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Und der Fotograf Hameddine Bouali wird zum Fotokünstler der Revolution. O-Ton (Bouali) Übersetzer Das hier ist am 19. Februar 2011, eine Demonstration für ein säkulares Tunesien, ohne jede Form von Islamismus. Es waren dort viele junge Frauen versammelt, ich stand ganz in der Nähe, und ich wusste, dass gleich etwas geschehen würde. Denn sie waren ungeheuer wütend. Eine dieser jungen Frauen schrie etwas, sie hatte auf ihr T-Shirt geschrieben: Tunesien gehört mir, Tunesien gehört dir, es gehört uns allen. Das heißt: Niemand sollte ausgeschlossen werden - egal, ob er religiös ist oder nicht. Ob man einen Schleierträgt oder einen kurzen Rock, ob man Alkohol trinkt, an Gott glaubt oder nicht. Das ist das neue Tunesien. Wir alle leben in diesem Land. Jeder kann glauben, was er will, niemand darf dem anderen etwas aufzwingen. Erzählerin Inzwischen ist diese Euphorie verflogen. Anschläge und Einschüchterungen, auch Morddrohungen sind an der Tagesordnung. Bei vielen herrschen Skepsis und Ängste, ob das Land wirklich seinen Kurs halten kann, angesichts einer Bedrohung durch Islamisten und Salafisten. Doch es gibt Initiativen, die dagegen halten. Eine kommt von der Künstlerin Sadika Keskes, eine Künstlerin, die die Revolution auf ihre Weise weiterführen will. Sie hat einen Verein gegründet mit dem Titel "Femmes, montrez vos muscles" - Frauen, zeigt eure Muskeln. Und in dieser Kooperative, bei der es um die Herstellung von Teppichen geht, spielt erstaunlicherweise ein Maler eine Rolle, der vor hundert Jahren hier in Tunesien war: Paul Klee. Sadika Keskes ist überzeugt, dass Klee nicht nur ein Durchreisender war, sondern dass er den Tunesiern auch etwas hinterlassen hat. Dass es Berührungen gibt zwischen dem deutsch-schweizer Maler und der tunesischen Realität. Ein Dialog zwischen Europa und Tunesien, der vor hundert Jahren begann. Atmo Erzählerin Der Hafen von Tunis. Hier treffen Paul Klee und August Macke am 7. April 1914 ein. In seinem Tagebuch notiert er: Zitator Die Sonne von einer finsteren Kraft. Die farbige Klarheit am Lande verheißungsvoll. Der Macke spürt das auch. Wir spüren, dass wir hier gut arbeiten werden. Erzählerin Diese Arbeit, diese Reise wird Konsequenzen haben nicht nur für Klee, sondern auch für die Entwicklung der europäischen Kunst im 20. Jahrhundert. Künstlerreisen in den Orient waren damals keine Seltenheit. Dieses Mal brechen gleich drei Künstler gemeinsam auf: August Macke, der sich bald nach seiner Rückkehr als Freiwilliger zur Armee meldet und schon wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs getötet wird; Louis Moillet, ein Schweizer Künstlerkollege, Mäzen und ehemaliger Schulkamerad Klees. Und eben Klee, damals 34 Jahre alt. O-Ton (Führerin in Tunis) Wir stehen hier vor dem Grand Hotel de France. In diesem Hotel, das hat ja noch den Charme von den Zwanziger Jahren, das kann man sich gut vorstellen. Jetzt ist es ein Hotel für ein bisschen kleineres Budget, aber es ist sehr korrekt und sehr sauber und vor allem, was für uns ganz wichtig ist: Hier hat August Macke eine Woche verbracht. Wenn wir gleich in den Innenhof reingehen, wird man verstehen, wie er damals dort gelebt hat, was er empfunden hat. Und wir gehen jetzt mal rein. Erzählerin Das Hotel de France liegt vor den Toren der Altstadt von Tunis, nur drei Gehminuten entfernt. Von hier brachen Macke, Klee und Moillet zu ihren künstlerischen Streifzügen in die Medina auf, ein Gewirr enger, verwinkelter Gassen, in dem man sich auch heute noch bequem verlaufen kann. Atmo, unter dem Text stehen lassen Auf den Flachdächern haben sich Cafés breit gemacht, auf denen heute Touristen ihren Minztee nehmen. Damals blickten Macke und Klee auf die arabische Stadt; kubistische Formen, sich überlagernde geometrische Figuren, fließende Linien. Unten in den Gassen werden neben Lampen, Vasen und Wasserpfeifen auch Teppiche angeboten, so genannte Kelims, dünne, gewebte Teppiche, die Klee beeindruckten. Das Verhältnis von Klee zu diesen Teppichen sollte für die Entwicklung seiner Kunst eine Rolle spielen: Klees Entdeckung der Abstraktion wurde durch die Farben und Muster der Teppiche beflügelt. Paul Klee tauchte in Tunis in die Gerüche des Orients ein, unbekannte Gewürze, Parfümläden mit Rosenwasser und Jasmin. Doch vor allem denkt er ans Malen. Zitator Den Kopf voll von den nächtlichen Eindrücken des gestrigen Abends. Kunst- Natur- Ich. Sofort ans Werk gegangen und im Araberviertel Aquarell gemalt. Die Synthese Städtebauarchitektur - Bildarchitektur in Angriff genommen. Noch nicht rein, aber ganz reizvoll, etwas viel Reisestimmung und Reisebegeisterung dabei, eben das Ich. Das wird später schon noch sachlicher werden, wenn der schöne Rauch etwas verrauchen wird. Dann in den Souks eingekauft. Macke lobt den Reiz des Geldausgebens. Erzählerin Klee wollte nicht schwelgen. Alles Oberflächliche sollte getilgt werden. Nichts von den sinnlich-exotischen Eindrücken, wie sie die Maler des Orientalismus suchten, hatte Bestand. Jede "Reisestimmung und Reisebegeisterung" wollte er sich austreiben. Klee wohnte etwas außerhalb von Tunis, direkt am Meer, in der Nähe des Hafens: im heutigen Viertel "az Zahra", bei einem Dr. Jaeggi. Das Haus ist verrammelt, liegt am Ende einer Sackgasse. Kaum ein Taxifahrer findet hierher. Doch wenn tatsächlich einmal ein neugieriger Klee-Fan aufkreuzt, macht er schnell die Bekanntschaft des Nachbarn, Zouhair ben Amor. Ein Sechzigjähriger mit Schnauzer und Hut, der sich im Hauptberuf als Meeresbiologe bezeichnet, gleichzeitig aber auch als Künstler, Fotograf und Klee-Experte. O-Ton (Ben Amor) Übersetzer Paul Klee ist der einzige, der dieses Haus bewohnt hat. Seine Kollegen wohnten ja in Tunis. Er ist viel herumgefahren in dem Wagen, den ihm der Hausbesitzer Dr. Jaeggi zur Verfügung gestellt hat. Er hat acht Gemälde in St. Germain geschaffen, das beweist, dass er von der Landschaft inspiriert wurde, dem Meer, denn das Haus liegt ja direkt am Meer. August Macke hat drei Gemälde vollendet, die eher das Haus betreffen. Aber Klee ging hinaus, es gab Weinberge, Felder und den Meeresstrand. Seine acht Bilder beweisen, dass dieser Aufenthalt in St. Germain für Klee wichtig war. Zitator Das Strandaquarell noch etwas europäisch. Könnte auch bei Marseille gemalt sein. Im zweiten traf ich zu ersten Male Afrika. Die Hitze über mir tat wohl das Ihrige dazu. Mittags das erste Seebad. Oben ausgezogen, im Mantel herunter. Den Mantel am Strand gelassen. Schön. Erzählerin Klee, Macke und Moillet unternahmen auch zahlreiche Ausflüge - vor allem mit dem Wagen des Gastgebers Dr. Jaeggi. Eine dieser Exkursionen führte sie nach Sidi Bou Said, einem Highlight des tunesischen Tourismus. Ein steiles Dorf mit blau-weißen Häusern über dem Meer, das sich auf einem Hügel erstreckt. Genau dieser Punkt war den Reisenden am Morgen ihrer Ankunft schon vom Schiff her aufgefallen. Es ist, von Europa kommend, der erste Außenposten des afrikanischen Kontinents. Klee war begeistert. Zitator Nachmittags erscheint die afrikanische Küste. Später deutlich erkennbar die erste arabische Stadt. Sidi-Bou-Said, ein Bergrücken, worauf streng rhythmisch weiße Hausformen wachsen. Die Leibhaftigkeit des Märchens, nur noch nicht greifbar, sondern fern, ziemlich fern und doch sehr klar. Erzählerin Ein entrückter Ort über dem Golf von Tunis, hoch über dem hellblauen Meer. Ganz in der Nähe das historische Karthago mit seinen Ruinen und Pinien. Sidi Bou Said zählt heute zu den meist besuchen Orten Tunesiens, kaum ein Tunis- Besucher, der nicht den Weg hierher findet, in Taxis oder Kleinbussen, die den Parkplatz auf halber Höhe des Ortes versperren. Zu Klees und Mackes Zeiten war der Besuch exklusiver. Die Maler verbrachten den Nachmittag im Café des Nattes, dem vielleicht berühmtesten Café Nordafrikas, bei Wasserpfeife und Tee. Eine lange weiße Treppe mit endlosen Stufen führt hinauf. Hier war einmal der Eingang der Moschee, bevor das Haus zum Café umfunktioniert wurde, erklärt der Wirt. Macke hat die Treppe und das Café aquarelliert, in aller Heiterkeit, blau, rot und grün. Das freudige Bild schmückt heute auch die Speisekarte und die Visitenkarte des Cafés. Atmo Singvögel In winzigen Käfigen trällern Kanarienvögel. Der heutige Wirt, Eigentümer in vierter Generation, hat Klee einen kleinen Schrein eingerichtet, mit vergilbten Zeitungsausschnitten in einem Glaskasten an der Wand. Doch Ishem bin Said ist nicht glücklich. Der Mann mit den braunen Augen und dem dünnen weißen Schnurrbart zieht an seiner langen Pfeife und lässt einen langen Seufzer los: O-Ton (Ishem bin Said) Übersetzer Ich liebe die Fotos und die modernen Gemälde von Klee und Macke. Diese Farben berühren mich einfach, vor allem die Bilder aus Kerouan. Schauen Sie, wir haben den Malern eine Ecke meines Cafés gewidmet, mit Fotos und Zeitungsartikeln. Da hinten, neben den Fotos von Albert Camus und Simone de Beauvoir. Ja, die Maler waren ja hier, in unserem Café. Und deshalb wollten wir sie feiern, zum hundertsten Jubiläum. Aber niemand hat uns kontaktiert, wir wurden mit unseren Wünschen im Stich gelassen. Erzählerin Er habe mehr erwartet von seiner Regierung. Auch in Hamamet, in Kerouan, in Tunis und Sidi Bou Said hätte man doch die Reise der Maler nach genau hundert Jahren würdiger begehen müssen, meint der Wirt, mit einer Mischung aus Melancholie und Resignation. Geschehen sei nichts, eine vertane Chance. Paul Klee dagegen hatte seine Chance genutzt: Er kam malerisch enorm voran. Zwischen ihm und Tunesien stellte sich eine Seelenverwandtschaft ein. Der Schweizer Filmemacher Bruno Moll hat versucht, dies in einem Dokumentarfilm einzufangen: "Die Tunisreise" von 2007. Held und Erzähler dieses Films ist der tunesische Schauspieler, Regisseur, Autor und Künstler Naceur Khemir, ein kleiner, gut gebräunter Mann mit gelockten weißen Haaren. Der Film wird in einer Seitenstraße der Avenue Bourghiba gezeigt. Anschließend erläutert Khemir seine persönliche Sicht auf Klee. Er sieht ihn als Überbringer der Modernität nach Tunesien. O-Ton (Khemir) Übersetzer Klee hat das Bild Tunesiens in die Moderne geholt. Er ist bei weitem nicht der einzige europäische Maler in Tunesien, doch er betreibt keinen Exotismus. Er lässt die Tradition und die Folklore hinter sich. Die orientalistischen Maler wie Delacroix nahmen das Land als Dekor und entwarfen Personen nach ihren eigenen Träumen, europäische Projektionen. Klee tut etwas ganz anderes. Er sagt: die Malerei gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern sie macht überhaupt erst sichtbar. Ihn interessiert nicht die Repräsentation, sondern die Form, das Zeichen. Damit spricht er die Sprache des Landes: die Fassaden der Moscheen, die Teppiche, die Stickereien und Tätowierungen, die Kalligraphie - eine Sprache der Abstraktion, die er mit seiner Kunst verwebt. Ich weiß nicht, durch welches Wunder er das geschafft hat. Sein ganzes Leben hat er daran gearbeitet hat, nur auf Grund von 14 Tagen in Tunesien. Erzählerin In Tunesien erfand sich der Maler Klee selbst. Er löste sich immer mehr von der konkreten optischen Vorlage, gleichsam dem "Material" der Reise - und setzte dieses in abstrakte Malerei um. Um das "Unsichtbare sichtbar zu machen", so Klees Definition der Aufgabe der Malerei, brauchte er offenbar den konkreten Kontakt mit Tunesien. Das intensivste Erlebnis hatte er am 14. April 1914 in der Stadt Kerouan. Eine Art quasi-religiöses Erweckungserlebnis, eine innere Offenbarung. Atmo (einblenden) Kerouan ist die viertheiligste Stadt des Islam, viele Nordafrikaner, die sich die teure Hadsch nach Mekka nicht leisten können, kommen hierher. Im Souk mischen sich die Rufe des Muezzins mit dem Gedröhn der Radios. Klee und Macke stiegen auf die Stadtmauer, malten die Silhouette, die geometrischen Muster dieser orientalischen Stadt, die bereits dem Süden Tunesiens zugerechnet wird, einer Region, in der das Licht noch einmal intensiver, stärker, bläulicher und türkiser erscheint als in Tunis. Wer heute nach zweistündiger Autofahrt dort hinkommt, kann ein Spiel spielen. Er kann Klees Bilder von damals mit der Ansicht von heute vergleichen. Man sieht, wie die Abstraktion der Gemälde auf die konkrete Landschaft zurückgeführt wird, sich gleichsam re-konkretisiert. Aber nie gelingt es einem, die Aquarelle eins zu eins in die Wirklichkeit zu transponieren. Nicht nur, weil es Satellitenschüsseln und viele Neubauten gibt. Sondern auch, weil Klee die Realität nicht abgemalt, sondern ihre Spuren verwischt und verändert hat. Manche Kuppeln und Moscheen stimmen mit den Fotografien von Kerouan überein, andere scheint Klee mit dem Pinsel hinzufantasiert zu haben. Zitator Es dringt so tief und mild in mich hinein, ich fühle das und werde sicher, ohne Schweiß. Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn. Ich und die Farbe sind eins. Erzählerin Es ist der wichtigste, meist zitierte Satz aus dem Tagebuch: seine Berufung zum Maler - allerdings ist es unwahrscheinlich, dass er diesen Satz schon während seiner Reise niedergeschrieben hat. Der Klee-Experte Michael Baumgartner vom Zentrum Paul Klee in Bern: O-Ton Das sind Nachträge, das ist eindeutig die Handschrift der Zwanziger Jahre, und in diesem Augenblick arbeitet er das Tagebuch zu einer Autobiographie um. Wir kennen das ursprüngliche Tagebuch nicht. Vieles ist dort geschrieben. Anderes, wie "Die Farbe hat mich", ist höchstwahrscheinlich eine Poetisierung, wo er das nachträglich zu diesem Erweckungserlebnis stilisiert." Erzählerin So schafft Klee einen Mythos - und vieles spricht dafür, dass der Maler sehr systematisch an seiner Stilisierung und damit seinem Ruhm gearbeitet hat. Tunesien war Teil seiner Kalkulation. Mit anderen Worten: Klee trickst, er literarisiert seine Erfahrung - mit dem Ziel, seine Entwicklung zum Künstler zu überhöhen. Das beginnt mit Klees angeblichen Wurzeln im Orient. Klee stilisiert sich zum Orientalen, wie es die erste Biographie Paul Klees beweist. Sie erscheint 1921 unter dem Titel "Kairouan oder die Geschichte vom Maler Klee". Der Autor Wilhelm Hausenstein folgt der Melodie, die Klee vorgibt. O-Ton (Baumgartner) Hausenstein schreibt 1920 die erste wichtige Biographie "Kairuan oder die Geschichte vom Maler Klee". Hausenstein stilisiert Klee total zum Orientalen und sagt: Klee ist ein Orientale, geistig für den Orient, den es in den Westen (die materialistische Welt) verschlagen hat und er muss such da nun zurechtfinden als geistig-orientalischer Künstler. Und das Spannende ist, dass Klee Hausenstein eine Notiz zukommen lässt, indem er schreibt: "Ich bin über meine Mutter wahrscheinlich orientalischer Herkunft. Er hat diesen Mythos selbst mitbegründet. Man sieht ihn auch auf einem Foto als Orientalen verkleidet, das war Teil dieser Stilisierung. Erzählerin Vieles an Klees Werk und seiner Selbstdarstellung ist bis heute rätselhaft und spekulativ - und doch gibt es konkrete Erlebnisse in Tunesien, die ihn sein ganzes Leben begleiteten. Klee entwickelte ein enorm enges Verhältnis zum orientalischen Teppich, und zwar nicht als Kunsthandwerk, sondern als Kunstwerk. Er kam bis zu seinem Tod immer wieder darauf zurück. Beim Bauhaus, wo er ab 1920 arbeitete, war ihm die Abteilung für Teppiche unterstellt - und er selbst knüpfte in seinen Gemälden immer wieder an Teppichmotive an. Bis zu seinem Tod 1940 setzte er sich immer wieder mit den Motiven auseinander, die er in Tunesien kennengelernt hatte. O-Ton (Baumgartner) Teppich kommt immer wieder vor, das letzte dort ist "Teppich" aus dem Museum Berggruen in Berlin, 1940, dem Todesjahr. Er hat bis zum Schluss dieses Teppichmotiv weitergesponnen. Erzählerin Da scheint es fast absurd, dass in Tunesien selbst die Praxis des Teppichknüpfens, wie Klee sie kannte, lange in Vergessenheit geriet. Im sozialistisch-nepotistischen Tunesien des Diktators Ben Ali legte man wenig Wert auf Kunst. Billige industrielle Massenproduktion löste die traditionelle Teppichweberei ab. Gefärbt wurde nicht mehr mit natürlichen Farben, sondern mit Chemie, statt des wertvollen Kamelhaars benutzte man Baumwolle. Heute aber gibt es diese Teppiche wieder, und das hat etwas mit der Rezeption Klees in Tunesien zu tun. Die Künstlerin Sadika Keskes hat die alte Tradition wieder belebt. Sie bezieht sich ausdrücklich auf Klee - gemeinsam mit ihrem Mann Alain Nadaud. O-Ton (Alain Nadaud) Übersetzer Wir interessieren uns aus sozialen Gründen für Klee. Die Künstlerin Sadika Keskes, meine Ehefrau, wollte gleich nach der Revolution etwas für die Tunesier tun. Sie ist in die entlegenen, armen Gebiete im Süden gereist - die Gegend nahe der algerischen Grenze, wo die Revolution begann, als sich nahe der Stadt Sidi Bouzid ein Gemüsehändler aus Verzweiflung mit Benzin übergoss und anzündete. Sadika wollte diesen Frauen helfen, indem sie eine Organisation gründete: Femmes, montrez vos muscles - Frauen, zeigt eure Muskeln. Sie sollten sich für die Wahlen organisieren und aus ihrer Armut herausfinden, indem sie die alte Kunst des Teppichknüpfens wieder aufnahmen. Mit den Farben und Materialien haben sie sich Paul Klee angenähert. Erzählerin Sadika Keskes verstand den Bezug von Klee zu Tunesien. Die Frauen waren Teppichweberinnen, die arbeitslos geworden waren, weil sich niemand mehr für ihre Produkte interessierte. Die Künstlerin zeigte den Weberinnen Bilder von Klee - und die Frauen begriffen sofort, dass eine Beziehung Klees zu ihrer Tradition, Teppiche zu gestalten, bestand. O-Ton (Sadika Keskes) Übersetzerin Zunächst einmal haben die Frauen Klee beeinflusst. Denn ihre Arbeit, also ihre Seele, findet sich am Ursprung von Klees Werk wieder, dieses Momentums der Abstraktion. Sie haben das Recht, ihr Handwerk rehabilitiert zu sehen - für sie ist das eine Überlebensfrage. Klees Werk ist ein enormer Hebel für diese Weberinnen, eine Arbeit, von der in Tunesien 800.000 Frauen leben könnten. Atmo aufblenden, unterlegen Erzählerin Die Teppiche kann man nun in der Galerie von Sadika in Gammarth sehen, einem der noblen weißen Vororte von Tunis. Hier hängen die Decken neben Klees Bildern - und jeder versteht sofort, welch enge Beziehung zwischen beiden besteht. So knüpfen heute rund 500 Frauen auf Grund dieser Initiative in Tunesien Teppiche mit Klee-Mustern: eine Auswirkung der kulturellen Symbiose des europäischen Malers mit dem arabischen Land, das ihn am tiefsten beeindruckt hat. Zitator Abreise aus Tunis. Das meiste in mir drin, tief drin, aber so voll, dass es jederzeit offenbar wird. Erzählerin Am 19. April 1914 hat Paul Klee Tunesien verlassen - nur zwölf Tage nach seiner Ankunft. Zitator Nachmittags fünf Uhr zu Schiff. Ich habe eine gewisse Unruhe, mein Karren ist zu voll geladen. Ich muss an die Arbeit! Die große Jagd ist zu Ende, ich muss an die Arbeit. Erzählerin Klee floh geradezu überstürzt in die Heimat. Hielt er es in Tunesien nicht mehr aus? Wollte er tatsächlich so rasch wie möglich an die Arbeit, wie er schreibt? Auch wenn die Tunesienreise teilweise Inszenierung ist - ohne Tunesien hätte Klee nicht werden können, was er wurde: einer der bedeutendsten und einflussreichsten Maler des 20. Jahrhunderts. Und einer der produktivsten. Da scheint es geradezu bizarr, dass in Tunesien bis vor ganz kurzer Zeit nicht ein einziges Bild von Klee zu sehen war. Leihgeber fürchteten wohl um die Sicherheit und um die technischen Voraussetzungen für ein solches Kunstwerk: In ganz Tunis gibt es kein Museum mit einer Klimaanlage. Dazu kommen die von möglichen Leihgebern gefürchtete politische Instabilität und die hohen Versicherungskosten. In ganz Tunesien gibt es kein Museum für Moderne Kunst. Jetzt endlich wurden Bilder von Klee, Macke und Moillet erstmals zu einer Ausstellung ins Bardo-Museum nach Tunis gebracht, das eigentlich eher für antike Mosaiken zuständig ist. Man habe Bauchschmerzen gehabt und musste über seinen Schatten springen, sagen Besitzer der Bilder. Doch angesichts des hundertjährigen Jubiläums der Tunis-Reise habe man es einfach als nötig empfunden. Mit seiner Abreise vollendete Klee seinen Tunesien-Mythos. Zitator Der Abend ist unbeschreiblich. Zum Überfluss geht auch noch der Vollmond auf. .. Der Abend ist tief in mir drin für immer. Mancher blonde Mondaufgang des Nordens wird als gedämpftes Spiegelbild mich leise mahnen und immer wieder mahnen. Es wird meine Braut sein, mein anderes ich. Mich zu finden ein Anreiz. Ich selber aber bin der Mondaufgang des Südens. Erzählerin Ein Mondaufgang, der Gegensatz von Nord und Süd, der Mondaufgang als "Braut" und "Mahner" - und dann: Klees behauptete Verbindung mit dem Süden - er selbst als "Mondaufgang des Südens" - das ist starker Tobak. Ist dies alles Künstlergeste? Säuselnde Poesie mit einem Schuss Narzissmus? Keineswegs, meint der Filmemacher Naceur Khemir. Er ist überzeugt, Klee gehöre beiden Kulturen an, der arabischen und der europäischen. Khemir meint, Klee habe die arabische Kultur wie kaum ein anderer verstanden. Die arabische Kultur sei eine Kultur des Nichts. Sie stamme aus der Wüste, und in ihr sei alles Abstraktion: In der Kalligraphie, dem Ornament, im Verbot der Darstellung des Göttlichen. Eine Kultur des Leeren. Klee, meint Naceur, gehöre unbedingt zum Orient - er sei der Maler der Leere. Ein Mann, der sich weit aus der europäischen Tradition entfernt und dann, mit Hilfe eines Aufenthalts in Tunesien, die Leere nach Europa zurückbringt. Der Klee-Experte Ben Amor sieht eine langbleibende Wirkung Paul Klees auf Tunesien: O-Ton (Ben Amor) Übersetzer Die Bedeutung Klees war natürlich seine Faszination durch das tunesische Licht. Er hat sich hier wohl gefühlt und sich als Maler empfunden. Seine Reise ist kunsthistorisch bedeutsam. Aber er hat auch einen großen Einfluss auf tunesische Maler ausgeübt, wichtige Maler, die sich von Klee inspiriert haben, wie Nabil Bechudscha. Man sieht in ihren Gemälden Klee. Klee wird auch an der Kunsthochschule unterrichtet. Wir haben in Tunesien heute 17 Kunsthochschulen. Erzählerin Klee ist präsent in den tunesischen Hochschulen. Er inspiriert tunesische Gegenwartskünstler wie Naceur Khemir oder Baker Ben Fredj - ein Künstler, der meterlange Leinwände mit Klee-Motiven in seinem Atelier aufhängt und sie mit einer riesigen Druckerpresse formt. Im April 2014 gab es sogar eine Ausstellung von fünf Künstlern, die sich direkt auf Klee bezogen, seine Bilder zu Installationen umsetzten und in den Raum projizierten. Und doch scheint es, als sei Klee erst jetzt, nach dem Abgang der Diktatur, vom tunesischen Publikum entdeckt worden. Klee hat die Tourismusministerin begeistert und, so scheint es, auch den Kulturminister Mourad Sakli. Der ist ebenfalls zur Vernissage der Künstlerin Sadika und der Klee-Teppiche nach Gammarth gekommen. Ein warmer Sonntagnachmittag auf der Terrasse, genau hundert Jahre nach Klees Aufenthalt. Die von den Frauen gewebten Teppiche hängen neben Reproduktionen der Bilder von Klee. Minister Sakli erklärt, er arbeite gerade ein Konzept für Touristen aus, um hundert Jahre nach der Tunisreise auf Klees und Mackes Spuren zu wandeln. O-Ton (Minister Sakli) Übersetzer Wir sind stolz darauf, dass Paul Klee nach Tunesien gereist ist. Wir arbeiten gerade an einem touristischen Pfad, der die Stationen nachzeichnet, zu denen der Maler gereist ist: sein Haus in Saint-Germain, das Küstendorf Sidi Bou Said, sein Aufenthalt in Tunis, Hammamet und Kerouan. Wir vom Kulturministerium arbeiten daran mit dem Tourismusministerium, um neue Wege zu gehen. Erzählerin Klee ist nicht zuletzt eine Chance für Tunesien, den Tourismus zu verändern. Das Land gilt immer noch als Inbegriff des Billigtourismus. Doch Tunesien ist ein Hochkulturland. Was Römer, Byzantiner und andere hier zurückgelassen haben, ist beeindruckend. Tunesien ist seit 6.000 Jahren das Durchgangsland par excellence. Einer der wichtigsten, die hier Station machten, ist der Maler Paul Klee. 1