht nimmt die Erklärung jedenfalls sofort zu den Akten. Sound Zitator: Gerechtigkeit mit Verfallsdatum ? von den Hürden der Wahrheitsfindung O-Ton ? Jerusalem Sprecher: John Demjanjuk hat zwei Verfahren in Jerusalem hinter sich. Man muss sich das vorstellen: ein Täter mit dem Spitznamen "Iwan der Schreckliche" im Land der Opfer. Viele denken zunächst, der Eichmann-Prozess wiederhole sich. Die Gerichtssitzungen sind hoch emotional: Zeugen weinen, vor dem Saal wird demonstriert. Der Historiker und Zeitungs-Kolumnist Tom Segev, 1987 Augenzeuge des ersten Prozesses in Israel, erinnert sich an ein äußerst ungewöhnliches Schauspiel: O-Ton (Segev) "Es war ein Schauprozess eben in dem Sinne, dass es in einem großen Konzertsaal stattfand, dass es im Radio und Fernsehen übertragen wurde, was nicht üblich ist in Israel. Das Gericht hatte Pressesprecher. Eigentlich spielten alle ihre Rolle. Nachdem ich all diese Elemente des Schauprozesses aufgezählt habe, will ich ihnen aber auch sagen: Das Wichtigste an einem kriminellen Prozess besteht ja darin, dass der Angeklagte Gelegenheit bekommt, sich zu verteidigen - und das bekam er zweifellos. Schließlich wurde er auch freigesprochen. Sprecher: Segevs Rückblick eröffnet verblüffende Parallelen zu München. In den Wochen, in denen nicht verhandelt wird und die Beobachter Abstand gewinnen, grübelt der eine oder andere manchmal: Wird nicht auch Ulrich Busch vorgeworfen, er missachte die Strafprozessordnung? Immer wieder weist ihn das Gericht zurecht, er verheddere sich bei seinen Anträgen und wiederhole ständig längst Bekanntes. Vor allen Dingen aber ist die Beweislage fast gleich. O-Ton (Segev) "Es gab genug Dokumente, um zu beweisen. dass die Vernichtung stattgefunden hat. Die Zeugen konnten erzählen, was sie erlebt haben. Aber ich dachte immer, wie führt das eigentlich zu diesem bestimmten Mann, der da sitzt. Ich hatte schon den Eindruck, dass er lügt. Er hat ja auch gelogen, bevor er nach Amerika eingewandert ist, aber es reichte einfach nicht. Es reichte nicht um ihn auf diese konkrete Schuld zu bringen: Das ist der "Iwan der Schreckliche". Es hat immer nicht gereicht." Sprecher: Dieses bedauernde "Es hat immer nicht gereicht" zieht sich geradezu wie ein roter Faden durch alle Recherchen gegen ehemalige Angehörige der Trawniki. Staatsanwälte und Nazi-Jäger sind zwar immer wieder auf die mysteriöse Legionärstruppe hinter der Ostfront gestoßen. Doch stets lautete das Ergebnis: zu dünn für eine Anklage. Sound Zitator: Im Zweifel für den Prozess ? über den Sinn des Verfahrens Sprecher: Recht zu sprechen über John Demjanjuk, geboren 1920, staatenloser Ukrainer, ist viel mühseliger, als bei Prozessbeginn angenommen. Für die Münchner Richter ist es Neuland. Der Vorsitzende Ralf Alt ist zwar ein erfahrener Jurist. Er tut sich im Umgang mit dem streitlustigen Verteidiger Busch aber schwer. Zeugen fehlen, die Dokumente aus der NS-Zeit und aus Ermittlungen der Justiz in den Nachkriegsjahrzehnten sind nicht einfach zu bewerten. Wie kann das Gericht in diesem Material Verwertbares für ein Urteil finden? Sprecherin: Nach wie vor gilt ein vergilbtes, bräunliches Stück Papier, Format etwa DIN-A-6, als das zentrale Beweisstück. Es ist der Trawniki-Dienstausweis mit der Nummer 1393. Das Foto darin soll John Demjanjuk als Rotarmisten zeigen. Es ist mittlerweile weltberühmt. Um die Echtheit des Papiers wird im Gerichtssaal tagelang gerungen ? strittig sind winzige typographische Besonderheiten wie durchbrochene Linien an einigen Stellen, Verfärbungen des Papiers oder Unterschriften. Obwohl der Sachverständige im Zeugenstand sehr überzeugend ist, nimmt Verteidiger Busch jedes Detail als Indiz für eine Fälschung des KGB und verlangt weitere Gutachten. Sprecher: Der ehemalige NS-Ermittler Thomas Walther hat mit diesen für Beobachter manchmal nervenaufreibenden Detaildebatten gerechnet. Bei seinen Recherchen für die Ludwigsburger "Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen" hat Walther neben theoretischen Überlegungen zur Schuldfrage den Dienstausweis als Beweismittel fest einkalkuliert. O-Ton (Walther) Der Dienstausweis ist eines der in der Rechtsgeschichte sicherlich am häufigsten in dieser Welt untersuchten Gegenstand überhaupt. Und für mich war es ausreichend, dass die Ergebnisse, die mir zur Kenntnis gelangt sind, die Echtheit bestätigten. Gutachten dazu zu erstatten und in Auftrag zu geben, das ist Sache der Ermittlungsbehörden, der Staatsanwaltschaft. Und unsere Aufgabe war es, in einem Vorermittlungsverfahren die Beweismittel so zusammen zu fügen, dass daraus ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wird, wo dann auch solche ? wenn erforderlich ? Gutachten in Auftrag gegeben werden." Sound Sprecher: Doch wie viel können Wissenschaftler und Juristen nach fast 70 Jahren wirklich noch zweifelsfrei aufklären? Wie war die Lage des jungen ukrainischen Bauern im Kriegsjahr 1942? Stand Demjanjuk vor der Wahl, in der Gefangenschaft der Deutschen zu verhungern oder in ihren Diensten zu überleben? Für Verteidiger Ulrich Busch ist das keine Frage. O-Ton (Busch) "Iwan Demjanjuk, der - glaube ich- wenn man unter tragischen Figuren mal suchen will, eine der tragischsten Figuren des 20. Jahrhunderts ist. Weil: 33 Jahre Justiz- und Prozesskrieg, das kann niemand aushalten. Er verdient nicht nur unsere Anteilnahme, er verdient einfach unsere Hilfe." O-Ton (Koch ) "Ich muss ehrlicherweise sagen, ich hätte im Jahr 2009 eine so - aus meiner Sicht - krude Argumentation nicht mehr erwartet in einem bundesdeutschen Gerichtssaal. Es ist einfach so, dass Trawnikis, die konnten Urlaub machen, die konnten ausgehen. Die konnten, wenn Sie so wollen, richtig saufen gehen in nem Nachbardorf und mussten dann am nächsten Tag wieder ihren Dienst antreten. Das ist das Leben eines Wachmannes und nicht das Leben eines Häftlings, der jeden Tag aufs Neue fürchten musste, selbst ins Gas getrieben zu werden. Ich find diesen Vergleich unmöglich." Sprecher: Verteidiger Ulrich Busch und Nebenklage-Vertreter Michael Koch. Auch nach Monaten des Prozesses sind die Sichtweisen vollkommen konträr. Mit erregten Dialogen und langen Anträgen des Verteidigers Busch vergehen Wochen und Monate. Alle weist das Gericht ab, manchmal mit Begründungen wie Ohrfeigen. Der ursprünglich vorgelegte Zeitplan - mit einem Urteil im Mai ? ist längst über den Haufen geworfen. Die meisten Beteiligten meinen: Das Verfahren werde mindestens bis Jahresende dauern. Atmo Sprecherin: Längst verfolgen nur noch wenige Journalisten und immer die selben Zuhörer das Geschehen. Routine, ja manchmal auch Leerlauf scheinen zu herrschen. Wenn mal ein Prozesstag ausfällt, weil John Demjanjuk sich in ärztlicher Behandlung befindet, dann merken selbst die Laien: Die deutsche Justiz hat sich sehr spät ein ehrgeiziges Projekt vorgenommen. Sound Sprecher: Die Trawniki waren kleine, aber unverzichtbare Rädchen in der Mordmaschinerie der Vernichtungslager, doch bisher hatten die Strafverfolger um sie einen Bogen gemacht; Auch die deutschen NS-Täter wurden schließlich oft gar nicht oder nur sehr spät belangt. Eine neue Ermittler-Generation hat nun den mutmaßlichen Handlanger Demjanjuk vor Gericht gestellt. Die Trawniki-Expertin Angelika Benz ist hörbar skeptisch. O-Ton (Benz) "Es ist natürlich fraglich, wenn man sich anguckt, dass der Ausbildungsleiter Karl Streibel freigesprochen wurde, weil man ihm nicht beweisen konnte, dass er wusste, wofür seine Männer abgestellt werden. Also das zeigt noch mal die Schwierigkeit und lässt vielleicht verstehen, warum man nach den Trawnikis auch so greift. Bei denen sieht man einfach wirklich das Blut an den Fingern. Das sind die, die es gemacht haben und damit hätte man mit diesem Personenkreis einfach juristisch gesehen endlich jemanden, dem man es nachweisen kann. Die moralische Schuld und die Freiwilligkeit ist dann wieder ein ganz anderes Thema." Sound Sprecher: Mitte Mai macht das Münchner Gericht deutlich, dass es viele Hinweise für eine Schuld Demjanjuks sieht. Sollte John Demjanjuk schuldig gesprochen werden, so steht aber ziemlich sicher noch eine Revision an. Wie lange die Justiz dafür brauchen würde, ist schwer absehbar. Auf jeden Fall wird Demjanjuk so lange in einer Art vergittertem Altenheim leben. Seine Familie weiß das. Deshalb glauben viele: Seine Unterstützer spekulieren sogar darauf, diesen Prozess bis zur Verhandlungsunfähigkeit oder zum Tod des Greises zu verzögern. Denn rein formal gesehen ist die Schuldfrage bis zum Ende der Revision ungeklärt - seine Angehörigen und Freunde könnten weiter sagen: John Demjanjuk bleibt, was er nach ihrer Ansicht immer war: unschuldig. Sound Sprecherin: Ist es also absurd, diesen Prozess um die Schuld eines alten Mannes voranzutreiben ? vermessen, ihn überhaupt begonnen zu haben? Geht es wirklich um Demjanjuk oder nicht doch auch - zumindest als Teilaspekt - um das Prestige der deutschen Justiz? Immer wieder stellen sich die Beobachter im Saal diese Frage. Diese Verquickung - Suche nach der Schuld eines Einzelnen und zugleich Aufarbeitung von Geschichte - ist das Einzigartige an diesem Verfahren. Sie führt dazu, dass bei denjenigen, die keinen Prozesstag versäumen, immer wieder Zweifel am Sinn des gesamten Verfahrens hochkommen. Aber es gibt auch die anderen Momente: Wer nur kurz zugehört hat, wenn einer der Nebenkläger erzählt, sieht auch einen Sinn in dem Prozess. Das Erzählen befreit die Opfer von einer Last. Sie sind erleichtert: Endlich ? die Deutschen, nach so vielen Jahren! Vielen von ihnen ist es egal, ob es ein Urteil gibt. Es war entscheidend, dass das Verfahren überhaupt begonnen hat. Unabhängig vom Ausgang des Prozesses ist es wichtig, dass sich die Justiz der Aufgabe gestellt hat und dass sich auch John Demjanjuk stellen muss. Und es gibt noch ein Argument. Tom Segev erwähnt es am Ende des Gesprächs in Jerusalem. Der Einwand, man könne einen alten Mann wie John Demjanjuk nicht vor Gericht stellen, zählt für ihn nicht: O-Ton (Segev) "Es gibt ja nicht mehr viele NS-Verbrecher, die noch frei sind und die man noch vor Gericht stellen kann. Wenn wir über Deutschland reden, ist das wirklich ein Kapitel,das Deutschland versäumt hat. Ich bin wirklich dafür, dass man bis zum Letzten und ich bin auch für den Demjanjuk-Prozess in Deutschland. Nicht so sehr, weil es mir um Demjanjuk geht. Sondern besonders deshalb, weil eigentlich die ganze Menschheit nicht genug gelernt hat vom Zweiten Weltkrieg, und es gab ja nicht wenige Fälle von Völkermord nach dem Zweiten Weltkrieg. Das passiert immer wieder und ich glaube, dass es grade deshalb wichtig ist, Kriegsverbrecher zu verfolgen." Sound Zitator: Ein alter Mann und seine Schuld Der Prozess gegen John Demjanjuk" Sie hörten ein Feature von Tim Aßmann und Rainer Volk Mitarbeit: Klaus Kastan. Es sprachen: Rahel Comtesse, Claus Brockmeyer, Armin Berger und viele andere Sound-Design: Dagmar Petrus Ton und Technik: Fabian Zweck Redaktion und Regie: Helga Montag. Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks mit dem Deutschlandfunk 2010. 1 1