DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Karin Beindorff Feature "Ich habe immer Recht" ("Ik heb altijd gelijk") Der niederländische Schriftsteller Willem Frederik Hermans Ein Feature von Roland Koch Regie: Claudia Kattanek Sprecher Hermans Zitator 'Dunkelkammer des Damikles' Autor Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 26. September 2014, 20.10 - 21.00 Uhr O-Ton Hermans 1: "Al voor 1943, in 1939 tot 1940, schreef ik, bij voorkeur verhalen, geen romans. Maar op een ogenblik dacht ik ik will eens een echte roman schrijven, hoe zal dat zijn? Dat lijkt me verschrikkelijk veel werk. En ik heb dus een roman genomen of 250 bladzijden en nageteld hoeveel woorden dat was, en nageteld hoeveel pagina's ik dan wel zou". (00:34 - 01:06) Sprecher: "Vor 1943, also 1939 bis 1940, schrieb ich vorrangig Berichte, keine Romane. Aber mit einem Mal dachte ich, ich möchte mal einen echten Roman schreiben, wie soll das funktionieren? Das kommt mir wie erschreckend viel Arbeit vor. Und dann habe ich mir einen Roman mit 250 Seiten genommen und nachgezählt, wie viele Wörter das waren und habe nachgezählt, wie viele Seiten ich dann wohl volltippen muß, um einen Roman zu schreiben." Autor: Willem Frederik Hermans? Der Klassiker der niederländischen Gegenwartsliteratur? Bis vor ein paar Jahren hatte ich nie von ihm gehört. "Die Dunkelkammer des Damokles"? Nach und nach erschienen seit 2001 Hermans' Bücher auch bei uns. Zufällig entdeckte ich die deutsche Ausgabe des Romans, die mich vom ersten Satz an zu faszinieren begann. Zitator: "...Tagelang trieb er auf einem Floß umher, ohne etwas zu trinken. Er war schon fast verdurstet, denn das Wasser des Ozeans war salzig. Er haßte das Wasser, das er nicht trinken konnte. Doch als ein Blitz in das Floß einschlug und es in Brand steckte, schöpfte er das verhaßte Wasser mit den Händen und versuchte das Feuer zu löschen! Der Lehrer begann als erster zu lachen, schließlich lachte die ganze Klasse mit. Dann läutete es. Die Kinder standen von ihren Bänken auf. Henri Osewoudt war einen halben Kopf kleiner als die anderen Jungen. Im Gänsemarsch gingen sie durch den Korridor, und als sie das Schulhaus verlassen hatten, rannten sie los." (5) Autor: Ich mußte an den berühmten Anfang von "Madame Bovary" von Flaubert denken. Doch Willem Frederik Hermans' Roman aus dem Jahr 1958 kam mir viel rätselhafter, unauflöslicher vor. Ein Schreiben, das unendlich düster und verzweifelt erschien. Eine kalte, feindselige Atmosphäre schlug mir entgegen, negativ, irritierend. Wer hatte das geschrieben? Wer hatte sich diese vertrackte Handlung ausgedacht? O-Ton Otterspeer 1: "Die erste Reaktion auf das Bild Hermans', man hat Angst vor ihm." (27:38-27:43) Autor: Die Geschichte des Doppelgängers, von dem man nie erfährt, ob es ihn wirklich gegeben hat, las ich zweimal. Ein solch realistischer Roman, der in den von den Deutschen besetzten Niederlanden im Zweiten Weltkrieg spielte, der trotzdem etwas Surreales, Verzaubertes oder besser Verhextes hatte. Vergleichbares kannte ich nicht, und gerade diese Mischung war etwas Verwandtes, etwas, das mich beim Schreiben von "Geheime Kräfte" antrieb, meinen geheimnisvollen Kalendergeschichten. Ein skurriler, kämpferischer Mensch und ein großer Schriftsteller müsse Hermans gewesen sein, hörte ich, und ich traf seinen Biographen. O-Ton Otterspeer 2: "Meiner Meinung nach der Größte." (0:15-0:17) Autor: Vor uns auf dem Tisch des Arbeitszimmers in dem schönen alten Haus in Leiden liegt ein 800-Seiten-Manuskript. Willem Otterspeer schreibt die Biographie Willem Frederik Hermans', der erste Teil, der bis 1952 reicht, ist 2013 erschienen. "De mislukkingskunstenaar" - "Der Mißlingenskünstler" heißt das Buch über den niederländischen Schriftsteller. O-Ton Otterspeer 3: "Er hat das größte Gesamtwerk eines Künstlers hinterlassen, den es in den Niederlanden gibt." (0:34-0:36) Zitator: "Jede Nacht schlief er in Rias Bett. Mit fünfzehn wurde ihm bewußt, daß er sie häßlich fand. Er begriff nun auch, warum das Gerede der anderen Jungen ihn nicht interessierte. Warum sollte er sich ihr unbeholfenes Geflüster über Dinge anhören, die er seit Jahr und Tag in aller Seelenruhe jede Nacht vollzog?" (12) Autor: Wenn mich Hermans so betraf und beschäftigte, wie war seine Bedeutung für die niederländische Literaturszene? Ich fragte den Schriftsteller Cees Nooteboom, der Hermans sehr gut gekannt hat. O-Ton Nooteboom 1: "Er hat immer geschimpft auf dieses provinzielle Holland, was nach dem Krieg noch so da war." (26:42-26:49) Autor: Ein Schriftsteller, der gegen sein Land, gegen die Welt kämpfte, der eigenständig und eigensinnig sein wollte. Jemand, der ganz aus sich heraus an seinem Schreiben arbeitete. Wie hatte er das gemacht? O-Ton Hermans 2: "En toen heb ik gedacht, vijf of tien pagina's per dag? In elle geval in 14 dagen zou ik een roman kunnen schrijven, en dat was dus dieze roman. Maar op de 14 dagen heb ik er toch wel drie maanden over gedaan, denk ik." (01:07 - 01:24) Sprecher: "Und dann habe ich gedacht, 5 oder 10 Seiten pro Tag? In jedem Fall sollte ich so in 14 Tagen einen Roman schreiben können und das war dann dieser Roman. Aber auf die 14 Tage habe ich doch vielleicht noch etwa 3 Monate draufgelegt, denke ich." O-Ton Otterspeer 4: "Er hat in alle Genres geschrieben, Gedichte, Essays, wissenschaftliche Werke, große Romane." (0:40-0:46) Zitator: "Wie es sich nun genau zugetragen hatte, als die Mutter den Vater ermordete, wußte er immer noch nicht. An einem Himmelfahrtstag fuhr er allein nach Voorschoten. Er nahm zuerst die blaue Straßenbahn nach Haarlem. Dort stieg er in eine andere blaue Tram um, die nach Leiden fuhr. In Leiden nahm er wieder eine andere blaue Bahn Richtung Den Haag." (15) Autor: Osewoudt, die Hauptfigur der "Dunkelkammer des Damokles" erschien mir einzigartig: Ein bartloser Mann, der sehr früh Erfolg bei Frauen hatte, ein Fotograf, der einen Doppelgänger traf, den es später nicht gegeben zu haben schien. Ein tragische Figur, von der mitleidlos erzählt wurde, kalt, die in ihrer wenig anziehenden und unheimlichen Seite beschrieben wurde und vielleicht die erste wirklich ambivalente, widersprüchliche, schwache und dennoch fesselnde Romanfigur war. O-Ton Otterspeer 5: "Er ist der wichtigste modernistische Künstler in den Niederlanden, er hat die Niederlande reif gemacht für den Modernismus, und er hat dafür bezahlt." (0:50-1:02) Zitator: "Osewoudt blickte in den Spiegel und faßte sich an die Wangen, die immer noch weich, rund und glatt waren. In der Schule schaute er sich um, ob er vielleicht ausgelacht würde, er spitzte die Ohren, wenn andere Jungen in einer Gruppe beisammenstanden, aber alle ließen ihn in Ruhe, weil sie wußten, daß er jeden von ihnen, sogar den größten, sofort zu Boden warf." (18) O-Ton Nooteboom 2: "Nicht ein leichter Mensch in der Umgang, er genoß es wahrscheinlich auch ein bißchen, um diese Reputation zu haben." (28:02-28:09) Zitator: "Ein kleines Ungeheuer, ein aufrecht stehender Frosch. Er hatte keine Nase, sondern ein Näschen. Seine Augen sahen auch in Ruhestellung so aus, als ob er sie zusammenkniff, als ob er nur lauern und nicht normal schauen könnte. Sein Mund erinnerte an die Öffnung, mit der primitive Tiere die Nahrung aufnehmen, es war kein Mund, der auch lachen und reden konnte. Und dann noch die Pausbacken und das helle, seidige Haar, das einfach nicht vom Kopf abstehen wollte, obwohl er es so kurz wie möglich schneiden ließ." (18) Autor: Hermans verstand es in meinen Augen höchst souverän, die vielschichtige, zerrissene und gespaltene Romanfigur ungerührt zu betrachten, das machte diesen Romancier für mich so anziehend. Er schien keinerlei Vorbilder oder Einflüsse zu kennen. O-Ton Otterspeer 6: "Er ist geboren in Amsterdam 1921, gestorben in Utrecht 1995." (1:11-1:18) O-Ton Nooteboom 3: "Was Mulisch dann wieder sagte, nach Holland kommt er zurück, um zu sterben." (30:39-30:43) O-Ton Hermans 3: "En ik dacht nou nu ga ik eens een roman maken en die lever ik ook in bij Meulenhoff. (...) Nou-hij had het dus aan een adviseur laten lezen, dat was D.A.M. Binnendijk. (...) een dichter van de tweede garnituur. (...) en dus ja, die had verstand von literatuur. En Meulenhoff vroeg dus een advies aan hem en na een maand of zo wred ik geinviteerd van het bureau of Meulenhoff en daar lag het schriftelijk advies van Binnendijk." (01:57 - 02:02 (...) 02:24 - 02:33 (...) 02:43 - 02:47 (...) 02:53 - 03:22) Sprecher: "Und ich dachte dann: "Jetzt werde ich mal einen Roman schreiben und den reiche ich auch bei Meulenhoff ein. (...) Nun, er hat den Roman von einem Berater lesen lassen, das war D.A.M. Binnendijk. (...) Ein Dichter der zweiten Garnitur. (...) und dadurch hatte er Literaturverstand. Und Meulenhoff hat ihn um Rat gefragt und nach einem Monat oder so wurde ich von Meulenhoffs Büro eingeladen und da lag das schriftliche Gutachten von Binnendijk." O-Ton Nooteboom 4: "Er hatte immer Krieg mit Holland" (0:40-0:42) Zitator: "Es gab keine Stelle an ihrem Körper, an der man sie hätte berühren können, ohne gleich das Skelett zu spüren. Ihre Haare hatten die Farbe von Packpapier, das Kinn war lang und spitz, und auch die Zähne waren zu lang. Stets sichtbar, ohne daß es eines Lächelns - das bei ihr sowieso nie vorkam - bedurft hätte, standen die Zähne ziemlich schief übereinander und ruhten immer auf der Unterlippe. Ihr Gebiß war keine Zierde, nicht einmal eine Waffe, sondern eher der Abschluß des Mundes, etwas wie der Schnappverschluß eines Portemonnaies." (19) Autor: Diese Art der Beschreibungen können einen verrückt machen. Sie wirkten auf mich naturwissenschaftlich, distanziert, höhnisch. Hing das mit Hermans' Arbeit als physischer Geologe an der Universität Groningen zusammen? O-Ton Otterspeer 7: "Sein Leben ist vielleicht in drei Teile zu teilen, das ist erst in Amsterdam, dann hat er in Groningen gewohnt, 1952-1973, dann ist er nach Paris gegangen, da hat er auch 20 Jahre gelebt, da hat er 4 oder 5 Jahr in Brüssel gewohnt, und dann ist er gestorben." (1:23-1:49) O-Ton Nooteboom 5: "Er wollte am Ende nicht mehr in Paris wohnen, er wollte auch nicht in Holland wohnen, er wohnte also in franzsprachiges Brüssel. (30:50-30:57) Zäsur O-Ton Otterspeer 8: "Das ist, was ihn im Anfang so berühmt machte, seine Polemik, er hat ein ganz neues Genre geschaffen von der literarischen Polemik, und da war auch wirklich humoristisch." (29:48-30:05) Zitator: "Osewoudt wurde nun neunzehn und hatte das Gefühl, alles, was getan werden mußte, sei bereits getan. Alle Hindernisse, die ihn hätten aufhalten sollten - andere Leute verbringen ihr ganzes Leben damit, sie zu überwinden -, waren eingestürzt, wenn er sich ihnen genähert hatte: Sein Vater, seine Tante waren tot. Ria war eine Frau, mit der er alles getan hatte, was er sich nur ausdenken konnte, bis hin zum Heiraten." (23) Autor: Wie stark war Hermans aber von dem beeinflußt, was er erlebt hatte? Der Einmarsch der Deutschen in sein Heimatland, die brutale, überhebliche, abfällige Art, wie sie mit dem kleinen Land umgegangen waren? Könnte es sein, daß dies ihn geprägt und seine Art zu schreiben geformt hatte? Stammte sein Zynismus daher? O-Ton Nooteboom 6: "Es hatte auch etwas Trauriges, weil es war so nutzlos." (4:25-4:31) O-Ton Otterspeer 9: "Der liebte das Leben, natürlich, er war manchmal sehr melancholisch usw., aber dennoch, er liebte gute Wein, seine Frau war ein riesenguter Koch und eine sehr charmante Frau, und er war selber auch sehr charmant, er konnte Leute bezaubern, er konnte auch sehr, ziemlich treu sein." (26:55-27:30) O-Ton Nooteboom 7: "Da war nichts leicht bei diesem Menschen." (29:50-29:53) O-Ton Hermans 4: "Binnendijk vond het een mislukte roman. Hij had nog allerlei motieven. Nou ik ging dur zeer zeer zeer gedepriemeerd." (04:00 - 04:09) Sprecher: "Binnendijk fand, daß es ein mißlungener Roman sei und er hatte noch allerlei Beweggründe. Nun, ich ging dann sehr sehr deprimiert." O-Ton Otterspeer 10: "Die größte Periode, die meist kreative Periode, ist die Groninger Periode, sie ist auch die meist turbulente Periode." (1:50-1:56) O-Ton Nooteboom 8: "Leicht paranoide war er schon" (1:44-1:49) Zitator: "Er sah genauso aus wie du, es war wie das Negativ und das Positiv von einem Foto." (26) Autor: So empfand ich die Doppelgänger-Geschichte, die einen auch zur Verzweiflung treiben konnte, weil man sie nicht verstand, sie nicht durchschaute, weil sie nicht wirklich aufgeklärt wurde, eher als Metapher für etwas anderes. O-Ton Otterspeer 11: "Um ihn wirklich zu begreifen, muß man einsehen, daß er, wenn er nach Groningen ging, sich bereits gescheitert fand, und das Scheitern das ist das größte Thema seines Lebens." (2:00-2:15) Zitator: "Der Offizier gab Osewoudt die Hand und sah ihm in die Augen. Osewoudt fiel auf, daß die Augen des Leutnants auf gleicher Höhe mit seinen eigenen waren. Graugrüne Augen, die ihn anschauten, als sähen sie in ihm etwas Besonderes. Noch nie hatten Augen ihn auf diese Art angeschaut, außer wenn er in den Spiegel sah." (25f.) O-Ton Otterspeer 12: "Ich denke, das Wichtigste in dem Roman ist die Doppelfigur, Osewoudt und Dorbeck, und die sind eine Art Zwillinge, aber sind auch einander sehr fremd, der eine ist schwarz, der andere ist blond, einer ist stark, der andere ist schwach, (...) sie beide zusammen, das ist Willem Frederik Hermans." (18:40-19:09) O-Ton Nooteboom 9: "Bei Hermans kann man sagen, in den Beschreibungen wirklich sehr realistisch, aber trotzdem mit diesem Doppelgängerthema doch auch eher eine Form der Illusionismus." (11:47-11:59) Autor: Ein Roman mit unergründlicher Auflösung, mit Unwahrscheinlichkeiten, die dem Autor unterlaufen waren oder die er bewußt stehengelassen hatte, ein derartig düsteres Buch, als Schullektüre in den Niederlanden? O-Ton Otterspeer 13: "Eine Riesenkohorte der Jugend in den 60er, 70er Jahren der ist mit Hermans großgeworden, und der hat sein Lebensbild, seine Lebensphilosophie von Hermans genommen und hat sich darunter hinausstreiten sollen." (2:25-2:43) O-Ton Nooteboom 10: "Aber Hermans, das ist einfach die unangreifbare Größe, mehr doch als Mulisch, zum Beispiel. Da wurde bei uns immer geredet über die große Drei, das waren Reve, Hermans und Mulisch. Ehrlich gesagt, habe ich das immer Unsinn gefunden (...) und untereinander waren die auch nicht sehr freundlich." (20:02-20:37) Autor: Wenn man in Hermans' Welt eintrat, so schien mir, war man verloren. Es gab eine realistische, vernünftige Ordnung, aber sie stimmte nicht, sie hielt nicht, was sie versprach. O-Ton Hermans 5: "Daar op de hoek daar heb je'n bureau daar kun je je aanmelden bij de SS im in Rusland te gaan vechten, dat doe ik dan." (4:24-4:31) Sprecher: "Da auf der Ecke ist ein Büro, da kannst du dich anmelden bei der SS, um in Rußland kämpfen zu gehen, das mache ich dann." Autor: Hermans ließ den Leser in gewisser Weise allein, und es machte ihm Spaß. Zitator: "Erst am Abend kam er dazu, das Paket zu öffnen, das Dorbeck zurückgelassen hatte. Es enthielt nicht nur seinen Sonntagsanzug, sondern auch zwei Blechdosen, einen Zehnguldenschein und einen Zettel, auf dem in Maschinenschrift stand: Osewoudt, entwickle diese Filme sofort. Abzüge sind nicht nötig. Schneide sie in Streifen, stecke diese in einen Briefumschlag und schicke sie an folgende Anschrift: E. Jagtman, Legmeerplein 25 III, Amsterdam-W. Wirf den Brief spätestens morgen abend ein." (32) O-Ton Otterspeer 14: "Es ist wirklich nicht richtig zu leben mit so einer Lebensphilosophie wie Hermans', alles soll scheitern, alles geht drunter, alles geht kaputt, und da kann man nicht mit leben, da kann man Kunst mit machen, aber nicht normalerweise leben." (2:44-3:00) Zitator: "Er nahm die blaue Straßenbahn, stieg in Voorschoten aus, wartete, bis die Bahn weitergefahren war, überquerte die Straße und musterte kurz das Schaufenster seines eigenen Ladens. Ganz vorn, direkt hinter der Glasscheibe, stand das Schild: AUSSTELLUNGSMATERIAL OHNE INHALT Als ob ich einen Laden für Ausstellungsmaterial hätte, dachte er, alles, was ich zur Schau stelle, ist leer, ohne Inhalt. Ein Tabakwarenhändler, eine häßliche und geizige Frau, sieben Jahre älter als er, die Frau betrügt ihn, die Mutter ist geisteskrank, der Vater wurde ermordet, zum Glück. Ich habe es nicht getan. Schade. Was bleibt für mich zu tun? Unter der Ladentheke liegen eine Leica und eine Pistole. Aber ich weiß nicht, was ich fotografieren soll, und keiner sagt mir mehr, wen ich erschießen soll. Alles geht wie von selbst, alles ist schon geschehen. Alles, was ich unternehme, bleibt folgenlos. Vier Jahre hat Dorbeck nichts mehr von sich hören lassen, und auch jetzt bleibt er unsichtbar." (52) Autor: Das Negative, der böse Blick auf sich selbst, das Gefühl des Scheiterns und der Sinnlosigkeit waren so stark, daß es mich auch herunterzog. Es war eine Reise in die Niedergeschlagenheit, aber so aufregend, daß sie hungrig auf immer mehr machte. O-Ton Nooteboom 11: "Und ich würde dazu sagen, der ist Céline, aber ohne den Antisemitismus. Aber von dieser Größenordnung ist es." (8:15-8:21) O-Ton Otterspeer 15: "Hermans war ein polemischer Geist, er sollte sich seinen eigenen Weg hacken in die niederländische Kultur." (3:47-3:54) O-Ton Nooteboom 12: "Er muß viel Spaß dran gehabt haben, um Leute zu vernichten oder lächerlich zu machen, war auch sehr gut mit Wortspiel, aber im Grunde genommen, fand ich das Energie... na ja." (6:19-6:34) O-Ton Hermans 6: "Ik daar naartoe. Allemaal mooie fotos hingen daar of jongens in zwembroekjes die gymnastik deden ann de brug en over paarden springen. Maar ik was altijd slecht in gymnastiek dus ik dacht dit is toch neits voor mij, daarom heb ik dat maar niet gedaan. En ben naar huis gegaan." (4:32-4:50) Sprecher: "Ich ging dann dort hinein. Sehr schöne Fotos hingen da, die Jungen in Badehöschen zeigten, die Gymnastik am Barren machten und über Böcke springen. Aber ich war immer schlecht in Gymnastik, denn ich dachte, dass das nichts für mich ist und darum habe ich das nicht gemacht. Und dann bin ich nach Hause gegangen." O-Ton Otterspeer 16: "Schüchtern, befangen, und das war er wirklich." (28:22-28:27) Zitator: "Er schob ihren Rock hoch, sie streckte die Beine empor und verschränkte sie hinter seinem Rücken. Ein loses Dielenbrett rumpelte dumpf wie ein Dieselmotor, große grüne Fahrradreifen drehten sich im Dunkeln. Ihr Mund fühlte sich viel größer an, als er Wirklichkeit war. Von ihr eingesaugt werden, dann der Gedanke: Die ist aus England gekommen, um es sich von wahren Widerstandshelden mal richtig besorgen zu lassen." (68) O-Ton Otterspeer 17: "Es gab einen Sandberg (...) eine offizielle Literatur, da hat er abgebrannt und seinen eigenen Berg danebengesetzt." (3:55-4:10) Autor: Wie es Hermans gelungen war, im Abseits zu bleiben und zu schreiben, das interessierte mich. O-Ton Nooteboom 13: "Er wohnte in Paris in Holland. Er war mit Polemiken und in Schriften und in Zeitungen immer mit Holland verbunden." (12:56-13:12) O-Ton Otterspeer 18: "Und er hat gesagt, ein Polemiker, das ist jemand mit einem sehr guten Gedächtnis und ein gutes Archiv, und das Archiv Hermans' ist riesengroß." (4:17-4:29) Zitator: "Du bist hier nämlich in der Dunkelkammer. Aber nirgendwo auf der Welt kommt so viel ans Licht wie in einer Dunkelkammer! Nun denk nicht, du hättest was mit den Sachen zu tun, die hier ans Licht kommen. Hauptsache, du sorgst dafür, daß es passiert." (99) O-Ton Nooteboom 14: "Ein paar dieser Essaybücher, Titel, die zeigen eigentlich, was Hermans ist: Moedwil en misverstand, (...) wenn man etwas darum tut, es ist nicht einfach Willen, aber Mutwille, hat etwas Bösartiges und Mißverständnis, das ist die ganze Welt für Hermans, und deshalb auch das andere: Das sadistische Universum". (23:25-23:55) O-Ton Otterspeer 19: "Ich denke, er hatte tausende von Briefen geschrieben, er war ein richtiger Briefschreiber, so jeden Tag zehn Briefe oder so etwas, und die sind sehr persönlich, das sind kleine Essays, kleine Romane." (4:31-4:46) Zitator: "Der Geruch von Kiefern und Humus drang ihm tief in die Nase. Er ließ die Jugendführerin nicht mehr aus den Augen. Zuerst sah er sie lächeln, dann öffnete sie den Mund, aber ehe sie schreien konnte, hatte er die Hände schon um ihren Hals gelegt. Es ging so schnell, daß ihre Köpfe zusammenstießen und sie fast gleichzeitig stürzten." (151) O-Ton Nooteboom 15: "Das hier alles hinter Silberpapier das war die Korrespondenz und die endlose Polemik, die er mit jedem und allen geführt hat" (3:50-3:59) Zitator: "Ein Soldat gehorcht dem erstbesten Offizier, der über ihm steht. Er gehorcht nicht dem Mann persönlich, er gehorcht den Befehlen. Aber ich kann nur Dorbeck gehorchen, und keiner hat mich dazu gezwungen. Versteh doch, was ich meine: Bevor ich ihm begegnet bin, habe ich eigentlich gar nicht gelebt. Ich bin mit einer Cousine ersten Grades verheiratet, die sieben Jahre älter ist als ich, aus purem Zufall. Ich habe nie etwas gemacht, nie etwas gewollt, ich habe alles dem Zufall überlassen. (...) Ich konnte nichts, ich wollte nichts. Erst seit meiner Begegnung mit Dorbeck, erst seitdem wollte ich zum ersten Mal etwas, auch wenn es nur der Wille war, so zu sein wie er, auch wenn ich nur wollte, was er wollte." (216f.) Autor: Diese Idee ließ mich nicht los: Was bedeutete die Geschichte in der "Dunkelkammer des Damokles" auf einer tieferen Ebene? Ein Mann, der sich erst in den Augen seines Doppelgängers erkannte, den er später verzweifelt suchen und nie wiederfinden würde. Ich kannte das Thema von Dostojewski. O-Ton Nooteboom 16: "Und Mary McCarthy (...) ich hab das Buch gegeben und sie sagte gleich nach einer Weile, oh, Cees, I can't read this book, the translation is so horrible. Dann sagte Hermans, das kann schon sein, aber wenn man Dostojewski liest in einer schlechten Übersetzung, ist es trotzdem Dostojewski." (13:49-14:24) Zäsur O-Ton Otterspeer 20: "Hermans hat auf seinem Sterbebett gesagt, 50 Jahre nach meinem Tod ist es früh genug für eine Biographie." (5:01-5:09) Autor: Doch manch biographisches gab Hermans noch zu Lebzeiten selbst preis. Z.B. wie er zu seinem ersten Verleger Salm kam. O-Ton Hermans 7: "En maar denken dat Meulenhoff deze goeie kritieken had gelezen maar nee hoor hij deed het niet. Maar gelukkelijk had een andere man, dat was Gerard den Brabander, een dichter, 's ochtends om 5.00 uur was hij al dronken maar, ja, ik geloof, hij was 24 uur per dag dronken. Maar die was adviseur bij Salm." (6:53-7:25) Sprecher: "Und ich hätte gedacht, daß Meulenhoff so eine tolle Kritik gelesen hat, aber ich sag's Ihnen: Er hat es nicht, Aber glücklicherweise hat ein anderer Mann, nämlich Gerard den Brabander, ein Dichter, nachts um 5 Uhr war er vollkommen betrunken aber, ja, ich glaube, er war 24 Stunden am Tag blau. Aber er war Salms Berater." Autor: "Die Dunkelkammer des Damokles" blieb ein unauflösbares Buch, ein Buch, das die bösen Seiten des Helden und der Menschen zeigte, den kleinlichen Kampf, aber das eine große tragische Figur der Weltliteratur schaffte. Osewoudt, der sich nicht erklären und verstehen und rechtfertigen konnte, weil er seinen Doppelgänger nicht fand, seine andere Hälfte, der deswegen verurteilt wurde und sterben mußte. O-Ton Otterspeer 21: "Das war sein erster großer Success, Erfolg in den Niederlanden, aber ich denke ein halbes Jahr nachher hat er gesagt, es ist ein riesengroßer Mißerfolg." (6:30-6:47) Autor: So wie Hermans alles ins Negative mißdeutete, ihm nichts schnell genug gehen konnte? Zitator: "Doch er wurde traurig bei ihren Küssen. Wenn die Deutschen besiegt wären, was könnte ein Mädchen wie Marianne dann noch für ihn empfinden: für einen ungebildeten Tabakwarenhändler, dessen Äußeres auch nicht gerade ansprechend war, einen Mann, dem nicht mal ein Bart wuchs, und der in einem befreiten Vaterland auch nicht mehr die Chance haben würde, den Märtyrer oder den Helden zu spielen? Er kniff die Augen zusammen, und während er mit den Händen ständig über ihren Rücken fuhr, drückte er sie an sich, als müßte es eine Möglichkeit geben, sie so an sich zu drücken, daß sie niemals mehr von ihm getrennt werden könnte." (208) O-Ton Nooteboom 17: "Wo alles mißlingt, von Anfang an, das ist das Universum Hermans'." (24:07-24:12) O-Ton Otterspeer 22: "Und das ist, was Hermans so faszinierend macht, er wollte keinen Erfolg haben, er war so selbstkritisch, daß nur das Buch, an dem er arbeitete, das war das große Buch, nur alles, was in der Zukunft lag, das war gut, aber was hinterher war, das soll man leicht verbrennen." (6:53-7:16) Zitator: "Aus dem Spiegel sah Dorbeck ihn an. Ihre Köpfe waren dicht beieinander. Osewoudts Haare waren wieder völlig blond, doch trotzdem und trotz Dorbecks Bart war die Ähnlichkeit noch immer frappierend. Es schien tatsächlich so, als stünde dort derselbe Mann zweimal, das eine Mal maskiert. Und dennoch - hätte man erraten müssen, welches Gesicht verwandelt war und welches echt, hätte man eher das bartlose, blasse Gesicht für das verwandelte gehalten. Eine Sekunde lang rührten sie sich nicht und starrten einander im Spiegel an. Mit einem Gefühl der Ekstase hielt Osewoudt den Auslöser gedrückt; er dachte: Nun bin ich endlich vollständig, wenn auch nur auf einem Foto. Der Verschluß klickte." (267f.) Autor: Dieses Gefühl, nie oder nur einmal für einen Moment vollständig zu sein, schien mir von etwas herzustammen, das ich kannte, an dem auch ich in meinen "Geheimen Kräften" und ihren Rätselhaftes erlebenden Figuren arbeitete. O-Ton Nooteboom 18: "Und als ich dafür gesorgt habe, daß mein französischer Verleger zwei Bücher von Hermans verlegen wollte, hat er gleich gesagt, ja, aber die Übersetzung muß dann und dann fertig sein, falls sie dann nicht fertig ist, ziehe ich mich zurück und behalte mein Honorar" (1:50-2:15) O-Ton Hermans 8: "Salm sloot een contract, zeer gunstig contract voor die tijd want ik kreeg 800 gulden voorschot. Dat was ongeveer het honorrarium voor de hele eerste oplage, en 800 gulden dat was in 1945 een hoof geld." (7:44-8:00) Sprecher: "Salm schloß einen Vertrag, einen für diese Zeit sehr wohlwollenden Vertrag, denn ich bekam 800 Gulden Vorschuß, das war ungefähr das Honorar für die ganze erst Auflage und 800 Gulden, das war 1945 eine Menge Geld." O-Ton Otterspeer 23: "Und das macht ihn meines Erachtens ein richtiger Künstler, denn für ihn war es nicht das Absolvierte oder das Beendete, die beendete Arbeit der Kunst, aber das Künstler-Sein, das Schaffen, jeden Tag, jeden Moment, jeden Jahr undsoweiter, er lebte die Kunst, er hat das gesagt, ein Künstler, ein Roman ist wie ein Heirat." (7:55-8:30) Zitator: "Alles, was ich gemacht habe, gleitet mir aus den Händen! Alle Leute, mit denen ich im Krieg zusammengearbeitet habe, sind tot oder verschwunden, und sogar die Straßen, durch die ich gelaufen bin, existieren nicht mehr. Wie ist das nur möglich? Es kommt mir so vor, als ob ich in einer anderen Welt leben würde, in der mir niemand glauben kann. Was soll ich dagegen tun? Wie, um Himmels willen, soll ich mich unter diesen Umständen verteidigen?" (342) O-Ton Nooteboom 19: "Als ich dann nach Paris kam, dann fing das so an. (...) Der hat mich verraten, der hat das gegen mich gemacht, der hat mich, und so eine Litanei, und da habe ich geduldig zugehört, weil ich muß nun sagen, ich habe so einen polemischen Einstieg nicht, und dann sagte seine Frau Emmy, Wim hör auf, du weißt, daß das Cees nicht interessiert, und da hat er gesagt, Emmy, du bist dumm, aber dann war es auch vorbei, und dann wurde er ganz gesellig, normal, und dann mußte auch gezeigt werden, da ging auch eine Flasche teure Champagner auf, nicht nur Champagner." (9:28-10:15) O-Ton Otterspeer 24: "Für Hermans war der ganze Kosmos tournierte um Hermans, der war das Zentrum seiner Welt, und seine Frau, die kam an 18. Oder 19. Platz oder so etwas." (32:36-32:57) O-Ton Nooteboom 20: "Er schloß sich ab. Er hatte so weit ich weiß keine internationalen Verbindungen mit anderen Schriftstellern." (14:59-15:07) O-Ton Otterspeer 25: "Er hat gesagt, Freundschaft für einen Schriftsteller ist nur das Moment, wo ein Romanauffassung die Politik schneidet, so wir sind einander sehr nah, und wir begreifen einander, wir haben dieselbe Politik, literarische Politik, dann kann man Freunde sein, aber das ist natürlich keine Freundschaft, und nur dann, und so hat er zwei oder drei sehr gute Freundschaften gehabt in diesem Sinn (...), aber nach 5 oder 10 Jahren dann klappte das nicht, ging das kaputt." (8:49-9:35) O-Ton Nooteboom 21: "Ja, er war wirklich kompliziert" (3:07-3:10) O-Ton Hermans 9: "En dat was ongeveer zoals ik ook boeken schreef in de oorlog, dan schreef ik of de achterkant of oude kalenderbladen, weet je, hele grote bladen, En dat was ongeveer zoals ik ook boeken schreef in de oorlog, dan schreef ik of de achterkant of oude kalenderbladen, weet je, hele grote bladen, meestal reclame voor heet een of het ander, die bewaarde ik een daar schreef ik op in de oorlog." (10:10-10:23) Sprecher: "Und das war ungefähr so, als ob ich noch im Krieg Bücher schriebe. Dann schrieb ich auf die Rückseite von alten Kalenderblättern, wissen Sie, richtig große Blätter, meistens Werbung für das eine oder das andere, die hob ich auf und die beschrieb ich im Krieg." O-Ton Otterspeer 26: "Das ist das Rohe des Schreibens, da war kein Ziselieren, der war kein Feinschriftsteller, der hat es wirklich auf dem Blatt geworfen, geschmissen, all seine Romane sind immer Fehler drin, da sind immer Anachronismen oder unglückliche Sätze stecken darin, aber das macht nichts, was da steht, das ist ganz und gar Hermans, das ist wie ein geologisches, er hatte Geologie studiert, er war Geologe, und man kann seine Arbeit am besten umschreiben als geologische Erscheinung, eine Eruption." (9:45-10:38) Zitator: "Drinnen war es weniger dunkel als gewöhnlich in Häusern, deren Fenster zugemauert sind. Der Laden war völlig zerstört, der Fußboden voller Löcher. Die Zwischentüren standen offen, die bleigefaßten Glasscheiben waren größtenteils herausgeschlagen." (346) O-Ton Otterspeer 27: "Am besten liest man Hermans wie ein Naturphänomen." (11:16-11:22) O-Ton Nooteboom 22: "Ich hab ihn sehr gemocht, aber ich hab das nicht." (4:04-4:07) O-Ton Otterspeer 28: "Vielleicht die einzige Art und Weise, worauf ich ein wenig Erfolg haben kann, hat er gesagt, hat er gedacht, ist mein Thema, das größte Thema, das es gibt, das Scheitern." (13:04-13:28) Zitator: "Er riß dem Polizisten die Jacke aus den Händen und wollte sie an seinen Körper halten, um zu zeigen, daß es seine Größe war. Aber der Stoff befand sich in einem so weitgehenden Stadium des Zerfalls, daß das Kleidungsstück von allein auseinanderfiel und sie noch Mühe hatten, die weggerollten Knöpfe einzusammeln." (347) O-Ton Otterspeer 29: "Ich denke erstens das Bild seines Vaters, (...) der war ein Lehrer, ein Niederschullehrer, sehr einfacher Mann, aber mit großen Ambitionen für seine Kinder, und das hat geknallt, das Bild des Vaters im Werk Hermans' ist ein Großtyrann." (14:40-15:13) O-Ton Nooteboom 23: "Sein Vater war Onderwijzer, also Lehrer, Grundschule, glaube ich, oder Haupt der Grundschule, etwas von diesem Didaktischen, das war tief drin." (4:57-5:12) O-Ton Otterspeer 30: "Er hat gesagt, ich habe nicht gegen meinen Vater rebelliert, nein, mein Vater hat gegen mich rebelliert." (15:40-15:46) Zäsur Zitator: "Er sah aus wie ein Bürofräulein, dem klar ist, daß es niemals einen Mann bekommen wird, so um die Dreißig; dabei war er erst vierundzwanzig. Er hatte keine Nase, sondern ein Näschen mit breiten, dünnen Nasenflügeln und nach oben weisender Spitze. Seine Augen erweckten auch in Ruhestellung den Anschein, daß er sie zusammenkniff, und trotzdem waren es nicht die Augen eines Menschen, der sich anstrengt, etwas scharf zu sehen, sondern die Augen eines Kurzsichtigen, Augen ohne Ausdruckskraft, die nicht einmal lächeln konnten. Die weißliche, dünne Haut ringsherum war gerunzelt, und der Mund mit der schmalen Oberlippe und der völlig unsichtbaren Unterlippe sah aus, als sei er zu nichts anderem als zu ohnmächtigen Verleumdungen imstande." (370) Autor: Ein Schriftsteller, der so aufs Ganze ging und diese radikale Sicht durchhielt, mußte doch von einer Verletzung angetrieben worden sein, dachte ich. O-Ton Nooteboom 24: "Seine Schwester hat Selbstmord begangen." (5:19-5:21) O-Ton Otterspeer 31: "Am zweiten ist es der Tod seines Schwesters, am ersten Tage der Krieg 1940 hat die Schwester sich das Leben genommen, sie hat das gemacht, weil sie politisch tätig war, aber am ersten doch muß man sagen, sie hat das aus purer Angst gemacht, und Angst, das hat er gesagt, Hermans hat gesagt, ich bin geboren im Fruchtwasser des Angstes, meine Eltern waren ängstliche Leute, meine Schwester war ängstlich im Quadrat." (15:54-16:31) Zitator: "Die Sirene des Zerstörers heulte dreimal hintereinander, hoch und gellend wie der Schrei eines Raubvogels. Unter der Ummantelung der Schraubenwelle, die den kleinen, von Stahlwänden umgebenen Verschlag, in dem Osewoudt eingesperrt war, in der Mitte teilte, entstand eine Vibration, die sich durch den gesamten Stahl der Umgebung fortpflanzte. Dann war es still. Die blecherne Feldflasche, die an der Wand hing, hörte auf zu schaukeln. Das elektrische Licht erlosch für einen Moment und leuchtete dann wieder auf, jedoch nur mit verminderter Helligkeit. Das laute Stampfen, das er, er wußte nicht, wie lange, gehört hatte, kam nicht zurück. Irgendwo in einem fernen Bereich des Schiffs brummte ein Dieselmotor." (324) O-Ton Otterspeer 32: "Und die hat dann sich selbst getötet, (...) und da hat er erstens hat er gedacht, ich habe gewonnen, und dann hat er konkludieren müssen, ich habe verloren, sie ist immer bei mir, sie wird meine jüngere Schwester werden, und sie wird mich nie verlassen." (16:40-17:11) Zitator: "Die Sonne war verschwunden, große Wolken ballten sich zusammen. Die blaue Straßenbahn, die gelbe Straßenbahn, beide fuhren wieder. Auf den Wiesen graste Vieh." (344) O-Ton Otterspeer 33: "Und das dritte ist der Weltkrieg selbst natürlich, da hat für fünf Jahre, das war seine Schulung, das war seine Universität, da hat er seine ersten Werke geschrieben, da hat er nur gelesen und geschrieben." (17:35-17:48) O-Ton Hermans 10: "Die omslagtekst (...) die gaat als volgt: Het boek dat W.F. Hermans op 22-jarige leeftijd schreef, is een fanatstische roman. Het verhaal speelt geheel in Amerika, een Amerika dat reёel is waar het reёel moet zijn." (13:50-14:14) Sprecher: "Der Klappentext lautet wie folgt: Das Buch, das W. F. Hermans im Alter von 22 Jahren schrieb, ist ein fantastischer Roman. Die Erzählung spielt in Gänze in Amerika, einem Amerika, das real ist, wo es real sein muß." O-Ton Otterspeer 34: "Er war ziemlich beeinflußt von Céline, von Kafka, von Schopenhauer und Nietzsche, und aus dem Krieg kam ein junger Mann, ein ziemlich junger Mann, der war ganz und gar geformt, der hatte eine katalfalkschwarzes Weltbild." (17:57-18:17) Autor: Dieses Gefühl von Scheitern und Verzweiflung aber literarisch zur Bedeutung zu bringen, das erscheint mir Hermans' Leistung. Zitator: "Tageszeitung Het Vrije Vaderland vom 18. Oktober 1945 HELD ODER VERRÄTER? Unter all den unerfreulichen Dingen, welche die Rechtsprechung nach dem Krieg zwangsläufig mit sich bringt, ist der geheimnisvolle Fall des Tabakhändlers O. nicht einer der unwichtigsten. Wir haben den Eindruck, daß die Justiz, sofern sie bereits mit Entschlossenheit vorgegangen ist, dennoch einen großen Mangel an logischem Kombinationsvermögen gezeigt hat. O. nahm während der deutschen Besatzung an verschiedenen Widerstandsaktionen teil. Scharfen Beobachtern ist nicht entgangen, daß jeder in seiner Umgebung früher oder später den Deutschen in die Hände fiel, während O. selbst stets auf wundersame Weise zu entkommen wußte. Als er im April 1945 im bereits befreiten Teil unseres Landes eintraf, wurde er denn auch sogleich von den Alliierten inhaftiert und des Landesverrats beschuldigt. O. leugnet unterdessen alles und beruft sich auf einen gewissen Dorbeck. Trotz aller Anstrengungen, ihn aufzuspüren, ist und bleibt dieser Mann unauffindbar. O.s Geschichten zufolge handelt es sich bei Dorbeck um einen niederländischen Offizier, der für den britischen Geheimdienst arbeiten und O. zufällig täuschend ähnlich sehen soll." (375) O-Ton Nooteboom 25: "Und ich habe gesagt, die meisten niederländischen Autoren haben Probleme mit ihrem Vater, aber du hast sie mit deinem Vaterland, ist das nicht irgendwo dasselbe? Nein, überhaupt nicht, aber ich denke noch immer, daß es doch ein bißchen stimmte." (25:40-25:54) Zitator: "Glaubst du wirklich, daß Dorbeck existiert hat, daß du ihm mehrere Male begegnet bist und daß er dir verschiedene Aufträge gegeben hat? (...) Aber der Krieg war eine Zeit immenser Spannungen für uns alle. Es kann sein, daß du damals, in Augenblicken großer Müdigkeit, geglaubt hast, daß Dorbeck existierte, daß er dich anrief, daß er dir Nachrichten schickte, die auf der Rückseite von Fotos standen. (...) Wenn du mich fragst: Du glaubst doch selbst nicht an die Existenz von Dorbeck! Du hast früher, in seelischen Tiefs, daran geglaubt, aber jetzt glaubst du es nicht mehr. Du beharrst nur darauf, weil du in der Klemme bist." (387) O-Ton Otterspeer 35: "Er hat immer gesagt, (...) menschliche Identität gibt es nicht, Identität ist etwas, man greift in einen Sack Korn oder Samen, man greift etwas heraus, und das ist Ihre Identität, es ist eine blinde Wahl, und diese blinde Wahl macht man auch pro Tag." (19:16-19:40) Autor: So war ich einerseits beruhigt, ich brauchte die Oberfläche des Romans nicht zu verstehen, niemand konnte sie verstehen, andererseits beunruhigt, denn diese zufällige Identität, wie Hermans sie beschrieb, löste alle Illusionen von Bindung und Zuverlässigkeit auf. O-Ton Otterspeer 36: "Er hat das Buch auf Papier geworfen, er hat lange gearbeitet, lange gedacht, aber in sechs Monaten geschrieben, und hat dann wieder viel Fehler gemacht, und manchmal sind die Fehler die starken Punkte seines Roman, so er könnte das machen, er könnte sich das erlauben, denn er war ein großer Künstler, so das Rätselhafte im Buch ist dann und wann auch nicht wirklich gemeint oder geplant, und das ist, was einen großen Künstler natürlich auch unterscheidet von nicht so genialen Leuten, er wird reicher von seinen Fehlern." (21:30-22:15) O-Ton Hermans 11: "Je kan in Multatulis niet iets opzoeken of je blijft er in hangen en je blijft doorlezen, ook dingen waar je niet naar gezocht hebt. Wat het precies is weet ik niet, maar dit is iemand die de Nederlanders betoverend heeft weten te maken." (29:18-29:34) Sprecher: "Du kannst in Multatulis Büchern nicht nach irgend etwas suchen oder du bleibst hängen und du verweilst, um zu lesen, auch Dinge, nach denen du nicht gesucht hast. Was genau das ist, weiß ich nicht, aber das ist jemand, der es verstanden hat, die Niederländer zu verzaubern. Autor: Diese Erkentnisse, erzählt in einem großen, verwirrenden Roman, tiefe Einsichten in die menschliche Seele, sollte das nicht über die Niederlande hinaus für jeden Leser Bedeutung haben? O-Ton Otterspeer 37: "Das Malheur Hermans' war, daß der größte Schriftsteller der Welt geboren war in einem der kleinsten Sprachgebiete." (25:07-25:17) O-Ton Nooteboom 26: "Aber sein Thema war natürlich Krieg, und nach dem Krieg die Dekolonisierung, wie wir das nennen, da ist auch ein Buch mit dem sehr bedeutenden Titel für ihn Ich habe immer Recht, ja, und wenn man immer recht hat in einer kleinen Gesellschaft, dann hat man es schwierig, vor allem weil bei uns viele sind, die denken, daß sie immer recht haben." (8:34-8:50) Zitator: "Wo ist Dorbeck? schrie Osewoudt. Ihr müßt ihn finden! Findet ihn! Findet ihn! Er verlor nun auch den anderen Pantoffel und begann zu rennen. Das schwer beladene Torfschiff näherte sich langsam. Tief röhrte der Dieselmotor und stieß blaue Rauchkreise in die neblige Luft. Erst jetzt fielen Schüsse, eine kurze Salve aus einem Sten Gun. Als die zweite Salve krachte, fiel Osewoudt nach vorn. Er konnte sich gerade noch in den Stacheldraht krallen, der am Kanal entlang gespannt war." (404) Absage: "Ich habe immer Recht"("Ik heb altijd gelijk") Der niederländische Schriftsteller Willem Frederik Hermans Ein Feature von Roland Koch Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014 Es sprachen: Ton und Technik: Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Sabine Küchler