COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 13.11.2011, 00.05 Uhr Titel der Sendung "19. "Open Mike" 2011" Wettbewerb junger deutschsprachiger Literatur in der Literaturwerkstatt Berlin Autor Vanja Budde Redakteur Kolja Mensing Sendetermin 13.11.2011 Regie Roswitha Graf Besetzung Autorin spricht selbst (Kommentar) diverse O-Töne und Atmos (EP) Musik 1. Titel: Primal Scream Interpret: Trainspotting Komponist: A.Innes/R.Young/B.Gillespie/M.Duffy Verlag: emi premier, LC 00542 0'10 2. " 0'10 3. " 0'15 4. " 0'10 5. " 0'25 6. Titel: Dinner Party Pool Party Interpret+Komponist: Angelo Badalamenti Verlag: Milan, LC 08126 0'20 7. Titel: This is the life Interpret+Komponist: Amy MacDonald Verlag: Melodramatic Records, LC 01633 1'55 8. s. Take 1 0'25 9. s. Take 6 1'43 10. s. Take 1 2'27 =========================================================== MANUSKRIPT "19. "OPEN MIKE" 2011" =========================================================== 13. November 2011, 0.05, DeutschlandRadio Kultur, Sendreihe "Werkstatt" von Vanja Budde / Redaktion: Kolja Mensing / Produktion: Roswitha Graf Länge: xx Minuten =================================================== ANMODERATION: =================================================== Beitrag: "Open Mike" 2011 Sendeplatz: Werkstatt, Sonntag, 13. November 2011, 0.05 Uhr Autorin: Vanja Budde Anmoderationsvorschlag: Der ""Open Mike"" der Literaturwerkstatt Berlin ist neben dem Klagenfurter Literaturwettbewerb die wichtigste Bühne für junge deutschsprachige Autoren. Wer zu den drei Gewinnern des ""Open Mike"" gehört, kann sich nicht nur die insgesamt 7 500 Euro Preisgeld teilen, sondern der hat es vor allem oft geschafft, viele Preisträger kamen bei renommierten Verlagen unter. Die Karriere von Karen Duve begann hier, von Julia Franck oder Zsuzsa Bánk. Entsprechend hart ist der Wettkampf um die Gunst der Jury. Ein Lesemarathon: Jeder Autor liest 15 Minuten seinen Text öffentlich vor Publikum. Ein Nerven zerfetzendes Wochenende für die mit großen Hoffnungen angetretenen Kandidaten. Wie Vanja Budde erfuhr, die zwei Finalisten des 11. "Open Mike"" begleitet hat. Atmo 1, zu Hause bei Michael Sieben in der Tucholskystraße vor der Tür, Türsummer, seine Stimme sagt "Ganz oben, vierter Stock", Treppe rauf, steht kurz frei, dann unter Text 1 Die Tucholskystraße in Berlin Mitte - eine extrem angesagte Gegend. Ganz oben im vierten Stock wartet in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung Michael Sieben. Er ist 34 Jahre alt, ein freundlicher, sanfter Wirtschaftswissenschaftler, der hauptberuflich bei Nokia die Finanzen überwacht - und in seiner Freizeit Erzählungen schreibt. Atmo 2, Michael Sieben kocht Tee, wühlt im Schrank, fragt nach der bevorzugten Sorte, steht kurz frei, dann unter Text 2 Michael Sieben kramt im Küchenschrank nach Tee. Noch drei Tage bis zum "Open Mike": Der Sohn eines Elektromeisters und einer Apothekenangestellten ist ein echter Nachwuchsautor: Er schreibt noch nicht lange, hat noch nie öffentlich gelesen, ist überrascht, es mit seiner Geschichte über Mobbing in der Schule als einer von 703 Bewerbern unter die 23 Finalisten des Wettbewerbs geschafft zu haben. O-Ton 1, Michael Sieben, Ton vorab verunsichert, 0'20 "Die wahrscheinlich alle viel mehr Erfahrung haben, und schon Hunderte Texte geschrieben haben, und sich beruflich damit beschäftigen, und wahrscheinlich einen viel größeren Background haben als ich. Finde ich spannend, aber bin ich auch ein bisschen, na ja, ein bisschen verunsichert." Text 3 Die Teilnehmer am zweitägigen Lesemarathon, maximal 35 Jahre alt, dürfen zwar noch kein Buch veröffentlicht haben, so lauten die Bedingungen. Aber viele haben an den drei so genannten Schreibschulen studiert: In Leipzig, Hildesheim und Biel in der Schweiz. Sie sind es gewohnt, Texte vorzutragen und bewertet zu sehen. Michael Sieben dagegen schreibt für sich im stillen Kämmerlein, langsam und bedächtig, wie es seine Art ist. Günter Grass ist sein Vorbild, der Literaturbetrieb ist ihm völlig fremd. O-Ton 2, Sieben, vorab Schiss vor Vortrag, 0'40 "Also ich kann es mir noch nicht wirklich vorstellen, wie es dann tatsächlich ist, dort oben zu sitzen oder zu stehen, und eine Geschichte vorzulesen vor einem größeren Publikum, weil ich das noch nie gemacht habe. Und vor allem, es ist ja kein Vortrag, keine Präsentation irgendeiner Hausarbeit oder irgendwas, eine Präsentation, die man auf der Arbeit zusammengeschustert hat, sondern das ist ja wirklich auch was sehr Persönliches. Und das, wie gesagt, Leuten zum Fraß vorzuwerfen, die auch eigentlich den ganzen Tag nichts anderes machen, als sich Geschichten durchzulesen und die für gut oder schlecht befinden. Ja, da bin ich mal gespannt." Text 4 Im Publikum werden Lektoren und Agenten aus dem ganzen Land sitzen. Und aus Österreich und der Schweiz. Der "Open Mike" ist die wichtige Castingshow des deutschsprachigen Literaturbetriebs: Hier fahnden die Talentjäger nach Frischfutter. Und auch Michael Sieben würde gerne vom Schreiben leben können, anstatt bei einem Telekommunikationsunternehmen Tabellen abzuhaken. O-Ton 3, Michael Sieben, vorab träumen, 0'15 "Wenn es da eine Chance gäbe, würde ich die auf jeden Fall nutzen wollen. Wenn ich nicht davon träumen würde, würde ich wahrscheinlich auch nicht schreiben." Atmo 3, Trenner Text 5 Für Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, ist ein Leben als Schriftstellerin mehr als ein Traum: Sie hat keinen anderen Beruf gelernt, schreibt schon, seit sie ein Teenager ist, hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. O-Ton 4, Janna Steenfatt, vorab existenziell, 0'10 "Das Schreiben ist einfach, es ist existenziell. Also, ich denke da gar nicht drüber nach, es ist wie so ein Drang. Die Frage, ob ich das tue oder es irgendwie sein lasse, stellt sich gar nicht." Text 6 Janna Steenfatt ist schon Profi, hat bereits an vielen Literatur-Wettbewerben teilgenommen, was ihr einige Stipendien und Preise eingebracht hat. Ein begonnener Roman wartet in der Schublade auf Verlags-Interesse. An einem sonnigen Freitagvormittag sitzt sie in der Dachwohnung einer Freundin in Friedrichshain - und hegt hohe Erwartungen an das Wochenende. O-Ton 5, Janna Steenfatt, vorab "Open Mike" was Besonderes, 0'25 "Der ,Open Mike' ist für mich auf jeden Fall was Besonderes. Ich habe mich ja zum ersten Mal beworben, obwohl ich es immer vorhatte und keinen Text hatte, der auf die Länge passte. Und jetzt hat es endlich mal geklappt. Natürlich guckt man sich das seit Jahren an. Während des Studiums am Literaturinstitut auch. Die Kommilitonen bewerben sich. Und der "Open Mike" ist da schon etwas, wo man sehr drauf hofft, dass das klappt." Text 7 Eingereicht hat sie eine Liebesgeschichte: "Somebody in Texas loves me". Angst hat sie nicht. Im Gegenteil. O-Ton 6, Janna Steenfatt, vorab Rampensau, 0'50 "Ich persönlich lese sehr gerne. Ich bin auch so ein bisschen da eine Rampensau, würde ich sagen, und habe da kein Problem mit. Ich glaube auch, dass es beim "Open Mike" sehr freundlich zugeht. Im Gegensatz zu anderen Preisen, wo vielleicht der Druck sehr groß ist, dass man dann auch gewinnt. Und wenn man dann nicht gewonnen hat, dann wird man auch von niemandem mehr angeguckt. Ich glaube, dass beim "Open Mike" es letztendlich keine zwingendermaßen eine Rolle spielt, ob man gewonnen hat oder nicht. Natürlich brauchen wir alle das Geld, das ist klar. Aber ich glaube, dass es auch, um irgendwie gesehen zu werden, um vielleicht entdeckt zu werden von Verlagen, Agenten. Dafür ist es einfach wichtig, da zu sein." Text 8 Samstag, der 5. November. Ein milder, sonniger Herbsttag. Kraniche ziehen am Himmel über Berlin hinweg nach Süden. Schauplatz des "Open Mike" der Literaturwerkstatt ist das Kulturzentrum "Wabe": Ein ehemaliges Gaswerk im Ernst-Thälmann-Park im Prenzlauer Berg. Janna Steenfatt und Michael Sieben wirken recht ruhig - noch. O-Ton 7, Janna Steenfatt, 0'10 "Die Stimmung ist gut, ich hab einen Kaffee, bin mehr oder weniger ausgeschlafen und lass es auf mich zukommen." Kreuzblende zu O-Ton 8, Michael Sieben, möchte am Samstag dran kommen, 0'15 "Ich freue mich ein bisschen drauf, ich würde mir einfach nur wünschen, heute, am Samstag schon, dranzukommen, und nicht erst bis Morgen warten zu müssen. Damit ich die anderen Vorträge in Ruhe verfolgen kann." Text 9 Michael hat sich Unterstützung mitgebracht: Seine Freundin Federica, aus Düsseldorf eingeflogen. O-Ton 9, Frederica am Samstag, 0'15 "Ja ich bin natürlich stolz wie Oskar. Und freue mich natürlich riesig für ihn, weil ich ja auch vorher schon mitbekommen habe, dass es einfach sein Lebenstraum war, irgendwie literarisch einfach Erfolg zu haben. Insofern freue ich mich einfach riesig." Kreuzblende zu Atmo 4, Samstagmittag im Kulturhaus "Wabe": Die Kandidaten versammeln sich, melden sich an, unterschreiben Nutzungsvertrag, bekommen Umschlag mit 100 Euro, steht kurz frei, dann unter Text 10 High Noon: Auch die anderen Kandidaten des Lesemarathons versammeln sich, einige bleich und angespannt, andere betont cool und lässig. Melde-Prozeduren: Atmo 5, Michael Sieben meldet sich an, unterschreibt Formular usw.., 0'20 frei, dann unter Text 11 Ein Mann von Anfang 50 im Tweedjackett beobachtet die Prozedur: Thorsten Ahrend, beim Wallstein Verlag für die Belletristik zuständig. Ahrend gehört zu den sechs Lektoren, die aus den hunderten anonymisierten Einsendungen die knapp zwei Dutzend Finalisten-Texte heraus gefiltert haben. O-Ton 10, Lektor Thorsten Ahrend, 0'50 "Die Geschichte des Wettbewerbs zeigt ja, dass aus vielen Leuten, die hier zum ersten Mal ihren Auftritt hatten, was geworden ist im literarischen Leben dieses Landes. Und die Namensreihe ist klasse. Interessant ist es für viele Verlage, auch Agenturen, weil die Autoren hier in aller Regel noch keine Verlage haben. Das ist in Klagenfurt grundlegend anders. Da versuchen die Verlage, ihre Schäfchen zu promoten. Da gibt es ganz, ganz selten einen Autor, der noch gar keinen Verlag hat. Das ist natürlich ein Vorteil hier für den "Open Mike". Aber man kriegt auch geballt junge Autoren. Und das ist erst mal interessant, um überhaupt ein Gespür dafür zu kriegen, was sind die Themen, was sind die Sprechweisen." Text 12 Wer von den Hoffnungsträgern wann zu Wort kommt, diese bange Frage klärt wie jedes Jahr ein Verlosungs-Ritual auf der Lesebühne im noch leeren Saal der "Wabe". Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, macht den Zeremonienmeister. Atmo 6, Verlosung, Joseph Felix Ernst zieht die Eins, jammert, Applaus, 0'10 weitere Verlosung unter Text 13 Eine undankbare Position: Joseph Felix Ernst, ein breiter Bayer mit schulterlangen, dunklen Locken, muss als erster lesen. Atmo 7,Verlosung, Kootz, 0'10 Text 14 Die junge Frau aus Mecklenburg, blass, rotblondes, langes Haar, ist so nervös, das ihre Hand heftig zittert, als sie die Karte mit ihrer Start-Nummer zieht. Atmo 8, Verlosung, Michael Sieben zieht die 14, 0'10 Text 15 Michael Siebens Hoffnung erfüllt sich nicht: Die 14 ist erst morgen dran. Und auch Janna Steenfatt wird erst am Sonntag lesen. Atmo 9, Verlosung, Janna Steenfatt zieht die 18, 0'10 Kreuzblende zu Atmo10, Besprechung mit Lektoren unter Text 16 Nachdem alle Start-Nummern verteilt sind, scharen die Lektoren ihre Favoriten zur Strategiebesprechung um sich. Jeder Lektor hat drei Texte ausgesucht, die er oder sie ins Rennen schickt. Der Count Down läuft: In einer Stunde geht er los, der "Open Mike" 2011. Atmo 11, Janna Steenfatt und Lektorin Petra Gropp am Samstag, 0'15 Janna: "Aber hat die Jury die Texte vorher? Weißt Du das? Lektorin: "Das Buch ist ja da, die haben Text." Janna: "Aber, also bewerten die auch die Texte oder bewerten sie die Lesung?" Lektorin: "Ich glaube der Vortrag ist insgesamt schon wichtig und entscheidend. Aber sie haben den Text ja vorliegen." (weitere Diskussion unter) Text 17 Janna Steenfatts Lektorin ist Petra Gropp vom S. Fischer Verlag. Für Michael Sieben ist Sara Schindler zuständig: Cheflektorin und Mitglied der Geschäftsleitung beim kleinen Kein & Aber Verlag in Zürich. Warum hat sie ausgerechnet eine Mobbing-Geschichte aus dem Stapel der Bewerbungen gefischt? O-Ton 11, Sara warum Michael, 0'25 "Eigentlich zuerst dachte ich, oh nein ganz ein bekanntes Thema, der Außenseiter. Alle kennen es, man hat es schon x-mal gehört oder gelesen oder wie auch immer. Und er geht aber ganz neu daran. Das hat mir gut gefallen, dass er erstens die Perspektive, dass der Erzähler noch mal sich mit diesem Außenseiter beschäftigt, noch so viel später, finde ich einen spannenden Ansatz (..). Und, was mir auch gut gefallen hat, ist, dass der Außenseiter selber, dass der so in sich ruht, der ist eine starke Figur." Atmo 12, Lektorin Sara Schindler mit ihrer Gruppe draußen im Parkt, steht kurz frei, dann unter Text 18 Die fröhliche Schweizerin setzt sich ihren Schäfchen draußen im Park auf eine Bank in die Sonne. Sie gleicht mit Michael Sieben seine biografischen Daten ab, denn sie wird ihn vor seiner Lesung auf der Bühne vorstellen. Atmo 13, Besprechung Sara Schindler mit Michael, 1'20 Lektorin: " Also ich habe bekommen zu Dir, 1977 in Mainz geboren, Wirtschaftswissenschaft studiert in Mainz, Köln und Paris. Seit 2006 in Berlin, wo Du in einem, als Brotjob, in einem Telekommunikationsunternehmen arbeitest. Hast Du so gesagt, würde ich auch sagen. Dann hast Du vor zwei, drei Jahren angefangen zu schreiben, für Dich selber. Und das ist jetzt das erste Mal, dass Du mit einem Text an die Öffentlichkeit trittst. Michael:"Ja" Lektorin: " Du bist übrigens nicht der Einzige, ein Lektor hat mir gesagt, er hat nur Leute, die noch nie was publiziert haben." Michael: "Okay, das ist ja beruhigend." Frau: "Ja" (lacht) Er hatte gestern plötzlich Sorge, dass er da alleine ist. Gibt es Fragen? Oder gibt es irgendwas, was Ihr noch?" Kandidatin: "Müssen wir sitzen oder stehen?" Lektorin: "Genau. Ihr sitzt mit einem Mikrofon. Genau. Ich würde einfach nicht zu schnell lesen. Einfach möglichst deutlich, nicht allzu schnell. Man muss immer denken, da sind viele Leute im Publikum, die das einfach hören, zum ersten Mal. (..)Das wäre ja schade, wenn die Leute nicht der Geschichte folgen können. Nicht aus Angst plötzlich viel zu schnell lesen, dass das nicht reicht. Das reicht schon. Also Michael muss da ein bisschen kürzen. Das war einiges zu lang. Aber ich glaube, so kriegen wir das hin. (weiteres Gespräch unter) Text 19 Sara Schindler warnt vor der Eieruhr, die jeden Vortrag nach 15 Minuten gnadenlos abklingelt. Atmo 15, Stimmengemurmel im Saal der Wabe, unter Text 20 Die langen Reihen schwarzer Stühle im Saal füllen sich, Janna Steenfatt und Michael Sieben haben Platz direkt vor der Bühne gefunden, die Jury sitzt am Rand: Drei Schriftsteller. Felicitas Hoppe und Kathrin Schmidt sind es in diesem Jahr - und Tilmann Rammstedt. Er hat genau vor zehn Jahren den "Open Mike" gewonnen. Damals begann für ihn ein neues Leben. O-Ton 12, Tilmann Rammstedt vorab alles geändert, 0'20 " Bei mir war es wirklich so, dass sich im Grunde von einem Tag auf den anderen alles geändert hat. Es war schon klar, am Tag nach dem ,Open Mike', irgendwie wird es ein Buch geben, wenn ich das möchte, wenn ich es schreiben kann. (..) Es ist immer gefährlich, solche Dinge zu sagen, aber es ist ein Sprungbrett. Es ist die Möglichkeit, im Literaturbetrieb Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die man vorher überhaupt nicht hatte." Text 21 14 Uhr, es geht los, Thomas Wohlfahrt erklimmt die Bühne. Atmo 16, Begrüßung Wohlfahrt Samstagmittag, 0'50 "Herzlich willkommen allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Kandidatinnen, Kandidaten des diesjährigen "Open Mike". (..) Vor neunzehn Jahren haben wir damit begonnen und an der Situation hat sich eigentlich nichts geändert. Für junge Autorinnen und Autoren ist es schwer ganz einfach reinzukommen, in das, was man so Literaturbetrieb nennt. Ich habe eine Zahl gelesen, dass wohl nicht nur mehr 90.000 Neuerscheinungen pro Jahr zu verzeichnen sind, im deutschsprachigen Raum oder nur in Deutschland, sondern mittlerweile fast 100.000. Das heißt also, es ist eigentlich jenseits aller Wahrnehmungsgrenzen. (..). Der "Open Mike" wollte eigentlich nie etwas anderes sein, als ein Türöffner, der vorher einen Filter hat, und wer durch den Filter durch ist, der ist womöglich dann herzlich eingeladen und einzutreten in den Literaturbetrieb." (Applaus unter) Text 22 Etliche Danksagungen später ist es dann endlich soweit: Joseph Felix Ernst eröffnet den Lese-Reigen mit einem experimentellen Text über Franz Kafka und dessen letzte Freundin. Atmo 17 (gekürzte) Lesung Ernst, 0'50 "Ja hallo, ich les den Text ,Dora Diamant'. Viel Vergnügen." Liest: Dora Diamant Vorrede : Whareka uri (...) "Du kannst deine Welt nicht an Prag ausrichten. Prag ... du kannst es nicht tun, Franz." "..." "Prag, Franz, Prag." "Wie Greenwich." "Ich bitte dich, Franz, was ist Greenwitch - was hat dieses Greenwitch damit zu tun? Prag, Franz, ich spreche davon, dass du nicht dein ganzes Leben ..." "Greenwich. Paris oder Greenwich. Paris, St. Petersburg, Greenwich. 1884 setzte man für alle Seefahrer dieser Welt den Nullmeridian fest: Er verläuft durch das Observatorium in Greenwich, London. Man definiert Nullpunkte, Dora, Nullpunkte, wonach man beginnt, alles auszurichten. 0°, 2°, 10°, 100° östlicher oder westlicher Länge, ja - aber von Greenwich. Greenwich - Prag. Was macht den Unterschied?" (weitere Lesung leise unter) Text 23 Nicht schlecht, Nummer Eins: Joseph Felix Ernst hat die starke Bühnenpräsenz eines bayerischen Urviechs, eckig und kantig wie auch sein Text. Das Publikum hockt gebannt auf hölzernem Gestühl, auf Treppenstufen und Heizungskörpern. Ein starker Auftakt. Atmo 18, Ende der Lesung kommt hoch, 0'20 "So wurde Kafka nach dem Sanatorium Kierling gebracht, nicht zur neuen Hoffnung - auch dort konnte man kein verrottendes Stück Fleisch operieren -, zur Ablagerung, wie Räucherschinken, bis er endlich trocken war und verräumt werden konnte." Ernst endet und sagt: "Bis hierhin - ich denke, es ist eh gleich vorbei." Applaus, steht kurz frei, dann unter Text 24 Es folgt - der Kontrast könne größer nicht sein - ein scheuer Berliner Dichter: Sebastian Unger, einst Kommilitone von Janna Steenfatt am Leipziger Literaturinstitut. Atmo 19, Lesung Unger, Lyrik, 1' 45 "Ich beginne mit drei Texten aus einer Serie: Ausbrüche aus Borges Zoo." liest: "Borametz - Das pflanzliche Lamm Schmerz ist ein Lehnwort der Anatomie die Größenbestimmung von Mais und Mensch - die Überlandleitung die das elektrische Kornfeld vor dem Abheben schützt der Juni ruft die elastischen Tiere zurück, den ganzen Weg die Sonnenwende und ausrollbaren Donnerstage, die Beete und Kirchen die rasende Farbverschwendung wir fragen Borametz - das unheilbar pflanzliche Lamm nach seiner Not." Atmo 20, Applaus unter Text 25 Im Laufe des Nachmittags folgen: Viel, viel Lyrik, Gedichte zwischen Verlust und Verlassen, wahre Wasserfälle aus Worten. Die Zuhörer, viele sehr jung, sind mucksmäuschenstill, kein Smartphone piept, niemand schreibt eine SMS. Konzentriertes Lauschen. Dann Prosa: Ein gewalttätiger Vater verbrennt seinem Sohn die Pianisten-Hände auf der heißen Herdplatte. Traumatische Kriegs- Erinnerungen eines schuldbeladen sterbenden alten Mannes. Geisteskranke Mütter, unbewältigte Familien-Konflikte, Rückkehr an den Ort der Kindheit. Atmo 21, Lesung Kreißler, "Muttertier" Ende, kommt hoch, 0'55 "Ich liege in meinem alten Holzbett, das ein wenig zu klein geraten ist für einen ausgewachsenen Mann. Wenn ich hier schlafe, muss ich die Knie anwinkeln. Um mich herum ist es so still, dass mir mein eigener Herzschlag ungehörig laut vorkommt. Ich habe die Gardinen zugezogen. In meinen Händen liegt der Brief. Das Kuvert ist gewissenhaft verschlossen. Ich fahre mit einem Bleistift in die schmale Öffnung und reiße es Stück für Stück der Länge nach auf. Meine Finger zittern, als ich das einzelne Blatt Papier auseinander falte. Ich beginne zu lesen: Lieber Jakob," Applaus, steht kurz frei, dann unter Text 26 Die Teilnehmer funktionieren nahezu perfekt: Niemand wird von der Eieruhr abgeklingelt, niemand lässt sich seine Aufregung anmerken, zeigt Schwäche, stottert oder verspricht sich groß. Erstaunliche Professionalität für einen Nachwuchs-Wettbewerb. Atmo 22, Menge strömt nach draußen, steht kurz frei, dann unter Text 27 In der Pause strömt alles nach draußen, frische Luft schnappen oder eine Rauchen. Das Publikum besteht - von Angehörigen und Freunden der Kandidaten abgesehen - aus Fachleuten. Lektoren, Agenten, Autoren: Beim "Open Mike" ist der Literaturbetrieb mehr oder weniger unter sich. Aus dem Ruhrgebiet ist ein ganzes Germanistik-Seminar geschlossen angereist, inklusive Dozentin. O-Ton 13, Dozentin Corinna Schlicht warum angereist, 0'15 "Warum? Weil uns der Literaturbetrieb interessiert. Also im Rahmen des Germanistikstudiums ist es ja interessant, auch zu sehen, wer macht Literatur, wer bespricht Literatur, wie wird Literatur ausgezeichnet und auch präsentiert in der Öffentlichkeit." Kreuzblende zu Atmo 23, Bar, steht kurz frei, dann unter Text 30 Im der "Wabe" gibt es eine kleine Bar, dort verbringt Jurorin Felicitas Hoppe die Pause. O-Ton 16, Hoppe am Samstag, 0'40 " Ich finde, dass man wirklich merkt, dass das Niveau hoch ist, (..). Die Teilnehmer tragen alle toll vor. Das finde ich auffallend. Dass die auf sehr professionelle Art auch ihr Publikum überzeugen wollen, das merkt man sofort. Es ist sehr sportiv. Und da muss ich auch staunen: Wenn ich an meine Anfänge denke, wie das da so mit den Lesungen war, da kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie durch eine ganz andere Schule gegangen sind. Also man merkt einfach, dass im Gegensatz zu vor zwanzig Jahren, das Schreiben doch einen ganz anderen Ausbildungsstand genießt. Es ist sehr professionalisiert." Atmo 24, Menge strömt in den Saal zurück, steht kurz frei, dann unter Text 31 Michael Sieben tankt draußen vor der Eingangstür zum Lesesaal Sauerstoffvorräte. Er muss den ersten Eindruck noch verdauen. O-Ton 17, Michael Sieben sorgt sich nach dem ersten Block am Samstag, 0'50 "Die Aufregung hat jetzt ein bisschen nachgelassen, weil ich ja erst Morgen dran bin. (..) Also, es sind schon teilweise sehr gute Geschichten dabei, fand ich. Die mich echt beeindruck haben. Ich will jetzt nicht sagen, erschreckt haben, im Vergleich zu dem, was ich geschrieben habe, aber schon sehr, sehr gut, fand ich. Unberührt bleibe ich davon nicht, in dem Sinne, dass es mir halt doch ein bisschen, na ja, Sorge bereitet, dass ich keinerlei Bühnenerfahrung in diesem Sinne habe, und noch nie einen Text vorgetragen habe. Da könnte ich die ganze Nacht, glaube ich, noch üben, das würde sich nicht ändern. Ich muss den Text so lesen, wie ich ihn immer gelesen habe, und hoffen, dass es rüberkommt." Text 32 Die Dämmerung ist herein gebrochen, die Menge strömt zurück in den Saal, wo eine Lampe einen hellen, scharfen Lichtkreis auf den Lesetisch wirft. An dem nimmt nun Christina Böhm Platz, studierte Juristin aus Wien. Eine zarte Person mit Brille und Dutt, aus dem sich ein paar krisselige blonde Strähnen gestohlen haben. Sie wirkt harmlos, doch ihr Text ist eine gezielte Provokation: Atmo 25, (gekürzte) Lesung Böhm, 1'00 Platzanweisung "Als ich aus dem Büro der Dramaturgin kam und mir die Dramaturgin gesagt hatte, dass sie mein Stück nicht wolle, einfach nicht wolle, da hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich in eine Schleife gerate, so eine Möbius-Schleife, eine Unendlichkeitsschleife, wie dieser U-Bahn-Waggon in Argentinien, der für alle Ewigkeit unter Buenos Aires im Kreis fährt, weil die U-Bahn-Gleise die Form einer Schleife haben. (..) "Wir haben uns das anders vorgestellt", sagt die Dramaturgin, "das ist jetzt so ein well-made-play, Ihr Text, der ist so plotdriven. Das ist" - ich denke, sie wird etwas von Establishment sagen, so eine Achtundsechzigerphrase, aber dazu ist sie zu jung, sie ist maximal so alt wie ich, und es liegt an meiner geistigen Vergreisung, dass ich an solche Begriffe überhaupt denke. Ich bin zu alt, deshalb ist für mich auch kein Platz an dieser - "Es heißt ja lab, wir experimentieren hier doch, was soll diese Kausalität auf einmal in Ihrem Text? Dekonstruktion, wissen Sie, Nonlinearität. Motivation ist wunderbar, man darf es nur nicht so aneinanderreihen, so psychologisch, nur damit es am Ende eine Bedeutung erzwingt. Das Fragmentarische fehlt mir bei Ihnen, ich sehe das nicht bei Ihnen. Haben Sie einmal mit Textflächen gearbeitet?" (weitere Lesung unter) Text 33 Einen Text beim "Open Mike" vorzutragen, der dem Literaturbetrieb seine eigenen gnadenlosen Markt-Kriterien um die Ohren haut, mit Seitenhieben auf Helene Hegemann und Charlotte Roche - das ist frech. Atmo 26, Lesung Böhm weiter, 0'30 "(..) Die Dramaturgin sagt: "Das Thema muss knallen. Ich sage ja nicht >Feuchtgebiete<, wissen Sie, aber knallen sollte es schon. So etwas wie >Arizona Roadkill<" - ich glaube, das Buch heißt anders, aber sie sagt es mit Überzeugung - "die Stückfassung spielen sie gerade am Thalia Theater. So etwas kann man verkaufen. Schreiben Sie so etwas." Sie sagt: "Wissen Sie, es gibt ja immer Konferenzen. Da entscheidet ja nicht ein Einzelner, nicht im Verlag und nicht am Theater. Da entscheiden mehrere, und die Pressefrau ist am wichtigsten. Ohne Presse kein Vertrieb. Ohne Vertrieb kein Buchhandel, ohne Buchhandel keine Literatur. Schreiben Sie etwas, wo die Pressefrau sagt: Ja." Gelächter, Applaus, Jubel, steht kurz frei, dann unter Text 34 Christina Böhm, mit 35 Jahren eine der ältesten Teilnehmerinnen, ist die klare Favoritin des Tages. O-Ton 18, Böhm nach Lesung geschnitten, 0'30 "Oh mein Gott, ich glaube nicht, dass ich das bin. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass sehr viele Lyriker bis jetzt gelesen haben und halt einfach von Prosa noch nicht so viel dabei war. Aber, ich habe gemerkt, dass das Publikum mitgeht, und das war ein feine Sache, weil man schreibt so für das Publikum, und, wenn es den Leuten gefällt und die auch lachen, dann ist der Zweck irgendwie erfüllt." Atmo 27, im Saal, nach der Böhmscher Lesung, unter Text 35 Doch warum quält man sich durch ein Jurastudium, um sich der brotlosen Literatur zu verschreiben, statt in einer feinen Kanzlei viel Geld zu verdienen? O-Ton 19, Böhm nach Lesung geschnitten, 0'25 "Na ja, ich habe irgendwie schon während meines Studiums nebenher am Theater gearbeitet und immer wieder so ein bisschen geliebäugelt mit der Kunst, brotlos oder nicht. Und, ja, irgendwie habe ich dann einfach gemerkt, man muss sich auf diese Juristensache ganz einlassen oder macht es gar nicht. Und nach dem Ganz bei mir einfach nicht ging, weil das Herz halt zum Teil anderswo war, ging es dann halt doch in die andere Richtung." Text 36 Das Feedback auf dem "Open Mike" bestärkt sie: Kaum ist unser Interview beendet, nähert sich ein Literaturagent der Autorin. Und er wird nicht der einzige bleiben. Atmo 28, Agent Hase fragt, ob Böhm etwas Längeres liegen habe, sie verneint... 0'15 Text 37 Mischa Geiring ist Lektor, erst seit kurzem in Berlin - und auch auf der Suche nach neuen Geschichten und Autoren, die sie erzählen können. O-Ton 21, Mischa Geiring träumt vom Bestseller, 1'00 "Ich habe das immer wieder verfolgt. Also in der Branche ist er ja bekannt, der Wettbewerb. Aber jetzt bin ich zum ersten Mal live dabei und bin sehr angetan auf jeden Fall. Man merkt ja auch, dass viele vom Leipziger Literaturinstitut kommen. Und man sieht schon, dass das Erzählen sitzt. Also, dass die Professionalität am Schreiben vorhanden ist, das Handwerk sitzt. Was man vielleicht manchmal vermisst ist, ja, man kann so gut erzählen wie man will, aber wenn die Geschichten nicht da sind, dann nützt das beste Handwerk nichts. Wobei gerade der letzte Text von..." Autorin: "Christina Böhm" Geiring: "Christina Böhm, großartiger Text, ja. Und man hat ja auch gemerkt da, das Publikum ging ja auch mit. Und man darf ja nun nicht zu viel sagen, weil man ja nicht anderen Kandidaten gehört hat, aber das ist bestimmt ein Text mit guten Chancen. Und, da ist eine Geschichte, also etwas, was aus der Lebenswirklichkeit gegriffen ist, aktuelles Thema und natürlich sehr gut erzählt." Text 39 Wie wichtig ist es, dass eine Autorin kein schüchternes Mauerblümchen ist, sondern Talkshow-tauglich? O-Ton 22, Mischa Geiring, 0'45 "Ja, spielt natürlich eine große Rolle. Oder immer mehr. Ob man das jetzt mag oder nicht. Der Buchbranche geht es ja an sich zwar gut. Die Zahlen sind stabil. Aber in Zeiten wo das E-Book ja immer wichtiger wird, und auch die Verkaufszahlen sind zwar nicht rückläufig, aber viele Publikationen, aber nur wenige Titel, über die dann wirklich richtig gesprochen wird, wird das natürlich immer wichtiger, um Autoren zu platzieren, um einer dieser Titel zu werden, die sich dann als Bestseller etablieren und gekauft werden. Das ist von Verlagsseite immer das Schönste natürlich, wenn alles passt, wenn ein Autor passt, die Geschichte passt und das Publikum das annimmt. Das ist natürlich das, was man sich erhofft und erträumt." Text 40 Nach einem Dutzend Lesungen geht der erste Tag des "Open Mike" zu Ende. Michael Sieben ist beindruckt - aber er wundert sich ein bisschen: O-Ton 23, Michael Sieben wundert sich, 0'20 "Was mir aufgefallen ist, dass gerade bei der Prosa sehr viele ähnlichen Themen dabei waren. Es gab viele Erzählungen, die sich mit Familienbeziehungen beschäftigt haben. Entweder in einer zerrütteten Familie spielten oder die Mutter gestorben oder Vater im Sterben liegend." Text 41 Der rasante, aggressive Auftritt von Christina Böhm war da eine willkommene Abwechslung. Ob er selbst das Publikum morgen auch so mitreißen kann? O-Ton 24, Michael Sieben zu Nervosität mit Blick auf morgen, 0'25 "Also ich bin immer noch sehr aufgeregt natürlich, weil ich meine Lesung noch nicht hinter mir habe. Und gerade da die anderen wirklich so tolle Geschichten haben und die auch sehr, sehr gut vortragen, setzt mich das natürlich schon ein bisschen unter Druck. Ich bin eigentlich schon auch stolz dabei zu sein. Und gerade weil die anderen sehr gute Texte haben, bin ich einfach, ja, stolz da ebenfalls ausgewählt worden zu sein." Text 42 Michael Sieben geht mit ein paar Lyrikern noch etwas trinken und dann heim in seine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Tucholskystraße, um den Text noch einmal zu üben. Er will auf keinen Fall der Einzige sein, der vom Wecker abgeklingelt wird.... Musik 2, (oder 1, je nachdem) Amy MacDonald, This is The Life oder: Trennung durch Atmo (Wecker) Kreuzblende zu Atmo 29, Versammlung der Kandidaten vor der Wabe am Sonntagvormittag, steht kurz frei, dann unter Text 43 Sonntag, 6. November, halb zwölf mittags, es wird ernst. Janna Steenfatt, die Nummer 18, hat noch Schonfrist, aber Michael Sieben ist heute als zweiter dran. Noch 45 Minuten. O-Ton 25, Michael Sieben, Sonntagmorgen, 0'45 Michael: "Ich bin die Ruhe selbst." Autorin: "Ja?" Michael: "Nein. Der Abend ging. Die Nacht war, ja, ich glaube, ich hatte schon ruhigere Nächte in meinem Leben. Ich habe auf jeden Fall mal längere Zeit wach gelegen. Und immer, wenn ich aufwachte, sah ich mich auf dieser Bühne sitzen. Aber jetzt bin ich eigentlich ganz guter Dinge, weil ich weiß, jetzt ist es demnächst vollbracht. Ich habe es heute Morgen noch mal Frederica vorgelesen, und ich habe mich so oft verhaspelt in diesem Text. Ich glaube, das habe ich immer gemacht. Aber jetzt, nachdem ich die ganzen Vorträge gestern gehört habe, die alle so perfekt waren. Da hat sich ja niemand irgendwie verhaspelt, gestottert, höchst selten. Das fand ich schon sehr bewundernswert. Ja, und deswegen, mal gucken wie es bei mir läuft jetzt." Atmo 30, im Saal, steht kurz frei, dann Kreuzblende zu Atmo 31, (gekürzte) Begrüßung Thomas Wohlfahrt, Literaturwerkstatt, 0'50 "Guten Morgen meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich willkommen zum zweiten Lesetag des 19. "Open Mike", ausgerichtet von der Literaturwerkstatt Berlin und der Crespo Foundation. Ich hoffe, jeder hat den Abend und die Nacht hinter sich, die er sich gewünscht hat, besonders die Autoren, die heute noch lesen werden. (..) Und ich rufe in der Reihenfolge auf, Ann Kathrin Roth und ihr Lektor Thorsten Arendt, Michael Sieben und die Lektorin Sara Schindler, Anja Kurz und Manfred Metzner, Peter Mütze und Petra Gropp und Tristan Marquardt, Annette Kühn. In dieser Reihenfolge nacheinander und los geht's und viel Spaß und viel Freude. Danke schön." Text 44 Wieder ist der Saal knallvoll. Michael Sieben hat seinen mittlerweile angestammten Platz vor der Bühne ergattert, Freundin Federica neben sich, umklammert krampfhaft seinen Text und bekommt von der ersten Lesung dieses Tages kaum etwas mit. Ann-Kathrin Roth, 22 Jahre alte Jurastudentin aus Jena, ist die einzige Prosa-Autorin, die sich dezidiert mit dem Internet beschäftigt, obwohl das doch unser aller Alltag sehr prägt. Atmo 31, Ende der Lesung Roth, 0'25 "Wohin fahren wir?", frage ich. "Dahin, wo die richtige Welt anfängt", sagt Mickey. "An einen Ort, den Google nicht kennt." (...) Der letzte Gedanke: In der Realität hat es uns nie gegeben. Virtuell, sagt Wikipedia, ist nicht das Gegenteil von real. Aber wer weiß schon, was real ist." Wecker klingelt in dem Moment, Lachen, Beifall, unter Text 45 Nun ist er da, der gefürchtete Moment: Michael Sieben, im Hauptberuf Finanz- Verwalter bei Nokia, steigt über eine hohe Stufe auf die Bühne, setzt sich an den Tisch, um vor 500 Zuhörern zum ersten Mal im Leben seinen Text öffentlich vorzulesen. Still sitzt er da, guckt runter aufs Blatt, die Arme verschränkt. Seine Lektorin Sara Schindler soll ihn vorstellen. Doch Michael Sieben muss quälende Sekunden warten: Atmo 32, Sara Schindler zu den Spätkommern: "Drüben gibt's noch Platz übrigens." Michael hustet Text 46 Ein Trupp Literaturstudenten kommt zu spät, schiebt sich in den Saal. Jetzt, endlich: Atmo 33, Vorstellung, Sara Schindler, 0'40 "Michael Sieben ist 1977 in Mainz geboren, er studierte Wirtschaftswissenschaften in Mainz, Köln und Paris und lebt seit 2006 in Berlin, wo er seinen Brotjob in einem Telekommunikationsunternehmen nachgeht. Daneben hat er vor zwei, drei Jahren - als passionierter Leser hat er sich irgendwann gesagt, ich beginne jetzt mal selber zu schreiben, hat entdeckt, dass ihm das großen Spaß macht und heute und jetzt wird er zum ersten Mal mit einem Text an die Öffentlichkeit treten. Aber hören Sie selber." Lesung Michael Sieben, 1'00 "Der Pansen Pause. Wir drängeln uns in den sonnenbeschienenen Teil des Schulhofs, die Jacken achtlos auf die Waschbetonbänke geworfen, und kicken eine in der Mitte plattgetretene Coladose scheppernd hin und her, ohne uns um die herausspritzenden Reste der schwarzen Brause zu scheren. Es ist ein außergewöhnlich warmer Apriltag. Henna sitzt auf der Kante der unbenutzten Tischtennisplatte, wirbelt die weißen, mit kugelschreiberblauen Sternchen verzierten Chucks durch die Luft und plaudert mit ihren Freundinnen. Der Pansen kommt wie immer alleine auf den Hof, blickt sich kurz suchend um und trottet dann mit hängendem Kopf und tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen in unsere Richtung. Er lässt sich nicht davon irritieren, dass er prompt zum Ziel des Coladosengeschosses auserkoren wird; selbst als ihn die Blechbüchse an der Ferse erwischt, dreht er sich nicht einmal nach dem johlenden Schützen um. Plötzlich steht er vor der verdutzten Henna und fragt grußlos, den Blick auf die wippenden Allstar-Schuhspitzen geheftet, ob sie nach der Schule mit ihm ein Eis essen gehen möchte. Für einen kurzen Moment sind alle sprachlos, Henna, ihre Gang und auch der Pansen, anscheinend überrascht von der eigenen Courage. Dann brechen die Mädchen in schallendes Gelächter aus." (weitere Lesung leise unter) Text 47 Für sein erstes Mal schlägt sich Michael Sieben wacker, auch, wenn man ihm die Aufregung anhört und er zum Ende hin immer schneller wird: der gefürchtete Wecker, der nach 15 Minuten unbarmherzig klingelt! Atmo 34, Ende Lesung kommt hoch, Michael Sieben hetzt haspelnd durch den Text, 0'40 "Ungeduldig warte ich darauf, dass die Fußgängerampel auf Grün springt. Es ist schon nach acht Uhr, ich werde zu spät zur ersten Stunde kommen. Es ist ein nebliger Herbstmorgen, vom gegenüberliegenden Schulgebäude sind nur die Konturen zu erkennen. Während ich von einem Bein auf das andere trete, um mir durch die Bewegung etwas Wärme zu verschaffen, fällt mein Blick auf den Zettel, der fein säuberlich mit Tesafilm am Ampelmast befestigt ist. Er hat Wind und Wetter überstanden, den langen heißen Sommer, die plötzlichen Schauer, den ersten Kälteeinbruch. Die obere Hälfte ist von einer Wohnungssuchanzeige überklebt, der Rest teilweise unkenntlich, verwaschen vom Regen. Aber noch immer kann jeder Passant, der wie ich bei Rot an der Ampel warten muss, die Zeilen lesen, die mit Tief in meinem Inneren beginnen." Michaels atemloses "Danke" geht fast unter im Beifall, unter Text 48 Was für ein nettes Publikum: Der gehetzte Debütant bekommt noch extra Beifall zur Ermutigung. Zurück auf seinem Platz ringt Michael Sieben um Atem, das Herzrasen beruhigt sich langsam, doch die zarten, bewusst altmodischen Landschaftsbeschreibungen der Mecklenburgerin Anja Kootz, Nummer 15, rauschen zunächst ungehört an ihm vorbei. Atmo 35, Lesung Kootz, 0'20 Im Rauschen des Wassers (Romananfang) Seen-Prolog "Es ist das launenhafte Wasser der Seen, das dem mecklenburgischen Binnenland seinen Rhythmus gibt. Die Seen herrschen über das Licht, das sich über die Kleinstädte legt und die Farben der Häuserfassaden immer aufs Neue mischt. (weitere Lesung weg blenden unter) O-Ton 26, Michael Sieben nach Lesung erleichtert, 0'25 " Also, ich glaube, ich hätte es nicht besser lesen können. Also, es war schon auf jeden Fall besser als bei meinen Proben, sozusagen. Es war trotzdem irgendwie cool, dort zu sitzen. Ich meine deswegen bin ich ja auch da. Deswegen habe ich ja auch den ganzen Aufwand gemacht. Und wenn man eine Geschichte schreibt, will man sie auch vorlesen, und dann ist das einfach das Forum. Von daher, das war schön." Text 49 Michael Sieben hat es geschafft. Nach der Pause ist Janna Steenfatt dran, im Hauptberuf Autorin, keine Alternative zu einem Leben als Schriftstellerin. Sie will mehr, als nur durchkommen, sie möchte den "Open Mike" gewinnen. O-Ton 27, Janna kurz vor ihrer Lesung am Sonntag draußen, 0'15 " Es ist ja doch jetzt auch ein langes Wochenende gewesen, und jetzt ist auch mal gut. Und ich habe schlecht geschlafen und ich bin müde. Habe gerade Traubenzucker gegessen und jetzt trinke ich Club Mate, das hilft immer sehr gut." Text 50 Jannas Vater, aus Norddeutschland angereist um der Tochter beizustehen, kauert nervös auf einer Heizung. Jörn Steenfatt unterstützt Jannas Entscheidung, sich hauptberuflich dem Schreiben zu widmen. Er zittert mit und hofft, dass der "Open Mike" ihr den Durchbruch bringt. O-Ton 28, Jannas Vater Jörn Steenfatt ist nervös und stolz, 0'30 "Ja, meins wär's nicht, aber ich hab da auch Hochachtung vor. Das ist ja auch ein bestimmter Lebensweg, den man dann da einschlägt, der ganz auf Sicherheiten verzichtet. Mal gucken, was daraus wird, ist spannend. Sie hat ja schon einige Stipendien gehabt und ist am Literaturinstitut gewesen, also von daher sind da schon ein paar Bretter gelegt, jetzt muss sie die nur noch weiter beschreiten, das wünschen wir uns." Text 51 Stille senkt sich über den Saal, es geht weiter, Auftritt Janna Steenfatt mit einer der letzten Lesungen des Wettbewerbs: Atmo 36, (gekürzte) Lesung Janna Steenfatt, 0'45 Somebody in Texas loves me "Jahrhundertwinter, sagten sie im Radio, der größte Schneefall seit 1979, dem Jahr, in dem Anabel geboren wurde. Ich habe nie an Zufälle geglaubt. Zwischen den Nachrichten spielten sie Last Christmas in Endlosschleife. Anabel stand im Flur vor dem großen Spiegel und telefonierte mit ihrer Schwester in Andalusien, weinte und zerrte unwillkürlich ihre schwarzen Korkenzieherlocken in die Länge; Wörter, die mir fremd waren, rollten aus ihr heraus und breiteten sich in der Wohnung aus, ein Klangteppich, der mich schläfrig machte. Anabel war schön, immer, aber besonders, wenn sie weinte, und ich lehnte im Türrahmen zur Küche und sah zu, wie ihr Gesicht sich auflöste." Applaus unter Text 52 Ja, sie kann's. Vielleicht liegt es daran, dass Janna Steenfatt ursprünglich Schauspielerin werden wollte. Plötzlich ist da neben Christina Böhm eine weitere Favoritin in der Gunst des Publikums. Und dann ist der Lesemarathon plötzlich vorbei. 22 Texte in zwei Tagen: Alles reckt und streckt die vom langen Sitzen schmerzenden Muskeln und strömt hinaus in den dämmrigen Herbstnachmittag. Atmo 37, Menge strömt hinaus, murmelt draußen, steht kurz frei, dann unter Text 53 Jetzt heißt es warten: Die Jury zieht sich zur Beratung in ein Nebengebäude zurück. Auf dem Weg dahin nimmt sich Jurymitglied Kathrin Schmidt kurz Zeit: Trägerin des Deutschen Buchpreises 2009 für ihren Roman "Du stirbst nicht". Sie hat das Vorwort zur Anthologie "19. Open Mike" geschrieben und darin die Aspiranten gewarnt, dass die Qualität eines Textes nicht abhängt von der nach außen vermittelten Selbstsicherheit des Autors. O-Ton 29, Kathrin Schmidt, 0'30 "Also ich fand die Leute alle sehr weit, was ich mit 24 als ich mein erstes Büchlein veröffentlicht habe, überhaupt nicht hatte. Und ich staune darüber erst mal offenen Mundes. Ich denke, da ist auch so eine jugendliche Attitüde dabei, dass man die Welt gut versteht und, dass man drübersteht, und dass man das mit so gewissen Portionen auch von Zynismus und Abgeklärtheit würzt. Und dadurch wird es manchmal ein bisschen selbstreferenziell. Also, der Diskurs zum Beispiel, der in der Lyrik herrscht, der macht mich nicht so ganz glücklich." Text 54 Wie erklärt sie sich, dass so viele Texte um das Thema Familie kreisen? O-Ton 30, Kathrin Schmidt, 0'30 "Na ja, das ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass es eben noch junge Leute sind, die ja noch an ihren Herkunftsverhältnissen kleben, und sich vielleicht noch nicht so weit davon gelöst haben. Aber das sieht man ja auch bei älteren Autoren, wenn sie zum Beispiel den Buchpreisgewinner dieses Jahres sehen, da geht es auch um Familie. Also ich denke, es gibt so gewisse, irgendwie auch anachronistische Themen, die eben dann so verhandelt werden. Aber ich finde auch, dass es relativ wenig um Liebe ging, beispielsweise. Und die Gegenstände sind tatsächlich sehr, na nicht sehr, aber sie sind doch begrenzt." Atmo 38, im Saal, steht kurz frei, Kreuzblende zu O-Ton 31, Janna wartet auf Entscheidung geschnitten, 0'20 "Also, bisher, ich habe ja die letzten Jahre auch verfolgt, den "Open Mike", und die Jury hat einen noch immer überrascht. Von daher kann man das schlecht einschätzen. Ich bin ein bisschen abergläubig, deswegen versuche ich, nicht zu viel auf die Leute zu hören, auf das Munkeln. Und jetzt sehen wir ja gleich was kommt." Text 55 Während die Jury berät, sitzt Janna Steenfatt schon im Saal und wartet gespannt auf die Entscheidung. O-Ton 32, Janna wartet auf Entscheidung geschnitten, 0'40 "Ach nein, es ist nur so, wenn einem viele Leute sagen, ja Du bist irgendwie ein guter Kandidat oder so, dann denke ich, ja dann wird es wahrscheinlich gerade nicht, weil ich auch das Gefühl habe, die Jury besteht ja aus launischen Autorenmenschen, die völlig unberechenbar sind, und die dann auch, glaube ich, einfach so aus Bock oder aus Prinzip, ein sehr konsensunfähiges Urteil fällen. Das glaube ich schon. Also, sehr von persönlichen Vorlieben, glaube ich, auch einfach geprägt, ganz ungeniert. Was ja auch ihr gutes Recht ist. Das sind ja auch Autoren selber, die da einfach eine klare Haltung haben, wahrscheinlich." Text 56 17 Uhr, die Jury ist zu einer Entscheidung gelangt. Showdown. Die "Wabe" füllt sich noch einmal. Blass und bleich rutschen die Kandidaten auf ihren Stühlen herum. Doch Felicitas Hoppe, die Sprecherin der Jury, wird erst einmal grundsätzlich. O-Ton 33, Hoppe, Appell der Jury, 0'30 "Wir die Jury, ich spreche im Namen von Kathrin Schmidt, Tilman Rammstedt und meinem eigenen Namen, haben sehr, sehr große Freude an diesen beiden Tagen gehabt. (..) Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. (..) Im Großen und Ganzen geht es uns, glaube ich, genau wie den Lektoren. Wir waren ziemlich beeindruckt von der Performance. Wir waren sehr, sehr beeindruckt von der Bandbreite der Texte. Wir waren sehr beeindruckt von Ihrer Belesenheit und Ihrer Gelehrsamkeit, die uns manchmal ein bisschen eingeschüchtert hat, ehrlich gesagt." Text 57 Bis hierher jede Menge Lob. Doch jetzt kommen die entscheidenden Sätze: O-Ton 34, Hoppe, Appell der Jury, 0'30 "Also manchmal haben wir das Gefühl, vielleicht lesen Sie mehr als, dass Sie schreiben. (..) Das Formbewusstsein, das ist uns aufgefallen, ist sehr groß. Die Perfektion in der Textperformance ist ganz erstaunlich. Und manchmal hätten wir uns gewünscht, brechen Sie da ruhig mal aus! (Applaus) Es geht ja nicht darum, irgendwelche Standards zu treffen, sondern, so komisch das klingt, machen Sie doch einfach was Sie wollen, und machen Sie, wozu Sie Lust haben. Und Ihnen allen herzlichen Glückwunsch schon jetzt." Text 58 Hoppla - das war deutlich und klingt nicht ermutigend für die Autoren der leicht lesbaren, traditionell erzählten, handwerklich perfekten Geschichten. Dann ist es endlich soweit: Als erster wird der von der taz gestiftete Publikumspreis vergeben - tatsächlich an die Favoritin des Vortages. Atmo 39, Preisverleihung, Publikumspreis an Christina Böhm, 0'30, "Es ist ein Text der zeitgemäß ist, authentisch und mutig. Er ist rund ohne gefällig zu sein. Ein Text über Mühen und Frustrationen des Kultur-Prekariats, ein immer aktuelles Thema. Und dieser Text hat das Thema witzig und geistreich zugleich auf den Punkt gebracht. Der taz-Publikumspreis 2011 des 19. "Open Mike" geht an - Christina Böhm!" Applaus, Jubel, steht kurz frei, dann Kreuzblende zu Atmo 40, Wohlfahrt dankt der Publikumsjury und ruft die Jury auf, 0'20 (hängt dran) Atmo Hoppe, 0'05 "Da sind wir, kommen zum guten Schluss, ich beginne mit drei lobenden Erwähnungen" (leise weiter unter) Text 59 Die gehen an Stefan Köglberger und die Lyriker Tristan Marquardt und Charlotte Warsen. Janna Steenfatt beißt die Zähne zusammen: Das will kein Ende nehmen! Endlich kommt Felicitas Hoppe zum Punkt. Atmo 41, Preisverleihung kommt wieder hoch, Hoppe vergibt den ersten Prosa- Preis an - Christina Böhm, 0'10 "Der Text besticht durch sein Tempo, er besticht durch seinen Witz und vor allem durch seinen spielerischen Umgang mit höchst existenziellen Fragen. Ich bitte unsere Publikumspreisträgerin nochmal auf die Bühne!" Applaus, unter Text 60 So ist also die Österreicherin Christina Böhm die Abräumerin des Abends. Damit gewinnt ausgerechnet ein Text einen der wichtigsten Nachwuchspreise für deutschsprachige Literatur, der beschreibt, wie mühsam es für junge Autoren ist, Zugang zum Kulturbetrieb zu finden. Was für eine schöne, ironische Pointe. Atmo 42, Böhm ins Mikro, 0'10 "Der Wettbewerb heißt ja "Open Mike", aber im Gegensatz zu seinem Namen gibt's eigentlich kein "Open Mike" sondern eben diese ganz knapp zugewiesenen Plätze. Deswegen bin ich jetzt verwundert, dass es auf einmal so viel Platz für mich gibt." (Gelächter) (hängt dran) Atmo, Böhm liest noch einmal aus "Platzanweisung", 0'40, "Hat dich jemand hier willkommen geheißen? Hat dich jemand im Leben begrüßt?? Diese Ich-Aussparung, dieses körperförmige Loch in der Welt, wie in den Comics, das gibt es nicht für dich. Glaubst du wirklich, wir haben auf dich gewartet? Wenn du nicht wärst, hätten die anderen mehr Platz. So einfach ist das, du stehst uns im Weg. Dir steht nichts zu, und freiwillig geben wir dir nichts ab. Wir geben dir, was wir wollen. Aber gibt dir jemand, was du willst, Sex oder Geld oder einen Käsecracker, genau jetzt, wo du es dringend bräuchtest? Geh erst mal nach hinten, ans Ende der Schlange!" tosender Applaus unter Text 61 Eine Hoffnung bleibt Janna Steenfatt noch, denn die Jury vergibt zwei Preise für Prosa. Tilmann Rammstedt betritt die Bühne, von einer Erkältung schwer gezeichnet. Atmo 43, Rammstedt verleiht Prosa 2 an Ernst, 0'15 " Der Text ist ein Versprechen, das er selbst schon einlöst, und erfreut neugierig auf alles Weitere werden lässt. Ich spreche von ,Dora Diamant' von Joseph Felix Ernst." (Applaus) Kreuzblende zu Atmo 44, Lesung Ernst, 1'00 Dora stellte fest, wie Kafka abnehmend gewillt war zu sprechen. Im Februar des Jahres wurde sie dieser Veränderung erstmals gewahr; gemeinsam hatten sie sich am Hebräischen versucht, nachdem Kafkas Lungenblutsturz ihm nicht mehr erlaubte, seinem Freund Bergman nach Palästina zu folgen. Zynisch hatte Bergmann sich über Kafkas Sieche zerrissen - Tants, yidelekh, tants! - hatte er gerufen, gelacht, einen Schluck Holunderwein aus dem Glas genommen, den Mund zu breit gemacht, als er das Geschirr an die Lippen setzte - Tants, yidelekh, tants! Im breiten yiddischen Jargon Prags, dabei vor Lachen lauter bellte denn Kafka und Herr Kafka dazu tanzte." Applaus unter Text 62 Weil in früheren Jahren die Lyrik oft zu kurz kam, gibt es beim "Open Mike" nun eine eigene Auszeichnung für die jungen Dichter. Sie geht diesmal an den schüchternen Blondschopf Sebastian Unger. Die PR-Abteilung seines künftigen Verlags wird Jubeln: Ein junger Dichter wie aus dem Bilderbuch: Sanfte Augen, ebenmäßige hübsche Züge. Atmo 45, Lesung Unger, 0'30, "Borametz - Das pflanzliche Lamm Schmerz ist ein Lehnwort der Anatomie die Größenbestimmung von Mais und Mensch - die Überlandleitung die das elektrische Kornfeld vor dem Abheben schützt der Juni ruft die elastischen Tiere zurück, den ganzen Weg die Sonnenwende und ausrollbaren Donnerstage, die Beete und Kirchen die rasende Farbverschwendung wir fragen Borametz - das unheilbar pflanzliche Lamm nach seiner Not" Atmo 46, durch Gänge und über Treppen zum Interviewraum, steht kurz frei, dann unter Text 63 Während Janna Steenfatt, Michael Sieben und die anderen sich im Foyer mit belegten Brötchen trösten müssen und den Gedanken, dass die Jury nur drei Köpfe zählte, dass Irrtümer möglich sind und allein schon die Teilnahme hier eine Auszeichnung darstellt, eilen die Preisträger an ihnen vorbei zu den ersten Interviews ihres neuen Lebens. Christina Böhm: O-Ton 35, Christina Böhm, 0'25 "Ich glaub ja, dass mein Text im Grunde nicht wahnsinnig positiv ist, auch wenn ihn die Leute sehr lustig gefunden haben, was mich sehr bedenklich stimmt: Ich hab ihn eigentlich relativ ernst gemeint. Es ist auch wahrscheinlich ein ganz schlechtes Omen, weil man natürlich sagt, dass trifft irgendwo den Nerv. Ich hoffe, das wird nicht als billig verstanden. Oder als Anbiederung an irgendwelche Befindlichkeiten." Text 64 Joseph Felix Ernst kann den Preis gut gebrauchen: Er sitzt an einem Roman und hofft, dass er den nun leichter bei einem Verlag unterbringen wird. O-Ton 36, Ernst, 0'20 "Das Intensivste an Kommunikation, was möglich ist für den Menschen, ist einfach in der Literatur, wo soll man es denn sonst los werden? Es sind ja doch sehr intensive Themen, kräftige Themen, die einen da beschäftigen. Und der kommunikative Akt beim Menschen ist das Wichtigste, um irgendwas zu verarbeiten und das geht am besten auf diese Weise." Text 65 Ernst und Böhm wirken ganz schön abgeklärt, der Lyriker Sebastian Unger dagegen wie betäubt. Traumverloren lächelnd lauscht er in einer Ecke den Statements der beiden anderen Glücklichen. Dann ist er an der Reihe. Wie fühlt er sich? O-Ton 37, Sebastian Unger, geschnitten, 0'25 "Ich bin sehr aufgeregt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich den Preis gewinne. Es war eine ganz starke Lyrik in diesem Jahr. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, habe ich gedacht, ich muss bestimmt nicht noch mal auf die Bühne, und bin einfach als Zuschauer zum "Open Mike" gefahren, mit einer gewissen Leichtigkeit. Und war dann, jetzt gerade sehr überrascht und fast geschockt von meinem Gewinn." Kreuzblende zu Atmo 47, Lärm in der Bar, steht kurz frei, dann unter Text 66 In der kleinen Bar der "Wabe" drängen sich noch einmal Autoren, Agenten und Lektoren und diskutieren die Entscheidung der Jury. Ob man das Grußwort von Felicitas Hoppe an den literarischen Nachwuchs als Appell auffassen kann - zu mehr Mut und weniger Konventionalität? O-Ton 38, Hoppe nach Preis geschnitten, 1'20 "Ja, würde ich ganz deutlich so sagen! Und das ist auch meine feste Überzeugung, die, glaube ich, auch die meiner Mitjuroren spiegelt. Dass wir eben gefunden haben, dass da sehr ordentlich geliefert wird, um es mal so zu sagen. Und da sind tolle Sachen dabei, und da zeigt sich ein unglaubliches Potential. Aber wir eben auch gefunden haben, vieles geht so ein bisschen wie am Schnürchen. Also, man sagt, das geht runter wie Butter, und die haben ihre Lektion gelernt. Aber die Frage ist, ist es wirklich ihre Lektion? Oder ist es die Lektion ihres Lektors? Ich hätte gerne noch einen Satz hinzugefügt, dass fiel mir aber erst ein, als ich wieder auf meinem Platz saß, der gelautet hätte, tun Sie beim Schreiben alles, aber versuchen Sie niemals sich vorzustellen, was im Kopf eines Lektors vorgeht, der eines Tages Ihren Text lesen könnte. Da fängt das Problem eigentlich an." Atmo 48, Lärm im Foyer, unter Text 67 Im Foyer ertränkt Janna Steenfatt ihre Enttäuschung im Sekt. Sie hat keinen anderen Beruf als das Schreiben, der Sieg beim "Open Mike" schien greifbar nahe, er hätte ihr vielleicht den Durchbruch gebracht. Kann sie mit dem Appell der Jury etwas anfangen? O-Ton 39, Janna nach Preisen geschnitten, 0'45 "Ja, bedingt. Frau Hoppe schreibt selber ja, gut vielleicht auch eher experimentelle Texte. Andere Autoren der Jury nicht so. Deswegen finde ich es immer lustig, wenn Autoren, die selber extrem konventionelle Texte schreiben, nach unkonventionellen Texten schreien. Klar, man merkt schon auch oft einfach den gegenläufigen Trend zu Texten, die einfach nur gut gemacht sind. Obwohl ich eigentlich hoffe, dass meine Text da auch nicht dazugehört. Aber so experimentell ist er natürlich auch nicht. Ich glaube auch, dass es manchmal, ehrlich gesagt, nicht nur von Vorteil ist, das Literaturinstitut als Hintergrund zu haben. Da merkt man auch eine gewisse Antihaltung manchmal, gerade bei solchen Veranstaltung, der Jury, vielleicht eine Voreingenommenheit." Text 68 Wie geht's jetzt weiter? O-Ton 40, Janna nach Preisen geschnitten, 0'10 "Ja, ganz normal. Schreiben. Weiter machen. Geschadet hat es, glaube ich, noch niemandem hier gelesen zu haben." Text 69 Michael Sieben geht es besser mit der Entscheidung der Jury: Für ihn hängt nicht so viel davon ab, er hat seinen Job bei Nokia. Der "Open Mike" 2011 war für ihn erst einmal nur ein Abenteuer. O-Ton 50, Michael nach Preisen geschnitten kürzer, 0'20 " Es war ein sehr schöner Wettbewerb. Es war super, dabei zu sein. Und ich habe sehr interessante Leute kennen gelernt. Auch Agenten von Buchverlagen, das fand ich toll, die mich angesprochen haben, und haben gesagt, mir hat ihre Geschichte gefallen. Das war klasse. Also von daher gehe ich sehr beschwingt aus dieser Veranstaltung raus." Atmo 49, Stimmengemurmel, steht kurz frei, sanft weg blenden.... ENDE 2