COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 18. Oktober 2010, 19.30 Uhr Zeit, zu gehen- warum Politiker zurücktreten Von Katja Bigalke O-Ton Collage (Heinemann) Wer im politischen Amt steht, soll nach seiner gewissenhaften Überzeugung handeln und nicht an einem Posten kleben. (Brandt) Am Abend des 6. Mai habe ich dem Bundespräsidenten meinen Rücktritt erklärt und damit die politische und persönliche Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre übernommen. Diese Entscheidung konnte mir niemand abnehmen. (Beust) Die biblische Erkenntnis: ,Alles hat seine Zeit', gilt auch für Politiker. Selbstverständlich gilt sie auch für mich. Sprecher vom Dienst: Zeit, zu gehen - warum Politiker zurücktreten Ein Feature von Katja Bigalke O-Ton (Speer) Ich werde, im Hinblick auf die Arbeit der Koalition, um Schaden von dem Amt, meiner Partei, dieser Koalition abzuwenden, heute zurücktreten. Autorin Das Jahr 2010, so viel ist sicher, wird als Jahr der politischen Rücktritte in die Geschichtsbücher eingehen. Den Reigen eröffnete Roland Koch. Am 25. Mai erklärte der hessische Ministerpräsident auf einer überraschend einberufenen Pressekonferenz: O-Ton Politik ist ein faszinierender Teil meines Lebens, aber Politik ist nicht mein Leben. Und ich war immer sehr vorsichtig, dass Mensch und Amt nicht miteinander verwachsen. Autorin Nur ein paar Tage später - am 31. Mai - folgte ihm Horst Köhler: O-Ton Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Autorin Köhler begründete seinen ungewöhnlichen Schritt mit dem mangelnden Respekt seiner Kritiker vor dem höchsten Staatsamt. Auslöser war vergleichsweise eine Lappalie, ein missglücktes Radiointerview. Schnell schossen Spekulationen ins Kraut, Köhler sei als Quereinsteiger zu dünnhäutig für den Politikbetrieb gewesen. Die Aufregung hatte sich kaum gelegt, da erklärte der nächste Spitzenpolitiker, diesmal ein Betriebsprofi, seinen Rückzug ins Private. Hamburgs Bürgermeister Ole van Beust nahm am 18.Juli ein Referendum über die Schulreform seines Stadtstaates zum Anlass, sich aus dem öffentlichen Amt zu verabschieden. O-Ton Bereits jetzt arbeite ich seit 32 Jahren in der Landespolitik, davon seit 17 Jahren in politischen Spitzenämtern, und in diesem Zeitraum bin ich bereits viermal als Spitzenkandidat der Hamburger Union angetreten. Aufgrund meiner Erfahrung bin ich überzeugt, dass ein fünftes Mal der politischen Vernunft widerspricht. Autorin Es folgte die politische Sommerpause und dann ein vermeintlich klassischer, weil skandalumwitterter Rücktritt. Rainer Speer, Brandenburgs Innenminister und rechte Hand von Ministerpräsident Platzeck, musste gehen. Man hatte Speer ein Laptop geklaut, auf dem sich private Daten befanden, die an die Springerpresse gelangten und dort genussvoll aufbereitet wurden. Von auf den Staat abgewälzten Unterhaltszahlungen für ein uneheliches Kind wurde geraunt. Außerdem stand der Minister wegen umstrittener Immobiliengeschäfte im Fokus der Öffentlichkeit - genug Sprengstoff, um die Karriere Speers am 23. September vorläufig zu beenden. O-Ton ...mit Wirkung sofort. Autorin Was bedeutet diese hohe Zahl an Rücktritten? Ist sie dem Zufall geschuldet oder ein Zeitsymptom? Sind unsere Volksvertreter überfordert? Der Politikwissenschaftler Jörn Fischer erforscht an der Universität Köln den Rücktritt in der Politik. Seine Einschätzung: Alles kein Grund zur Beunruhigung: O-Ton Wir hatten ohne Zweifel eine ungewöhnliche Häufung von Rücktritten von Spitzenpolitikern. Aber jetzt auf einen allgemeinen Trend zu schließen, da wäre ich vorsichtig. Wenn man sich die Geschichte der Bundesrepublik anschaut, hat man immer Phasen gehabt, in denen sich Rücktritte akkumulierten, wie sie in den letzten 12 Monaten geschehen sind. Autorin Stimmt. So traten beispielsweise 1993 gleich drei Ministerpräsidenten zurück: Björn Engholm in Schleswig Holstein, Max Streibl in Bayern und Werner Münch in Sachsen-Anhalt. Unter Helmut Kohl verabschiedeten sich zwischen 1991 und 1994 immerhin acht Bundesminister unplanmäßig und auch das erste Kabinett Schröder verzeichnete zwischen 1998 und 2002 beachtliche fünf Demissionen. Rücktrittsballungen gehören also zum politischen Alltag. Was sich jedoch geändert hat, sind die spezifischen Rücktrittsgründe. Und von diesen lässt sich auf veränderte Normen schließen, glaubt Jörn Fischer: O-Ton Wenn man sich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland anschaut, fungieren Rücktritte auch immer so ein bisschen als Gradmesser für gesellschaftlichen Wandel.1950/60 ist vielleicht jemand aus anderen Gründen zurückgetreten. Vielleicht weil er eine außereheliche Affäre hatte, der würde heutzutage weniger zurücktreten. Autorin Horst Seehofer zum Beispiel zeugte in Berlin ein uneheliches Kind und wurde trotzdem kurze Zeit später Ministerpräsident im katholischen Bayern. Das wäre in der Adenauer-Zeit undenkbar gewesen. Sein Vorgänger Franz-Josef Strauss hingegen, der gern etwas zu enge Kontakte zur Wirtschaft pflegte, hätte es heute schwerer. Denn inzwischen stolpern Politiker bevorzugt über Bonusmeilen- oder Amigoaffären, wie der Taz-Journalist Pascal Beucker feststellt: O-Ton So gab es Anfang der 90er Jahre eine Häufung von Rücktritten von Politikern die sich Vergünstigungen von Unternehmern haben zukommen lassen. Etwas, was in den Jahren zuvor und Jahrzehnten zuvor auch immer da war - ich erinnere an Franz Josef Strauß, der da sogar drauf stolz war. In den 90ern ist das dann für hochgradig problematisch erklärt worden und das hat dann auch eine ganze Masse von Rücktritten zur Folge gehabt. Und das heißt auch, dass so was wie Bonusmeilen- affären in den 70ern keinen großen Wirbel erzeugt hätten, Anfang dieses Jahrtausend kann so etwas tatsächlich zum Rücktritt führen. Autorin Sogenannte "gute Nehmerqualitäten" und Vetternwirtschaft gehören mittlerweile zu den häufigsten Demissionsgründen. Sie sind aber beileibe nicht die einzigen. Der Politikwissenschaftler Jörn Fischer unterscheidet grob vier Rücktrittstypen: O-Ton Das ist der sogenannte Push-Rücktritt- wenn ein Politiker aufgrund eines Skandals zurücktritt oder einer Verfehlung, die in seinem Aufgabenbereich entstanden ist. Die zweite Kategorie ist der pull-Rücktritt. Das heißt, dem Politiker ist ein anderes Amt angetragen worden. Die dritte Kategorie sind die sogenannten Protest-Rücktritte, wenn ein Politiker über Politikbereiche mit seiner Partei nicht mehr einig ist und daraus die Konsequenz des Rücktritts zieht. Die vierte Kategorie ist die Restkategorie, da fallen alle anderen Rücktritte runter: zum Beispiel, wenn ein Minister aus gesundheitlichem oder familiären Gründen zurücktritt. Autorin Fischer, der sich in seiner Forschung auf den Rücktritt von Regierungsmitgliedern auf Landes- und Bundesebene konzentriert, zählte seit 1950 insgesamt 59 solcher Fälle. Knapp 20 Prozent der Minister traten aus Protest zurück, etwa die gleiche Anzahl aus sonstigen Gründen. 30 Prozent der Politiker warfen das Handtuch, weil sie sich beruflich umorientierten, weitere 30 Prozent, weil sie Skandale oder Probleme in ihrem Amtsbereich dazu zwangen. Während die gesundheitlichen, familienbedingten oder Verbesserungsrücktritte auf Verständnis stoßen, irritieren die Push- und Protestrücktritte das politische Tagesgeschäft. Sie sind kleine Lehrstücke über Moral in der Politik. Als besonders ehrbar gilt etwa der allererste bedeutende Rücktritt in der Bundesrepublik. Der Christdemokrat Gustav Heinemann legte am 9. Oktober 1950 aus Protest gegen Adenauers Remilitarisierungspläne sein Amt als Innenminister nieder: In einer Radioansprache erklärte er damals: O-Ton Ich war für meine Person nicht mehr in der Lage die Verantwortung zu tragen, darum bin ich nach reiflicher Überlegung gegangen. Den Anstoß zu meinem Rücktritt gab die Tatsache, dass das sogenannte Sicherheitsmemorandum der Bundesregierung vom 29.8. zur Konferenz der Außenminister vom Bundeskanzler ohne Beschlussfassung im Kabinett abgesandt wurde. Dieses Memorandum behandelt Fragen von schicksalhafter Bedeutung für uns alle. Es geht nicht an, dass solche Dinge ohne ausreichende Beschlussfassung im Kabinett rausgehen. Autorin Auf der entgegengesetzten Seite der moralischen Skala rangiert der Rücktritt Uwe Barschels als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Er hatte die Öffentlichkeit trotz "Ehrenwort" belogen und darüber hinaus seinen politischen Widersacher Björn Engholm auf kriminelle Weise ausspioniert und mit einer Schmutzkampagne überzogen. Am 25. September 1987 blieb ihm nichts anderes übrig als zu erklären: O-Ton Ich werde von meinem Amt als Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein zurücktreten. Autorin Eine Sonderrolle in der Geschichte der Bundesrepublik spielen die Politiker, die gehen mussten, weil Ihnen eine Nazi-Vergangenheit oder Kontakte zur Stasi nachgewiesen wurden. Historisch bedingt ist dieser Rücktrittsgrund aber eine Ausnahme. Ansonsten markieren der Held Heinemann und der Schurke Barschel die Extreme der "politischen Verantwortlichkeit". Ein recht schwammiger Tatbestand, für den es laut Jörn Fischer keine klare Definition gibt: O-Ton Selbstverständlich haben wir das so genannte Ressort-Prinzip verankert im Grundgesetz, das eben besagt, dass ein Minister seinen Geschäftsbereich unter eigener Verantwortung leitet. Aber politische Verantwortung und Minister- verantwortlichkeit sind Begriffe, die so nicht normiert sind, rechtlich zumindest. Autorin Politische Verantwortung wird also bei jedem Rücktritt neu definiert. Trenner (Collage aus verschiedenen Rücktrittserklärungen Autorin 29. Oktober 1992: Marianne Birthler, Brandenburger Bildungsministerin, tritt wegen Stasi-Verstrickungen ihres Regierungschefs Manfred Stolpe zurück. O-Ton Immer deutlicher ist für mich zu spüren, dass die Demokratie, die wir neu gewonnen haben, durch die Art und Weise der Diskussion über die Vergangenheit des Ministerpräsidenten, dass dieser Demokratie schwerer Schaden zugefügt wird. Das Thema Vergangenheit wird zunehmend aus der Öffentlichkeit ausgeklammert. Autorin Für die Politikerin vom Bündnis 90 ist die Entscheidung eine Frage der persönlichen Integrität. Als Ministerin entlässt sie Lehrer, die für die Stasi gearbeitet haben. Dass ihr Ministerpräsident selbst Verbindungen zu den Mielke-Männern unterhielt, bringt sie in einen Gewissenskonflikt. O-Ton Das Thema Stasi-Kontakte Stolpe, das beherrschte damals nicht nur die Medien, sondern auch viele Gespräche im Kabinett. Woraufhin der Ministerpräsident mich zu einem Vier- Augen- Gespräch bestellt, was er heute im Übrigen abstreitet, in dem er mir gesagt hat, dass ich das nicht dürfe. Da ist ein bisschen was dran, ich bin ja als Kabinettsmitglied zur Loyalität verpflichtet. Ich hab ihm das in diesem Gespräch zugesagt, weil klar war, wenn ich nicht zusage, dann kann ich meine Arbeit nicht mehr machen, hab dann aber wenige Tage danach gemerkt, dass ich mich mit dieser Zusage überfordert habe. Autorin Viele rechnen ihr die Überzeugungstat hoch an, doch so mancher Mitstreiter ist auch enttäuscht. Das Argument, ihr Hinwerfen habe der Koalition und vor allem der begonnenen Bildungsreform geschadet, kann Birthler heute nachvollziehen. Doch letztlich sei ihr Schritt damals einzig das Ergebnis eines Ringens mit sich selbst gewesen. O-Ton Ich glaub ich wäre, wenn ich öffentlich über das Thema Ehrlichkeit in der Politik gesprochen hätte, rot geworden oder hätte angefangen zu stottern, ist auch doof. Autorin Marianne Birthler hat es nicht geschadet, ihrem Gewissen gefolgt zu sein. Ihr Rücktritt machte sie bundesweit bekannt, sie wurde Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, seit 2000 ist sie die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Ganz ähnliche Erfahrungen machte ihre FDP-Kollegin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger. Als ihre Parteigenossen sie aufgrund ihres Protestes gegen den großen Lauschangriff fallen ließen, verlas sie am 14. Dezember 1995 mit tränenerfüllter Stimme ihre Rücktrittserklärung: O-Ton Da ich aus Überzeugung diese Änderung der bisherigen liberalen Rechtspolitik ablehne, kann ich die von den Mitgliedern mehrheitlich getroffene Entscheidung nicht im Interesse der FDP glaubwürdig vertreten und umsetzen. Autorin Wie bei Marianne Birthler oder auch Gustav Heinemann, der nach seiner Demission und dem Wechsel zur SPD noch Bundespräsident wurde, bedeutete das vorzeitige Ausscheiden auch für Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nicht das Ende ihrer politischen Karriere. Heute ist sie erneut Bundesjustizministerin. So ist der Rücktritt aus Überzeugung zwar mit dem Risiko verbunden, Gestaltungsmacht für immer aus den Händen zu geben, im Gegensatz zum Rücktritt aus eigennützigem Fehlverhalten schließt er ein Comeback auf der politischen Bühne aber nicht aus. Trenner (Collage aus verschiedenen Rücktrittserklärungen Autorin 27. Juni 1993. Bei einem Terroreinsatz in Bad Kleinen werden der GSG- 9 Beamte Michael Newrzella und das RAF- Mitglied Wolfgang Grams getötet. Grams stirbt an einem Kopfschuss. Aufgrund von Zeugenaussagen und Fehlern bei der Spurensicherung bleibt die Frage, ob Grams Selbstmord beging oder getötet wurde ungeklärt. In den Medien werden beide Varianten heftig diskutiert, das Fernsehma- gazin "Monitor" spricht von "Hinrichtung". Bundesinnenminister Rudolf Seiters zieht daraufhin am 4. Juli 1993 die Konsequenzen: O-Ton Im Zusammenhang mit dem polizeilichen Einsatz in Bad Kleinen und seiner Aufarbeitung sind offensichtlich Fehler, Unzulänglichkeiten und Koordinationsmängel innerhalb von Bundesbehörden deutlich geworden. Es gibt in Deutschland zu Recht den Begriff der politischen Verantwortung. Wer soll diese politische Verantwortung übernehmen, wenn nicht ein Minister? Autorin Da ist sie wieder, die schwammige "politische Verantwortung". Monate nach dem Rücktritt kommt die Staatsanwaltschaft Schwerin zu dem Schluss, dass Grams Selbstmord begangen hat. Seiters opfert seine politische Karriere also scheinbar grundlos. Trotzdem hält er, seit 2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, seine Entscheidung von damals für richtig: O-Ton Es gab schwere Fehler bei der Spurensicherung. Und für meinen Entschluss war wichtig, dass über Nacht die Waffen, Hände und Gesichter der Toten gereinigt wurden, weil mir das unmöglich gemacht hat, die später erhobenen öffentlichen Vorwürfe Grams sei hingerichtet worden, sofort zu widerlegen. Und vor diesem Hintergrund war meine Frage an meine Mitarbeiter - wie schnell werden die notwendig gewordenen Untersuchungen abgeschlossen werden, damit wir Klarheit schaffen? Und die Antwort war: sechs Monate und dies war für mich in der Tat eine nicht akzeptable Vorstellung. Es war eine Entscheidung, die helfen sollte, mit diesen schwierigen Umständen vernünftig umzugehen. Es war einfach ein Akt der Schadensbegrenzung. Autorin Seiters, ein Karrierepolitiker, der sich seit 1969 in der CDU zielstrebig nach oben gearbeitet hatte, fiel weich. Er wurde stellvertretender Fraktionsvorsitzender, später Vizepräsident des Bundestags. Auch Willy Brandt, der wohl berühmteste Fall in der Kategorie "Rücktritt wegen Versagen anderer", bleibt nach seiner Demission noch 13 Jahre Vorsitzender der SPD. Bei ihm sichern wie bei Seiters die verbliebene Machtbasis und die persönliche Unschuld das Weitermachen an der Spitze der Partei: Ausspioniert von einem seiner engsten Mitarbeiter - dem DDR-Agenten Günter Guillaume - übernimmt der Bundeskanzler am 8. Mai 1974 die komplette Verantwortung: O-Ton Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie und auch, um meine politische Integrität nicht zerstören zu lassen. Autorin Brandt fühlt sich nicht mehr unbefangen genug, um im Verhältnis zur DDR seine Politik konsequent fortzusetzen. Auch leidet er zunehmend unter der Kritik von politischen Gegnern und internen Querelen. Er entschließt sich zum Rücktritt, obwohl dieser - wie er später in seinen Erinnerungen konstatiert - nicht zwingend notwendig war. Trenner (Collage aus verschiedenen Rücktrittserklärungen Autorin Anders der Fall Andrea Fischer: Die grüne Gesundheitsministerin des Kabinetts Schröder stellt im Januar 2001 im Zuge der BSE-Krise ihr Amt zur Verfügung: Als sie die deutsche Wurst voreilig für unbedenklich erklärt, obwohl ein Schreiben in ihrem Ministerium vor belastetem Separatorenfleisch warnt, verliert sie die Unterstützung in ihrer Partei. Am 9. Januar resigniert sie vor dem Rinderwahnsinn: O-Ton Beim Umgang mit der BSE Krise sind auch von mir in den letzten Wochen mit Sicherheit Fehler gemacht worden, das bedaure ich. Für sich genommen halte ich diese Fehler jedoch nicht für schwerwiegend genug, dass sie einen Rücktritt gerechtfertigt hätten. Dennoch habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen, weil es zu meinem politischen Selbstverständnis gehört, dass jeder für seine Versäumnisse die Verantwortung übernehmen soll. Autorin Schon die Formulierung, "ich halte diesen Fehler für nicht schwerwiegend genug" weist darauf hin, dass Fischer nicht überzeugt ist, wirklich Schuld zu haben. Dass man ihr damals den Schritt quasi aufdrängte, gibt sie heute unumwunden zu: O-Ton In meinem Fall habe ich Verantwortung für etwas übernommen, für das man prinzipiell gar keine Verantwortung hätte übernehmen müssen. Weil es gab keinen Skandal. Aber man kann schon sagen, das hat bei den Grünen dazu geführt, dass sie gedacht haben, das ist jetzt der Fall, sich des unangenehmen Gesundheitsministeriums zu entledigen. Das hat dann an diesem Tag ein Gespräch gegeben, wo ich zu dem Ergebnis kam, dass ich zurücktreten sollte. Autorin Ein abgekartetes Spiel: Die Grünen wollen das Gesundheitsministerium, mit dem sich die Partei durch das forsche Auftreten der Ministerin nur Ärger einhandelt, gegen ein typisch "grünes" Ressort tauschen. Da mit dem Rücktritt Fischers auch Landwirtschaftsminister Funke gehen muss, eröffnet sich diese Möglichkeit. Sie wird Damenopfer in einem größeren Strategiespiel. Ihre Nachfolgerin Renate Künast, die sich als neue Verbraucherschutzministerin profiliert, ist heute die unumstrittene Spitzenfrau der Grünen. Andrea Fischer dankt man ihren Rückzug nicht. Sie verliert bald darauf ihr Bundestagsmandat und arbeitet heute als Beraterin. Ihr Schicksal? O-Ton Das hat irgendwie niemanden in der Partei interessiert. Erstens sind ja Parteien keine Vereinigungen von Freunden und deswegen haben die sich auch auf eine persönliche Art gar nicht in der Verantwortung gefühlt. Das zweite ist, dass es am Anfang sicherlich auch ein paar Unsicherheiten gab, weil auch all diejenigen, die nicht beteiligt waren, spürten, da ist irgendwas nicht besonders schön gelaufen. Und deswegen fühlt man sich auch etwas unbehaglich und das führt ja dann auch immer zu ein bisschen komplizierten Verhältnissen. Autorin Fischer beobachtet heute den Politikbetrieb aus Distanz. Rekapituliert sie die Vorgeschichte ihres Rücktritts, wirkt sie erstaunlich nüchtern. Natürlich wäre sie gerne Ministerin geblieben, sagt sie, aber letztlich sei es auch ihr eigenes Versagen gewesen, dass sie sich nicht gegen die Parteigranden behaupten konnte. Das Kompliment, das die lebenslustige Frau damals häufig zu hören bekommt, sie sei keine typische Politikerin, erscheint ihr heute zweifelhaft: O-Ton Ich hätte sicher auch gut daran getan mir Unterstützung innerhalb der Partei zu suchen. Da war ich aber am Schluss auch nicht mehr richtig kampffähig, weil da hatte ich auch schon Wochen, in denen ich als die große Gefahr für die Deutschen, weil ich sie nicht vor BSE rette, durch die Presse geschickt worden war. Ich glaube, ich war entnervt. Autorin Der Politikwissenschaftler Jörn Fischer empfindet den Fall Andrea Fischer als exemplarisch. Weil er die politische Vielschichtigkeit spiegelt, die bei einem Rücktritt zum Tragen kommt. Die in der Rücktrittserklärung aufgeführten Gründe sind für ihn nur die eine, die offizielle Seite der Medaille. Minister stolpern nämlich in den seltensten Fällen ausschließlich über Fehler in ihrem direkten Einflussbereich. So übernimmt zum Beispiel Andrea Fischers Parteifreund Joschka Fischer wenig später zwar die politische Verantwortung für die Visa-Affäre, bleibt aber dennoch im Amt. O-Ton Wenn wir uns die Bedeutung der Regierungsmitglieder Andrea Fischer und Joschka Fischer vergleichen, für die sie tragenden Akteure, die Koalitionsfraktionen, aber auch die Parteien, dann ist offensichtlich, dass Joschka Fischer eine andere politische Bedeutung hatte, als dies Andrea Fischer hatte. Und genau diese Faktoren fließen natürlich ein in so eine politische Kosten-Nutzen-Rechnung. Autorin Parteien und Koalitionen wägen also bei fast jedem Kandidaten die Vor- und Nachteile eines Rücktritts ab. Wie weit sinken die Popularitätswerte, wenn er oder sie trotz Skandal im Amt bleibt? Was kostet es uns an Stimmen, wenn ein bestimmter Politiker hinwirft? Es gibt durchaus Fälle, in denen die Parteien bereit sind, die Kosten zu tragen, sagt der Journalist Pascal Beucker. Sein Lieblingsbeispiel ist Roland Koch und die hessische Parteispendenaffäre im Jahre 2000. O-Ton Roland Koch hat das Parlament belogen, er hat die Öffentlichkeit belogen, das ist nachweisbar gewesen, es gab sehr breite Rücktrittsforderungen. Aber nicht nur seine Partei hat zu ihm gehalten, sondern auch die FDP. Die Wahlen waren erst in ein paar Jahren, er konnte darauf kalkulieren, dass er möglicherweise die Wahlen wieder gewinnen kann, weil Menschen gerne schnell vergessen. Autorin Koch halfen damals verschiedene Aspekte, um sich bis zum nächsten Wahltermin wieder zu erholen: Zwar war er offensichtlich in die Spendenaffäre involviert - aber er hatte das Geld nicht privat verwendet, sondern für die Partei. Er hatte eine solide Machtbasis in der CDU und in Hessen und er hatte die Persönlichkeit, es auszuhalten für einige Zeit den öffentlichen Rücktrittsforderungen standzuhalten. So wie heute der wegen des Love-Parade-Unglücks unter Beschuss geratene Duisburger CDU-Bürgermeister Adolf Sauerland: O-Ton Man muss erstmal das Standing tatsächlich haben wie ein Adolf Sauerland nicht die Konsequenzen zu ziehen. Dazu gehört eine ganz spezielle Disposition und auch ne gewisse Dreistigkeit und Skrupellosigkeit. Beispiele: Franz Josef Strauß oder auch Roland Koch. Autorin Natürlich gibt es auch formale Regeln, die eine Rolle spielen bei Rücktritten von Politikern. Parlamente können etwa per Misstrauensvotum Ministerpräsidenten, Landesminister und Kanzler absetzen. Bundesminister hingegen werden vom Kanzler ernannt und vom Bundespräsidenten entlassen. Die "freiwilligen" Rücktritte können bei Landesministern oder Ministerpräsidenten also schlicht einem demütigenden Misstrauensvotum zuvorkommen. Bei Bundesministern hingegen ist die Situation ungleich komplizierter. Die Kommunikationskanäle sind undurchsichtiger und so kann es auch passieren, dass ein Minister - wie etwa der ehemalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping - die Zeichen der Zeit nicht erkennt: O-Ton Ein Beispiel, wo sich sowohl die Partei als auch der Kanzler deutlich distanziert haben, ist Rudolf Scharping, der es innerhalb weniger Jahre geschafft hat, ich glaube sieben Rücktrittsdiskussionen zu akkumulieren und der gegen seinen expliziten Willen als einziger in der Geschichte der Bundesrepublik dann vom Kanzler dem Bundespräsidenten zur Entlassung vorgeschlagen wurde. Autorin Eine Entscheidung, die Scharping, heute Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer allerdings nicht nachvollziehen konnte: O-Ton Ich hab dem Herrn Bundeskanzler erklärt, dass das mit meinem Verständnis nicht vereinbar ist, ein solches Amt auf der Grundlage nicht belegter Behauptungen eines Magazins beschädigen zu lassen. Autorin Aber ist es tatsächlich so, dass Ämter durch die Kritik der Medien beschädigt werden? Eine ähnliche Formulierung wählte ja auch Horst Köhler, als er in diesem Jahr völlig unvermittelt vom Amt des Bundespräsidenten zurücktrat. Dass die Medien Skandale aufdecken, Fragen stellen und Rücktrittsdiskussionen am Köcheln halten, ist ihre Aufgabe. Darüber sind sich auch die meisten Politiker einig und in der Regel halten sie diese Diskussionen auch aus. Es sei denn, es sprechen tatsächlich zu viele Faktoren für ihren Rücktritt. In diesem Fall hat dieser Schritt sogar durchaus etwas Reinigendes, meint Jörn Fischer: O-Ton Durch Rücktritte vergewissert sich eine Gesellschaft ihrer Normen. Dadurch wird quasi deutlich, dass da ein Verstoß gegen Normen gesellschaftlich sanktioniert wird und in der Regel nicht folgenlos bleibt. Und es gibt tatsächlich Forschungs- ergebnisse, die besagen, dass Rücktritte, wenn die ihnen zugrunde liegenden Verfehlungen groß genug ist, sich auch positiv auswirken auf die Popularität der Regierung. Autorin Doch nicht nur der Rücktritt wegen Verfehlungen - auch die Rücktritte von Roland Koch und Ole von Beust in diesem Jahr stärken eher den Glauben an die Politik. Wenn zwei gestandene Politiker auf dem Höhepunkt der Macht ihr Amt niederlegen, und den Platz frei machen für Nachfolger, dann hat das mehr mit Demokratie zu tun, als wenn sie an ihren Posten über den Zenit hinaus kleben würden. Was der Journalist Pascal Beucker hingegen ein wenig vermisst, ist in der Bundesrepublik Deutschland der Rücktritt aus Protest: O-Ton Er nimmt leider nicht zu. Es gibt immer nur ganz wenige Einzelfälle dass jemand, weil er von etwas überzeugt war, zurückgetreten ist. Ich zum Beispiel war überrascht, dass als Rot-Grün beschlossen hat, in den Kosovokrieg zu gehen - also zum ersten Mal wieder deutsche Soldaten in den Krieg zu schicken, dass kein einziger von diesen Politikern, die vorher immer bekundet haben wie sehr sie prinzipiell gegen Krieg sind, der Meinung war, er müsste jetzt zurücktreten, das hat mich sehr überrascht. Autorin Was sagte noch die Ex-Ministerin Marianne Birthler über ihren Rückzug von der Macht? O-Ton Es ist, glaube ich, eins der stärksten Signale die einem Politiker zur Verfügung stehen. Und insofern ist also gut, wenn dieses auch benutzt wird - auch verantwortungsvoll benutzt wird und nicht einfach so, weil es das letzte verbliebene Mittel ist, sich gegen eine Entscheidung zur Wehr zu setzen. Ein anderer, auch ehrenhafter Rücktritt ist, wenn man für ein Geschehen beispielsweise als Behördenchef wenigstens den Rücktritt anbietet. Wird manchmal auch zu selten gemacht. Also, ich finde, man hat sehr viele Privilegien an der Spitze einer Institution, man hat aber auch eine Verantwortung. Da steht man auch dafür ein, dass der Laden einigermaßen läuft. Spr. vom Dienst Zeit, zu gehen - warum Politiker zurücktreten Von Katja Bigalke Es sprach: die Autorin Ton: Inge Görgner Regie: Rita Höhne Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1