COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Literatur Dienstag, 09. Dezember 2008 "Moskauer Poker" Der russisch-georgische Autor Boris Akunin Musik Zitator 01 "Er ist zwar ein Akunin, aber keineswegs ein Schwächling." "Ein was?" "Ein Akunin, das bedeutet soviel wie Schurke oder Verbrecher, aber nicht ganz... Ein Akunin ist böse, aber nicht kleinmütig, sondern stark." Erzähler: Der Moskauer Autor Boris Akunin liebt das Wortspiel. O-Ton 1 - Akunin Sprecher 1: Ich muss zunächst erklären, dass mein echter Name Tsch´hartischwili lautet. Das ist ein georgischer Name. Boris Akunin ist ein Pseudonym. Erzähler: Grigorij Tsch´hartischwili ist Japanologe, Übersetzer und Historiker und als Boris Akunin einer der meistgelesenen russischen Autoren. Ein Akunin geistert sogar als Gestalt durch seinen populärsten Roman "Die Diamantene Kutsche". Sein Pseudonym hat er nicht zufällig gewählt. Die japanische Bedeutung des Wortes soll sich auf die Person des Autors übertragen, zudem erinnert der Name an den russischen Anarchisten Bakunin. Musik Zitator 01 " ... Akunin hat seine eigenen Regeln, die er selbst aufstellt. Sie decken sich nicht mit den Vorschriften der Gesetze, aber für seine Regeln opfert Akunin sogar sein Leben, und darum bringt man ihm nicht nur Hass entgegen, sondern auch Respekt." "Ein solches Wort gibt es auf Russisch nicht", bekannte Fandorin nach kurzem Nachdenken. "Aber reden Sie weiter." Erzähler: Erast Petrowitsch Fandorin ist der Held vieler Kriminalromane Boris Akunins, ein Detektiv, zuständig für Sonderaufgaben und wie sein Erfinder auch bei deutschen Lesern eine Kultfigur. 30 Kriminalromane hat Akunin inzwischen geschrieben, 17 liegen in deutscher Übersetzung vor. O-Ton 2 - Akunin Sprecher 1: Ich wollte einen Helden erfinden, den die Jungs gerne gespielt hätten und in den die Mädchen sich verlieben. Wir haben vieles bei uns, in der russischen Literatur, doch, wissen Sie, so einen D'Artagnan oder einen Sherlock Holmes hat es bei uns nicht gegeben. Wahrscheinlich war die russische Literatur zu ernst dafür. Das war eine wirklich anspruchsvolle kulturelle Herausforderung für mich. Musik Zitator 01 "Kongojo" "Habe ich das richtig behalten?" "Ja. Kongojo heißt "Diamantene Kutsche". "Was?" fragte Fandorin verblüfft. "Was bedeutet das?" Erzähler: Diamantene Kutsche ist das berühmteste Werk Akunins. Mit ihm beginnt die "Akunistik", eine neue Wissenschaft, die von seinen fanatischen Lesern entwickelt wird. In Russland hat sich eine Art psychischer Abhängigkeit von den Krimis Akunins entwickelt. Seine Leser erwarten begeistert und sehnsüchtig, vergleichbar mit der Abhängigkeit von Junkies, den nächsten Roman. Halten sie ihn in der Hand, sind sie gewissermaßen für die Welt verloren. Musik Zitator 01 "Und was ist die Diamantene Kutsche?" "Das ist ein ganz eigener Zweig des Buddhismus, ziemlich verworren und voller Geheimnisse. Nach dieser Lehre kann ein Mensch Erleuchtung erlangen und noch zu Lebzeiten Buddha werden, doch das verlangt eine ganz besondere Festigkeit im Glauben. Darum auch Diamantene Kutsche - es gibt in der Natur nichts Härteres als den Diamanten." Erzähler: In der Diamantenen Kutsche erweist sich der Autor als ein großer Kenner Japans. Hier in Yokohama 1878 wird der Geist des jungen Vize-Konsuls des Russischen Imperiums zum Diamanten gehärtet. Seither ermittelt Erast Fandorin, die ideelle Figur eines Russen, der vieles von anderen Kulturen hat. Ist er aber auch ein Mustermann für die russische "Intelligenzija" ? O-Ton 3 - Akunin Sprecher 1: In meinen Augen ist Fandorin besser als der russischer "Intelligenzler". Der war historisch gesehen eine sehr sympathische Figur, aber mit einer wesentlichen Unzulänglichkeit, die mich stets sehr ärgerte. Ein sogenannter russischer Intelligenzler war viel mehr ein Mensch des Wortes, als ein Mensch der Tat. Nach schönen Worten folgten selten schöne Taten. Außerdem, wenn du in einem, sagen wir mal, problematischen Land, wie Russland, lebst, musst du in der Lage sein, dich und deine Nächsten zu verteidigen. Musik Zitator 01 So ist also dieses Land - es wird einen nicht friedlich alt werden lassen, unausbleiblich wird man herumgedreht und umgestülpt, abgeschmeckt und abgeschreckt, wird einem auf den Zahn gefühlt. Wäre das nicht besser so? In einem glimpflichen Lande, kann man, ohne ernsthafte Prüfung durchzustehen, hundert Jahre leben. Das heißt, ohne zu erkennen, was er im Grunde für ein Mensch ist, wo seine Grenzen sind ... O-Ton 4 - Akunin Sprecher 1: Russische Intelligenzler konnten nur sehr schön für ihre Ideen sterben. Zurückzuschlagen konnten sie sehr schlecht. Fandorin ist doch ein russischer Intelligenzler, aber zugleich auch ein japanischer Samurai. Das heißt, er kann seinen Mann stehen. Teilweise ist er auch ein britischer Gentleman - das ist auch eine sehr sympathische historische Erscheinung. Warum Gentleman? Weil die russischen Menschen nach ihrem Nationalcharakter quasi, sehr geneigt sind, die Dinge zu übersteigern. Sie sind etwas unbeherrscht, ja? Das Symbol des Englischtums wäre das Understatement, das bedeutet größtenteils Empfindsamkeit ohne Gefühlsäußerung, sozusagen. Gerade das könnte uns in unserem politisch unkorrekten Land, gar nicht schaden. Erzähler: Akunin blickt in seinen Werken zurück in die "besseren" Zeiten Russlands, und dort treffen sich historische und imaginäre Figuren. Die wirklichen Ereignisse mischen sich mit dem Niedagewesenen. So wird es für einen belesenen Krimiliebhaber noch spannender, wenn er die tausenden kleinen Details der vergangenen Epochen wieder erkennen kann. Die wichtigste Kulisse, bisweilen sogar die Hauptfigur in vielen seiner Kriminalromane ist die Heimatstadt des Autors: Moskau. Musik Zitator 01 So ist doch diese Stadt, Moskau. Im Gegensatz zu Venedig oder Paris, erobert sie dich nicht sofort bei der ersten Bekanntschaft, sondern sickert allmählich in deine Seele. Es gibt eine Stimme der 1000-jährigen Stadt - und ich meine, ihre wirkliche Stimme, nicht die, die nur die Gäste der Hauptstadt hören, den dröhnenden Lärm, sondern sehr leises Geflüster. Wer diese Gabe hat, der kann es hören. Die Fremden benötigen das nicht. O-Ton 5 - Akunin Sprecher 1: Ich wohne im Stadtteil Hitrówka, das ist ein altes Moskauer Stadtviertel, das oft in meinen Romanen erscheint. Es ist ein sehr interessanter Ort, weil er in der zweiten Hälfte des XIX Jahrhunderts und auch Anfang des XX, einer der gefährlichsten, kriminalisierten Orte in ganz Moskau war, obwohl er sich in der Nähe zum Kreml befindet. Hier gab es Spelunken, Nachtasyle, in denen die Diebe hausten, flüchtige Sträflinge. Die Polizei kam nicht hierher. Es wird gemunkelt, die Erde sei hier durchdrungen von Tunnels, irgendwelchen geheimen Kellern, unterirdischen Gängen, alles Mögliche ... Was ist hier alles passiert im Laufe der Jahrhunderte! - Und ich habe auch meinen Obolus entrichtet. Hier ließ ich vergrabene Schätze liegen, Gespenster in schrecklichen Verliesen spuken, alles war hier. Musik Zitator 01 ... lernen das zu sehen, was nur wenigen eröffnet wird. Zum Beispiel Konturen der nicht mehr stehenden Häuser, die aus den Wänden der neuen Bauten heraustreten. Über die Erde schwebende zerstörte Kirchen. Gräber der vergessenen Friedhöfe unter den bevölkerten Plätzen. Sogar die Menschen, die hier früher gelebt haben: Menschenmengen aus verschiedenen Moskauer Zeiten gleiten über die Strassen, ohne sich zu begegnen und sich gegenseitig zu bemerken ... Erzähler: Historie - bildet den Hintergrund für die Krimis, Akunin ist ein ausgesprochener Kenner der russischen Geschichte. Das alte Moskau kann man in seinen Romanen sehr gut erkunden, und seine Fans machen das längst: Sie schlendern über die alten Strassen mit den Büchern in der Hand, erspüren und erleben das Geschehen selbst - direkt am Tatort. O-Ton 6 - Akunin Sprecher 1: Es gab ein sehr geheimnisvolles Haus in Moskau, auf der Taganskaja Strasse - ich wohnte dort in der Nähe, ging oft vorbei. Einstöckig, offensichtlich Anfang des XIX Jahrhunderts nach dem Brand von Moskau erbaut. Eines Tages habe ich die Fenster an der Fassade des Hauses gezählt. Und bin zusammengezuckt. Es waren 13 Fenster! Erstaunlich - unmöglich sich vorzustellen, dass die russischen Bauarbeiter, sehr abergläubige Menschen dieser Zeit, so was zulassen konnten. Ich sah, dass das Haus auf dem Fundament eines noch älteren Hauses steht. Und dort im Keller waren auch die Spuren von 13 Fenstern zu sehen. Also noch früher hatte jemand diese böse Teufelsdreizehn festgesetzt. Das war sehr interessant. Ich habe die Geschichte dieses Hauses erforscht, ich nahm die Dokumente, erfuhr über die früheren Besitzer, und so entstand ein ganzer Roman - Altýn Tolobás. Über das XVII Jahrhundert, über den ersten Ahnen Fandorins, namens von Dorn. Er kam nach Russland, wenn ich mich nicht irre, im Jahre 1675. Warum ist er nun deutscher Herkunft, der Fandorin? - Wir sind doch wie fast alle hier in diesem multinationalen russischen Staat Lebende irgendeiner ausländischen Herkunft. Unser Alexander Puschkin kommt aus Afrika, Michail Lermontow aus Schottland, Dostojewski übrigens auch aus Litauen und aus Polen, ja? Historisch gesehen ... Na und? Ich sehe darin die Kraft unseres Landes, keine Schwäche. Erzähler: Die andere Seite des heutigen Russland zeigt sich, so der Autor mit dem bürgerlichen Namen: Grigorij Tsch´hartischwili, wenn eine antigeorgische Kampagne gestartet wird, wenn die georgischen Restaurants geschlossen bleiben, wenn in den Schulen Listen von georgischen Schülern geführt werden und wenn daran erinnert wird, dass der Schriftsteller Akunin einen georgischen Namen hat. O-Ton 7 - Akunin Sprecher 1: Ich habe mein ganzes Leben in Moskau verbracht, und ich kenne die georgische Sprache nicht. In Georgien war ich mal als Tourist ... Also wirklich, ob Georgien, ob Tadschikistan, das ist kein großer Unterschied für mich. Ein südliches, exotisches, sehr interessantes Land, aber ich habe nie eine Verbindung zu Georgien gefühlt. Das ist wahrscheinlich schlecht, ja? Aber wie jeder, der in einer Megalopolis aufgewachsen ist, besitze ich kein ausgeprägt ethnisches, nationales Gefühl. Ich war gezwungen, mich daran zu erinnern, wenn die russisch-georgischen Beziehungen verdorben wurden. Das hat unsere Steuerpolizei getan, die plötzlich im Höhepunkt dieser Sache viele Kulturschaffende georgischer Herkunft zu schikanieren begann. Das hat bei mir tiefste Entrüstung hervorgerufen. Ich habe nichts gegen Steuerkontrolle, aber ich werde seitdem ständig kontrolliert. Dass es demonstrativ getan wurde, hat mich natürlich sehr verletzt. Erzähler: Als die Bilder vom russisch-georgischen Krieg durch die Medien in die Welt und auch in die Moskauer Stuben flatterten, bezog Boris Akunin nicht als Georgier und auch nicht als Russe Position, jedoch als Staatsbürger seines Landes. O-Ton 8 - Akunin Sprecher 1: Das war ein ernsthafter politischer Fehler, der zur Verschlechterung der Lage Russlands in der Welt führte. Deswegen werden bei uns verschiedene nationalistische, imperialistische Ideen wieder lebendig- das ist bereits passiert. Was im Westen oft vergessen wird zu erwähnen, lassen Sie uns, um der Gerechtigkeit Willen, deutlich sagen: als Initiator und als Provokateur trat der georgischer Präsident auf. Man sagt ja nicht, dass Russland nicht darauf antworten durfte - doch, es sollte sogar, aber adäquat. Man hätte an der Grenze des inneren Georgiens stehen bleiben müssen, keinen Schritt weitergehen dürfen, im Bewusstsein dessen, dass in der ganzen Welt Assoziationen wieder lebendig würden, die an alle vorigen Geschichten erinnerten, als unsere Panzer auf fremdes Territorium rollten. Musik Zitator 01 ... was für ein Land wir haben: eine Hälfte ist Nervenkrank, die andere leidet an Psychosen. Eine Hälfte beider Teile hatte dazu im Leben gelernt, Menschen umzubringen ... Zitator 02 ... jeder weiß, zu welchem Schmuddel die russische Staatsmacht fähig ist, wenn sie sich beleidigt fühlt ... Zitator 01 "Und was bedeutet "Russland" auf Japanisch?" fragte Fandorin, besorgt um sein Vaterland. Zitator 02 "Nichts Gutes. Man schreibt es mit zwei Hieroglyphen: Ro-koku, "Dummes Land". Unsere Botschaft führt seit Jahren einen schwierigen diplomatischen Kampf, damit die Japaner eine andere Hieroglyphe für "ro" benutzen, die "Tau" bedeutet. Das würde schön klingen: "Land des Taus". Aber bislang ist das leider noch nicht gelungen". Erzähler: Im Oktober 2008 hat Boris Akunin für einen politischen Skandal gesorgt, als er sein Interview mit dem in Ungnade gefallenen, im Gefängnis sitzenden Ölmagnaten Michail Chodorkowski veröffentlicht hatte. Das Interview erschien in der russischen Ausgabe des Glanzmagazins Esquire. Episoden aus dem Leben der Milliardäre waren diesmal nicht glamourös, es ging um die Staatspolitik. Ein offener Dialog durch das Gitter. O-Ton 9 - Akunin Sprecher 1: Die Situation von Chodorkowski beschäftigt mich seit Langem und unter verschiedenen Aspekten. Ursprünglich war mein Interesse rein literarisch. Chodorkowski war der reichste Mann Russlands, und er war der einzige, der ins Gefängnis kam. Der Prozess lief mit groben Verfehlungen, das war uns allen sichtbar. Ich war dabei und sah, wie dieser Unfug stattfand. Erzähler: Inzwischen hat das Interview die Seiten des teuren Magazins verlassen und ist ins Internet gewandert und hat dadurch eine große Leserzahl erreicht. Akunin hat nachgelegt und seine Version des Geschehens geliefert. Sprecher 1: Akunin (aus dem Interview mit Chodorkowski) Meine eigene Version ist: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein 40-Jähriger, der sich einst das edle Ziel gestellt hat, erfolgreichster Unternehmer zu werden, eines Tages begriff, dass das Geld kein Glück bringen kann. Er hat Kraft und noch ein halbes Leben vor sich, will etwas wirklich Großes erreichen. Zum Beispiel, Russland helfen, endlich zivilisiert und konkurrenzfähig zu sein. Und gerade das hatte Jemanden sehr besorgt gemacht. O-Ton 10 - Akunin Sprecher 1: Nochmals: als ich in seinen Fall herumzustöbern begann, hatte ich ein Gefühl, dass alle Anklagen gegen ihn unbegründet seien. Außerdem geht es nicht um die Macht eines Einzelnen und seines Konzerns. Das ist ein Präzedenzfall, er löste in Russland eine tiefe Krise in der Gesellschaft aus. Dem ganzen Land wurde gezeigt, dass bei uns kein unabhängiges Gericht existiert, kein unabhängiges Fernsehen. Ich bin zutiefst überzeugt, solange wir nicht zurück zum Ausgangspunkt kehren, werden wir kein ordentliches Leben im Lande haben. Erzähler: Derartig zugespitzte politische Fragen bekommen einen besonderen Glanz und Aufmerksamkeit, wenn sie in Magazinen wie Esquire diskutiert werden. Nebenbei bemerkt, wandern sozial-kritische Texte aus den einfacheren Zeitschriften, die immer mehr kontrolliert werden, immer häufiger in diese Glanzmagazine ab. Nach der Veröffentlichung des Interviews ist Michail Chodorkowski für mehrere Tage in den Gefängniskarzer gesteckt worden. Jetzt aber fand das Gericht, dass diese Entscheidung gesetzwidrig war, aber erst danach, als es schon passiert war ... O-Ton 11 - Akunin Sprecher 1: ... am Tage der Goldene Hochzeit seiner Eltern. Das bringt der Geschichte noch zusätzliche Gemeinheit, und keiner hatte verheimlicht, dass es im Zusammenhang mit unserem Gespräch stand. Ich dachte, warum, eigentlich? Kann sein, weil er einige Namen genannt hatte und erklärt hatte, weshalb er so verfolgt wird. Kann sein, jemand hatte Angst gekriegt oder es missfiel ihm sehr ... Eine andere Variante der Erklärung wäre, dass man den Zweck verfolgte, unser Land von der übrigen Welt noch weiter zu distanzieren. Unsere Beziehungen zu den anderen Ländern sind schon wegen des Konfliktes in Georgien verdorben worden, was unsere Falken ohne Zweifel sehr erfreut. Sie sind an der Macht heute. Alles, was dem negativen Ansehen des russischen Staates hilft, arbeitet ihnen in die Hände. Sie wähnen sich besser, wenn Russland in der Isolation bleibt. So fühlen sie sich gefragt. So können sie tun, was sie wollen ohne Rücksicht auf andere. Wahrscheinlich verhalten sie sich deswegen so ihm gegenüber. Schließlich bin ich kein Politiker, ich verstehe davon wenig, aber ich sehe die Schicksale der Menschen, und dass ihnen ein himmelschreiendes Unrecht widerfährt. Ansonsten möchte ich dieses öffentliche Leben, diesen politischen Kampf nicht geschenkt haben. Es ist nicht meine Sache, ich bin nun gezwungen, mich damit zu beschäftigen. Und weil ich mich darin eingemischt habe, gibt es nun kein zurück ... Erzähler: Der Autor, der einen so vorbildlichen Helden schuf, dem junge Leute nacheifern wollen, durfte selbst auch nicht im entscheidenden Moment das Gesicht verlieren. Akunin, einer der meist gelesenen Autoren Russlands, nahm öffentlich die einzig mögliche Position ein: als Bürger seines Landes. Musik Sprecherin: ... die erste und die wichtigste Verantwortung eines Menschen ist die vor der eigener Seele, die ihrerseits nicht der kleinen Welt gehört, sondern der großen. Die kleine Welt ist wesentlich wichtiger als die Große - sagte sie ohne zu zweifeln. Die kleine Welt ist die Welt der Liebe zu einem Menschen, und die große - die Liebe zur Menschheit. Eine echte Frau wird nie ihren Geliebten oder ihr Kind für eine Idee, das Vaterland oder sogar für die Rettung des Menschentums verraten. Und der echte Mann wird das nie für eine Idee oder die Heimat tun, vom Schicksal der Adamskinder nicht zu sprechen, weil das für einen Mann, egal an welchen Unsinn er auch immer glauben mag, Selbstverrat bedeuten würde. Und wenn er sie verrät, wird er kein echter Mann mehr sein, so wird ihn die echte Frau nicht mehr lieben, sie wird ihn nicht mehr brauchen. Sie wird eher ihm vergeben, wenn er sie verrät, aber nicht sich selbst ... Dein Gesicht trübt sich ... Bin ich so unverständlich? O-Ton 12 - Akunin Sprecher 1: Ich habe ein Gefühl, das Leben fordert mich jetzt heraus, diesen Weg zu gehen und ich denke, wenn ich jetzt zurückkrieche, na ja, ich kann nicht mehr einfach so weiter leben ... Musik Zitator 01 Höchst unwahrscheinlich, dass Russland jemals von Machthabern regiert wird, die einsehen, dass Herrschen ein Leidensweg ist und die goldene Krone ein Dornenkranz. Solche Überlegungen kamen Fandorin recht häufig in den Sinn, und sie verdarben ihm jedes Mal die Laune. Erzähler: ... .ist in einer Sammlung von 6 Krimi-Novellen, die unter dem Titel "Das Geheimnis der Jadekette" erschienen sind, zu erfahren. Sie vereinigt nicht nur die Teilnahme des Haupthelden Fandorin- sondern eine besondere stilistische Aufgabe, die sich Boris Akunin gestellt hat: O-Ton 13 - Akunin Sprecher 1: Dieses Buch ist in seiner Art eine Widmung an die Klassiker des Krimi-Genres. Jede Novelle hat einen literarischen Prototyp. Man erkennt Agatha Christie, Sherlock Holmes, Robert van Gulik und so weiter. Manchmal ist es eine Improvisation ihrer Sujets. Manchmal gibt es eine erkennbare Gestalt. Oder einfach denselben Geist. Ja? Mit anderen Worten, es gibt keine einheitliche Aufbauregel für eine Novelle, aber für die Krimiliebhaber, wenn sie diese Sammlung lesen, soll ein Gefühl entstehen, dass sie erneut in denselben Fluss gegangen sind, in dem sie schon einmal geschwommen sind. Ich rechne also damit. Das ist quasi eine Geste der Dankbarkeit gegenüber dem Detektiv-Genre, das ich so liebe. Erzähler: Hier demonstriert Boris Akunin erneut seine Meisterschaft in der Dramaturgie und Stilistik. Der Leser taucht ein in das Leben des alten Russland, eiwa in die Zeiten Alexanders.III - als ob aus den verschwommenen und holprigen Bildern der ersten Filme, eine echte Welt entsteht, mit Farben, Klängen, Volumen. O-Ton 14 - Akunin Sprecher 1: Das Sujet zu finden, ist für mich das Leichteste beim Schreiben eines Romans. Viel schwieriger ist es - und das ist das Komplizierteste überhaupt, besonders jetzt, nach schon 30 Büchern, die ich geschrieben habe, die Worte zu finden. Sie beginnen mir zu fehlen, sie verlieren an Frische und Federkraft, weil ich sie schon mal benutzt habe. Und ich stehe jedes Mal auf den Ohren, um den Widerstand dieser Substanz aufzufrischen. Ja? Ein Gefühl, dass du der erste bist, der auf den Schnee tritt und nicht auf einer Piste läuft. Erzähler: Das Personal Akunins lebt und handelt in der Vergangenheit und in der Gegenwart zugleich, hat verschiede Nationalitäten, befindet sich mal in Amerika, mal in Europa. Ein feiner, ironischer Stil in der Unterhaltung der Aristokraten wechselt über in die groben Manieren des Pöbels. Die russische Sprache des XX Jahrhunderts geht plötzlich ins Altslawische über, in die Zeiten von Boris Godunow und Iwan des Schrecklichen. O-Ton 15 - Akunin Sprecher 1: Meine Helden wechseln ihren sozialen Status, deswegen bin ich gezwungen, einen Jargon für sie zu erfinden, der offensichtlich gar nicht existiert. Doch er muss so überzeugend klingen, dass der Leser daran glaubt - so redeten die Banditen, sagen wir mal vor 100 Jahren. Ich habe keine Ahnung, wie diese Banditen gesprochen haben. Unwichtig. Ich schöpfe eine illusorische Realität, doch sie soll überzeugend wirken, soll lebendig sein. Erzähler: Kaum beginnt der Leser zu denken, er hätte viel über die japanischen Sitten erfahren, fühle sich in Paris vor 150 Jahren oder am Hofe Katarinas der Großen wie zu Hause, sieht er plötzlich zwischen den Zeilen immer wieder ein kleines Lächeln des Autors. O-Ton 16 - Akunin Sprecher 1: Damit, bitte, sehr vorsichtig! Ich habe dort rowdyhaft einige Anachronismen eingesetzt, damit der Leser etwas geschüttelt wird, um ihm klar zu machen, er lese Unterhaltungsliteratur, er darf nicht versucht sein, sich über die Geschichte aus meinen Romanen ein Bild zu machen. Deswegen gibt es Parallelen zu den heutigen Ereignissen. So scheint es für mich interessanter. Erzähler: Ansonsten folgt Akunin penibel der historischen Genauigkeit. Der Autor gibt seinem Leser eine Menge interessantester Informationen, erinnert ihn an viele Details in der Geschichte, in der Kultur, sogar in der Technik. Selten ruft Akunin einen Berater zu Hilfe. O-Ton 17 - Akunin Sprecher 1: Ich habe eine Serie der Novellen über den ersten Weltkrieg geschrieben. Dort handeln die deutschen und die russischen Geheimdienste gegenseitig. Mit wechselndem Erfolg. Schließlich endet die Sache mit dem Zerfall beider Imperien, wie wir es kennen. Ja? Diese Serie hat den Titel "Der Tod auf Bruderschaft" und dafür lese ich viel über die deutsche Armee, den deutschen Generalstab, über Kriegsoperationen und über die Militärtechnik der Zeit. Das würde ich nicht als Arbeit bezeichnen. Das ist für mich sozusagen normale Lebensart, mein Vergnügen. Längst lese ich keine Belletristik mehr, ab einen bestimmten Moment wurde sie für mich uninteressant. Ich lese nur Monografien, Memoiren, Tagebücher - alles, was mit der Geschichte zu tun hat und das mit großem Interesse. Erzähler: Auch wenn sich Akunins literarische Figuren meist im alten Zarenrussland bewegen, die Topografie und auch die historische Atmosphäre des alten Petersburg oder Moskaus genau nachgezeichnet werden, liefern die spannenden und stilistisch geschliffenen Erzählungen oft versteckte Parodien auf heutige Erscheinungen. Darin offenbart sich das Credo des Schriftstellers, der nicht im Sumpf des russischen Patriotismus versunken ist. Boris Akunin erscheint als ein kritisch denkender Europäer, mit ausgeprägter Sympathie für eine Zeit, als - wie er es nennt - "das Ganze noch zu retten war". Musik Zitator 1: Mitja guckte ins Fenster auf eine weiße Winterwelt, in der noch ab und zu schwarze Punkte der seltenen Dörfer zu sehen waren, und hatte über das Land Russland nachgedacht. Was ist Russland? Das heißt, man kann sehr einfach antworten, ohne viel zu tüfteln: 15 Millionen Quadrat Werst von Tälern und Bergen, mit Bevölkerung von 30 Millionen. Jetzt, mit dem Anschluss Polens 35. Nun was hat diese Unmenge von Leuten gemeinsam? Was - haben sie eine Sprache? Nein. Einen gleichen Glauben? Auch nicht. Oder haben sie nachgedacht und entschieden - lass uns zusammen leben? Wieder nicht. Haben sie möglicherweise gemeinsame Erinnerungen an die Vergangenheit? Nicht der Gleichen. Noch gestern haben die jetzigen Mitbürger sich gegenseitig bekämpft. Die Russen halten die Tataren und die Polen für schlecht, die ihrerseits, so ist zu vermuten, meinen es umgekehrt. Was vereinigt uns alle dann? Die erste Antwort, die ihm in den Sinn kam, lautete: Russland ist der Wille, der auch die Staatsmacht genannt wird. Er hält alles zusammen. Dieser Gedanke war erschreckend. Mithridates hatte die Macht ganz nah erlebt, wusste, was das ist - eine dicke Greisin, die vor Jakobinern Angst hat und an die Kraft der Zauberkräuter glaubt. Diese Greisin wird man wahrscheinlich bald vergiften. Also, mit dem Tod Katarinas der Großen wird Russland nicht aufhören, zu existieren. Also ist Russland nicht die Macht, doch etwas anderes. Er schloss die Augen, um sich die unübersehbaren Weiten mit einem kleinen Pünktchen der Hauptstadt vorzustellen. Und sah plötzlich, wie dieses Fleckchen einen hellen pulsierenden Glorienschein ausströmte. Also das ist Russland! Eine verdichtete Energie, die an sich die Völker und die Länder heranzieht. Solange dieses Feuer leuchtet, solange diese Kraft einsaugt, existiert Russland. Und diese Kraft bedeutet nicht die Kanonen und Soldaten und die Beamten, sondern genau diesen Glorienschein. Wenn seine Stärke an Kraft verliert, werden von Russland Teile abbröckeln. Wenn dieses Feuer gänzlich erlischt, verschwindet Russland wie einst der alte Rom. Oder, auf diesem Ort wird eine neue Kraft geboren, und auch sie wird Russland heißen, oder doch irgendwie anderes - weiß Gott ...