COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 29. November 2007 Redaktion: Peter Kirsten Klaustropolis Paul Virilio über die Logik der Panik in unseren Städten Von Christoph Vormweg Musik: [Images of war, Track 2, 14, 19: düster, flächig] Autor 1: Sicherheitskräfte mit Maschinenpistolen im Anschlag: daran hat sich der westliche Metropolen-Bewohner wieder gewöhnen müssen. Sie sind das sichtbarste Zeichen, dass die Großstadt potentielle Kriegszone ist. Auch in Paris. Seit dem 11. September 2001 lebt man dort mit der Angst im Hinterkopf: ob hoch oben in der 59-stöckigen Tour Montparnasse, dem schwarzen Büroturm, oder tief unten im "Bauch von Paris", wo sich S-Bahn- und Metro-Züge mit täglich Hunderttausenden Pendlern kreuzen. 1. O-T-Anf.: [Virilio 9:20] Là aujourd´hui, si le terrorisme a lieu... Sprecher 1: Wenn der Terrorismus heute stets in der Stadt operiert, [...] dann, weil man mit ein paar Leuten so viel Schäden anrichten kann wie mit einer Armada. Ein Beispiel: der Anschlag auf das World Trade Center hat mehr Tote gefordert als Pearl Harbour. [...] Der Ort des neuen Krieges - das heißt der terroristischen Metropolitik, die die Geopolitik mit ihren Schlachtfeldern in Verdun, Stalingrad oder Kursk abgelöst hat [...] - ist heute die Stadt. O-Ton-Ende: ...maintenant c´est la ville. Autor 2: Der Stadtplaner, Architekt und Medientheoretiker Paul Virilio, Jahrgang 1932, gehört zu den Kindern des Krieges. Und die, sagt er, ticken anders. Die Begegnung mit libanesischen Studenten an der bis zu seiner Emeritierung 1998 von ihm geleiteten Pariser Hochschule für Architektur habe ihm das erneut bestätigt. Bombennächte traumatisieren. Man wird ein anderer. Für Paul Virilio waren es als Kind während des zweiten Weltkriegs die Luftangriffe der Alliierten auf die westfranzösische Großstadt Nantes. In seinem Essayband "Panische Stadt" schreibt er: Musik: [düster] Sprecher 2: Nach Dresden, mehr noch nach Hiroshima und Nagasaki, hat sich diese "Luftpolitik" zu einer Kosmopolitik des atomaren Schreckens gewandelt, deren Anti-Stadt-Strategie noch vor kurzem dem "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen West und Ost zugrunde lag - in Vorwegnahme von GROUND ZERO und der Heraufkunft eines anonymen Hyperterrorismus, der imstande ist, nicht nur Hochhäuser zusammenklappen zu lassen, sondern auch den "Bürgerfrieden" zwischen den Völkern einer zerrütteten Welt. [S.23] Autor 3: Das Hochhaus, einst Symbol des Fortschritts, ist in den Augen Paul Virilios zur Falle geworden - und zwar im doppelten Sinne: Zum einen haben die Selbstmordattentäter das traditionelle Frontdenken ausgehebelt, denn die Front ist von nun an überall; zum anderen seien die westlichen Wohnwabenbewohner noch leichtere Opfer der "Tyrannei" der Fernsehbilder. Womit wir beim großen Thema des interdisziplinär operierenden Denkers sind: der "Dromologie", der Lehre von der technologischen Beschleunigung, die sämtliche Raum-, Zeit- und Realitätsvorstellungen in wenigen Jahrzehnten radikal verändert hat. 2. O-T-Anf.: [Virilio 15:50] Je crois qu´on va envers ce que j´appelle une mondialisation des affects... Sprecher 3: Ich glaube, wir steuern auf eine, wie ich es nenne, "Globalisierung der Affekte" zu. Sogar den Begriff "Kommunismus der Affekte" habe ich schon benutzt. Ich glaube, die Kapazitäten der Synchronisierung der Informationen, die Kapazitäten der Synchronisierung der Attentate sind die neue Form der Industrialisierung des Kriegs. Nach der Standardisierung des Materials, der Waffen und Produkte und der Standardisierung der öffentlichen Meinung durch die Presse, was mit der Demokratie noch vereinbar war, treten wir jetzt ins Zeitalter der Synchronisierung ein. Das ist nicht mehr die industrielle Revolution, sondern die Revolution der Direktübertragungen, die - ob beim Einsturz des World Trade Centers oder beim Tsunami - rund um die Welt dieselben Emotionen hervorrufen. Wir befinden uns hier vor einem neuartigen, wenn nicht religiösen Phänomen: vor der gottgleichen Möglichkeit, praktisch auf der ganzen Welt das gleiche Gefühl zu erzeugen. O-Ton-Ende: ... du monde entier pratiquement. Autor 4: Die Direktübertragung der ersten Mondlandung 1969 stuft Paul Virilio als Test ein. Heute seien es die Live-Schaltungen in die aktuellen Kriegs- und Katastrophenzonen, die weltweit die Menschen in ihren Bann zögen. Komprimiert als Endlosschleife der immer gleichen Bilder setzten sie sich in den Hirnen fest. Sprecher 4: Es herrscht die Gleichzeitigkeit der Information. Es werden keine Meinungen mehr gebildet, es werden Emotionen hervorgerufen. Diese Verschiebung ist bedenklich. Denn der Affekt ist ein schlechter Ratgeber. Er sucht blindlings nach einem Sündenbock. [Virilio in: Weltwoche 06.01.2005] Autor 5: Mit dramatischen Folgen: 3. O-T-Anf. : [Virilio 17:30] Là c´est carrément une arme... Sprecher 5: Das ist geradezu eine Waffe: Die Synchronisierung ist ein unvergleichliches Phänomen der Panik. Wir stehen vor der Möglichkeit eines "Ministeriums der Angst", um an den Titel Graham Greenes zu erinnern. Das "Ministerium der Angst" hat die Möglichkeit, in Echtzeit reagieren. Die Echtzeit ist eine Tyrannei! - [ironisch:] einerseits natürlich ein wunderbarer Erfolg - die Einheit der Menschheit -, andererseits aber grauenerregend. Das ist beides. O-Ton-Ende: ... C´est les deux. Musik : Autor 6: Die "Synchronisierung der Affekte": in der Übersetzung von Paul Virilios Essay-Band "Panische Stadt" heißt das: die "Gleichschaltung der Gefühle". Ob man diese Wortwahl, die einen Bezug zum Gleichschaltungsfuror der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren herstellt, als tendenziös einstuft oder nicht: an der bedrohlichen Tatsache ändert es nichts. Nicht nur der kürzlich verstorbene Philosoph Jean Baudrillard hat die fatalen Auswirkungen der Massenmedien auf die Psyche der Dauernutzer reflektiert. Auch bei uns ist gerade eine Streitschrift erschienen, die vor der unterschwelligen Bändigung durch Bilder und Sprachregelungen warnt: Walter van Rossums Buch "Die Tagesshow - Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht". Was diesen Autoren und Paul Virilio gemeinsam ist? Sie werden gern als Übertreiber abgestempelt, oft sogar als verkappte Verschwörungstheoretiker. 4. O-Ton: [Peter Gente 46:30] Mit der Frage der Richtigkeit seiner Thesen: da bin ich sehr vorsichtig, wenn nicht skeptisch, weil ich doch finde, dass er ziemlich paranoisch ist, ja. [[58:30 Aber ich finde, diese Paranoia ist eine Wahrnehmung, die sehr viele Fakten liefert.]] Autor 7: Peter Gente, ehemaliger Leiter des Berliner Merve-Verlags, der Paul Virilio Ende der 1970er Jahre für den deutschen Buchmarkt entdeckt hat: 5. O-Ton: Seine Wahrnehmung ist sehr überzogen [...], aber ich finde, dass es das Recht eines Schriftstellers ist zu warnen. Und man warnt eben, indem man eben überzieht, übertreibt und verabsolutiert. Ich glaube nicht, dass seine Schlussfolgerungen [...], das die stimmen. Aber er deutet bestimmte Richtungen an, Gefahren deutet er an - und das ist sein Recht als Schriftsteller zu übertreiben, so was wie im Deutschen meinetwegen zum Beispiel Günter Anders - auch so ein Katastrophentheoretiker und so ein Horror-Philosoph, wenn man so will. Musik: Autor 8: Paranoia - nicht nur die Bomben, die aus den alliierten Flugzeugen fielen, haben Paul Virilio als Kind in Angst und Schrecken versetzt. Er musste auch miterleben, wie die Gestapo im besetzten Frankreich Jagd auf seinen Vater machte, einen italienischen, vor Diktator Mussolini in die Bretagne geflohenen Kommunisten. Mit anderen Worten: Paul Virilio ist - individuell und kollektiv - durch die Schule der Panik gegangen und deshalb für ihre Vorboten so empfänglich: für die sich anbahnenden Katastrophen und Absurditäten, die politischen und sozialen Desaster. Den Glauben, der ihm Halt gab und gibt, fand er 1950 als 18-jähriger nach einer Begegnung mit dem kürzlich verstorbenen, in Frankreich äußerst populären Arbeiterpriester Abbé Pierre. Nach seinem Wehrdienst als Kartograph im Algerienkrieg wechselte Paul Virilio, der Glasmalerei studiert hatte, ohne theoretische Ausbildung ins Berufsleben als Architekt und Stadtplaner. Bezeichnend sein erstes Bauwerk: eine Kirche in Nevers, die einem Bunker gleicht und durch den Film "Hiroshima, mon amour" nach einem Roman von Marguerite Duras bekannt wurde. Von Paul Virilios Obsession für den Krieg zeugte auch sein erstes Buch "Bunkerarcheologie", für das er die 15.000 Bunkerbauten der Atlantikküste zu Fuß erkundete. In diesem Zusammenhang fand er auch sein Hauptthema: die rasante, gerade in Kriegszeiten forcierte Beschleunigung des technischen Fortschritts und seine Folgen. Verleger Peter Gente: 6. O-Ton: [Peter Gente 42:00] Heidegger hat das auch mal gesagt, dass ein Philosoph sich dadurch definiert, dass er sich mit einem einzigen Begriff eigentlich sein Leben lang auseinender setzt. Und da war der Virilio ein ganz entscheidender Typ, der das gemacht hat: der einen Begriff hatte und "Geschwindigkeit und Politik" auch lange als sein Hauptwerk betrachtet hat und immer wieder als sein wichtigstes Buch beschrieben hat. Der hat sozusagen ein Thema gehabt und der hat dann dem Thema entsprechend auch eine Stilistik entwickelt. [...] Das hat uns fasziniert, so dass wir von dem Bücher gemacht haben. 7. O-T-Anf.: [Virilio 00:25] Hannah Arendt disait cette phrase... Sprecher 6: Hannah Arendt sagte den Satz: Der Fortschritt und die Katastrophe sind die Vorder- und Rückseite derselben Medaille. Dieser Satz wirft für uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts Fragen auf. Denn es geht um das Scheitern des Erfolgs - ein totales Paradox. "Panische Stadt" ist in gewisser Weise das Resümee dieser Katastrophe. Denn die Stadt ist der Ort par excellence, an dem sich die technischen Wissenschaften konzentrieren, die technische Kommunikation, die Energie et cetera. Die "panische Stadt" - ich sage das als Urbanist - ist für mich die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Schnelligkeit der Kommunikationsmittel und vor allem die Revolution der Direktübertragungen haben den Ort des Politischen, die Stadt, verändert. O-Ton-Ende: ...lieu du politique, la cité. Autor 9: Paul Virilio, in Paris geboren und dort über Jahrzehnte als Professor für Architektur tätig, ist mittlerweile ein Stadtflüchtling. Seit seiner Pensionierung lebt er "am Rand", wie er sagt: an der Atlantikküste in La Rochelle - ohne Fernseher, ohne Auto. Auch mit fast 75 Jahren nutzt er aber immer noch jede Möglichkeit, in den von ihm respektierten Medien seine Warnungen zu verbreiten: in Büchern, seriösen Zeitungen und Zeitschriften, im staatlichen Rundfunk. Die Katastrophen und Kriege der letzten Jahre haben Paul Virilio konkreter werden lassen, realitätsnäher, nachvollziehbarer. Früher hatte er sich gern in Visionen verstiegen - so in seinem Essay "Rasender Stillstand" in die Figur des Telejunkies, der in seinem heimischen "Telehafen" zum "Schlafwandler" degeneriert, zum "Seh- und Bewegungsbehinderten". Die "panische Stadt" setzt da neue Maßstäbe. Denn der Erwartungshorizont der Metropolen-Bewohner ist - so Paul Virilio - nicht mehr die Revolution, sondern der GAU, der größte anzunehmende Unfall. Musik: Sprecher 7: Ein weiteres Krankheitssymptom für die GROSSE VERSCHANZUNG ist die rasante Ausbreitung von GATED COMMUNITIES und die Wiederkehr der Festungsstadt, vor allem in den Vereinigten Staaten, wo sich [...] zig Millionen von Amerikanern freiwillig einschließen, auf der Suche nach dem endgültigen Komfort: der INNEREN SICHERHEIT. Wo man auch hinblickt: Privatstädte, beschützt von Elektrozäunen, Kameras und Wachpersonal. [...] Dies sind nur einige der Symptome für die krankhafte Regression der Stadt, der KOSMOPOLIS, der offenen Stadt der Vergangenheit, in die KLAUSTROPOLIS, wo sich der Abschluss durch den Ausschluss verdoppelt: den Ausschluss des Fremden, des Streuners und Außenseiters. [S.71/72] Autor 10: Die sozialen Außenseiter sind in Paris seit Jahrzehnten in die Wohntürme der Vorstädte verbannt. Sie sollen in der Bannmeile, der Banlieue, auf Distanz gehalten werden. Und in der Tat: bei den Vorstadt-Krawallen vor zwei Jahren blieben sie meist in ihren Gettos. In Paris selbst brannten nur wenige Autos, so dass die "Belagerungspsychose" der Innenstädter, wie Paul Virilio sie nennt, leer lief. In den brennenden Vorstädten jedoch sieht der Medienkritiker einen erneuten Beleg für seine These von der "Demokratie der Emotion". Die vermummten, namenlosen Steinewerfer und Abfackler hätten keine Wortführer ernannt und keine politischen Forderungen gestellt. Anders als im Mai 1968 hätten sie sich - wie zuvor in Los Angeles und anderswo - von einer kollektiven Leidenschaft treiben lassen. Umso mehr bemühten sich bei den folgenden Präsidentschaftswahlen die Kandidaten um die Wähler in den von Paul Virilio so genannten "vertikalen Sackgassen". 8. O-T-Anf.: [Virilio 18:20] Quand on voit l´évolution des pouvoirs... Sprecher 8: Wenn man die Entwicklung der Machtverhältnisse - Frankreich inbegriffen - betrachtet, beginnend mit Ross Perot in den USA, dann Fernando Collor in Lateinamerika, dann Berlusconi in Italien, und heute Sarkozy, sieht man, in welcher Weise man sich vor einer Medienmacht befindet, die nicht mehr viel mit der parlamentarischen Demokratie zu tun hat. Das ist die Live-Demokratie. Das ist keine repräsentative Demokratie mehr, sondern eine präsentative. [...] Das ist das Bild, die Schockwirkung. Wir sind vom "politisch Korrekten" zum "optisch Korrekten" übergegangen, zum "optically correct". [O-Ton frei] Die Wahl Sarkozys in Frankreich war für mich ein Horror. Und das ist keine Frage von Rechts oder Links, das ist längst Schnee von gestern. Wir befinden uns vor einer Tyrannei des Bildes, einer panoptischen Tyrannei, um einen Begriff von Jeremy Bentham zu nehmen, den Michel Foucault wieder aufgegriffen hat. Mit Ségolène Royale wäre es dasselbe gewesen. Beide Kandidaten von links und rechts operierten in derselben Berlusconischen Logik. Wir haben es heute - wie ich es in einem früheren Buch genannt habe - mit medialen Putschen zu tun. O-Ton-Ende : ...putches médiatiques. Autor 11: Medienputsche - sie entscheiden in Paul Virilios Augen nicht nur über nationale Geschicke sondern längst auch über die internationale Machtpolitik. Beim jüngsten Irak-Krieg etwa sei es - neben der geographischen Besetzung der strategisch wichtigen Golfregion - technologisch vor allem um "die Kontrolle des Weltbildschirms" gegangen. In diesem Zusammenhang spricht Paul Virilio von einer regelrechten "Informationsbombe". Musik: Sprecher 9: Die Liveberichterstattung ist für die Information, was die Radioaktivität für die Atombombe ist. [...] Der INFOWAR [...] erscheint als ein KRIEG GEGEN DAS WIRKLICHE; als ein Krieg der vollständigen Vernichtung der Wirklichkeit, in dem die Massenkommunikationswaffen strategisch den Massenvernichtungswaffen überlegen sind. [S.41f.] Autor 12: Massenkommunikationswaffen - so lange US-Truppen im Großeinsatz sind, werden die in westlichen Wohnzimmern präsentierten TV-Bilder vom Pentagon in Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender CNN abgestimmt. Von Objektivität mag da selbst der größte Optimist nicht mehr reden. Wer Herr seiner Sinne, seiner Meinungen und Gefühle bleiben wolle, muss, so Paul Virilio, auf Abstinenz setzen - wobei der Medientheoretiker selbst natürlich die Bildermaschine genau kennen muss, über die er spricht. Ein Teufelskreis. Doch schaffen Paul Virilios Texte unweigerlich Distanz zum Medium - gerade auch wegen ihrer eigenwilligen Begrifflichkeit. Peter Gente, Merve-Verlag: 9. O-Ton: [Peter Gente 43:20] In dem Buch hier über den "reinen Krieg" beschreibt er auch seinen eigenen Stil so ein bisschen, dass er so Stufen baut. Und er ist schwer zu übersetzen [...] und auch nicht so einfach zu verstehen, weil er doch viele technische Finessen und technische Nouveautäten bearbeitet und kennt. [...] Punkt ist für mich: dass er überhaupt ein Stilist ist, und das ist wichtig. Also es gibt wenige Philosophen - auch im deutschen Sprachraum -, wo ich das sagen würde: dass das Stilisten sind. Autor 13: Paul Virilio, der im Januar 75 Jahre alt wird, ist ein Essayist der Zuspitzung, der griffigen Formulierung, der beängstigenden Zukunftsvisionen. Er selbst bezeichnet sich als Realist und nicht - wie viele Journalisten - als Apokalyptiker. Denn "der Untergang der Welt" sei, wie er verschmitzt sagt, "kein Konzept für die Zukunft". Ein Optimist ist für Paul Virilio einer, der - wie Winston Churchill sagte - hinter jeder Katastrophe eine Chance wittere. Daher sei sein Lebensmotto das seines Namensheiligen, des Apostels Paulus: Sprecher 10: Hoffen gegen alle Hoffnung. Musik: [Akzent] Autor 14: Wie aber die Logik der Panik in den Städten durchbrechen? Das Dilemma ist gigantisch. Denn es begann nach dem zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau der zerbombten europäischen Städte, als riesige Wohnriegel mit möglichst billigen Materialien hoch gezogen wurden. Realistisch ist für den Stadtplaner und Architekten Paul Virilio nur eine gezwungenermaßen langsam wirkende Umstellung der architektonischen Prinzipien: 10. O-T-Anf.: [Virilio 36:00] J´ai une opposition totale à la tour... Sprecher 11: Ich bin total gegen Wohntürme, gegen den "Turmismus", wie ich ihn nenne. Ich habe nichts gegen das eine oder andere Hochhaus, und natürlich liegt die Zukunft des Urbanismus auch in der dritten vertikalen Dimension. Zu diesem Thema habe ich eigens die Zeitschrift "Architecture principe" herausgegeben, wo ich schreibe, dass man natürlich in die dritte Dimension der Architektur einsteigen müsse: aber nicht über die Vertikalität, sondern über den Blick. Das heißt, man muss den Boden berücksichtigen. Fortentwickelt haben sich in der Geschichte der Architektur die Mauer, die Säule, das Gewölbe und die Bedachung. Das einzige, was sich seit den Ägyptern nicht fortentwickelt hat, ist die Rampe, das heißt der Blick, die Topologie der komplexen Oberflächen. [O-Ton frei] Wir wohnen auf dem Boden. Die Stadtplanung ist ein Boden-Phänomen. Wohntürme in Massen zu bauen wie in Schanghai, wo es 4000 Wohntürme in einer Höhe von bis zu 800, zu 1000 Metern gibt, ist der Wahnsinn. Das sind vertikale Sackgassen, das sind Gettos. Mit den Wohntürmen werden wir genauso scheitern wie mit den Wohnriegeln. Die Wohnriegel zerstört man jetzt, weil sie unbewohnbar sind. Aber die Wohntürme sind noch schlimmer. Wir haben da keine Komplexität. Die Komplexität: das ist der Boden, das Labyrinth am Boden, die Medina oder so etwas, das Labyrinth im 3-D-Format. [...] Der Boden ist der Ort, wo man die Beziehungen verwalten kann. O-Ton-Ende: ...où on peut gérer les relations. Autor 15: Paul Virilio: der Warner, die Kassandra. Die größte Schuld am Status Quo tragen für ihn nicht die Stadtplaner und Architekten, sondern die Technokraten im Hintergrund mit ihren pragmatischen, preisgünstigen, meist kurzsichtigen Vorgaben. Um zu einer neuen Kultur der Verantwortlichkeit vordringen zu können, braucht es für Paul Virilio vor allem eines: die Bereitschaft zum Widerstand. Großes Vorbild für den Katholiken ist hier der protestantische Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer - nicht nur wegen seines Muts, sondern wegen seiner unbedingten Bereitschaft zur Wahrheit. Und Wahrheit ist für Paul Virilio ein Schlüsselbegriff. So plädiert er, um die Sensibilität für die Gefährdungen der Menschheit, das heißt der eigenen Endlichkeit wach zu halten, schon seit Jahren für die Einrichtung eines Museums der Katastrophen. Sprecher 12: Jede Katastrophe ist akzidentell, zufällig - und mit dem Zufälligen rechnet man nicht. Doch heißt es bei Aristoteles wörtlich: "Das Akzidentelle offenbart die Substanz". Deshalb glaube ich, dass die Katastrophen uns lehren, was das Wesen unserer Epoche ist. Man kann heute nicht mehr strikt trennen zwischen natürlichen und künstlichen, industriellen Katastrophen. Und das Entscheidende an den Katastrophen ist nicht, dass sie den Weltuntergang einläuten, sondern dass sie chaotische politische Kräfte freisetzen. [Virilio in: Weltwoche 06.01.2005] Autor 16: Mit Ausstellungen über die Geschwindigkeit, über "Kunst und Krieg" und "Das, was kommen wird", hat Paul Virilio bereits versucht, zu größerer Bewusstwerdung beizutragen. Die nächste plant der rastlose Pensionär in Paris: 11. O-T-Anf.: [Virilio 44:30] La prochaine exposition... Sprecher 13: Die nächste Ausstellung hier in der Fondation Cartier in einem Jahr hat die soziale Mobilität zum Thema - alle Arten von Mobilität: den Tourismus, die Immigration, die Klima-Flüchtlinge, die politischen Flüchtlinge, den Weltraum-Tourismus [...] et cetera. Abgesehen von der Mobilität werden wir den Wandel bei der Sesshaftigkeit beleuchten. Früher waren der Sesshafte und der Nomade entgegengesetzt, völlig verschieden. Heute hat sich das geändert. Wer ist heute der Sesshafte? Der, der überall zu Hause ist: im Zug, im Aufzug, im Flugzeug, an Handy und I-Pot, vor seinem Computer. Er ist überall zu Hause [...] überall und nirgends. O-Ton-Ende: ... partout et nulle part. Autor 17: Paul Virilio auf den Spuren des Zeitgeists: ein Denker, der die Zukunft befragt und vor einem ungebremsten Fortschritt mit seinen absehbaren Großunfällen warnt. In seinem neuen, gerade in Paris erschienenen Buch "L´université du désastre" geht er noch einen Schritt weiter. Dort plädiert Paul Virilio für die Einrichtung einer Hochschule für Katastrophenforschung. Denn wer nicht forscht, kann auch nicht erkennen: 12. O-T-Anf: [Virilio 24:00] La révolution de l´information... Sprecher 14: Die Revolution der Information ist - im etymologischen Sinne des Wortes - eine religiöse Revolution. Ich erinnere an die Attribute des Göttlichen: die Allgegenwart, die Augenblicklichkeit, die Unmittelbarkeit. Dagegen hilft nur Askese und philosophische Intelligenz. [...] Es ist an der Zeit zu verstehen, dass unser Scheitern der Misserfolg des Erfolgs ist. Was den Erfolg der Wissenschaft, das heißt des Wissens, ausmachte, ist durch seine technisch-wissenschaftliche Instrumentalisierung zum Misserfolg geworden. In diesem Sinne ist die technische Wissenschaft der Ruin der Wissenschaft. Und ich sage ganz bewusst "der Ruin". Deshalb spreche ich in diesem Buch auch von einem "Unfall der Erkenntnisse". [...] Das betrifft die Philosophie und die Wissenschaft in ihrem Kern. O-Ton-Ende: ...dans leur coeur. Autor 18: Je länger man Paul Virilio, der selbst nicht Philosoph genannt werden will, zuhört, je tiefer man sich in seinen Argumentationssträngen verfängt, umso ungemütlicher wird es. Nicht nur seine griffige, zuspitzende Stilistik und sein Gespür für Paradoxe überzeugen. Wer Paul Virilios in alle Weltsprachen übersetzte Analysen über Jahre verfolgt, erlebt auch Überraschungen. Das gibt selbst sein Entdecker für den deutschen Buchmarkt, Peter Gente vom Merve-Verlag, zu, der seinen gewagten Thesen nicht immer folgen mochte. 13. O-Ton: [Gente...ca. 47:30] Andererseits / sind Virilios Thesen auf die Dauer, / haben die so was Prospektives, also die sind vorausschauend, ja. Also das sind oft Sachen, die einem erst später plausibel erscheinen. Autor 19: Vielleicht ist es kein Zufall, dass Paul Virilio die Bühne der Medienöffentlichkeit ausgerechnet im Mai 1968 betrat - mit einem Satz, der nicht an Bedeutung verloren hat: Sprecher 15: Am Ende hängt die Zukunft vom Gleichgewicht zwischen Macht und Phantasie ab. Autor 20: Die revoltierenden Studenten spitzten diesen Satz damals zu ihrer berühmt-berüchtigten Forderung zu: "Die Phantasie an die Macht". Paul Virilio versteht unter Phantasie in erster Linie das Vorausdenken, das Hochrechnen von Fakten. Nur so lässt sich in seinen Augen einer blinden Idealisierung des Fortschritts entgegentreten. Doch wer will ihn erhören? So weit verbreitet Paul Virilios Bücher auch sind: Er schreibt für Minderheiten mit akademischer Vorbildung. Am breitenwirksamsten sind zweifellos seine zahllosen Interviews in der seriösen Weltpresse, wo er seine Bedenken möglichst eingängig formuliert. Wie wichtig sie heute sind, hat auch das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM erkannt, das ihm 2006 eine Ausstellung widmete. Doch reiste Paul Virilio zur Eröffnung nicht an. Denn Würdigungen seines Lebenswerks sind ihm unheimlich. Sie künden vom Ende. Lieber will er weiter warnen. Etwa vor der "Revolution der Transplantationen", die über das Einpflanzen von Mikro-Chips die Überwachung der Menschen durch den Staat erleichtert. Oder vor der permanenten Aufweichung der Demokratie durch Gesetze, die der Polizei den Einstieg in die Privatsphäre über das Internet erleichtern. Oder vor der Entmenschlichung durch die perfektionierte Daten-Übertragung. Auch in seinem Buch "Panische Stadt" beschreibt Paul Virilio die in seinen Texten immer wieder aktualisierte Vision des einsamen Wohnwabenmenschen. Seine Affekte sind über das Fersehen synchronisiert, seine sexuelle Befriedigung über interaktive Datenanzüge simuliert - mit weit reichenden Konsequenzen: Musik: Sprecher 16: Tatsächlich ist die GRAVITATION für die WIRKLICHKEIT der physischen Körper unabdingbar, so wie es die Liebe und die Solidarität für die Menschheit sind. Wenn wir das vergessen - wie wir es gerade machen, indem wir das Soziale in die Netzwerke der virtuellen Gemeinschaft auslagern -, werden wir uns einem SCHWERKRAFTKOLLAPS, einer beispiellosen Bedrückung ausgesetzt sehen, die alle drei Körperarten betrifft: Der Territorialkörper wird zu einem Nichts herabgedrückt [...]; der Gesellschaftskörper zerfällt schrittweise in den Konzentrationssystemen der Stadt; der animalische Körper schließlich verliert durch den Fortschritt der transgenetischen Technologien seine Zeugungs- und Erzeugungsfähigkeiten. [...] In Reich- und Sehweite, wird der blaue Planet nichts weiter sein als ein verstopfter Vorort. [S.124/S.141] Paul Virilio: Panische Stadt. Aus dem Französischen von Justus Krüger und Maximilian Probst. Passagen Verlag, Wien 2007. 146 Seiten, 19 Euro 90. 1