Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 28. Februar 2015, 11.05 – 12.00 Uhr Gegen den Strom – Litauens Absage an Russland als Energieversorger Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Am Mikrophon: Johanna Herzing Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Wenn Gazprom gute Laune hatte, dann wurden wir beliefert. Wenn Gazprom schlechte Laune hatte, dann bekamen wir nicht einmal einen Gesprächstermin. Aber es kommt immer eine Zeit, in der man Entscheidungen treffen muss. Der litauische Energieminister über den Versuch sein Land von Russland loszueisen. Und eine Journalistin, die an einen Erfolg noch nicht recht glauben mag: Schon bald werden wir unsere Erwartungen an der Realität messen müssen. Denn die Ironie der Geschichte ist doch: Heute sind wir genauso abhängig von Importgas wie vorher. Wir haben uns lediglich in unserer eigenen Idee bestätigt, dass alles besser ist als Gas aus Russland. „Gegen den Strom - Litauens Absage an Russland als Energieversorger“. Gesichter Europas mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. Am Mikrofon begrüßt Sie Johanna Herzing. Ein Deja-Vu – das denken dieser Tage wohl viele Menschen in den baltischen Staaten. Gegenwart und Vergangenheit lassen sich plötzlich nicht mehr so leicht voneinander unterscheiden. Russlands Vorgehen im Ukraine-Konflikt – bei vielen Esten, Letten und Litauern weckt das böse Erinnerungen und vor allem Ängste. Freiwilliger Beitritt oder doch Annexion? Brüderliche Geste oder verbrecherischer Akt? – Diese Fragen spielen nicht nur im gegenwärtigen russisch-ukrainischen Verhältnis und mit Blick auf die Krim eine zentrale Rolle. Nein, auch für die Geschichte der baltischen Staaten ist die Antwort auf diese Fragen entscheidend. ‚1940 begab sich das Baltikum aus freien Stücken in die Obhut der Sowjetunion‘, so lautet bis heute die russische Version; Russland sieht sich als Befreier des Baltikums von der Nazi-Herrschaft. Ganz anders hingegen die Auffassung der drei betroffenen Staaten. Ihrer Meinung nach hat die UdSSR das Baltikum damals mit Gewalt an sich gerissen. Die Unabhängigkeit, die Esten, Letten und Litauer sich dann 1991 friedlich singend wieder zurückerobert haben, sehen viele Menschen im Baltikum heute in Gefahr. Die Sorge, ein ähnliches Schicksal wie die Ukraine zu erleiden, ist groß. Denn so ganz frei von russischem Einfluss sind auch die baltischen Staaten nicht. Öl und Gas zum Beispiel liefert traditionell der Nachbar. Doch nun will allen voran Litauen in die Offensive gehen. Energiepolitisch und - im bescheideneren Maßstab - sogar militärisch. Reportage 1 Die Männer schießen im Liegen: Der linke Arm stützt das Gewehr, der rechte Zeigefinger sucht den Abzug. Der Blick fixiert die Zielscheibe – ein kleiner, weißer Fleck ganz am Ende der Halle, in genau 50 Metern Entfernung. Feuer schlägt aus den Läufen, der Rückstoß schickt einen Ruck durch die Körper der Schützen. Dann steigt der beißende Geruch von Pulverdampf auf. Die beiden Trainer sind zufrieden. Sie knien sich neben die Schützen, die – das Gewehr im Anschlag - in Kampfanzügen bäuchlings auf ihren Matten liegen. Dem einen korrigieren sie die Körperhaltung, dem anderen brüllen sie Tipps durch den Ohrschützer. Dann treten sie zur Seite, und geben die Schussbahn wieder frei. „Sauliu Sajunga“, die „Schützenunion“ ist wieder lebendig: ein fast schon legendäres Freiwilligenbataillon, das sich in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg gründete, um militärischen Widerstand zu leisten gegen jedwede Besatzungsmacht. Perfekt! Heute lande ich drei oder vier Treffer mit jeder Salve! Ich muss zugeben: Ich habe einen guten Tag! Kristijónas Vízbaraz strahlt über das ganze Gesicht. Breitbeinig steht er da in seinen Springerstiefeln, und betrachtet stolz die durchlöcherte Zielscheibe. Der sportliche Mann mit dem jungenhaften Gesicht bedient sein Gewehr mit der Routine eines Soldaten: Es ist eine Hera AR 15, ein Präzisionsgeschoss aus deutscher Produktion: NATO-Standardwaffe. Im zivilen Leben ist der studierte Mikroelektroniker Unternehmer, zusammen mit seinen beiden Brüdern führt er in Vilnius ein Hightech-Labor für Lasertechnik. Doch als im Frühjahr 2014 russische Einheiten die Krim besetzten, da hat er seinen Waffenschein gemacht. Heute sind er und seine Brüder Teil einer etwa zehnköpfigen Freiwilligen-Einheit. Einmal pro Woche treffen sie sich in einer alten Lagerhalle am Rande von Vilnius. Wir trainieren für den Häuserkampf. Schauen Sie sich den ukrainisch- russischen Konflikt im Gebiet Donezk an. In städtischen Gebieten lässt sich die Verteidigung sehr viel effektiver organisieren als auf dem offenen Feld. An diesem Abend haben die Schützen Besuch bekommen: Fünf Amerikaner in den Uniformen der Special Forces stellen Fragen und geben Tipps. Mit der Qualität der Ausbildung scheinen die US-Soldaten zufrieden. VERY WELL! As long as they are putting holes in the paper from that far away, they are good! Die Soldaten gehören einem Batallion der US-Armee an, das für zivile Angelegenheiten zuständig ist. Sie stehen unter der Leitung von Captain Sheri Drake. Wir treffen hier in Litauen die verschiedensten Leute. Heute besuchen wir die Schützenunion. Wir wollen wissen, wofür sie kämpfen, und inwieweit die Vereinigten Staaten hier willkommen sind. Von der Schützenunion haben wir erst kürzlich über unsere Botschaft erfahren. Wir versuchen, freundschaftlichen Kontakt aufzubauen. Sie haben uns zu ihrem Training eingeladen, und das ist wunderbar. Die Mitgliedszahlen der Schützenunion hätten sich im vergangenen Jahr allein in Vilnius von rund 100 auf über 1000 verzehnfacht, lassen die litauischen Schützen die Amerikaner wissen. Die meisten kämen aus der Bildungsschicht, sie sind Ärzte, Rechtsanwälte, Wissenschaftler, Künstler oder Publizisten. Unternehmen engagierten sich als Sponsoren der Schützenunion. Die US-Soldaten sind erfreut über so viel leidenschaftliches Engagement. Absolutely. You definitely sound like you’re in the right mindset for any type of aggressor, which is good to start off with ... Was uns fehlt, sind weitere Ausbilder und Trainingsmöglichkeiten. Wir haben diese Übungen hier selbst organisiert. Nach und nach wollen wir immer mehr Bewegung und spezifische taktische Überlegungen einbeziehen. Planen die Abgesandten der US-Armee eine strategische Allianz zwischen regulären NATO-Streitkräften und litauischen Freiwilligeneinheiten? Captain Drake hält sich bedeckt, Kristijonas ist gesprächiger. Im Falle eines Überfalls der russischen Armee auf das Baltikum, berichtet er, habe die Litauische Schützenunion ihren festen Platz in der nationalen Landesverteidigung. Der Jungunternehmer hält sich für den Einsatz bereit. Seit in der Ukraine seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden sind, tritt er mit aller Kraft für die Unabhängigkeit ein: politisch, wirtschaftlich aber auch energiepolitisch. Die hohen Stromkosten, die in seinem Laser-Labor jeden Monat anfallen, sollen nicht Russland zugute kommen. Auch wir sind von Russland terrorisiert worden. Wir können uns gut ans die Sowjetzeit erinnern, als sie so viele Leuten ermordet, terrorisiert und deportiert haben. Wir wissen, wie sie so etwas machen. Russland hat sich nicht verändert in den vergangenen 70 Jahren, sie benutzen immer noch dieselben Methoden. Heute manipulieren sie die Gaspreise. Und darum werden wir uns jederzeit lautstark für alle einsetzen, die bedroht werden, und um ihre Unabhängigkeit kämpfen – sei es die nationale Unabhängigkeit oder die Energieunabhängigkeit. Und wenn wir jetzt militärischen Organisationen beitreten, dann senden wir ein Signal an die Russen, dass sie hier überhaupt nicht willkommen sind. Nach zwei Stunden Schießtraining ist die Luft in der Halle verhangen, der Pulverdampf sticht in die Nase. Kristijonas ist mit dem Training zufrieden. Sorgfältig legt er sein Gewehr in den Koffer zurück. Das macht Spaß! Vor allem wegen der vielen begeisterten Leute, die hier zusammengekommen sind. Und natürlich auch wegen der Schießübungen selbst. Denn das ist doch etwas, das alle Jungs mögen! Singend und mit einer Menschenkette, gespannt von Tallin über Riga bis nach Vilinus – so haben die Menschen der drei baltischen Staaten die Sowjetunion verabschiedet und sich aus der jahrzehntelangen Umklammerung gelöst. Mit ironisch-bitterem Blick schildert der Autor Sigitas Parulskis diese Zeit. In seinem Roman „Drei Sekunden Himmel“ erinnert sich der 40-jährige Fallschirmjäger Robertas an die letzten Tage der Sowjetrepublik Litauen: Immer mehr Bekannte von mir arbeiteten im Haus der Presse, und ich fühlte mich dort beinahe wie ein Familienmitglied – zwar kein echtes, weil ich nicht angestellt war, doch man vertraute mir: Wenn ich direkt am Tisch oder auf einem Sofa zusammenbrach, wurde ich nicht geweckt, man ließ mich bis zum Morgen schlafen. Es war die Zeit der Sajudis, ganz Litauen lief herum und hielt Händchen, das Singen war in Mode gekommen. Singen konnte jeder und auf jede Art und Weise, denn die singende Revolution begnügte sich mit patriotischen, nicht mit ästhetischem Geschmack. Kollektivbewusstsein und Brüderlichkeit hingen in der Luft. Man hätte gut und gern so weiterleben können, doch dann kamen die Fallschirmjäger in die Stadt. Wirtschaftlich betrachtet geht es Litauen ziemlich gut. Mit einem Wachstum um die 3 Prozent kann das Land unter all den EU-Schuldenstaaten fast schon angeben. Doch für Wachstum braucht es Energie. Weil Litauen selbst kaum Rohstoffvorkommen hat, kauft es die in Russland ein. Denn die Gas-Pipelines ins Baltikum kommen bislang nur aus einer Richtung: aus Osten. Und dort hatte Litauen bislang nur einen einzigen Geschäftspartner: den russischen Energieriesen Gazprom. Erdgas, mit dem Litauen nicht nur heizt und kocht, sondern auch den Großteil an Strom herstellt, wurde bislang zu 100 Prozent von Gazprom geliefert. Das machte Litauen erpressbar. Der Gaspreis sei zuletzt der höchste in ganz Europa gewesen, klagt die litauische Regierung. Und: Die russische Seite habe Litauens Abhängigkeit immer wieder politisch ausgenutzt. Unter diese Dekade will das Land jetzt einen dicken Schlussstrich ziehen. Mithilfe eines Schiffs: Reportage 2 Der Winter ist mild in diesem Jahr. Nebelschwaden hinterlassen einen nassen Film auf den Gesichtern der Bootscrew. Eine dichte Wolkendecke gibt einen Vorgeschmack auf den Schneeregen, der bald auf die Hafenstadt Klaipeda niedergehen wird. Am Ufer ziehen die Kräne und Hebebühnen des Containerhafens vorüber. Der Mann auf dem Deck mit Bauhelm und neongelber Warnweste lässt seinen Blick über den Ostseearm schweifen, der das Kurische Haff vom Festland trennt. Auf dem Wasser treiben brüchige Eisschollen. Wir haben Eistreiben. Wir sind schon in der Nähe der Lagune, dort gibt es einen kleinen Fluss, der das Eis bringt. Was Sie hören, das ist das Geräusch von Eis, das vom Schiff gebrochen wird. Der nasskalte Fahrtwind treibt Rolandas Zukas in das Bootsinnere. Zukas ist der Mann, der der Republik Litauen zum zweiten Mal die Unabhängigkeit gebracht hat. Der blonde Mittdreißiger ist Direktor und Manager jenes Großprojektes mit Namen „Independence“, das seit Monaten Schlagzeilen schreibt: die „Schwimmende Speicher- und Regasifizierungs-Plattform“ der litauischen Betreibergesellschaft Klaipedos Nafta. Seit Januar 2015 liefert sie verflüssigtes Erdgas aus Norwegen an die litauischen Heizkraftwerke. Der 27. Oktober 2014, als die „Independence“ in den Hafen von Klaipeda einlief, war für Zukas ein persönlicher Meilenstein. Wir waren glücklich, aber auch sehr müde. Unser Zeitplan war extrem eng, es gab darin keinerlei Puffer. Wir hatten Stichtage einzuhalten, die vor drei Jahren festgelegt worden waren. Das war alles ganz schön taff und schwer. Aber wir hatten ein sehr gutes Team, und dieses Team hat das Unmögliche vollbracht. Ein Mitglied der Bootscrew winkt den Chef herauf. Auf dem Wasser des Ostseearms ist die „Independence“ aufgetaucht: Eine Gas-Plattform in Gestalt eines riesigen Schiffes. Das Deck ähnelt einem Maschinenpark, es ist übersät mit Gerätschaften und Rohrleitungen. Auf dem Rumpf prangt in riesigen Buchstaben die Warnung: „No Smoking!“. Ein Gasterminal von solchen Ausmaßen ist ein Hochrisikoobjekt, erklärt Zukas. Es ist gesichert durch ein mehrstufiges System aus Kontrollschleusen, und wird bewacht von Soldaten, die Besucher wie Personal keine Sekunde aus den Augen lassen. Zur Plattform selbst hat nur die Crew Zutritt. Journalisten, Politiker und andere Gäste müssen das stählerne Ungetüm vom Schiffsanleger aus betrachten Hier sehen Sie also die „Independence“. Wegen der laufenden Regasifizierungs-Operation steigt Rauch auf – das ist hübsch! Das Schiff ist fast 300 Meter lang und 50 Meter breit. Das Gas hat eine Odyssee hinter sich, seit es das Gasfeld „Hammerfest“ des Energiekonzerns Statoil verlassen hat: Gasförmig durch Pipelines zum norwegischen Hafen, zur Flüssigkeit heruntergekühlt im Schiffsrumpf über die Ostsee, zu Gas zurückverwandelt in Klaipeda. Was aufwändig klingt, sagt Zukas, ist in Wirklichkeit ein unschätzbarer Vorteil: Die Rohre eines konventionellen Pipelinenetzes sind unbeweglich. Die Spezialschiffe aber, die das verflüssigte Erdgas transportieren, können jeden Hafen der Welt ansteuern, der eine Regasifizierungs-Anlage besitzt. Sie docken an der uns abgewandten Seite des Schiffs an, um den Schiff-zu-Schiff-Cargo-Transfer durchzuführen. Im Innenraum ist das Gas noch flüssig. Auf der Seite des Anlegers jedoch, wo wir jetzt stehen, ist alles bereits regasifiziert. Das Schiff besitzt vier Cargo-Tanks, die maximal 170 000 Kubikmeter verflüssigtes Gas speichern können. 170 000 Kubikmeter verflüssigtes Erdgas – darin ist genug Energie gespeichert, um selbst bei strengstem Winterfrost sämtliche Gewerbeunternehmen und Haushalte Litauens für zehn bis zwölf Tage zu heizen - eine gewaltige Menge Energie, gespeichert in einem Schiffsrumpf. Erdgas, das zum Zweck der Verschiffung in flüssigen Zustand versetzt wird, verringert sein Volumen um das 600-fache, erklärt Zukas. Dazu muss es auf eine Minus-Temperatur von 161 Grad Celsius heruntergekühlt, und während sämtlicher Transport- und Umfülloperationen auf genau dieser Temperatur gehalten werden. Zukas deutet auf einen unscheinbaren, kastenförmigen Aufbau auf dem Schiffsdeck: die „Regasifizierungs-Anlage“, das Herzstück des Terminals. Hier wird das Erdgas in seinen ursprünglichen gasförmigen Zustand zurückversetzt. Das Gas wird erwärmt - von minus 161 Grad Celsius auf bis zu plus 5 Grad. Damit besitzt es die richtigen Eigenschaften für die Einspeisung ins litauische Netz. In dem Wärmetauscher wird sowohl die Temperatur als auch der Druck erhöht. Danach strömt das regasifizierte Gas durch die gelben Rohre dort drüben ins Gasnetz. Plattformen mit Verflüssigungsanlagen auf der einen Seite des Seewegs, Plattformen mit Regasifizierungsanlagen auf der anderen, dazu Spezialschiffe mit Kühlsystemen – im Vergleich zu einer konventionellen Pipeline ist das eine Menge technischer Aufwand. Aber Litauens Ziel ist nicht der pure Gasimport, sondern die Energiesicherheit, sagt Zukas. Dank der „Independence“ sei das erreicht. Am 11. Januar kam ich kaum durch zum Haus der Presse. Die Freiwilligen vom Staatsschutz prüften sorgfältig Passierscheine und Ausweise. Sie waren sehr aufgeregt und spielten mit derart ernsten Gesichtern Krieg, dass sie, von der Seite betrachtet, ziemlich komisch aussahen. Im ganzen Foyer lagen Feuerwehrschläuche herum, an den Türen standen Behälter mit Benzin, die Männer hatten kriegerische Mienen. Alles vermittelte unmissverständlich den Eindruck, dass man die Pressefreiheit mit allem Ernst zu verteidigen gewillt war. Sie hatten das Singen satt und wollten handeln. Sie dürsteten nach einem Zusammenstoß mit der russischen Armee. Die Marschrichtung steht fest: Russland soll für Litauen einer von mehreren Energielieferanten werden. Das Gas-Terminal spielt dabei eine Schlüsselrolle. Doch die Regierung will noch mehr tun. Die bestehenden Kraftwerke können zwar das importierte Gas in Strom verwandeln. Besonders effektiv ist das aber nicht, eher eine Lösung für den Übergang. Langfristig setzt zumindest der Energieminister wieder auf Atomkraft. Eigentlich ein Rückschritt, denn Ignalina, das einzige AKW in Litauen, wurde 2009 auf Betreiben der EU endgültig stillgelegt. Doch der alte Reaktorstandort Visaginas soll nach dem Willen der Regierung möglicherweise mit einem neuen Werk wiederbelebt werden. Und auch die Erneuerbaren Energien will die Regierung ausbauen, allen voran den Bereich Biomasse. Gleichzeitig wird an einem neuen Netz von Stromtrassen und Pipelines gearbeitet. Das soll Litauen mit den anderen baltischen Staaten, aber auch mit Polen und Skandinavien verbinden. Litauen – so das Ziel - soll wieder Energieexporteur werden, eine Karriere machen vom Bittsteller zum Global Player. Reportage 3 Das Mahnmal steht am Rand des Lukišk?s-Platzes – dort, wo damals, in den aufgewühlten Tagen der litauischen Unabhängigkeitserklärung, ein Kran eine monumentale Lenin-Statue von ihrem Sockel gebrochen hatte. „Denkmal für die Opfer der sowjetischen Besatzung“ ist auf einer kleinen Tafel zu lesen. Zur Pyramide aufgetürmte Steine erinnern an einen prähistorischen Grabhügel, davor stehen frische Blumensträuße. Schräg gegenüber erhebt sich die mausgraue Fassade des Ministeriums für Energiewirtschaft. Hier soll - 25 Jahre nach der politischen Unabhängigkeit - endlich auch das Fundament für die wirtschaftliche Unabhängigkeit gelegt werden. Im September 2014 hat Präsidentin Daliá Grybauskaité einen neuen Mann zum Energieminister berufen – parteilos, aber mit einem Namen, der Symbolkraft besitzt: Rókas Masiúlis war bis dahin Generaldirektor von Klaipedos Nafta, dem Betreiber des Gasterminals „Independence“. Unabhängigkeit von Russland, bestätigt Masiulis, ist für die litauische Regierung das wichtigste Ziel. Umso mehr, seit der Kreml in der Ukraine auf martialische Weise zeigt, wozu er fähig ist, wenn es gilt, den Großmachtstatus zu erhalten. Wir können das sehr gut nachempfinden, weil auch wir Unterdrückung erfahren haben. Unter sowjetischer Besetzung ist ein Drittel unserer Bevölkerung in Sibirien oder in Gefängnissen verschwunden. In jeder einzelnen Familie gibt es so einen Fall. In Westeuropa versteht man oft nicht, warum die Leute hier so sensibel sind. Aber wir haben eben diese Geschichte hinter uns. Der litauische Energieminister ist ein schlanker Mann in seinen 40-ern – jemand, der zuhören und beobachten kann, und im Verhandeln merklich versiert ist. Unter ihm wird gearbeitet, nicht repräsentiert – das wenigstens lässt die karge Ausstattung des Gebäudes erahnen. Hier steht allenfalls mal ein Sofa im Gang oder ein Teppich liegt auf dem Laminat. Hinter halbgeöffneten Bürotüren sieht man konzentrierte Gesichter hinter Bildschirmen. Um die litauische Energiepolitik zu verstehen, sagt Masiulis, muss man die litauische Geschichte kennen. Seit der Sowjetzeit sind wir voll integriert in die alten sowjetischen Stromnetze, Gas- und Ölpipelines. Wir waren zu 100 Prozent abhängig von Rohstofflieferungen aus Russland. Dann kam die Unabhängigkeit - und im Energiegeschäft mit Russland trat der politische Aspekt immer weiter in den Vordergrund. Mit ernstem Gesicht blickt Masiulis aus seinem Bürofenster, das einen weiten Blick über die Stadt zulässt. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit konnte das kleine Litauen seinem übermächtigen Energielieferanten wenigstens auf dem Stromsektor etwas entgegensetzen: Das Atomkraftwerk Ignalina produzierte genug, um das ganze Land zu versorgen, sogar Überschüsse konnten exportiert werden. Mit Litauens EU-Beitritt war das vorbei: Die Europäische Kommission stufte die beiden Reaktoren vom Typ Tschernobyl als unsicher ein, und bestand auf der vorzeitigen Stilllegung. Seitdem muss Litauen teuren Import-Strom einkaufen - und der kann wegen der alten sowjetischen Trassen nur aus Richtung Osten angeliefert werden. Litauen, sagt der Energieminister, hing von neuem an Moskaus Gängelband. Viele denken, dass sich unsere Politik gegen Russland richtet. Aber wir sind ein kleines Land – wir können uns gegen niemanden richten. Unsere frühere Strategie war, mit Gazprom zu verhandeln. Wenn Gazprom gute Laune hatte, dann wurden wir beliefert. Wenn Gazprom schlechte Laune hatte, dann bekamen wir nicht einmal einen Gesprächstermin. Aber es kommt immer eine Zeit, in der man Entscheidungen treffen muss. Die Entscheidung fiel im Jahr 2011, und lautete: Verflüssigtes Erdgas, kurz LNG. Ein Husarenstreich, der Litauen aus dem Würgegriff des Monopolisten Gazprom befreien, und enger an den Westmarkt binden würde, jubelten die Befürworter. Ein Drahtseilakt, der den zarten Wirtschaftsaufschwung gefährden könnte, fürchteten die Kritiker. Doch dieses Argument ist längst entkräftet, sagt Masiulis. Denn im Sommer 2014 gewährte Gazprom Litauen plötzlich einen kräftigen Rabatt auf den Gaspreis – ein Verhandlungserfolg, der früher undenkbar gewesen wäre. Der Nachlass gegenüber dem alten Preis liegt bei 23 Prozent. Dagegen fallen die Kosten für das Terminal nur wenig ins Gewicht. Unsere Investition hat sich also noch im selben Moment ausgezahlt – die Unabhängigkeit hat sich wirtschaftlich wie politisch als möglich erwiesen. Wir sind bereit, den Marktpreis zu bezahlen, wir verlangen keinen Rabatt. Aber wir wollen ein faires Angebot. Jetzt ist das Poltern von Soldatenstiefeln zu hören und ein barscher Befehl: 'Alle bleiben auf ihren Plätzen. Die Türen nicht zuschließen, sonst werden sie eingeschlagen.' Wir sind besetzt. Obwohl die Tür nur angelehnt ist, wird sie durch einen Tritt geöffnet. Der etwa zwanzigjährige Soldat, der dann mit vorgehaltenem Rohr hereinkommt, lässt seinen Blick unruhig durchs Zimmer streifen, auf der Suche nach einem versteckten MG. 'Grüß dich, Bruder – bratan', sage ich zum ihm auf Russisch, 'in welchem Regiment dienst du?' Und schon baumelt das Maschinengewehr friedlich an seiner Brust. Ein Schiff, das Gazproms Monopolstellung bricht, ein Stromnetz, das Litauen mit dem Westen verbindet und ein neues Atomkraftwerk, das aus dem Importeur einen Exporteur macht – der Masterplan der Litauer sorgt weltweit, aber vor allem in der Nachbarschaft für Aufsehen. Zur Einweihung der „Independence“, also des schwimmenden Gasterminals, kamen auch hohe Politiker aus Lettland und Estland. Litauen könnte sie schließlich mitversorgen – ein attraktiver Gedanke, ist es doch um deren Beziehungen zu Russland ebenfalls schlecht bestellt. Doch bei allem Optimismus: Nicht jeder in Litauen glaubt an den Erfolg des energiepolitischen Befreiungsschlags. Zwar setzen auch andere europäische Staaten auf LNG, also verflüssigtes Erdgas. Tatsächlich aber sind die wenigen bereits gebauten Terminals in den Häfen längst nicht ausgelastet. Der Grund ist der Marktpreis des LNG. Verglichen mit dem herkömmlichen Pipeline-Gas, das an den Ölpreis gebunden ist, ist LNG oft einfach zu teuer. Zwar rechnen Experten in den kommenden Jahren mit einem Preisverfall – aber es besteht doch die Gefahr, dass das kleine Litauen den Bieterstreit mit den energiehungrigen Staaten in Asien auf Dauer nicht gewinnt. Reportage 4 Und ich taufe sie auf den Namen Independence – may god bless, and protect her. Es ist der 27. Oktober 2014. Tausende Menschen haben sich am Hafen von Klaipeda versammelt, um einer Schiffstaufe beizuwohnen. Die gesamte Staatspitze der Republik Litauen spendet Beifall, als Präsidentin Dalia Grybauskaité der schwimmenden Gasplattform, die hier vor wenigen Stunden vor Anker gegangen ist, einen Namen gibt: „Independence“. Die Willkommensfeier ist Litauens Medienereignis des Jahres 2014. Die nationale Rundfunkanstalt LRT verzeichnet Einschaltquoten wie beim Finale der Fußballweltmeisterschaft. Frau Präsidentin, Herr Parlamentssprecher, Herr Premierminister, sehr verehrte Minister. Ich begrüße alle Anwesenden und Zuhörer, die unsere LRT-Live-Übertragung vom Zentralen Hafen von Klaipeda verfolgen. Hier, am Ufer der Ostsee, sprechen wir von Neuem das Wort aus, das für Litauen von unvergleichlicher Bedeutung ist: „Unabhängigkeit“! Europa und die Welt werden es zusammen mit uns wiederholen: Unabhängigkeit! Dieses Wort klingt heute so hoffnungsvoll wie damals, vor 25 Jahren, als wir einander an den Händen hielten, in einer Baltischen Menschenkette. Damals lief die Live-Übertragung über Stunden. Jetzt aber drückt Vaida Pilibait´yte entschlossen auf den Stop-Button des Mischpults. Die Journalistin sitzt zwischen zwei großen Lautsprechern im schallgedämmten Studio des nationalen Hörfunksenders – eine zierliche Frau in Kunstfellweste und robusten Winterstiefeln. Viele ihrer Kollegen waren von der Euphorie des Tages ehrlich ergriffen. Sie selbst dagegen war und ist skeptisch. Da gibt es diese riesige Erwartung, die an Gas aus unabhängigen Quellen geknüpft ist. Die Leute glauben, dass eine Energieversorgung, die unabhängig von Russland ist, automatisch zu niedrigeren Preisen führt. Experten aber weisen immer wieder darauf hin, dass verflüssigtes Erdgas nicht billig ist. Unabhängigkeit hat ihren Preis! Schon bald werden wir unsere Erwartungen an der Realität messen müssen. Denn die Ironie der Geschichte ist doch: Heute sind wir genauso abhängig von Importgas wie vorher. Wir haben uns lediglich in unserer eigenen Idee bestätigt, dass alles besser ist als Gas aus Russland. Kann verflüssigtes Erdgas tatsächlich die Energiesicherheit garantieren, die Litauen für ein robustes Wirtschaftswachstum braucht? Und das zu einem Preis, den die kleine Volkswirtschaft bezahlen kann? Diese Fragen stellte die Radio-Journalistin anlässlich der Willkommensfeier in der halbstündigen Umwelt-Sendung, die sie einmal wöchentlich als Redakteurin betreut. Ein Energiesicherheitsexperte aus Harvard, mit dem ich gesprochen habe, argumentiert vom ökonomischen Standpunkt aus: Selbst wenn sich die USA tatsächlich entschließen sollten, das Schiefergas zu exportieren, das Litauen so gerne kaufen möchte, dann würden voraussichtlich allein die Transportkosten nach Europa zu hoch sein – wenn man in Betracht zieht, wie stark die Märkte Asiens wachsen, und wie viel man dort für Energie zu zahlen bereit ist. Aber bekommen wir solche kritischen Stimmen oft zu hören? Nein. Hindert uns jemand daran, sie zu senden? Nein, nicht wirklich. Aber werden sie ignoriert? Meistens: Ja. Man kann ja nicht einmal eine Debatte beginnen, ohne dass man in den Verdacht gerät, ein „russischer Spion“ zu sein. Das ist einfach nicht fair. Die Kalkulation mit verflüssigtem Erdgas sei eine Rechnung mit vielen Unbekannten, warnten die Experten. Und die litauische Methode, Strom aus Gas zu produzieren, verteuere die Energiepreise zusätzlich. Ganz abgesehen davon, dass es wegen der langen Bauzeiten für die notwendige Infrastruktur noch Jahre dauern werde, bis von „Energie-Unabhängigkeit“ überhaupt die Rede sein könne. Könnte sich die Strategie, die Litauen aus Gazproms erpresserischer Preispolitik befreien soll, am Ende gar als der größere Kostentreiber entpuppen? Das hätte dramatische Folgen, fürchtet Vaida, besonders für Leute mit kleinen Einkommen. Unsere Rentner beispielsweise haben ein Monatseinkommen um die 200 Euro: Viele können ihre Rechnungen schon jetzt nicht bezahlen. Experten bezeichnen das als Heizkosten-Armut. Hierzulande kann das gesamte Einkommen im Winter nur für Heizkosten draufgehen. Ratlos zuckt die Journalistin mit den Schultern. Dass Russlands Monopolstellung als Energielieferant gebrochen werden muss, das bezweifelt sie nicht. Von Megaprojekten mit schwer abschätzbaren Folgekosten hält sie trotzdem nichts. In ihrer Sendung berichtet sie lieber über Erneuerbare Energien, Energiesparmaßnahmen, Wärmedämmung und intelligente Stromnetze. Dass solche dezentralen Maßnahmen auch in Litauen besser sind als ihr Ruf, das weiß sie aus eigener Erfahrung. In dem 70-er-Jahre-Wohnblock, in dem sie selbst ein Apartment besitzt, hatten die Bewohner eines Tages die Nase voll von ruinösen Heizkosten. Sie investierten, und fanden so ihren eigenen Weg in die Energieunabhängigkeit. Wir haben eine kleine Organisation mit dem Ziel der Hausrenovierung und Wärmedämmung gegründet. 2010 waren die Sanierungsarbeiten abgeschlossen - und seitdem liegen unsere Heizkosten etwa 40 Prozent niedriger als in den Nachbarhäusern. Was für ein Potenzial! Sogar die Experten der Litauischen Bank haben das kürzlich als die größte verpasste Chance der vergangenen 20 Jahre bezeichnet. Wir hätten unsere Energie-Unabhängigkeit auch erhöhen können, indem wir unsere Energieeffizienz steigern und Energie sparen! 'Bratan', Bruder, sagt er mit der Stimme eines gekränkten kleinen Jungen, 'warum hassen uns eure Menschen so sehr?' 'Sieh mal, bratan', sage ich, 'Panzer in den Straßen einer Stadt sehen sehr unnatürlich aus, sogar unästhetisch. Die Litauer sind ein Volk von Ästheten, und nun diese Panzer auf den Straßen. Früher, als es auf den Straßen nur Pferdefuhrwerke gab, da sahen die ersten Autos auch sehr misslungen aus. Die Menschen sind Gewohnheitstiere, bratan. Wärt ihr mit Pferden gekommen, gäbe es überhaupt keine Unzufriedenheit. Auch den Ungarn haben die Panzer nicht gefallen und den Tschechen. Die Afghanen sind vollkommen ausgerastet, obwohl es ja fast noch Wilde sind. Und dann kommst du auch noch an mit einem MG...' 'Ein gutes Maschinengewehr', sagt mir der von fehlender Gastlichkeit bedrückte Soldat, 'ein AK-74'. 'Klar ist das gut. Meins war auch gut, aber jetzt hab ich keins. Und Ungleichheit, bratan, ist ein schlimmes Gefühl.' Anders als in Lettland und Estland lebt in Litauen nur eine verhältnismäßig kleine russischsprachige Minderheit. Sie macht nur rund 7 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ein Ort in Litauen, an dem Russischsprachige allerdings fast unter sich sind, ist Visaginas im Nordosten des Landes. Eine Stadt, aus dem Boden gestampft für die Arbeiter des Atomkraftwerks Ignalina. Dessen Grundstein wurde 1977 gelegt. Gut 30 Jahre lang deckte es rund zwei Drittel des litauischen Strombedarfs. Eine Bedeutung, die dem Atomstrom EU-weit sonst nur noch in Frankreich zukam. Die EU allerdings machte die Schließung des veralteten Kraftwerks zur Bedingung für den EU-Beitritt Litauens. 2009 wurde der zweite der beiden Reaktorblöcke abgeschaltet. Betreten werden darf der Bau allerdings auch heute noch nur im Schutzanzug: In Block 2 lagert noch immer der abgebrannte Kernbrennstoff. Doch trotz dieser Altlasten: Die Bewohner von Visaginas setzen all ihre Hoffnung in den Bau eines neuen Atomkraftwerks. Reportage 5 Schmale Flure mit zahllosen Seitentüren; der Kontrollraum mit seinen Hunderten Messanzeigen und Leuchtdioden; die Reaktorhalle mit der imposanten Krananlage, die die sieben Meter langen Kernbrennstäbe einst direkt in die aktive Zone manövrierte. Ein Ausflug in das Atomkraftwerk Ignalina ist eine Zeitreise in die Welt der 1980-er Jahre, als es noch wie eine Selbstverständlichkeit erschien, dass zwei unterirdische Reaktoren ein ganzes Land mit Strom versorgen. In der Turbinenhalle von Block 1 läuft der Rückbau auf Hochtouren. Der Anlagenpark ist so groß wie ein Bahnhof, und auf mehreren Ebenen vollgestellt mit rostigen Maschinenteilen und verrußten Containern. Männer in Bauhelmen und Schutzanzügen bedienen Kräne und Hebebühnen; sie zerlegen, dekontaminieren, katalogisieren und verpacken. Was ist das für ein Gefühl, den eigenen Arbeitsplatz abzubauen, der über Jahrzehnte der Garant für ein stabiles Einkommen war? Die Arbeiter sind wortkarg. Nur einer willigt in ein Gespräch ein. Natürlich blutet einem das Herz, wenn man das, was man mit eigenen Händen aufgebaut hat, jetzt selbst wieder demontieren muss. Aber solange wir verdienen, und unsere Familien ernähren können, werden wir arbeiten. Solange wir am Leben sind, ist alles gut. Jurij ist Schlosser. Anfang der 1980-er Jahre, so erzählt der 55-Jährige, ist er aus der Ukraine nach Visaginas gezogen – in diese Retortenstadt im nordöstlichsten Zipfel der Sowjetrepublik Litauen, die nur zu einem Zweck gebaut worden war: um den Angestellten des Atomkraftwerks ein privilegiertes Leben zu ermöglichen. Junge Familien aus allen Teilen der Sowjetunion machten damals aus Visaginas eine multikulturelle Stadt mit 42 Nationalitäten: Russen, Weißrussen und Ukrainer, Polen, Balten, Tartaren, Armenier und viele andere – allesamt „Energetiker“, wie es damals hieß: Menschen mit hoher Bildung, die russisch sprachen und von der Aufgabe beseelt waren, für ihr Land Energie zu produzieren. Heute gehört Jurij zu den letzten Verbliebenen dieser alten Garde: Von den ehemals 5000 Ignalina-Angestellen wurden nur 2000 für den Rückbau übernommen. Alle anderen haben die Stadt verlassen, oder sie leben von der Hoffnung, die litauische Regierung werde sich endlich entschließen, ein neues Kernkraftwerk zu bauen. Das wäre natürlich wunderbar. Die Leute würden nicht mehr von hier wegziehen, unsere Kinder würden bleiben, und auch für die Enkel gäbe es Arbeit. Mein Sohn lebt heute mit seiner Familie in Vilnius. Aber wenn es hier Arbeit gäbe, dann würde er vielleicht zurückkommen. Elf Kilometer schnurgerade Landstraße trennen das Atomkraftwerk Ignalina von der Kleinstadt Visaginas. Am Autofenster ziehen dichte Kiefernwälder vorüber, und die Eis-überzogene Oberfläche des Sees Dr?kšiai schimmert in den schrägen Strahlen der Spätwinter-Sonne. Doch Taxifahrer Genrik hat für die Schönheiten der Natur kein Auge. Der alte Herr mit dem massigen Körper hat seinen Blick starr auf die Straße gerichtet, und schimpft vor sich hin. Weil es eine Russenstadt ist - darum verlässt jetzt die Hälfte der Leute die Stadt! Und weil die litauische Regierung unser Atomkraftwerk geschlossen hat! Dabei hätte das noch viele Jahre fantastisch weiterarbeiten und unserem Land eine Menge Gewinn einbringen können! Die Strompreise sind sprunghaft gestiegen. Nur wegen Europa! Wir haben europäische Preise, aber litauische Gehälter! Das einzige, das wir von unserer Präsidentin hören, ist, dass sie gegen Russland ist – was für eine dumme, dumme Idee! Russland, Weißrussland und die Ukraine gehören zusammen! Alle unsere politischen Probleme kommen daher, dass sie so unschön über Russland redet. Was soll man dazu sagen? Vor der Windschutzscheibe taucht das Stadtgebiet auf. Die Wohnblocks sind von weitläufigen Grünflächen umgeben, breite Gehwege und sorgfältig angelegte Parkanlagen hinterlassen den Eindruck von bescheidenem Wohlstand. Vor einem unscheinbaren Plattenbau parkt Genrik seinen Wagen. Es ist das Rathaus. Das Büro, in dem die stellvertretende Bürgermeisterin die Gäste der Stadt empfängt, ist ein freundlicher lichtdurchfluteter Raum. Elena Cekiene ist Litauerin – doch hier, in Visaginas, wo bis heute so gut wie jeder russisch spricht, ist ihr das Russische zur zweiten Muttersprache geworden. In den vergangenen Monaten hat sie mehr Besuch gehabt als sonst – vor allem Journalisten sind gekommen. Denn seit in der Ukraine die Krim so unversehens in den Herrschaftsbereich von Moskau geraten ist, betrachten plötzlich viele Litauer das kuriose russisch-sprachige Sowjet-Überbleibsel im eigenen Land mit Misstrauen. Der Vize-Bürgermeisterin gefällt das nicht. Die Enttäuschung der Menschen, ihre Geldsorgen und ihre Zukunftsängste, kann sie gut verstehen. In Russland fühlen sie sich nicht mehr zuhause, hier in Visaginas aber auch nicht. Es ist eine verlorene Generation, die einem leid tun kann. Sie selbst tragen doch keine Schuld daran, dass sie zu Geiseln der historischen Entwicklung geworden sind! 2009 war das Schicksalsjahr für Visaginas, erzählt die Vize-Bürgermeisterin. Der zweite Reaktorblock von Ignalina war kaum heruntergefahren, da vervierfachten sich die Stromkosten. Viele junge Leute verließen nach der Massenentlassung die Stadt. Die Einwohnerzahl, die in guten Zeiten bei 33 000 gelegen hatte, sank auf 22 000. Innerhalb weniger Wochen wurde der einst so begehrte Wohnort zum strukturschwachen Gebiet. In den vergangenen drei Jahren hat unsere Bevölkerung sehr darauf gehofft, dass der Bau des neuen „Atomkraftwerks Visaginas“ endlich bei der japanischen Firma Hitachi in Auftrag gegeben wird. Das klingt sicherlich merkwürdig: Bestimmt gibt es keinen zweiten Ort in ganz Litauen und Europa, wo sich die Leute ein Atomkraftwerk wünschen. Tatsächlich hat sich die Bevölkerung Litauens bei dem Referendum über den Neubau des AKW Visaginas im Jahr 2012 dagegen ausgesprochen. In Visaginas aber sagten 87 Prozent: Ja, wir sind dafür! Seit die Regierung in Vilnius um Energie-Unabhängigkeit von Russland kämpft, sind die Chancen für einen Neubau wieder gestiegen – das zumindest ist Elena Cekienes Hoffnung. Die Stadt plant einen Technologiepark, der Investoren anziehen soll – wenn nicht im Nuklearsektor, dann am liebsten im Bereich der Erneuerbaren Energien. Doch wird genug Geld zusammenkommen, damit die einstmalige „Stadt der Energetiker“ an ihre große Vergangenheit anknüpfen kann? Möglicherweise nicht, das fürchtet die Vize-Bürgermeisterin selbst. In Einem aber ist sie sich sicher: So groß die Enttäuschung über Europa bei den Bewohnern von Visaginas auch sein mag: Eine gewaltsame Wiederherstellung der Sowjetunion wünscht sich hier niemand. Einmal kamen Journalisten nach Visaginas, und fragten, ob diese Stadt ein symbolischer Ort des Aufstands werden könnte, so wie der Maidan-Platz in Kiew. Unsere Leute haben ihnen sehr besonnen geantwortet: Es ist für sie ganz und gar unvorstellbar, dass hier irgendjemand militärische Aktivitäten unterstützen könnte. Sie sagten: Ja, wir unterstützen Russland. Vor allem aber sind wir für Demokratie. Immer schon waren wir allein daran interessiert, und so ist es bis heute geblieben. „Gegen den Strom - Litauens Absage an Russland als Energieversorger“. Das waren „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. Die Literaturauszüge stammten aus dem Roman „Drei Sekunden Himmel“ von Sigitas Parulskis. Erschienen im Claassen Verlag. Gelesen hat sie Gregor Höppner. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jutta Stein. Am Mikrofon verabschiedet sich: Johanna Herzing. 2 2