KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe :Literatur Titel : Sie wollen, was wir haben. Erzählte Finanzen AutorIn : Paul Stänner Redakteurin :Barbara Wahlster Sendetermin :10.12.2013 Regie : Stefanie Lazai Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik brit. Pop-Musik 2007, unterlegen Zitator (John Lanchester, Kapital, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) "Danke", sagte Petunia. Während sie die Tür schloss, sah sie, dass auf der Fußmatte eine Postkarte lag. Sie bückte sich - ganz vorsichtig - und hob sie auf. Vorne auf der Karte war ein Foto ihres Hauses, Pepys Road (sprich: Pips road) 42. Sie drehte die Karte um. Es gab keine Unterschrift, nur eine gedruckte Nachricht. Da stand: "WIR WOLLEN WAS IHR HABT". Darüber musste Petunia lächeln. Warum in aller Welt sollte irgendjemand das haben wollen, was sie hatte? Erzählerin Die Pepys Road ist eine kleine Straße in London. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Häuser errichtet worden für Leute aus der unteren Mittelschicht, bescheidene Emporkömmlinge, die glücklich waren, ein eigenes Haus zu besitzen, auch wenn es nur ein Reihenhaus war. Wir schreiben das Jahr 2007. In Großbritannien boomt der Finanzsektor. In London wird viel Geld verdient, die Pepys Road fällt der Gentrifizierung zum Opfer. Neue Bewohner ziehen in die grundrenovierten Häuser. Zitator (John Lanchester, Kapital, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) Der Besitzer des Hauses gegenüber von Petunia Howe, Pepys Road 51, befand sich an seinem Arbeitsplatz in der City. Roger Yount saß am Schreibtisch in seiner Bank, Pinker Lloyd, und rechnete. Er versuchte herauszufinden, ob sein Bonus dieses Jahr die Summe von einer Million Pfund erreichen würde. Musik läuft aus Erzähler 2007 wird das Wort Bonus in Bankkreisen fast immer mit der Erweiterung "unverschämt hoher Bonus" gleichgesetzt.Heute wissen wir mehr. Die Zahlungen seinerzeit fielen noch höher aus, als es sich der nüchterne Verstand ausmalen konnte. Heute wissen wir, wie aberwitzig sich im Kasino das Roulette drehte, aber heute stehen wir ja auch fast schon am Ende einer Entwicklung. Oder sagen wir besser - am Beginn der Aufarbeitung einer Entwicklung. Erzählerin Die amerikanische Großbank JP Morgan musste vor kurzem 13 Milliarden Dollar als Strafzahlung an den amerikanischen Steuerzahler überweisen, um ihre Schuld im Zusammenhang mit betrügerischen Immobiliengeschäften zu tilgen. Woanders wurden Banken abgewickelt und es laufen Prozesse gegen die Banker, deren Unternehmen mit Steuergeldern gerettet werden mussten. Erzähler Banken, Sparkassen, Darlehensinstitute, sie alle gerieten unter den Generalverdacht, dass sich in ihren Büros die verkommensten Subjekte versammelt hatten, die im kapitalistischen System ihr Geld verdienten. Ja, der Kapitalismus selbst erschien als eine organisierte Ansammlung von Todsünden: Hochmut, Habgier, Maßlosigkeit - die Grundpfeiler des Verhaltenskodex der Banken. Musik wie oben unterlegen Zitator (John Lanchester, Kapital, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) Ahmed Kamal, dem der Laden in Hausnummer 68 am Ende der Pepys Road gehörte, wurde um3.59 Uhr morgens wach, genau eine Minute, bevor sein Wecker klingelte. Ahmed war daran gewöhnt, für aufzuwachen. Ahmed nahm seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr in die Küche. Dabei nahm er das letzte Paket Zeitungen mit, das für die Pepys Road vorgesehen war. Als er das Paket aufhob, sah er etwas auf dem Boden, eine Karte, die man durch den Briefschlitz geschoben haben musste, während er beschäftigt gewesen war. Während er immer noch Fatimas Hand hielt, schaute er die Karte genauer an und sah, dass es ein Foto seines Ladens war und auf der Rückseite die Worte "WIR WOLLEN WAS IHR HABT" standen. Erzähler John Lanchester, der Autor des Romans "Kapital" hat den Namen Pepys Road mit Bedacht gewählt. Samuel Pepys, 1703 in London verstorben, war ein Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht, der es zu einem hohen Regierungsposten gebracht hatte. In seinem Geheimen Tagebuch, für das er lang nach seinem Tod literarischen Ruhm erntete, überprüfte er regelmäßig, wie es um seine wirtschaftliche Lage bestellt war - und die Einkünfte verbesserten sich stetig. Musik abblenden Erzählerin Es gibt in der Tat in Südlondon eine Pepys Road. Um dort zu wohnen, so stand es in einer englischen Zeitung, müsse man zwar "gut dabei" sein, aber nicht - Zitat - "obszön reich". Wie Lanchesters Banker Roger Yount: Zitator (John Lanchester, Kapital, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) "Es war ein gutes Jahr für die Abteilung", sagte Max. Jaaaaa! "Die Zahlen sprechen für sich." Jaaaa! Das war kein Eine-Million-Gespräch. Das roch nach zwei Millionen, vielleicht sogar mehr. Steuerte er womöglich auf die Summe von zweieinhalb Millionen zu? Vielleicht würden er und Arabella sogar Sex haben! Roger war nur einen kurzem Moment lang unaufmerksam gewesen, aber als er sich wieder auf das Gespräch konzentrierte, sagte Max gerade:"...Und das ist nur die Großwetterlage. Darüber hinaus gab es noch die Schwierigkeiten mit unserem Tochterunternehmen in der Schweiz." Und ganz plötzlich, aus heiterem Himmel, merkte Roger, wie sein Bonus in sich zusammenfiel. Dieser aalglatte kleine Wichser Max, der sich hinter seiner funkelnden Nazi-Metallbrille verschanzte, servierte ihm da gerade eine Hiobsbotschaft. Erzählerin Das mit dem Sex wird er wohl streichen müssen - gerade einmal 30 000 Pfund wird Rogers Bonus betragen. Die Finanzkrise hat zugeschlagen. Zitator (John Lanchester, Kapital, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) Roger schaffte es gerade noch ins Innere einer der Zellen, und dann übergab er sich dreimal, so heftig, dass seine Bauchmuskeln schmerzten. Nachdem er fertig war, machte er den Klodeckel zu und blieb einfach, wo er war, bewegungslos am Boden kniend. Musik wie oben, unterlegen Erzähler John Lanchester hat 2012 mit seinem Roman eine Gattung eröffnet, die in England "post-crash-novel" heißt, die Literatur nach dem Zusammenbruch. Wie in einer Nummernrevue lässt Lanchester die Bewohner der Pepys Road auftreten, so dass er gleichsam die jüngere Geschichte dieses Viertels erfasst: Da ist die einfache Rentnerin am Ende ihres Lebens, da ist der aktive Banker im Auf und Ab seiner Karriere, da ist der Zeitungshändler mit Migrationshintergrund und da sind die polnischen Gastarbeiter, die für die reichen Neuzugänge die Häuser renovieren. Sie alle versuchen ihr Leben zu gestalten und werden bedroht von dieser immer stärker anschwellenden Kampagne: Zitator (John Lanchester, Kapital, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) "WIR WOLLEN WAS IHR HABT" Musik abblenden Erzähler Diese fünf Wörter schaffen ein Atmosphäre der Bedrohung, denn in den Zeiten des hemmungslosen Geldes wühlt man sich leicht bedroht von denen, die mehr haben. Dieses Die-wollen-was-wir-haben, egal wie wenig es ist, ist ein Gefühl, dass die gesamte Straße beherrscht einschließlich der Polizei, die diesem womöglich kriminellen, womöglich gar terroristischen Spuk auf die Spur kommen muss. Am Ende ist es fast egal, wer die Drohungen verteilt hat und aus welchem Grund - das gesellschaftliche Klima in Zeiten der Krise ist so, dassjede banale Bemerkung als massive Existenzbedrohung erscheinen kann. Die rationalen Gewissheiten sind verloren gegangen. Erzählerin Dies unterscheidet die "post-crash-Literatur" von jener Literatur, die nach dem Großen Depression in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden war: Stand damals das Proletariat, die einfachen Arbeiter und kleinen Angestellten, die arbeitslos geworden waren, im Zentrum der Romane und Erzählungen, so ist es heute die zumeist akademisch ausgebildete Mittelschicht. Ging es in den 20er und 30erJahren um das nackte Überleben, geht es heute um den Statuserhalt. Erzähler John Lancaster, einst Journalist, hat sich mit sehr unterschiedlichen Romanen einen Namen gemacht. Der erste, in bester englischer Krimi-Tradition, war eine boshaft-versponnene Verfolgungsgeschichte ("Die Lust und ihr Preis"). Dann begann Lancaster politischer zu werden und schrieb mit "Hotel Empire" einen Roman über das untergehende Empire und nun mit "Kapital", ein Buch über das Finanz-Kapital, wie es sich in der britischen Kapitale austobt. Und als sei dies nicht genug, hat er gleich ein Sachbuch dazugelegt, in dem er die Erkenntnisse seiner Recherche darlegt: "Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt", lautet der Titel. Erzählerin Es geht nicht nur um das Geld selbst - in diesem Buch mit dem wunderbar umständlichen Titel "Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt" geht es um das Verständnis von Geld und um die Zusammenhänge, in denen es arbeitet. Lanchester zitiert den israelisch-amerikanischen Psychologen Daniel Kahnemann, der gleichzeitig auch Wirtschaftswissenschaftler ist. Seine Untersuchungen, für die er zusammen mit einem Kollegen den Nobelpreis bekommen hat, zeigen, dass die Fähigkeit des Menschen, Situationen und Entwicklungen zu beurteilen, sehr begrenzt ist. Zitator (John Lanchester, Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta) Und besonders anfällig sind wir für Irrtümer, die mit der Einschätzung von Risiken zusammenhängen. Erzähler Die Auswertung mancher Tests ergaben gar, dass die Wahrscheinlichkeit, grandios daneben zu liegen, um als vielfaches höher ist als die Chance, die Situation richtig einzuschätzen.Was das bedeutet für die Fähigkeit, Risiken im Finanzsektor abzuschätzen, wo die Bewegungen im Tempo von Sekundenbruchteilen ablaufen, möchte man sich gar nicht vorstellen. Erzählerin Und doch ist auch daraus schon viel Schönes entstanden: Sascha Reh schrieb mit "Gibraltar" einen deutschen "post-crash"-Roman. In seiner Geschichte hat sich ein Devisenhändler mit griechischen Anleihen gewaltig verschätzt und eine Bank in den Ruin getrieben. Offenbar war das Verhältnis von Gier und Verstand aus der Balance geraten. Sascha Reh hat Anleihen bei der Wirklichkeit gemacht - entsprechende Skandale bei der Barings-Bank und der Société Générale vor wenigen Jahren waren Rohmaterial für seinen Roman. Zitator (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) Der Preis lag zwischen 70 und 72 Prozent, noch würde die Ausschläge gering bleiben. Aber am Ende der Woche wollten die Griechen neues Geld aufnehmen. Die Luft wurde dünn für sie. Erzählerin Soweit die Risikobewertung des Analysten Bernhard Milbrandt. Ausgerechnet Griechenland, stöhnt der Leser. Wird die Luft dünn für die Griechen, wird sie es auch für Bernhard. Und der schnappt ohnehin nach Sauerstoff. Seine Biografie ist an einen toten Punkt gelangt. In der Bank ist er der erfolgreiche Manager, er bringt Profite ein wie kaum ein anderer. Aber sonst? Zitator (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) Dies war sein Leben. Dies hier: die Villa in Bad Homburg, die neue Gaggenau-Küche mit Weinklimaschrank und Dampfbackofen, der 52-Zoll-HD-Fernseher mit Surroundsound, der Gursky über dem Sofa. Und die Frau dort im Raum. Erzähler Sascha Reh hat ein komplexes Geflecht von sehr unterschiedlichen Personenerstellt, die alle in der einen oder anderen Weise an einem Punkt stehen, an dem es nicht mehr so richtig weiter geht. Da ist Thomas, der sein Studium - sagen wir - verkürzt hat und als "Ratgeber" arbeitet. Er ist ruhelos, immer auf dem Sprung an einen anderen Ort, seine Psycho-Beratung wickelt er am Mobil-Telefon ab. Ausgerechnet Bank-Menschen sind seine Klienten - Zitator (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) Diese Menschen arbeiteten 14,16, oder 18 Stunden am Tag, um die Privatschulen ihrer Kinderbezahlen und ihren sonstigen Lebensstandard aufrecht erhalten zu können, der so hoch lag, dass sich Mitleid mit ihren Problemen eigentlich verbot. Doch es waren Probleme. Und ihr Lebensstil verdammte sie dazu, diese Probleme zu perpetuieren, ob sie wollten oder nicht - wie hoch auch immer am Ende die Kosten dafür ausfallen würden. Erzählerin Da ist also Thomas, der Aussteiger und gleichzeitig Erbe des Bankhauses, das Bernhard Milbrandt gerade in den Ruin getrieben hat. Da ist Carmen, die Thomas´ Patientin ist und Bernhards unglückliche Frau. Da ist Valerie, die Stimmen hört, eigentlich Thomas´ Patientin sein sollte und stattdessen seine Geliebte sein will. Da ist Thomas´ Vater, der nach einem Schlaganfall im Krankenhaus auf den Tod wartet und in einsamen Selbstgesprächen sein Leben überdenkt. Erzähler Sascha Reh lässt seinen Roman von mehrere Stimmen aus wechselnden Perspektiven erzählen - mit meisterlicher Geschicklichkeit im übrigen. Die Leser lernen ein bisschen Wirtschaft, Unterpunkt Risikobewertung: Zitator (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) "Und was, denkst du, denken die Anleger?" - "Die denken wahrscheinlich, dass sie nichts verkehrt machen können. Sie denken, dass die EU für die Anleihen geradestehen wird." Erzählerin Nicht ganz falsch, aber auch nicht vernünftig. Wir lesen einen Krimi: Zitator (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) Er sprang auf, tat, als sei er in Eile. Hektisch, Kopflos. In Wirklichkeit war er vollkommen ruhig. Er legte seine Magnetkarte auf den Tisch, nahm das Jackett und ging zügig hinaus, ohne sich umzusehen. Er fuhr hinunter in die Tiefgarage, stieg in den BMW. Tippte "San Roque" in sein Navi. Fuhr los. Erzählerin Der gescheiterte Banker auf der Flucht. Genauer: auf dem Weg dorthin, wo er sein Geld geparkt hat:Gibraltar. Der flüchtige Banker Bernhard versteckt sich in einer der unfertigen Wohnungen eines spanischen Freizeitresorts nahe der Grenze zu Gibraltar, wo er bei einer Bank seine Beute gelagert hat. Nach und nach treffen Thomas, Valerie und die anderen ein, auf der Suche nach Thomas und dem Geld. Gibraltar ist plötzlich die Schatzinsel des Bankpiraten und seiner Jäger. Erzähler Wir erhalten eine moralische Unterweisung. Die Biografien aller Beteiligten sind durch den Zusammenbruch der Bank durcheinander geraten. Was zunächst als eine potentiell heilsame Irritation erschien, führt gegen Ende des Romans zum moralischen Showdown mit begrenzten therapeutischen Wirkungen. Thomas, der "Ratgeber" und Erbe ohne Bank, tritt an gegen Bernhard, den Betrüger und Valerie, Bernhards Frau undThomas´ ehemalige Patientin. Thomas gibt den Aufschlag, Valerie retouniert: Zitator ODER EVA (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) "Sie haben eine Viertelmillion verbrannt, einfach verbrannt. Haben Sie mal daran gedacht, dass es Menschen gibt, die dieses Geld zum Leben brauchen? Die jetzt ihren Fahrradladen oder das Softwarebüro zumachen können, weil sie kein Geld mehr kriegen? Also wenn Sie mit dieser Sache hier einen Plan verfolgt haben, dann war der Plan beschissen, absolut beschissen, von vorne bis hinten." Sie konnte nicht glauben, dass es sich bei diesem selbstgerechten Eiferer um denselben Mann handelte, der sie noch vor einer Woche mit zurückhaltender Stimme bei ihren intimsten Problemen beraten hatte. "Ich wollte helfen. Der Bank helfen." Bernhard hob, noch immer auf den Tisch starrend, ziellos die Hände; Carmen konnte das kaum ertragen. "Was glauben Sie, wie sie der Bank helfen, wenn Sie eine Viertelmilliarde verbrennen?" "Ich bin ihnen keine Rechenschaft schuldig." Erzähler Und Ende der Moralischen Unterweisung! In früheren Zeiten hätte ein Autor zum Genre des Entwicklungsromans gegriffen, um dem Leser die Läuterung des Bösewichts vor Augen zu führen und den geneigten Leser zur Nachfolge zu ermuntern. Der zeitgenössische Roman hingegen konstatiert unaufgeregt die moralische Indifferenz der handelnden Figuren. Die neoliberale Wirtschafts-Ideologie hat die "invisible hand", der unsichtbaren Hand des Marktes erfunden, die das Wirtschaftsgeschehen zum angeblich Besten aller lenkt. Die menschlichen Akteure des Marktes haben das Konzept von der unsichtbaren Hand so verstanden, dass diese unsichtbare Herrscherinstanz gefälligst auch alle Schuld auf sich zu nehmen hat, wenn das Marktgeschehen sich nach menschlichen Kategorien unmoralisch oder gesetzeswidrig verhält. Die Wirtschaft funktioniert, wie sie funktioniert, also soll sie auch selbst die Verantwortung übernehmen. Erzählerin Gäbe es den Romanautor, gäbe es auch keine Moral und kein Recht. Sascha Reh sorgt durch krimi-haft verstrickte Abläufe dafür, dass der Bösewicht Bernhard um die Früchte seine Betruges gebracht wird. In der wirklichen Welt außerhalb des Romans hätte kaum ein Gericht Bernhard zu fassen bekommen, die rächende Instanz des Autors stellt das moralische Gleichgewicht wieder her. Zitator (Sascha Reh, Gibraltar, Schöffling&Co.) Somit verliert sich die Schuldfrage wieder einmal im seelenlosen Niemandsland zwischen Risikolimits und Haftungsgrenzen. Unbefriedigend bleibt das allemal. Musik Aufschwellend, dann unterlegen Erzähler Die finanziellen und ökonomischen Verwüstungen, die die Finanzkrise seit 2008 ausgelöst hat, wurden begleitet von hektischen Rettungsversuchen aus der Politik und umrahmt von hilflosen Fachleuten, die einräumen mussten, sie verstünden weder die Ursache der Krise noch wüssten sie die zielsicheren Hilfsmittel zu ihrer Bewältigung. Es schlug die Stunde der Erzähler und der Moralisten - die Geisteswissenschaften fühlten sich gefordert, ihre eigenen Narrationen zu entwickeln. Erzählerin Einige stellten die These auf, dass das Elend begonnen habe mit der Aufhebung des Goldstandards Anfang der 1970er Jahre. Seinerzeit hatte der US-Präsident Richard Nixon, gebeutelt vom Vietnam-Krieg, die Koppelung des Dollars an die Goldreserven aufgehoben, was dazu führte, dass die amerikanische Notenbank je nach Bedarf die Notenpresse anwerfen und Geld in die Wirtschaft pumpen konnte. Weil das Geld nun nicht mehr gegen Gold eingetauscht werden konnte, wurde es zu einer Fiktion, zu einer Erfindung, zu einer Phantasiegröße, so, wie auch ein Roman en Fantasiegröße ist mit einer vagen Verbindung zur Realität. Die Zocker in den Banken wurden immer kreativer, ihre Erfindungen immer wirrer, bis eines Tages das ganze Konstrukt zusammenkrachte. Die fantasy-novel der endlosen Profite und Boni war zu Ende. Musik unter Erzähler ausblenden Erzähler Andere bemühten die Religion. Auch Religionen kann man ansehen als Erzählungen, die versuchen, diechaotischen, bedrohlichen Vorgänge in der Welt in ein sinnvolles Gewebe einzustricken. Jochen Hörisch zum Beispiel, von Hause aus Literatur- und Medienwissenschaftler, hat sich mit - wie er einräumt - Zitator (Jochen Hörisch, Man muss dran glauben, Wilhelm Fink Verlag) der schönen Freiheit des Dilettanten Erzähler an eine Außenbeobachtung gewagt. "Man muss dran glauben" heißt sein Traktat und im Untertitel "Die Theologie der Märkte". Musik Orgel unterlegen Zitator (Jochen Hörisch, Man muss dran glauben, Wilhelm Fink Verlag) Gott wie Geld sind auf Beglaubigung angewiesen. Das alte Argument, ohne die Glaubensbereitschaft der Gläubigen gäbe es keinen Gott, keine Götter und kein Göttliches, gilt per analogiam auch für das Geld. Ohne die Bereitschaft, es zu akzeptieren und es zu beglaubigen, hätte Geld keine Geltung. Gott- und Geldvertrauen, Gott- und Geldillusion, Gott- und Glaube sind strukturhomolog. Der Gottes- und der Geldglauben sind struktur- und funktionsverwandt. Erzähler Hörisch will nicht beweisen, dass Gott und Geld austauschbar seien. Was er auch nicht kann, denn dann müsste er zunächst einmal beweisen, dass es Gott gibt. Worauf er aufmerksam machen will, ist, dass der Umgang mit Geld religiöse Züge angenommen hat. Die Wissenschaft vom Umgang mit dem Geld erscheint wie eine Theologie, wie die Auslegung von Glaubenssätzen. Zitator (Jochen Hörisch, Man muss dran glauben, Wilhelm Fink Verlag) Sicher werden viele es als philologische Grille abtun, wenn man darauf hinweist, dass schon die geläufigen Bezeichnungen BWL und VWL, also Betriebswirtsschafts- und Volkswirtschaftslehre, absolut zutreffend sind, weil sie ... nun eben als "Lehren" und nicht als Wissenschaften firmieren. Tatsächlich geht es bei ökonomietheoretischen wie bei religiösen Diskussionen zumeist um die rechte bzw. irrige Lehre. Ökonomen gehören (z.B. neoliberalen, keynesianischen, ordoliberalen, marxistischen etc.) Glaubensgemeinschaften an. Erzähler Die einander eben auch mit der Leidenschaft von religiösen Anhängern bekämpfen. Viele Religionen kennen die Hand Gottes, viele Schulen von Wirtschaftstheoretikern glauben an die "invisible hand", die unsichtbare Hand des Marktes. Die Analogiensind offenkundig und frappierend - und Analogien sind Jochen Hörischs stärkste Waffen, allerdings mit begrenzter Reichweite. Zitator (Jochen Hörisch, Man muss dran glauben, Wilhelm Fink Verlag) Für einen Frommen ist die Antwort auf die Rätselfrage, warum dies oder jenes geschehen sei, immer überzeugend: Gott hat es so gewollt, denn alles liegt in seiner Hand. Aus dem Mund der Marktfundamentalisten erklingt gleichermaßen rituell die Antwort: "Die unsichtbare Hand des Marktes hat es so gewollt", "die Märkte wollen die Auf-/Abwertung des Euro/Dollar, die Bonizahlungen, den Konkurs etc." Es ist seltsam, dass heute viele Zeitgenossen die religiöse Formel "Gott hat es so gewollt" seltsam, weil analytisch unbefriedigend finden, die korrespondierende ökonomische Formel hingegen glaubensfroh akzeptieren. Erzählerin Wie sehr diese religiös-moralischen Basislinien noch das moderne Denken durchziehen, zeigt ein Blick in Terry Eagletons "Warum Marx recht hat". Eagleton ist zum einen Professor für Englische Literatur und zweitens ein katholischer Marxist. Um mit Hörisch zu sprechen: Er verbindet zwei Sorten Glauben miteinander. Und fügt noch die "schöne Freiheit des Dilettanten" hinzu. Zitator (Terry Eagleton, Warum Marx recht hat, Aus dem Englischen von Hainer Kober, Ullstein) Der Kapitalismus hat große materielle Fortschritte erzielt. Doch obwohl das System reichlich Zeit gehabt hätte, um zu beweisen, dass es alle Bedürfnisse des Menschen befriedigen kann, scheint es diesem Ziel kein Stück näher gekommen u sein. Wie viel Zeit wollen wir ihm noch geben? Warum halten wir hartnäckig an dem Mythos fest, der fabelhafte Reichtum, den diese Produktionsweise hervorbringe, werde, wenn die Zeit reif sei, allen zugutekommen? Erzählerin Solche Fragen stellt keiner, der an den Markt glaubt, sondern an die Moral. Eagleton dekliniert durch verschiedene Themen die Vorzüge des Marxismus nach dem Kollaps der kapitalistischen Gesellschaft durch. Dazu zählt auch der Glaube an die Zukunft oder der - je nachdem optimistische oder pessimistische - Glaube an die unveränderliche Natur des Menschen: Zitator (Terry Eagleton, Warum Marx recht hat, Aus dem Englischen von Hainer Kober, Ullstein) Neid, Aggression, Herrschaft, Besitzgier und Konkurrenz würde es auch weiterhin geben, nur dass sie nicht die Formen annehmen können, die sie im Kapitalismus haben - nicht weil die Menschen tugendhafter, sondern weil die Institutionen verändert wären. Erzählerin Aber weil Eagleton Marxist ist, der am Ende gern einen Schuldigen bestrafen möchte für seinen egoistischen Reichtum, und weil er Katholik ist, der ein sündhaftes Leben ohne Reue nicht verzeihen kann, wird er fast zum Inquisitor bei der Frage, wen er in die Reihen zukünftiger Kommunisten aufnehmen will. Musik ev. Völker, hört... unterlegen (Parodie?) Zitator (Terry Eagleton, Warum Marx recht hat, Aus dem Englischen von Hainer Kober, Ullstein) Die Marxisten hätten nicht das Geringste dagegen, wenn sich ihnen Richter, Rockstars, Medienmagnaten und Generalmajore scharenweise anschlössen. Nichts spräche gegen Rupert Murdoch und Paris Hilton, sofern sie genügend Reue zeigten und zu einer längeren Bußzeit bereit wären. Musik Völker, hört ... mischen mit Kirchenglocken Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Während Preising schlief, ging England unter. (Musik drei Sekunden frei) Es hatte sich schon am Abend zuvor abgezeichnet, aber in der Nacht hatten sie die Dinge noch einmal verschlechtert. Musik Völker hört... und Glocken kurz frei und wegblenden Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Um fünf nach neun, Londoner Zeit, wurde der Handel eingestellt. Zur selben Zeit sprach der englische Finanzminister als Erster aus, was bereits offen zutage lag, dass das Land unter diesen Umständen für lange Zeit nicht mehr in der Lage sein würde, seine horrenden Staatsschulden zu bedienen. Musik Tunesische Musik unterlegen Erzählerin Die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe - in der tunesischen Wüste. Dort treffen in einem edlen Resort aufeinander: der Schweizer Unternehmer Preising, der so viel Geld hat, dass ihn sein Geschäftsführer in die Wüste geschickt hat, damit er nicht in der Firma lästig wird - und eine Gruppe englischer Yuppies, die in der edlen Freizeitanlage eine spektakuläre Hochzeit feiern wollen. Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Junge Leute in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern. Schlank und durchtrainiert. Sie standen Witze reißend an einer der Bars, sie verschwanden, sich ungestüm küssend und sich die Hände gegenseitig unter die Bünde ihrer engen Shorts steckend, in ihren klimatisierten Zelten, sie erteilten dem Personal selbstsicher Anweisungen, sie wandernten fluchend durch die Palmenhaine auf der Suche nach besserem Empfang für ihre Blackberrys. Preising war erstaunt, dass in diesen Tagen der Londoner Finanzplatz fünfzig junge Talente entbehren konnte. Musik Abblenden Erzähler Der Schweizer Jonas Lüscher hat sich bei der Beschreibung der Finanzkrise auf eine Außenposition zurück gezogen. Während manche das Atmosphärische, andere das Menschliche, wieder andere das Moralisch-Sinnstiftende in der Krise suchen, findet Lüscher das Groteske. "Frühling der Barbaren" heißt seine Novelle um die Hochzeitsgesellschaft in der Wüste. Lüscher ist ein Meister der detailfreudig durchgearbeiteten Groteske.Preising lernt Pippa kennen, die Mutter des Bräutigams. Pippa erzählt von ihrer eigenen Hochzeit - Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) In Loughborough Estate, einer Sozialsiedlung in Brixton ... Einem, zu jener Zeit zwar erst zehn Jahre alten, aber dennoch bereits bröckelnden, Betonpavillon im Schatten gigantischer Wohnblöcke, in dem es nach Pisse und getragenen Kleider roch. Einem Raum, von dem die Stadtplaner angenommen hatten, er würde, mit seinen farbenfroh gestrichenen Wänden, dereinst das Zentrum einer lebendigen, multikulturellen Stadt mit abendlichen Sommerfesten werden, bei denen sich die Bewohner der Hochhäuser gegenseitig bewirteten, der aber nie zu etwas anderem gedient hatte, als gelegentlichen Gruppenvergewaltigungen jugendlicher Banden einen Raum zu bieten und immer am ersten Dienstag des Monats die Kleiderverteilung der Heilsarmee zu beherbergen. Erzähler Während die moralischen Denker darüber nachsinnen, ob aus dem Bösen etwas Gutes werden kann, genießt der distanzierte Connaisseur die bitterböse Erzählung, wie aus Gutem Böses wird. Die Katastrophe füttert den Kunstgenuss. Mit der hochkultivierten Sprache Preisings, der das bizarre Treiben um sich herum gewissermaßen mit hochgezogener Augenbraue betrachtet, schildert der Roman den Untergang der Welt, wie man sie bis dahin kannte. Erzählerin Nach einer wüst durchfeierten Hochzeitsnacht erwacht die englische Gesellschaft und stellt fest, dass sie wegen des völlig wertlosen britischen Pfund a) pleite ist, b) in der Wüste sitzt und c) keinen Alkohol mehr hat. Die Resort-Besitzerin informiert den Vater des Bräutigams darüber, dass alle Kreditkarten gesperrt seien. Musik tunesische Musik unterlegen Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Sanford, angetan mit einem ausgesprochen bauschigen Frotteebademantel und türkisen Ziegenlederpantoffeln, nahm innerlich sofort eine Kampfstellung ein. Er hatte es schon immer gewusst, dass es so weit kommen würde. Erzählerin Und Sanford informiert Pippa, seine Frau: Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Pippa nahm die schlechte Nachricht resigniert zur Kenntnis und bemerkte, dass sie das habe kommen sehen. Erzählerin Und auch Preising, der teilnehmende Beobachter aus der Schweiz, wird informiert. Zitator Ich kann wirklich nicht behaupten, dass ich sonderlich überrascht war, ich hatte es schon immer gewusst, dass es eines Tages so kommen würde. Erzähler Wie immer nach dem Eintritt der Katastrophe haben alle geahnt, dass das "nicht ewig gut gehen kann", aber im Moment der Katastrophe wurden alle kalt erwischt. Niemand hat vorausschauend gehandelt. Erzählerin Im Resort bricht Chaos aus. Die Angestellten werden entlassen, die Küche ist verschlossen, der Koch aus Kärnten in der Wüste verschwunden. Ein Kamel muss sterben und kleine Hunde, das Resort brennt ab. Die Barbaren schlagen zu. Preising flüchtet. Schafft es in die Schweiz. Erzähler Die Zuhörerfigur in der Novelle, derPreising seine Geschichte aus der tunesischen Wüste erzählt hat, kommt ins Grübeln: Musik abblenden Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Und was hatte er damit bewiesen? Mit dieser traurigen Geschichte voller tragischer Zufälle? Einer Geschichte, aus der sich nichts lernen ließ. Erzähler Lässt sich etwas lernen aus der Geschichte? Jonas Lüscher hat in seiner Novelle ein Zitat des österreichischen Geschichtsphilosophen Franz Borkenau vorangestellt. Für ihn beschreibt Barbarei einen Zustand, in dem viele Werte der Hochkultur vorhanden sind, aber in keinem sozialen Zusammenhang miteinander stehen. Dann heißt es: Zitator (Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck) Doch gerade aus diesem Grund ist "Barbarei" auch ein schöpferischer Prozess: Wenn der Gesamtzusammenhang einer Kultur einmal zerbrochen ist, liegt der Weg offen für eine Erneuerung der Schöpferkraft. Erzähler Ist das womöglich die Lehre? 1