COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel am 12.08.2007 In 90 Sekunden ist alles vorbei. Der Palio von Siena ? ein einzigartiges Pferderennen Von Claudia Wheeler Redaktion: Jörg Degenhardt _______________________________________ 01 Atmo (Trommel, Schuss) blenden in 02 Atmo O-Ton1 Sienese (ÜB Tom) Der Palio, das sind vier Tage absolute Leidenschaft. Extase. Das gehört zu unserem Leben. Der Palio macht uns zu Verbündeten. Uns schweißt eine Hoffnung zusammen: der Sieg. Das kann keiner verstehen, der nicht hier geboren ist. 02 atmo hochziehen Autorin Tatsächlich wundern sich in diesen Tagen viele Touristen über das bunte Treiben in der mittelalterlichen Stadt. Überall hängen Fahnen, Wimpel und Tücher. Frauen und Männer laufen trommelnd und singend durch die Gassen. 03 atmo (Trommeln, ab 0:22 frei) O-Ton 2 Also das ist ein Volksfest allererster Güte. Wie die sich schon in Stimmung singen, das hat uns ein bisschen an Borussia Dortmund erinnert, die Fangruppen, die sich schon richtig in Rage singen. Sehr schön. Die Atmosphäre ist sehr toll. Autorin Aber hier geht es nicht um Fußball sondern um den Palio - ein einzigartiges Pferderennen. Zwei mal im Jahr, am 2. Juli und am 16. August, feiert ganz Siena dieses traditionelle Fest aus dem Mittelalter. Zu Ehren der Jungfrau Maria, der Schutzpatronin der Stadt. Alessandro Orlandini, Präsident des Palio Verbandes. 0-Ton 3 (ÜB Tom) Pferdrennen haben in Siena eine lange Tradition. Die ersten gab es im 12./13. Jh. Sie waren immer ganz unterschiedlich. Am längsten hielt sich der sogenannte Palio alla lunga. Da sind Adlige und Soldaten auf Kriegspferden geritten ? quer durch die Stadt. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde dieses Rennen auf die Piazza del Campo verlegt und nahm dann auch seine definitive Form an: Zehn Pferde laufen drei Mal um den Platz. Autorin Ein Riesenspektakel. 70.000 Menschen stehen dicht aneinander gedrängt auf den muschelförmigen Platz im Herzen der Stadt. Sitzen auf Holztribünen, hängen in dichten Trauben an den Balkonen und Fenstern der mittelalterlichen Paläste. Sie toben. Sie fluchen Die Piazza del Campo: Ein Hexenkessel. Jeder gegen jeden. Rivalen, obwohl sie aus einer Stadt kommen. O-Ton 4 (ÜB Tom) Der Palio ist seit jeher ein Wettstreit zwischen den Bezirken Sienas. Sie leben eigentlich ganz friedlich zusammen. Aber während des Palio werden sie zu erbitterten Feinden. Autorin Die Bezirke heißen Contraden und haben fast alle Tiernamen. Zum Beispiel Schnecke, Eule, Schildkröte oder Stachelschwein. Siena besteht aus siebzehn Bezirken. Minirepubliken, die wie Vereine organisiert sind. Jeder Stadtteil hat eine eigene Kirche, ein eigenes Museum, eine eigenständige Verwaltung. Und ein Wappen. O-Ton 5 (ÜB Tom) Jeder Sienese ist fest in seinem Stadtviertel verankert. Er hält ihm ein Leben lang die Treue: bei der Taufe bekommt das Kind das Halstuch mit den Contradenfarben umgebunden. Damit ist die Zugehörigkeit besiegelt. Und bei der Beerdigung wird der Sarg in die Fahnen des Stadtviertels gewickelt. So ist das. Das Leben in der Contrada kennt keinen Anfang und kein Ende. Autorin Die Contrada als Erweiterung der Familie. Sie ist aber auch das Fundament der Stadt, so Bürgermeister Maurizio Cenni. O-Ton 6 (ÜB Andre) Es ist ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ein starker Geist von Identität, von Werten, die man teilt. Das schafft eine Gemeinschaft innerhalb der Contraden. Aber diesen Geist haben die Bezirke auch gegenüber der Stadt. Wenn es etwas gibt, was ihre Werte, ihre Tradition in Gefahr bringt, dann stehen alle Contraden zusammen, um diese zu verteidigen. Autorin Der Palio hat seine ganz eigenen Regeln. Von 17 Bezirken starten nämlich nur zehn. Und zwar immer die sieben, die im Vorjahr nicht dabei waren. Die restlichen drei werden zugelost. 04 atmo Platz ruhig Autorin Eine Woche vor dem Rennen: Allmählich steigert sich die Vorfreude der Sienesen. Die Piazza del Campo verwandelt sich in eine Rennbahn. Eine spezielle Mischung aus Tuff und Sand wird rings um den Platz herum verteilt. Eine Walze presst den Bodenbelag. Cafes und Restaurants, die den Platz umgeben, verschwinden hinter Holztribünen. Die ganze Strecke ist etwas kleiner als eine Leichathletikbahn. 05 atmo (Leute diskutieren auf dem Platz) Autorin 9 Uhr morgens auf dem Rathausplatz. Drei Tage vor dem Palio nimmt das Schicksal seinen Lauf. Siena fiebert der tratta ? der Auslosung der Pferde entgegen. Gleich kommen die 30 Pferde auf den Platz, die von Tierärzten für renntauglich befunden worden sind. Die Bürger stehen in kleinen Grüppchen zusammen. Jeder hat eine Liste in der Hand. Es wird diskutiert und spekuliert, welches Pferd wohl die besten Siegchancen haben könnte. O-Ton 7 (ÜB Bernd) Von diesen Pferden werden die zehn Besten für das Rennen ausgesucht. Sie werden später den einzelnen Bezirken zugelost. Also das beste Pferd ist für mich ganz klar die Nummer 29, Brento. Das ist kein neues Pferd, es hat schon einige Rennen gemacht. Und auch Nummer 28, Kooschi, oder Nummer 12, caro amico. Das sind alles Pferde, die entweder schon einen Palio gewonnen haben, oder gute Rennen gelaufen sind. AT Fanfare losen Autorin Das Signal für die Auslosung. Auf einer Tribüne nehmen die elf wichtigsten Männer der Stadt Platz: Bürgermeister Maurizio Cenni und die Kapitäne der teilnehmenden Bezirke. Halb Siena ist auf den Beinen. O-Ton 8 (ÜB Tom) Hier fängt alles an. Die Auslosung ist eine Art Vorentscheidung. Entweder man bekommt ein Pferd das gute Chancen hat zu gewinnen. Oder man bekommt einen ?Brenna? ? also einen alten Gaul, auf den niemand auch nur einen Cent setzen würde. Natürlich ist da jeder nervös. Neben dem eigentlichen Rennen ist die Auslosung der Moment mit dem größten Pathos. AT Lostrommel/bruco Autorin Alle Augen starren wie hypnotisiert auf zwei Lostrommeln. Bürgermeister Maurizio Cenni hat vor wenige Minuten die Namen der Pferde und Bezirke in die Trommeln gesteckt. Es geht um alles oder nichts ? um Hauptgewinn oder Niete. Ab 0:30 : Bürgermeister liest Namen vor: nummero 9, bruco, dann AT unter Text legen Autorin Erleichterung bei der Raupe: sie geht mit Choci an den Start. Der Sieger des letzten Jahres. Pech dagegen für die Löwin. Sie hat eine Niete gezogen. Ihr Pferd ist das erste Mal beim Palio dabei. Die Bewohner des Löwen Bezirks verlassen fluchend den Platz. Atmo Schnecke (Bürgermeister liest Chiocciola vor, Jubel etwas freistehen lassen, dann unter Text legen) Autorin Siegesstimmung bei der Schnecke. Ihr wurde das Pferd mit der Nummer 29 zugelost: Brento. Für den braunen Halbblüter ist es der sechste Palio. Mit Brento ist die Schnecke Favorit. Jubelnd und singend führt sie ihr Pferd in den bezirkseigenen Stall. Atmo Schnecke 2 (ab 0:30 etwas freistehen lassen) O-Ton 9 (Bernd) Sobald ein Pferd in der Contrada ist, wird es gehütet wie eine schöne Frau, ach was sage ich, noch viel mehr als eine schöne Frau. Der Stall ist ein 5 Sterne Hotel. Atmo Hufe Autorin Das Pferd wird rund um die Uhr vom Stallmeister gepflegt und bewacht. Dabei soll schon so manche Freundschaft entstanden sein. Die älteren Sienesen erinnern sich heute noch gerne an Folco. Er soll seinem Stallmeister auf Schritt und Tritt gefolgt sein, ohne dass dieser zum Zügel greifen musste. Folco wartete auf ihn sogar vor Kneipen und Restaurants. Atom Hufe kurz hochziehen O-Ton 10 (ÜB Axel) Das Pferd ist alles. Von ihm hängt es im Wesentlichen ab, ob eine Contrada siegt oder verliert. Denn auch ein Pferd, das ohne Reiter ins Ziel kommt, kann gewinnen. Die besten Tierärzte kontrollieren jeden Tag, ob ihm irgendetwas fehlt, Proteine, Vitamine, einfach alles. Atmo Probelauf D7/M32 bei 033 Pferde, bei 051-054 schnaufen Autorin Jetzt gilt es. In sechs Probeläufen müssen sich Ross und Reiter aneinander gewöhnen. Kein leichtes Unterfangen: Denn es wird ohne Sattel geritten. Bei der Schnecke platzt der Traum vom Sieg schon nach der ersten Probe. Brento stürzt und verletzt sich. Nach langem Hin und Her entscheiden die Tierärzte: Das Pferd ist nicht mehr fit für das Rennen. Die Schnecke ist raus. Denn während man den Jockey noch bis zum Schluss austauschen kann, ist das Pferd mit dem Los fest an die Contrada gebunden. Schlimmer kann es einen Bezirk vor dem Palio nicht treffen. Mit hängenden Köpfen schleichen seine Bewohner von dannen. O-Ton 11 (ÜB Tom) Die Contrada lebt das ganze Jahr für den Palio. Nicht mitzumachen,? das ist eine Tragödie. Für uns ist das Jahr gelaufen. Und wir hatten das beste Pferd. Autorin Des einen Leid - des anderen Freud. Seit jeher gibt es unter den Bezirken Rivalitäten. Die Wölfin kann nicht mit dem Stachelschwein, der Adler nicht mit dem Panther, das Einhorn hasst die Eule, usw, usw. O-Ton 12 (ÜB Bernd) Während des Palio gibt es sogar Prügeleien. Aber danach sind alle wieder Freunde und nehmen sich gegenseitig hoch. Der Palio spaltet Familien. Bei einem Ehepaar, das aus zwei verfeindeten Contraden kommt, fliegen die Fetzen. Jeder geht in seinen eigenen Bezirk. Danach ist die Stadt wieder vereint. Autorin Der größte Rivale der Schnecke wohnt gleich nebenan: Die Schildkröte. Sie freut sich diebisch über das Aus ihrer Konkurrentin. O-Ton 13 (ÜB Andre) So ist das in Siena. Jeder ist sich selbst der Nächste. Mir tut es nur für das Pferd leid. Hoffentlich gewinnen wir morgen. atmo Gitarre Autorin Für Außenstehende wirkt es skurril. Ob Kind, Greis oder Hund: Jeder trägt in den Palio Tagen ein Halstuch in den Farben seines Bezirkes. O-Ton 14 (ÜB Axel) Wir werden mit den Farben geboren und sterben mit den Farben. Während des Palio verehrt jeder die eigenen Farben. Da sieht jeder nur sich selbst. Autorin Der Palio: das Leben. Pure Liebe. Für Siena einfach alles. O-Ton Collage 0-Ton 15 a e un po la vita 0-Ton 15 b e puro amore 0-Ton 15 c per Siena e tutto O-Ton 16 (ÜB Tom) Es geht darum, die eigene Identität durch dieses Fest zu bewahren. Sich von den vielen anderen traditionellen Festen, die es in Italien gibt, abzuheben. Im Palio lebt der Geist der mittelalterlichen Republik Siena weiter. Im 16. Jahrhundert gab es eine besonders schwere Zeit, da verlor Siena seine Unabhängigkeit an Florenz. Doch die Bürger haben am Palio festgehalten, um sich ihrer eigenen Tradition zu versichern. Nur durch den festen Willen der Sienesen hat der Palio bis heute überlebt. Lied Siena Autorin Der Palio ist den Sienesen heilig. Tierschützern ist er allerdings ein Dorn im Auge. Seit den 30er Jahren protestieren sie gehen ihn. Sie wollen das waghalsige Pferderennen am liebsten abschaffen, oder zumindest von der engen Piazza del Campo verbannen. Für Marco Innocenti, den Vizepräsidenten des italienischen Tierschutzbundes, ist der Palio schlicht Tierquälerei. O-Ton 17 (ÜB Thomas J.) Vor und nach dem Palio gibt es keine Gefahren. (?) Das Problem ist das Rennen selbst. Die Rennstrecke ist nur siebeneinhalb Meter breit und die Kurven sind wahnsinnig eng. Die Pferde werden mit Peitschen angetrieben, und haben ein unglaublichen Tempo drauf. Sie knallen gegen die Bande, sie stürzen und verletzen sich oft lebensgefährlich. Autorin Und das, obwohl die gefährlichen Kurven mit dicken Schaumgummimatten gepolstert sind. Trotzdem: Die Verletzungsgefahr für die Pferde ist wesentlich höher als für die Reiter. Marco Innocenti und seine Organisation wissen, dass sie einen Kampf gegen Windmühlen führen. Trotzdem sind sie Jahr für Jahr wachsam. O-Ton 18 (ÜB Thomas J) Es gibt inzwischen viele Kontrollen. Vor allem werden die Pferde untersucht, ob sie gedopt sind. Denn als es die Kontrollen noch nicht gab, wurden die Pferde bis oben hin vollgepumpt und die Reiter hatten sie nicht mehr im Griff. Und man hat sich seit einigen Jahren auf eine bestimmte Pferde Rasse festgelegt. Auf Halbblüter und Angloaraber. Die sind sehr kräftig und robust. Früher sind nur Araber gelaufen, aber mit denen gab es viele Unfälle. Ein Araber ist zwar sehr schnell, hat aber auch sehr zarte Beine. Heute gibt es tatsächlich weniger Unfälle. Autorin Bei dem Wort Tierschutz bekommt Alessandro Orlandini vom Palio Verband einen dicken Hals. Man brauche keinen Babysitter, ereifert er sich. Wenn man sich in Siena mit etwas auskennt, dann ja wohl mit Pferden. O-Ton 19 (ÜB Tom) Wir haben eine Trainingspiste gebaut, die der Piazza del Campo nachempfunden ist. So können sich die Pferde schon lange vorher an die besonderen Kurven gewöhnen. Dann wählen wir die Tiere sorgfältig aus. Nur die Fittesten kommen in die engere Auswahl. Und wenn es einen Unfall gibt, dann werden die Tiere sofort in eine spezielle Klinik gebracht. Dort werden sie untersucht und wenn nötig auch operiert. Pferde, die an keinem Rennen mehr teilnehmen können ? aus welchen Gründen auch immer ? kommen auf eine Farm. Also anstatt aus ihnen Würstchen zu machen, leben sie auf Kosten der Kommune von Siena in einer Pferdepension. Autorin Kritik ist also nicht erwünscht. Zu viele Fragen ebenso wenig. Denn wie sollte man Fremde auch in die Geheimnisse des Palio einweihen. Touristen sind in diesen Tagen eher geduldet als willkommen. Sie sind zwar mitten drin, aber trotzdem außen vor. O-Ton 20 (ÜB Sonja) Ich kann nur folgenden Rat geben: Vorher so viel wie möglich lesen, um in den Geist des Palio vorzudringen. Dann herkommen und einfach nur beobachten. Am besten nicht zu viele dumme Fragen stellen. Dann versteht man die Dinge vielleicht besser. Autorin Sonst kann es einem am Ende wohlmöglich so ergehen wie den US Soldaten, die nach dem 2. Weltkrieg noch in Siena waren. O-Ton 21 (ÜB Andre) Den ersten Palio nach dem Krieg werde ich nie vergessen. 1946. Da war vielleicht was los. Die Amerikaner waren noch hier. Es gewann eine Contrada, die eigentlich gar nicht gewinnen sollte. Alles stürmte auf die Rennbahn und es gab eine riesen Prügelei. Die Soldaten wussten nicht was los war und haben sich einfach mit geprügelt. Autorin Heute geht alles viel gesitteter zu. Und die Touristen lassen sich den Spaß sowieso nicht verderben. Für sie ist der Palio einfach nur ein Pferderennen. Eine riesige Party. O-Ton Collage O-Ton 22a Its a sporty event. A horse race. But it seems like a big party. O-Ton 22b Es hat etwas von einer Zirkusatmosphäre. So was habe ich noch nie gesehen. (ÜB Sonja) O-Ton 22c Das ist Teil der italienischen Mentalität: das Leben genießen und eine schöne Zeit haben. Fantastisch. (ÜB Sonja) Atmo Messe Autorin Aber was wäre die italienische Mentalität ohne Hilfe von oben. So gehört zum Palio Ritual auch, dass Monsignore Antonio Buoncristiani, seines Zeichens Erzbischof von Siena, die Jockeys vor dem Rennen segnet. AT Mess hochziehen Autorin Doch der Italiener sichert sich lieber doppelt ab. Die Heiligen um Hilfe bitten ist eine Sache. Um auf Nummer sicher zu gehen, können ein paar Euro aber auch nicht schaden. Den Palio zu gewinnen bedeutet Ruhm und Ehre. Jeder Bezirk will die Siegertrophäe - ein buntbemaltes Seidenbanner - nach Hause tragen. Dafür werden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Aber mindestens genauso gut ist es, einem rivalisierenden Stadtteil den Sieg zu vermasseln. Intrigen werden gesponnen. Zwischen den Contraden wandern hohe Geldsummen hin und her. O-Ton 23 (ÜB Andre) Es fließt zwar viel Geld, aber das ist ja wohl keine Korruption. Es ist ein Kaufen und Verkaufen. Eine ganz heikle Sache. Wir Sienesen erkennen sofort, welches Spiel gespielt wird. Wer mehr Geld hat, kommt zum Beispiel am besten vom Start weg. Das war schon immer so, nur das heute mehr Geld im Spiel ist. (lachen) Autorin In den engen Gassen von Siena schmieden die Kapitäne der Bezirke ihre Allianzen. Verbünden sich mit befreundeten Stadtteilen gegen ihre Rivalen. Aber Vorsicht: nichts ist sicher in diesen Tagen. Denn auch die Jockeys halten Ohren und Hände offen, unterlaufen heimlich getroffene Vereinbarungen. Söldner im Palio Wettstreit. Und da im Grunde jeder jeden besticht, ist das Rennen wieder offen. O-Ton 24 (ÜB Bernd) Natürlich, das gibt es alles. Jockeys, die sich verkaufen, die verkauft werden. Aber auch das ist der Palio, diese ganzen heimlichen Verhandlungen. Die Reiter sind sozusagen freiberuflich, sie gehören keiner Contrada an, sie arbeiten mal für den einen, mal für den anderen. O-Ton 25 (ÜB Tom) Sagen wir mal so: man hilft dem Schicksal etwas nach. Denn am Ende entscheidet doch immer das Schicksal. Natürlich ist die Stärke des Pferdes entscheidend und die Fähigkeit des Jockeys. Und mit Geld kann man dem etwas nachhelfen. Lied Schildkröte Autorin Der Abend vor dem Palio: Alle Verhandlungen und Bündnisse sind unter Dach und Fach ? jetzt wird gefeiert. In jedem Stadtteil gibt es ein großes Festessen. Bei der Schildkröte sitzen 1300 Menschen an langen Tafeln, und feiern mit Pasta und jeder Menge Rotwein schon wie die Sieger. Die Stars des Abends sind Kapitän Carlo Arezzini und Jockey Mario Canu. AT Lied Schildkröte kurz hochziehen O-Ton 26 (ÜB Bernd) Ich bin schon seit sechs Jahren der Kapitän meiner Contrada. Ich habe schon zwei Palio gewonnen, 2002 und 2004. Und morgen werde ich hoffentlich das dritte gewinnen. Denn es gibt keine zwei ohne das dritte. Ich bin unglaublich stolz und geehrt. Ich bin in dieser Contrada geboren. Die Schildkröte ist meine Familie. AT Lied Schildkröte kurz hochziehen Autorin Jockey Mario Canu wirkt etwas schüchtern. Ihm scheint der ganze Trubel unangenehm. Dabei ist der 36-jährige ein alter Hase. Es ist sein 12. Rennen, aber das Erste für die Schildkröte. O-Ton 27 Mario Canu (ÜB Axel) Der Palio ist das Größte. Für einen Jockey ist der Palio das wichtigste Rennen seines Lebens. Im Vergleich dazu sind alle anderen Pferderennen eine Vorspeise die man nur isst, um beim Palio anzukommen. Atmo Platz Autorin Und dann ist es endlich so weit: Der 2. Juli. Der Tag des Palio. Bereits seit den frühen Morgenstunden sichern sich Fans auf der Piazza del Campo die besten Plätze. Die Mitte der Muschel ist offen für alle. Die Tribünen- und Balkonplätze dagegen kosten ein kleines Vermögen ? als würde Luciano Pavarotti ein Konzert geben. Für zwei große Fensterplätze blättert manch einer sogar 12.000 Euro hin. Trotzdem sind alle Plätze längst ausverkauft. Während sich die Piazza allmählich füllt, wartet auf die teilnehmenden Bezirke am Nachmittag noch eine besondere Aufgabe: In den Contradenkirchen wird das Pferd gesegnet. Atmo Kirche Autorin Bei den Schildkröten drängen sie sich im engen Kirchenschiff von Sant Antonio. Der Pfarrer beschwört das Pferd: ?Geh caro amico und kehre zurück als Sieger?. Atmo Kirche 2 Pfarrer spricht, caro amico, va e torna vincitore, Atmo Kirche unter Autorinnentext ziehen Autorin Danach ziehen die Männer der Contrada in ihren prächtigen Kostümen zum Rathaus und der historische Umzug beginnt. Atmo Fanfare Evtl später in Atmo Menge2 blenden Autorin In strenger Folge laufen die insgesamt 14 Gruppen um die Piazza. Die Repräsentanten der Stadt. Vertreter der Universität und der nicht mehr existierenden Contraden. Komparsen aller 17 Bezirke und schließlich der Ochsenkarren mit der Siegertrophäe: dem Palio. Eine zweistündige Zeremonie. Unterdessen füllt sich der Platz immer mehr. Nur noch eine schmale Gasse ist offen. Die Massen schieben und drängeln sich vorwärts. Die ersten Erschöpften werden von Sanitätern aus der Menge gezogen. Atmo Schüsse 2 oder Atmo Schüsse Autorin Jetzt ist der Platz geschlossen. Auf der Piazza del Campo stehen 30.000 Menschen. Und mindestens noch einmal so viele schauen aus den Fenstern und von den Balkonen. Stille senkt sich über den Platz. Denn es wird wieder gelost. Diesmal die Starpositionen. Atmo losen Autorin Die Pferde reihen sich zwischen zwei Seile ein. Sie sind nervös. Schlagen aus. Die Reiter haben Mühe, sie zu beruhigen. Ein Pferd steht hinter den anderen und löst von dort den Start aus. In diesem Jahr ist es das Pferd der Schildkröte. Atmo Menge/Atmo schnaufen Autorin Die Menge wird unruhig. Mario Canu, der Jockey der Schildkröte, zögert den Beginn immer wieder hinaus. Es gibt mehrere Fehlstarts. Doch dann fällt das Seil und das Rennen geht los. Atmo Rennen 1 oder Atmo Rennen 2 Autorin Gleich in der ersten Kurve knallen zwei Pferde gegen die Bande. Ihre Jockeys können sich gerade noch hinter die Absperrung retten. Die Masse tobt. Überraschend an der Spitze: Die Gans. Doch dann holt die Muschel auf. Beide liefern sich ein dramatisches Kopf an Kopf Rennen. Ausschnitt Fernsehreportage blenden in Atmo nach Rennen Autorin Am Ende siegt die Contrada der Gans mit einem hauchdünnen Vorsprung. In 80 Sekunden drei Mal um den Platz. Mit einem Pferd, das erst sein zweites Rennen gelaufen ist. Doch was ist das? Bürgermeister Maurizio Cenni übergibt der Muschel das Seidenbanner. Tumult und Geschrei auf dem Platz. Die bringen sich gleich um, ruft eine Frau. Fernsehjournalisten schauen auf ihre Monitore. O-Ton 29 (ÜB Axel) Wir haben auch zuerst gedacht, die Muschel hätte gewonnen. Und das dachten auch alle auf dem Platz, denn die Bewohner der Muschel haben ja sofort die Rennbahn gestürmt. Heute war es wirklich schwer mit bloßem Auge zu erkennen. Aber hier auf dem Monitor sieht man es noch mal: ein ganz knapper Sieg für die Gans. Autorin Inzwischen haben die Schiedsrichter ihre Entscheidung korrigiert und die Gans reißt der Muschel die Siegestrophäe aus der Hand. Mit ihrem Jockey auf den Schultern starten die Gewinner ihren Siegeszug durch die Stadt. O-Ton 30 (ÜB Sonja) Nach dem anfänglichen Chaos ist es noch eine größere Freude. (Da haben wir der Muschel noch eins ausgewischt.) Nein, wir gehen nie auf den Platz, das schaffen wir nicht. Wir bekämen alle nacheinander einen Herzinfarkt. Wir haben es im Fernsehen gesehen und da war sofort klar, dass die Gans die Nase vorne hatte. Atmo Gans O-Ton 31 (ÜB Tom) Mit diesem Sieg hat hier kaum jemand gerechnet. Wir haben seit fast 10 Jahren nicht mehr gewonnen. Und weil bis zum Schluß spannend blieb, ist es jetzt besonders aufregend. Für mich bedeutet der Sieg, dass es ein glückliches Jahr wird, ein siegreiches Jahr. Atmo Gans 2 O-Ton 32 (ÜB Andre) Einfach unglaublich. Ich habe es im Fernsehen gesehen: Zuerst die Gans dann haben sie das Palio der Muschel gegeben. Ich dachte ich sterbe. Dann auf einmal wieder die Gans. Unerklärlich mit einem ganz neuen Pferd, mit dem Los waren wir alle ganz unglücklich und jetzt ?. mir ist immer noch ganz schlecht. Atmo Schildkröte Autorin Ernüchterung bei der Schildkröte. Ihr Jockey hat eine denkbar schlechte Figur abgegeben und hatte nicht einmal den Hauch einer Siegchance. Und das trotz der hohen Erwartung. Fabio Castellani vom Vorstand läuft schnellen Schrittes in Richtung Vereinshaus. Er ist einfach nur stinksauer. O-Ton 33 Sono molto arrabiato. Autorin In den kleinen Gassen stehen die Contradenbewohner der Schildkröte tuschelnd zusammen. Die Tücher noch um den Hals, die Fahnen an die Häuserwände gelehnt. O-Ton 34 (ÜB Axel) Die Leute sind ziemlich sauer, weil sie noch nicht verstehen, welchen Job ihr Jockey wirklich gemacht hat. Das Pferd der Schildkröte war eines der Besten, und die Contrada hatte einige Bündnisse geschlossen die - so scheint es - nicht eingehalten wurden. Es gibt den Verdacht, dass unser Reiter von einem anderen Bezirk bestochen wurde und sein eigenes Spiel gemacht hat. Autorin Hatte da vielleicht die Schnecke ihre Hand im Spiel - die große Rivalin, die so unglücklich schon nach dem ersten Probelauf ausgeschieden war? Spekulationen über Spekulationen. Von Jockey und Kapitän fehlt an diesem Abend jede Spur. Von der Euphorie des Vorabends ist nichts mehr übrig geblieben. O-Ton 35 (ÜB Axel) Die Verantwortung trägt der Kapitän. Er leitet den ganzen Palio und muß am Ende auch den Kopf hinhalten. Es gibt schon Stimmen, die seinen Rücktritt fordern. Das werden wir in den nächsten Tagen sicherlich noch weiter diskutieren ? aber mit kühlerem Kopf. So ist das eben in Siena. Musikakzent Autorin Und so wird es wohl auch immer bleiben. Bereits am nächsten Tag werden die Tribünen abgebaut, der Tuffsand wieder eingesammelt. Auf die Piazza del Campo kehrt der Alltag zurück. Doch schon morgen geht alles wieder von vorne los. Dann werden die Pferde für das Rennen am 16. August ausgelost. Die kleine Stadt in der Toscana kommt einfach nicht zur Ruhe. Denn in Siena ist nach dem Palio vor dem Palio. 17