Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheber- rechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 31. März 2013, 19 Uhr 30 Der Mensch in der Robe Richter oder die emotionale Dimension des Urteilens Ein Feature von Heiner Dahl Konstantin Wecker Verehrter Herr Richter, wie halten Sie das nur aus, Tag für Tag vollkommen zu sein? O-Ton Egg Es gibt Berufe, bei denen man so etwas wie Selbsterfahrung macht. Dass man Pro- bleme, Schwierigkeiten mit einzelnen Situationen bespricht. Auch um sich selber zu vergewissern, dass man das, was man tut, richtig macht und dass man dabei nicht beschädigt wird, sondern eher reift. Die Juristerei zählt nicht dazu. Konstantin Wecker Verehrter Herr Richter, wie halten Sie das nur aus, Tag für Tag vollkommen zu sein? ... O-Ton Egg Es gibt viele Entscheidungen, da weiß man vielleicht nach dem Gesetz, was zu tun ist. Aber ob das für diesen Fall auch richtig ist, ob es gerecht ist, das steht damit ja noch gar nicht fest. Und wie man damit umgeht, das ist dann ein psychologisches Problem. Konstantin Wecker Verehrter Herr Richter, wie halten Sie das nur aus, Tag für Tag vollkommen zu sein? Sucht einer, der täglich schuldig spricht, auch manchmal Schuld bei sich allein? Sprecher vom Dienst: Der Mensch in der Robe Richter oder die emotionale Dimension des Urteilens Ein Feature von Heiner Dahl O-Ton Lorenz Wir müssen dazu kommen, ganz nüchtern die Fakten zu sehen, ganz nüchtern die Fakten auszuwerten, völlig emotionslos die rechtliche Würdigung daran zu knüpfen und dann eben ein Urteil zu machen. Sprecher Hans Lorenz. Vorsitzender Richter am Landgericht Mainz. O-Ton Drescher Da sind viele Sachen, die sich auch im Unterbewussten abspielen. Sprecher Klaus-Dieter Drescher. Vorsitzender Richter der 21. Großen Strafkammer am Land- gericht Frankfurt am Main. O-Ton Chudoba Man bemüht sich, die Emotionen nicht zu deutlich zu zeigen, weil man sich natürlich in Gefahr von Ablehnungsanträgen begibt, aber sie sind immer da. Sprecher Ulrich Chudoba, Vorsitzender Richter am Landgericht Saarbrücken. Sprecher Drei Strafrichter, die in ihrer beruflichen Welt eine Minderheit repräsentieren. Sie sprechen über psychische Belastungen, emotionale Befindlichkeiten, Schwierig- keiten bei der Suche nach Recht und Gerechtigkeit. Alle drei haben in ihrer langjähri- gen Praxis zwei wichtige Erfahrungen gemacht. Sie haben Straftaten verhandelt, die man gemeinhin "den Dreck des Lebens" nennen könnte. Sie haben Straftaten ver- handelt, die sie mit ihren Instrumenten nicht wirklich umfassend bewältigen konnten. Konstantin Wecker: Verehrter Herr Richter, wie halten Sie das nur aus, Tag für Tag vollkommen zu sein? Sprecher Der Rechtspsychologe Rudolf Egg, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden weiß um hohe psychische Belastungen von Strafrichtern. Er sagt, sie wären gut beraten, sich diesen Problemen mit Hilfe von Stressexperten zu öffnen. Aber mit diesem Anliegen ist er bisher auf Widerstand gestoßen. Die große Mehrheit der Strafrichter würde lieber als unerschütterliche und unbeeinflussbare Einzelkämp- fer gelten. O-Ton Egg Das ist ja das Problem, dass man das als Stärke ansieht, ich kann das aushalten. Ich kann im Gerichtssaal die schwersten Verbrechen anhören und spreche dann doch noch unabhängig Recht. Ich kann das Weinen, das Zusammenbrechen von Opfern aushalten, etwa jetzt bei diesem NSU-Prozess mit dieser fürchterlichen Mordserie, die da in München verhandelt ist. Das muss eine hohe Belastung sein. Das ist gar nicht denkbar, dass man das nur völlig neutral, als hätte man als Mensch damit gar nichts zu tun, auffasst. Aber wenn man so einen emotionalen Panzer um sich aufbaut und sagt, das greift mich gar nicht an, dann mag das für den ersten Moment hilfreich sein, aber auf lange Sicht gesehen, kann es eben doch zu Problemen führen. Und im Übrigen, kann es auch die sachliche Entscheidung, die ja zu treffen ist, ungünstig beeinflussen. O-Ton Bericht Prozess aus dem off Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass 11 der 12 Angeklagten gemeinschaftlich gehandelt haben, dass sie als sogenannte Tosa-Gemeinschaft für den Tod des klei- nen Pascal und den sexuellen Missbrauch von Pascal und seinem Spielkameraden Kevin verantwortlich sind. Für die Verteidigung steht hingegen fest, dass nichts ge- schehen ist, was den Mordvorwurf und den Vorwurf des schweren Missbrauchs rechtfertigen würde. Sprecher Richter Ulrich Chudoba hat bei seinem aufregendsten Fall, über den die Medien aus- führlich berichteten, leidvolle Erfahrungen gemacht. Der Mammutprozess zum Mord- und Missbrauchsfall Pascal ging über mehr als drei Jahre mit 147 Sitzungstagen und fast 300 Zeugen. O-Ton Chudoba Wenn Kinder betroffen sind, sind das Dinge, die einem emotional natürlich mehr be- lasten. Und je schlimmer die Vorwürfe sind, die bestimmten Angeklagten gemacht werden, was sie Kindern angetan haben sollen, desto mehr belastet einen das auch. Sprecher Ulrich Chudoba hatte alles versucht, um den sexuellen Missbrauch und das Verschwinden Pascals aufzuklären. Der Prozess wurde zeitweise zu seinem Lebens- inhalt. Mehrfach musste er ihn unterbrechen, weil er krank wurde. Öffentlich zeigte er sich dennoch unbeeindruckt. Erst nach Ende des Prozesses gab er zu Protokoll, das Verfahren habe ihn traumatisiert. O-Ton Chudoba Wenn Sie drei Jahre verhandeln, freigestellt sind für ein solches Verfahren und also drei Jahre an praktisch nichts anderes denken, dann geht man mit dem Gedanken an das Verfahren ins Bett und steht morgens damit auf. Da ist es fast nicht möglich, da irgendwie noch mal en richtigen Abstand zu bekommen. Das ist schon belastend. Sprecher Der Prozess wurde zum Musterfall einer Horrorgeschichte zwischen Wahn und Wirk- lichkeit. Die Staatsanwaltschaft präsentierte zunächst eindeutige Ermittlungsergeb- nisse. Die Hauptangeklagten gestehen. Im Prozessverlauf veränderten sich Gewiss- heiten dramatisch. Nach über drei Jahren endete der Pascalprozess ohne schlüssi- ges Ergebnis. O-Ton Bericht-Prozess Die Kammer war nicht von der Unschuld der Angeklagten überzeugt, im Gegenteil. Höchstwahrscheinlich so Richter Chudoba, seien die Taten begangen worden, vieles spräche dafür, dass sie sich so abgespielt haben, wie in der Anklage formuliert. Die Anklage stützte sich auf Zeugenaussagen, die alle in der Hauptverhandlung widerru- fen wurden. Objektive Beweise wie Blut-oder DNA-Spuren konnten die ermittelnden Behörden nicht vorlegen, auch die Leiche des Kindes bleibt bis heute verschwunden. Sprecher Weil Chudoba selbst Zweifel geblieben waren, musste er die Angeklagten freispre- chen. Er wusste, er durfte nicht nicht urteilen. Also sprach er ein Urteil, wie es von ihm lehrbuchmäßig verlangt wurde. O-Ton Chudoba Ich hab ne ganze Reihe von Fällen, wo wir freigesprochen haben, wo ich eigentlich der Meinung bin, höchstwahrscheinlich waren sie's trotzdem. Insoweit haben wir na- türlich die Regel: Im Zweifel für den Angeklagten, das hilft einem auch dabei, damit zurechtzukommen, dass man eigentlich letztlich nie genau hinter die Wahrheit kommt. Sprecher Ulrich Chudoba fällt es immer noch schwer, darüber zu sprechen, ob und gegebe- nenfalls wie er heute noch darunter leidet, dass ihn sein aufregendster Strafprozess emotional nicht entlasten konnte. Nur wie es damals war, kann er sagen. O-Ton Chudoba Da habe ich an nichts anderes mehr gedacht. Und nach Verkündung des Urteils, ich war nur noch froh, dass es vorbei war. Ich hatte schon seit Jahren vorher gesagt, an dem Tag, wo ich das Urteil verkünden werde, werde mich besaufen, aber nach Ver- kündung war ich derart platt, ich bin nur noch nach Hause gegangen, hab alle Viere von mir gestreckt und war nur froh, dass es vorbei war. Sprecher Richter Chudoba ist davon überzeugt, dass er aus der Stresssituation nicht unbe- schadet herausgekommen ist. Wirklich abschließen konnte er den Prozess damals nicht. Denn statt Rechtsfrieden herzustellen, erzeugte sein Urteil Tumulte im Ge- richtssaal und ein mediales Scherbengericht in der Öffentlichkeit. Über zwanzig Me- dienteams berichteten mehr über heftige Auseinandersetzungen im Gerichtssaal als über schwierige Beweis- und Schuldfragen. Zurückblickend kann Chudoba jene ver- stehen, die nicht nur den Staatsanwalt und die Verteidiger kritisierten, sondern auch ihn - als einen Richter, der sich selbst zu oft ins Licht gesetzt hat. O-Ton Chudoba Je größer der Medienandrang ist, je größer ist auch die Versuchung als Vorsitzender vielleicht besonders originell wirken zu wollen, oder en bisschen Schau in der Sitzung zu machen. Wahrscheinlich spielts durchaus in der Verhandlungsführung ne gewisse Rolle, auch wie man sich halt selbst darstellen will. Sprecher Gerichtsprozesse finden in der Öffentlichkeit statt, nicht für die Öffentlichkeit. Im Pas- calverfahren wurde dieser Grundsatz massiv verletzt. Die Medien spielten dabei die schlechteste Rolle. Der Boulevard attackierte die Angeklagten mit dumpfen Parolen, sogenannte seriöse Medien traktierten Richter Ulrich Chudoba mit verletzenden An- würfen. Der versuchte, seine missliche Situation zu verbessern. Indem er seinem Urteil hinzufügte, es sei höchstwahrscheinlich, dass die Angeklagten die Täter seien, leider handele es sich aber um einen juristischen Grenzfall. War es ein Zugeständnis an die medial aufgeheizte Stimmung in der Öffentlichkeit, die von der Schuld der Angeklagten überzeugt war? O-Ton Kepplinger Wir sehen, dass Richter, die sich unter diesem Druck sehen, unter dem Druck der Öffentlichkeit, bei der Urteilsformulierung, bei der Präsentation des Urteils, sehr wohl an die mögliche Reaktion der Öffentlichkeit denken. Man kann also davon ausgehen, dass sie sozusagen die Formulierung und auch den Tenor des Urteils so abfassen, dass sie nicht zusätzlich in die öffentliche Kritik geraten. Sprecher Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat mehrere Studien über äußere Einflüsse auf Strafprozesse gemacht. Seine Befunde wider- sprechen eklatant der im allgemeinen Bewusstsein immer noch vorhandenen Vor- stellung, der Gerichtsaal sei der Ort reiner Wahrheitsfindung und der Richter sei die nur neutrale unbeeinflussbare Instanz. O-Ton Kepplinger Es gibt eine ganz klare statistische Beziehung zwischen der Menge der aufgenom- menen negativen Beiträge über das Verfahren, dem Ausmaß des Ärgers, den Richter empfinden und der Überzeugung, dass dieses alles sich auch auf die Höhe des Strafmaßes auswirkt. Sprecher Professor Kepplinger hat seine letzte Studie mit 1383 Teilnehmern anonym angelegt. Unter dem Titel "Die Kunst der richterlichen Entscheidungsfindung", eine Befragung von Strafrichtern" kam dabei allzu Menschliches heraus. O-Ton Kepplinger Wenn die Kritik groß ist, dann sind die Richter der Überzeugung, dass die Gründe ihres Handelns von den Medien nicht richtig dargestellt werden und auf dieser aus ihrer Sicht unzureichenden und irreführenden Darstellung reagieren sie mit ausge- sprochenem Ärger. Und anstatt nun sich der Berichterstattung mehr oder weniger zu entziehen, führt dieser Ärger dazu, dass sie sich noch intensiver mit der Bericht- erstattung befassen. Das ist ein Kreislauf, der sich selbst verstärkt. Das zweite ist: Die Richter sehen oder sie glauben zu sehen einen Einfluss der Medien auf die Pro- zessbeteiligten im Gerichtssaal vor allem auf die Laien, auf die Täter, auf die Opfer, auf Zeugen. Der Einfluss, den sie auf die Professionskollegen wahrnehmen, den hal- ten sie für gering. Sprecher Mathias Kepplinger hat mit seiner Studie herausgefunden, sehr viele Strafrichter ver- folgen die Medienberichterstattung über ihre Verfahren ganz gezielt. Ein allzu ver- ständlicher Befund. Strafrichter stehen unter besonderer Beobachtung der Öffent- lichkeit. Wie kaum jemand sonst entscheiden sie über anderer Leute Lebensschick- sale. Konstantin Wecker Verehrter Herr Richter, wann sind sie jemals nackt zu sich? Andere entkleiden Sie doch dauernd öffentlich. Sie allein wären ja gar nicht so fürchterlich. Aber leider hat ihr Urteil so viel Macht hinter sich. Sprecher Was tun als Richter, wenn sich vermeintliche Fakten als nicht als beweisfest heraus- stellen? Wenn sich Tatsachen zu vielen möglichen Varianten von Tatsachen ver- flüchtigen? Wenn sich Verbrechen nicht aufklären lassen, sondern nur unüber- schreitbare Grenzen der Aufklärung deutlich werden? Was tun als Richter, wenn man dann nicht der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen kann, sondern Zweifel, Unsicher- heit und Irrtum aushalten muss? O-Ton Lorenz Man geht ja immer davon aus, wenn die Staatsanwaltschaft ne Anklageschrift macht, dass das dann auch im Wesentlichen richtig ist. Und da war meine Befindlichkeit, meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Angeklagten verurteilt werden, viel- leicht sogar dazu zu bringen, dass sie ein Geständnis ablegen. O-Ton Bericht Wormser Kinder Das ist ein ungewöhnliches Verfahren, dass uns für lange Zeit aneinander bindet. Mit diesen Worten eröffnete der Vorsitzende Hans E. Lorenz den Prozess gegen die sie- ben Frauen und sechs Männer, die von März bis November 1993 Kinder in Worms massenhaft missbraucht haben sollen. Sprecher Richter Hans Lorenz musste mehrere Strafprozesse wegen sexuellen Missbrauchs Wormser Kinder mit Freisprüchen beenden. Die angeklagten Eltern waren erwiese- nermaßen unschuldig. Davor lagen drei Jahre nervenaufreibender Scharmützel zwi- schen Staatsanwälten und Verteidigern im Gerichtssaal. Mittendrin Hans Lorenz und seine Richterkollegen. Die Medien berichteten. O-Ton Worms Man kann auch zu einer Entscheidung ja sagen und nein Handeln mit diesen har- schen Worten kommentierte der Richter einige Anträge der 21 Verteidiger, die die geplante Videobefragung fasst verhindert hätte. Friderizianisches Verhalten warf einer der Verteidiger dem Richter vor. Der Ton wird wieder rauer. O-Ton Lorenz Die schwierigste Phase war die, als wir selber mit uns einen Konflikt austragen muss- ten, auch unter hoher physischer und nervlicher Belastung, wir haben ja in diesen Prozessen dreimal die Woche von morgens bis abends getagt, mit vielen Verteidi- gern, nahezu tagtäglich gab es Krach, gab es Konflikte, gab es Auseinandersetzun- gen zwischen der Staatsanwaltschaft und den Verteidigern oder den Nebenklägern und den Sachverständigen usw. usf. Das war keine leichte Zeit. Sprecher Staatsanwälte wollen als "objektivste Behörde der Welt" gelten, die akribisch genau prüfen, ob sie jemanden der Belastung eines Strafverfahrens aussetzen. Im Durch- schnitt wird dann auch zu gut 90 Prozent verurteilt. Dieser hohe Wert wurde beim "größten Missbrauchsprozess der deutschen Rechtsgeschichte" ad absurdum ge- führt. Die Staatsanwälte hatten trotz fehlerhafter Ermittlungen und widersprüchlicher Sachverständigengutachten 25 Eltern und Verwandte von 16 Kindern wegen sexuel- len Missbrauchs angeklagt. Das anschließende Strafverfahren wurde zum rechtli- chen Albtraum. Die Staatsanwälte hatten nicht gemerkt, dass ein Kind noch nicht geboren war, als es angeblich missbraucht worden sein sollte. Sie hatten nicht ge- merkt, dass Kinder von bereits inhaftierten Personen von diesen nicht mehr miss- braucht werden konnten. Auf dieser "Grundlage" wurde das "objektive Suchen nach Wahrheit und Gerechtigkeit" zu einem irrationalen "Kampf ums Recht." O-Ton Lorenz Ich hab dann auch immer versucht, so verschiedene Methoden anzuwenden, um zu testen, mit welcher ich am weitesten komme, wenn die sich angebrüllt haben, habe ich auch mal reingebrüllt oder ich habe mal die Sitzung unterbrochen und habe ge- sagt: Kloppt euch draußen. Wenn ihr wieder ruhig seid, sagt ihr Bescheid, dann ma- chen wir weiter. Also in einem solchen Prozess werden alle Spielarten gespielt, und wird dem Richter alles abverlangt, das ist so. Sprecher Hans Lorenz ist davon überzeugt, er hat die Wormser Prozesse nur deshalb mit einem Freispruch für alle Angeklagten beenden können, weil er trotz aller hitziger Aufgeregtheiten im Gerichtssaal selbst ganz kühl geblieben war. Sein Urteil sei nur möglich gewesen, weil er immer nach den Regeln rein rationaler Erkenntnisse vor- gehe. O-Ton Lorenz Ich kann von mir aus sagen, dass ich in der Lage bin, mich von Emotionen, die natür- lich auch ich habe, wenn wir in das Entscheidungsstadium kommen, völlig frei zu machen. Sprecher Verschiedene wissenschaftliche Studien sind sich in einem einig: Kein Richter kann heute darauf beharren, die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit sei absolut sicher vor störenden Einflüssen. O-Ton Englich Wenn es so wäre, dann müsste man sich ja fast fragen, warum dann Urteile nicht errechnet werden oder über Computer generiert werden. Das werden sie ganz be- wusst nicht und das ist auch ein Herzstück der Juristerei, dass hier eben Menschen urteilen. Und in dem Moment, wo das aber so ist, können hier eben auch menschli- che Schwächen im Bereich der Beeinflussbarkeit, natürlich auch auftreten und dann ist es einfach ne Verantwortung, sich damit halt auseinanderzusetzen. Sprecher Birte Englich, Professorin für angewandte Sozialpsychologie und Entscheidungsfor- schung. Ihre Studien zur Psychologie richterlicher Entscheidungsfindung weisen zahlreiche Beeinflussungen nach. Ist das standesübliche Rollenverständnis der Rich- ter, sie seien ganz und gar nicht wie juristische Laien beeinflussbar also im Kern un- glaubwürdig? O-Ton Englich Natürlich ist es etwas, was Juristen sich selber nicht gerne eingestehen, dass das bei ihnen natürlich genauso funktioniert. Es gibt verschiedene Schutzfaktoren, beispiels- weise die Expertise, die berufliche Erfahrung, formalisierte Abläufe vor Gericht, aber trotzdem auch in diesen formalisierten Abläufen gibt es natürlich immer Entschei- dungsspielräume, und das sind genau die Bereiche, in denen eben auch psychologi- sche Einflüsse jedweder Art durchaus ne Rolle spielen. Sprecher Unbeteiligte Prozessteilnehmer, die Richter im Gerichtssaal erleben, sprechen oft davon, wie problemlos man deren mitschwingende Emotionen erkennen kann: Un- geduld, Ärger und Antipathie genauso wie Geduld, Freude und Sympathie. O-Ton Englich Es fängt ja schon einfach damit an, in welcher Stimmung oder in welchem Zustand der Richter in den Gerichtssaal kommt. Es gibt eine sehr schöne Studie, dass die Art des richterlichen Richtens oder die Strenge der Urteile auch durchaus davon ab- hängt, ob der Richter oder die Richterin gerade etwas gegessen hat. Sprecher Strafrichter sind auch nur Menschen. Für Birte Englich sagt der banale Satz einiges aus. Genau wie Menschen in anderen Berufen regen sich Richter in Prozessen auf, sind gestresst, hellwach, müde, hegen für ihre Probanden mal Sympathien und mal Antipathien. Ihre körperliche und geistige Verfassung ist wie bei jedem anderen Men- schen eng mit ihren Gefühls- und Verstandeszuständen verknüpft. Und damit auch offen für äußere Einflüsse. Dass daraus auch Irrtümer und Fehler mit schlimmen Fol- gen entspringen können, steht für Birte Englich zweifelsfrei fest. Weil das am ange- strebten Idealziel "richtiges und gerechtes Urteil" kratzt, will kaum ein Strafrichter da- rauf eingehen. O-Ton Englich Es ist nicht so, dass jeder Urteilseinfluss, jeder mögliche Urteilsverzerrung, die man kennt, dass man die deswegen auch korrigieren könnte. Man kann zeigen, dass Kor- rektur von Urteilen, um bestimmte Einflüsse wieder aus seinem Urteil herauszube- kommen, dass das ein ganz komplexer, aufwendiger Prozess ist. Man braucht dafür Motivation, das überhaupt zu wollen, man braucht Zeit dafür, man braucht überhaupt die Information, dass hier etwas verzerrt sein könnte und man braucht die richtigen Methoden, um solche Verzerrungen herauszubekommen und man braucht auch Wissen darüber, wie stark diese Verzerrung ist, und das sind natürlich Faktoren, die allesamt nicht immer gegeben sind. Sprecher Viele Studien belegen, dass Richter Gesetze subjektiv unterschiedlich anwenden und dabei auch subjektiv unterschiedliche Wertvorstellungen einbringen. Den Zwie- spalt zwischen diesem Verhalten und der tradierten Vorstelllung vom Urteilen auf- grund objektiv-rationaler Erkenntnisse müssen Richter überbrücken. Ihre vermeintlich rationale Rechtsprechung erscheint zu einem Gutteil auch als formalisierte Emo- tionsverarbeitung. O-Ton Drescher Wir müssen halt entscheiden: Top oder Top. Und wenn es dann nicht ausreicht, dann reicht es nicht aus und dann muss man das einfach abhaken und sagen: Gut, wir haben die Überzeugung nicht gewinnen können, weil zu viele Zweifel waren und wenn diese Zweifel waren, dann kann ich nicht sagen: wahrscheinlich war er es eben doch. Und damit kann man auch leben, denke ich. Sprecher Klaus-Dieter Drescher hat als Vorsitzender Richter einer Frankfurter Schwurgerichts- kammer ständig über emotional schwierige Fälle zu urteilen. O-Ton Bericht Seit der Kannibalismusfall bekannt geworden ist wurde das beschauliche Fachwerk- städtchen von Journalisten nahezu gestürmt. Sprecher Unter all seinen Prozessen von Mord und Totschlag ragt der gegen den sogenannten "Kannibalen von Rotenburg" bis heute mit Abstand heraus. O-Ton Bericht Prozess Es ist der außergewöhnliche Fall das eine Tat minutiös festgehalten worden ist. In Ton und in Bild. Jede einzelne grauenvolle Sequenz. Erst die Zärtlichkeiten, dann die Abtrennung des Penis, später die Tötung und schließlich wie ein Mann einen ande- ren geschlachtet hat. Sprecher Kann man als Richter eine solche Tat emotional unberührt beurteilen? O-Ton Drescher Es war einfach, ja, der Versuch, ja was ist das für ein Mensch, wie können wir mit dem umgehen, und die inneren Spannungen sind in so nem Fall möglicherweise, ja, vielleicht, sogar weniger als ma´s woanders haben könnte, einfach dadurch, dass das so jenseits der bisherigen Vorstellungswelt war, dass das dann einfach viel leich- ter zu abstrahieren war. Sprecher Abhaken und abstrahieren. Auch Klaus-Dieter Dreschers richterliches Selbstver- ständnis baut auf rationale Stabilität. Als Mensch sei er konsterniert gewesen über eine Tat, die allgemein als Ausbund menschlicher Niedertracht bezeichnet wurde. Wie konnte er sie dann als Richter rational und unvoreingenommen behandeln? O-Ton Drescher Ich denk, das gehört zu unserem Beruf, dass wir jederzeit bereit sind, das einfach immer wieder an der Wirklichkeit zu messen, an dem, was da auf uns zukommt und, gut, ja, auch, vielleicht Sachen, die man zunächst für kaum möglich hält, haben den Anspruch so professionell wie´s irgendwie geht, dann auch ja abgewickelt zu werden, muss man in dem Fall schon fast sagen. Sprecher Kein Strafprozess verläuft nur kühl und sachlich. Im aufgeheizten Klima eines Straf- verfahrens gibt es für Richter emotionsgeladene Situationen zuhauf: scharfzüngige Attacken von Staats- und Rechtsanwälten, Stress mit Zeugenaussagen, Ärger über Unaufklärbares, Lust auf Vergeltung, Leid mit Opfern und vieles mehr. All das umso intensiver bei Prozessen, die abscheuliche Verbrechen zum Gegenstand haben. Richter versuchen davon unbeeindruckt zu erscheinen. Aber ihr Wunsch nach "Ra- tionalisierung durch Verfahren" erfüllt sich nur oberflächlich. Auch bei Klaus-Dieter Drescher bleibt sprachlich wahrnehmbar, was er weitgehend verdrängt. O-Ton 27 Drescher Ich hab, Gott sei Dank, ne halbwegs stabile Psyche, im Moment jedenfalls noch, ich denk, sonst könnte man diese Arbeit auch nicht machen. Also wenn Sie als Vorsit- zender einer Schwurgerichtskammer nicht ne halbwegs stabile Psyche haben, dann sind Sie für den Job auch nicht geeignet, weil man es dann nicht schafft. Sprecher Der Gerichtssaal wird auch als "Ort des Schmerzes der Gesellschaft" bezeichnet. Gleichwohl versuchen Strafrichter ihre emotionale Belastung zu bewältigen, indem sie den Mörder, den Räuber, den Vergewaltiger so behandeln wollen wie Chirurgen die Patienten. Ähnlich wie diese nicht gut operieren könnten, wenn sie mit ihren Pa- tienten mitleiden würden, verhalten sich auch Richter. Sie tun so, als kämen sie ohne Emotionen aus. Aber anders als medizinisch helfen, heißt verurteilen, dem Täter auch Übel zufügen. Weil beides ohne Emotionen nicht geht, leben Richter beruflich in einem Zustand "emotionaler Bilanzfälschung." O-Ton 28 Drescher Wir machen im Jahr 10, 15, 20 Urteile und da sind natürlich so Sachen für uns letz- ten Endes, ja Routine jetzt, was den Ablauf der Urteilsbegründung und der Urteils- verkündung angeht, so dass wir da sicher die Emotionen weitestgehend auch außen vor lassen, weil zu sehr von Emotionalität getragenes Verhalten in der Schwurge- richtskammer, da können se des auf Dauer nicht machen, das geht nicht, da gehen se an ihren eigenen Emotionen kaputt. Sprecher Juristen kennen das Bonmot: Im Zweifel hilft ein Blick ins Gesetz. Wenn Strafrichter das zum Thema Emotionen tun, finden sie genügend beispielhafte Anhaltspunkte. Das Strafrecht ist voll davon. "Mordlust, Habgier, Triebbefriedigung, Gewalttätigkeit, Böswilligkeit, Verächtlichmachen, Notwehrexzesse" und vieles mehr hat darin seinen Platz. Es kann gar nicht anders sein. Strafrechtstatbestände typisieren menschliches Verhalten. Strafrichter geben nur nebenbei preis, dass Emotionen auch in ihrem be- ruflichen Dasein eine Rolle spielen. Zum Beispiel bei Beförderungen und Auszeich- nungen. Da würdigen sich Richter gerne als "glühende, leidenschaftliche Verfechter des Rechts", als "unermüdliche Kämpfer für das Recht", mit "ausgeprägtem Gefühl für Gerechtigkeit." Kann bei Richtern im beruflichen Alltag einfach ausgeblendet sein, was sie sich in Festlaune hoch anrechnen? Wenn es so wäre, wären sie für den Rechtspsychologen Rudolf Egg nicht mehr wirkliche "Menschen in der Robe." O-Ton 29 Egg Es ist eine Fiktion zu glauben, dass es Menschen geben kann, die völlig neutral, ge- wissermaßen wie eine Maschine Entscheidungen nur nach Recht und Gesetz treffen, ohne dass da auch so was wie Eigenbeteiligung, Menschlichkeit, Emotionen eine Rolle spielen. Sprecher Richter entscheiden nicht nur über Recht und Unrecht. Sie werden ständig in emotio- nale Zwiespälte verstrickt. Etwa bei Differenzen zwischen dem Gesetz und eigenen Wertvorstellungen. Oder wenn ihre prozessualen Instrumente - etwa bei Beweis- erhebungen - einfach nicht ausreichen. Wenn sie "wider besseres Wissen" urteilen müssen. Konflikte damit sind allein rational nicht zu lösen. Sie benötigen auch eine lebendige emotionale Auseinandersetzung. Die formalistische Strafprozessordnung bietet Richtern dafür keine adäquaten Ausdrucksmittel. Das zuzugeben ist schwierig. Sich damit abzufinden ist keine Lösung. Richter müssen aktiv gegen diese Leerstelle in ihrem Beruf vorgehen. Zum Beispiel, indem sie sich in Selbsterfahrungsgruppen oder in angeleiteten Schulungen dafür sensibilisieren und darüber austauschen. Am guten Ende sollten Richter offensiv kommunizieren können, dass sie nicht jeden Pro- zess optimal führen und beenden. Dass sie gleichwohl als Person dafür die volle Verantwortung übernehmen können. Und nicht wie heute allzu oft hinter einem Schutzwall aus Paragraphen verblassen. O-Ton 30 Egg Die Richter als Personen sollen in den Hintergrund treten. Irgendwie sind sie sozu- sagen als Personen gar nicht präsent. Aber natürlich bestehen sie ja nicht nur aus dem Kopf, sondern aus Fleisch und Blut aus ner Seele, die da mit empfinden. Das kann man nicht völlig ausblenden. Im Gegenteil, wenn man das unterdrückt - so würde ich als Psychologe sagen - dann kommt das sozusagen durch die Hintertüre rein, etwa als psychosomatisches Problem. Und von daher wäre es schon sinnvoll, man würde bei bestimmten gerichtlichen Entscheidungen, eine Möglichkeit schaffen, die den Einzelnen hilft damit besser emotional psychisch umzugehen, als nur durch bloßes Aushalten. Sprecher vom Dienst: Der Mensch in der Robe Richter oder die emotionale Dimension des Urteilens Ein Feature von Heiner Dahl Es sprach: Joachim Schönfeld Ton: Ralf Perz Regie: Beate Ziegs Redaktion: Constanze Lehmann Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014 1