Deutschlandradio Kultur - Zeitreisen Der Universalgelehrte aus dem Hinterhof Europas Anke Wilde und Ute Zauft Regie: Musik: Moskva maijskaja (sowjetisches Arbeiterlied, Komposition: 1937, Aufnahme: 1959) O-Ton 1: Valery Lunin (russisch) Übersetzer: Als ich noch ganz klein war, wollte ich unbedingt studieren. Mein Vater war gerade erst aus dem Krieg zurückgekehrt. Er sagte: Immer mit der Ruhe, bald wirst du in der Schule erfahren, wie ein junger Mann aus Archangelsk aus eigener Kraft ein schlauer und bedeutender Mann wurde. Ich war gerade mal sechs Jahre alt und kannte Lomonossow noch nicht. Aber ich dachte mir, gut, dann gehe ich zur Schule, damit ich auch was lerne. Und je älter ich wurde, je mehr ich darüber erfuhr, welche Bedeutung Lomonossow für die Chemie hat, umso mehr wurde er für mich zum Symbol für die Geburt der Wissenschaft in Russland. Lomonossow ruft bei mir ein Gefühl von Stolz hervor. Sprecher Valery Lunin, Dekan der Fakultät für Chemie an der Lomonossow-Universität in Moskau. Regie: Musik: Moskva maijskaja (Komposition: 1937, Aufnahme: 1959) Sprecherin Lunin erinnert sich noch heute, wie ihm sein Vater die Geschichte von jenem Bauernjungen erzählte, der sich auf eigene Faust nach Moskau aufmachte, um dort zum ersten Mal eine Schule zu besuchen. Der ältere Herr spricht liebevoll und stolz über Michail Wassiljewitsch Lomonossow. Sprecher Lomonossow war nicht nur Chemiker, sondern auch Physiker, Mineraloge, Historiker, Sprachwissenschaftler und Dichter, der erste Universalgelehrte Russlands, Mitbegründer der Moskauer Universität - ein Nationalheld. O-Ton 2: Valery Lunin (russisch) Übersetzer Alle Universitäten in den Ländern der früheren Sowjetunion, auch in Zentralasien, im Kaukasus und im Baltikum feiern den 300. Geburtstag von Lomonossow. Sprecher: Allein die Moskauer Staatliche Universität, die nach Lomonossow benannt ist, wartet mit 100 Veranstaltungen anlässlich seines Jubiläums auf, darunter: Olympiaden für Nachwuchswissenschaftler, zahlreiche Konferenzen und studentische Expeditionen, die sich auf Lomonssows Spuren begeben. Symbolträchtiger Höhepunkt ist im November der Start eines Satelliten, der unter Lomonossows Namen die Erde umkreisen soll - natürlich zu Forschungszwecken. Atmo Freiberg: Glocken am Rathausplatz, Schritte über Kopfsteinpflaster Sprecherin: Freiberg: Eine Stadt in Sachsen, schmucke Patrizierhäuser mit steilen Dachstühlen, in denen früher das frisch geschöpfte Papier zum Trocknen hing. Eine Gasse mit Kopfsteinpflaster, der Blick fällt auf ein gedrungenes Haus, an dessen Wand eine kleine Tafel angebracht ist. O-Ton 3: Norman Pohl Wir stehen in der Fischergasse in Freiberg, die früher einmal Lomonossow-Straße hieß, vor dem Grundstück, auf dem vorher das Labor gestanden hat, in dem Lomonossow hier in Freiberg gearbeitet hat. Lomonossow war von der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg zum Studium nach Deutschland delegiert. Er hat allgemein als Student in der Uni Marburg zunächst Naturwissenschaften, Philosophie und allgemeine Lebensführung gelernt, ein typisches Studentendasein des 18. Jahrhunderts. Und nachdem in Marburg die theoretischen Anfangsgrundlagen gelegt waren, ist er in das Montan-Revier Sachsens nach Freiberg gesandt worden, um sich hier zu vergewissern, wie die Theorie in der Praxis angewandt wird. Sprecher: Norman Pohl, Wissenschaftshistoriker. Er hat den Weg Lomonossows im sächsischen Freiberg rekonstruiert. Sprecherin Michail Lomonossow kommt 1736 als Austauschstudent nach Deutschland, aus einem Land, in dem die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt. Erst wenige Jahrzehnte zuvor hat Zar Peter der Große seinem Reich einen rigorosen Wandel verordnet. Das Land soll sich europäisieren, der Erbadel wird abgeschafft. Wer seinen Titel behalten will, muss Dienst am Staat tun - in der Armee, in der Verwaltung oder in der Wissenschaft. Da, wo die Newa in die Ostsee mündet, über Sümpfen und den toten Leibern Tausender Leibeigener, lässt er eine neue Stadt erstehen: Sankt Petersburg. Wichtiger Baustein seines Reformwerks: die Akademie der Wissenschaften. Angeregt durch den deutschen Aufklärer Gottfried Wilhelm Leibniz, soll sie seine Reformen krönen und nimmt 1725 ihren Betrieb auf. Regie: Musik: Chandoschkin, Sonate für Violine solo G-Moll, Op. 3, No 1: I Marcia Maestoso Sprecherin Zur gleichen Zeit wächst im hohen Norden Russlands ein Junge auf. Lomonossow ist der erstgeborene Sohn eines Bauern. Das Klima nahe dem Polarkreis ist rau. Lomonossows Vater sichert mit Fischfang den Unterhalt seiner Familie. Ein benachbarter Bauer bringt dem jungen Lomonossow Lesen und Schreiben bei. Mit 13 ist er stolzer Besitzer dreier Bücher: einer slawischen Grammatik, einer Arithmetik und eines Buches mit Psalmen - Schriften, die er immer wieder aufs Neue verschlingt. O-Ton 4: Peter Hoffmann Er hat sehr früh Lesen und Schreiben gelernt, sein Vater war Analphabet, und schon als 14-, 15- Jähriger hat er bei Beurkundungen von Handelsoperationen für die schreibunkundigen Kaufleute die Unterschrift geleistet. Sprecher: Peter Hoffmann, Historiker und Lomonossow-Biograf. O-Ton 5: Peter Hoffmann Da von Cholmogory aus, von der Heimat Lomonossows aus, jedes Jahr Karawanen mit Frostfisch nach Moskau gingen, und auf dem Rückweg brachten die dann Waren nach Archangelsk, ist anzunehmen, dass er recht gute Informationen darüber hatte, was in Moskau vorgeht. Sprecherin Sein Weg als Fischer und Handelsmann scheint vorgezeichnet, doch Lomonossow will mehr. Als sein Vater ihn verheiraten will, ergreift er die Flucht: Mit 19 macht er sich auf ins tausend Kilometer entfernte Moskau. Sein Ziel: eine Klosterschule. An der Spasski-Schule gibt er sich als Sohn eines Adligen aus, denn als Sohn eines Bauern und Fischers hätte er nicht studieren dürfen. Da er kein Latein kann, wird der junge Mann in die erste Klasse gesteckt. Jahre später erinnert er sich in einem Brief: Zitator: Als ich in der Spasski-Schule lernte, drangen auf mich von allen Seiten übermächtige Anfechtungen ein, die eine fast unwiderstehliche Kraft besaßen. Auf der einen Seite sagte der Vater, daß ich als sein einziger Sohn ihn verlassen und all den Wohlstand aufgegeben habe, welchen er für mich im Schweiße seines Angesichts erworben hatte. Auf der anderen Seite stand unsägliche Armut: bei einem Stipendium von drei Kopeken pro Tag fiel für meine Ernährung täglich nicht mehr als eine halbe Kopeke für Brot und eine halbe Kopeke für Kwass ab, das übrige ging für Papier, Schuhe und die sonstigen Bedürfnisse drauf. So lebte ich fünf Jahre lang und gab die Wissenschaften nicht auf. Auf der einen Seite schrieb man mir, dass vortreffliche Leute von dort mir ihre Töchter zur Frau geben würden; auf der anderen Seite schrien die Schulkinder und kleinen Gören, indem sie mit dem Finger auf mich wiesen: ,Seht doch, was für ein Dummkopf da gekommen ist, noch mit zwanzig Jahren Latein zu lernen!' Sprecherin: Innerhalb von anderthalb Jahren schließt er die ersten vier Klassen ab, und noch bevor er die Mittelstufe abschließt, kommt ein Ruf aus St. Petersburg: An der neu gegründeten Akademie der Wissenschaften mangelt es an Nachwuchs. 1735 ist Lomonosow einer von zwölf Schülern, die von der Spasski-Schule nach Petersburg geschickt werden. Kurze Zeit später geht es weiter zum Studium nach Deutschland. Nach ihrer Rückkehr, so der Plan, sollen die drei Studenten als Bergbauingenieure die russischen Bodenschätze erkunden. Regie: Musik: Bach, Piano Concerto No. 1 in D minor, BWV 1052, Allegro Sprecher In Marburg absolvieren die russischen Austauschstudenten zunächst eine Art Grundstudium: Vorlesungen in Literatur und Philosophie, Arithmetik und Geometrie, Chemie und Mechanik. Einer von Lomonossows Lehrern in Marburg wird sein ganzes späteres Wirken beeinflussen: Christian Wolff, einer der bedeutendsten deutschen Philosophen der Aufklärung. O-Ton 6: Peter Hoffmann Wolff zeigte ihm die Breite der Wissenschaften und den Zusammenhang dieses gesamten wissenschaftlichen Weltbildes. Wolff als Vertreter der Leibnizschen Philosophie sah die Welt, das Universum als ein Ganzes an. Und das war etwas, was Lomonossow imponierte und was er auch voll übernommen hat. Sprecherin: Wolff glaubt an einen ordnenden Gott hinter den Naturgesetzen und lehrt Lomonossow, immer nach einem System hinter den Einzelerscheinungen zu suchen. Zudem ist Wolff einer der ersten, der seine Vorlesungen nicht nur in Latein, sondern auch in seiner Muttersprache hält. Ein Prinzip der Aufklärung, dem Lomonossow später folgen wird. Regie: Musik: Bach Piano Concerto No. 1 in D minor, BWV 1052, Allegro Sprecher Zweieinhalb Jahre lernen die Studenten in Marburg Theorie. Die Praxis des Bergbaus sollen sie im sächsischen Freiberg kennenlernen. Als die Drei von Marburg nach Freiberg kommen, eilt ihnen bereits ein zweifelhafter Ruf voraus. In Marburg haben sie Schulden hinterlassen: Das Petersburger Stipendium war nicht gerade üppig und zudem traf es häufig verspätet in Deutschland ein. In Freiberg lässt die Petersburger Akademie deswegen verkünden, dass den Studenten kein Kredit zu gewähren sei. Kontrolle über das Stipendium hat ihr Lehrer Johann Friedrich Henckel, der es ihnen nur in Raten auszahlt. Ein Umstand, der von Anfang an für Konflikt sorgt. Lomonossow, inzwischen 29 Jahre alt, kann nur schwer mit der Bevormundung umgehen. Eines Tages kommt es zum Eklat. O-Ton 7: Norman Pohl Lomonossow hatte eine praktische Aufgabe zu bewältigen, nämlich Calomel anzurühren, dabei wurden unangenehm riechende Gase frei und Lomonossow wollte sich dieser Aufgabe nicht unterziehen. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel, jedenfalls hat Lomonossow sehr wütend den Laborraum verlassen, war allerdings im gleichen Haus untergebracht und als er in seinem Zimmer war, rief er dann auf die Straße Schimpfwörter heraus. Henkel hat das natürlich in seinem Labor hören können und hat sich maßlos aufgeregt. Lomonossow hat sich einen Tag später in einem Schreiben dafür entschuldigt, aber Henckel hat nochmals auf einer persönlichen Entschuldigung bestanden, aber das empfand Lomonossow wiederum als eine Demütigung und damit war das Verhältnis zwischen zwei großen Geistern letzten Endes zerrüttet. Sprecherin: Hals über Kopf verlässt Lomonossow Freiberg, macht einen kurzen Abstecher nach Marburg, um seine dortige Geliebte zu ehelichen, und gelangt über Umwege nach Russland zurück. Angesichts seines stürmischen und unerlaubten Weggangs aus Freiberg, verläuft seine Ankunft in Russland allerdings überraschend glimpflich. O-Ton 8: Peter Hoffmann Gerade hatte Elisabeth die Regierung übernommen, in der Regierung war das Russische, wie man so sagt, im Kommen, und der Petersburger Akademiekanzlei war es im Augenblick wahrscheinlich angenehm, einen Russen zu haben, den sie fördern konnten. Sprecher: Elisabeth, Tochter Peter des Großen, erklärt, dass sie das Werk ihres Vaters fortführen will: Das Reich nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Lomonossow wird Adjunkt, ein selbstständig arbeitender Gehilfe der Professoren. Vier Jahre später erhält er als erster gebürtiger Russe einen Professorentitel. Schon früh bezeichnet Lomonossow seine Chemie als physikalische Chemie und betont damit sein Bestreben, über die Laborpraxis hinausgehende allgemeine Naturgesetze zu erkennen und zu erforschen. Akribisch misst und protokolliert er bei chemischen Reaktionen alle Temperatur- und Gewichtsveränderungen. Zitator: Alle Veränderungen, die in der Natur vorkommen, geschehen so, daß, wenn irgendwo etwas hinzukommt, anderswo ebensoviel abgeht. Also, wie viel Stoff einem Körper hinzugefügt wird, ebensoviel geht von einem anderen weg; genauso viele Stunden, wie ich dem Schlaf widme, entziehe ich dem Wachsein usw. Sprecher: Für eine Entdeckung scheint Lomonossow diesen Satz nicht gehalten zu haben, denn in die Zusammenstellung seiner wichtigsten Theoreme hat er ihn 1764 nicht aufgenommen. O-Ton 11: Peter Hoffmann Aber da Lomonossow hier abgebrochen hat, seine chemischen Arbeiten, ist er diesen weiteren Schritt wie in vielen anderen Dingen nicht gegangen. Für ihn war die Breite, das Brescheschlagen auf vielen Gebieten, war für ihn vorrangig. Regie: Musik: Chandoschkin, Sonate für Violine solo, G-Moll, Op. 3, No. 2: III Rondo Allegro Sprecherin: Lomonossow ist in seiner Forschung sprunghaft, entflammt schnell für neue Forschungsgebiete. So reizt ihn in der Physik die Frage, ob Blitz und Donner elektrische Erscheinungen sind, eine Frage, die zu diesem Zeitpunkt strittig ist. Er und sein Kollege Wilhelm Richmann bauen jeweils zu Hause Blitzmaschinen, mit denen sie die atmosphärische Elektrizität messen können. Als eines Tages ein Gewitter aufzieht, sitzen die beiden Wissenschaftler an ihren Maschinen, beobachten die Funken, messen den Ausschlag. Dann ruft Lomonossows Ehefrau ihren Mann zum Mittagessen, nur Richmann bleibt. O-Ton 12: Peter Hoffmann Mit einem Mal kam der Diener von Richmann tränenüberströmt an - Richmann wohnte zwei Straßen weiter - und sagte, sein Herr sei vom Blitz erschlagen. Lomonossow ist sofort hin und hat dann gesehen: Richmann hatte an der Stirn eine roten Fleck und sein Schuh war zerfetzt, da ist ein Blitz durchgegangen. Das war ein Ereignis, das durch die Weltpresse ging, zum ersten Mal wurde deutlich, welche Gefahr von der atmosphärischen Elektrizität ausging. Sprecherin: Lomonossow ist der erste Universalgelehrte Russlands. Ein Modell, das zu dieser Zeit in Europa nicht ungewöhnlich ist, denn die Einzelwissenschaften trennen sich erst im 19. Jahrhundert, Natur- und Geisteswissenschaften sind noch eng miteinander verwoben. Es ist für Lomonossow kein Widerspruch, sich sowohl mit der Sprache als auch mit der Chemie zu beschäftigen. Als er den Auftrag hat, die erste russische Geschichte aufzuschreiben und in zeitlichen Verzug kommt, schreibt er in einem Brief: Zitator: Was meine anderweitige Tätigkeit in der Physik und der Chemie betrifft, so ist es keineswegs notwendig, ja sogar unmöglich, sie aufzugeben. Jeder Mensch verlangt danach, sich von der Arbeit zu entspannen. Zu diesem Zwecke lässt er seine eigentliche Beschäftigung sein und sucht in der Gesellschaft von Gästen oder bei seinen Angehörigen die Zeit mit Karten- und Damespiel oder auch mit Tabakrauchen zu verbringen. All dies habe ich schon längst aufgegeben, weil ich mich dabei nur langweilte. Und so hoffe ich, dass es auch mir gestattet ist, mich einige Stunden am Tage von den Arbeiten zu erholen, die ich für die Sammlung und Abfassung der "Russischen Geschichte" sowie für die Pflege der russischen Sprache leiste, und dass ich dieselben, statt Billard zu spielen, für physikalische und chemische Versuche verwende. Sprecher: Lomonossow modernisiert die russische Sprache. Er schreibt eine Rhetorik, eine erste russische Grammatik, übersetzt wissenschaftliche Werke ins Russische. Während seine Lehrer an der Akademie noch ausnahmslos Deutsche waren und auf Lateinisch lehrten, unterrichtete Lomonossow nun als einer der ersten Russen an der Akademie, und zwar in seiner Muttersprache. Der Lomonossow-Biograf Peter Hoffmann: O-Ton 13: Peter Hoffmann Die Überwindung der elitären Ansicht, dass nur derjenige, der Latein kann, in der Wissenschaft was zu sagen hat, eben mitreden kann, und alle anderen sind von vornherein ausgeschlossen. In dem Punkt war Lomonossow doch Demokrat, der Zugang zur Wissenschaft sollte allen offenstehen, und das ist eben nur möglich, wenn der Zugang in der Muttersprache erfolgt. Das wurde zuerst in Frankreich im 17. Jahrhundert deutlich mit Descartes, der viele seiner Schriften auf Französisch verfasst hat, und in Russland war eben Lomonossow der Wegbereiter der Muttersprache in den Wissenschaften. Regie: Musik: Chandoschkin, Sonate für Violine solo, G-Moll, Op. 3, No. 2: III Rondo Allegro (1'37) Sprecher: Die Petersburger Akademie der Wissenschaften ist das Umfeld, in dem Lomonossow zu seiner Zeit wirkt. Ihre Leitung hat der Chef der Akademiekanzlei Johann Daniel Schumacher inne. Ein Deutscher, der einst Bibliothekar bei Peter dem Großen war und nun faktisch alleine über die Akademie herrscht. Je länger Lomonossow in Petersburg ist, desto mehr ärgert er sich über diese Situation. Immer wieder gerät er mit Schumacher aneinander. In Briefen beklagt er sich über den Bürokratismus an der Akademie. Wegen jeder Bagatelle müsse er in die Kanzlei laufen und den Amtsschreibern um den Bart streichen. O-Ton 15: Peter Hoffmann Lomonossow musste sich immer wieder gegen bürokratische Hemmnisse durchsetzen. Schon sein Weg zur Wissenschaft war ja ein Weg gegen den offiziellen, als Kopfsteuerpflichtiger hätte er nie seine Heimat verlassen dürfen, immer musste er gegen diese aufgebauten Mauern anrennen, und das ist für ihn zur Lebensaufgabe geworden. Er hat überall, manchmal auch schon ein bisschen übertrieben, dort Mauern gesehen, wo sie gar nicht vorhanden waren. Sprecher: Hinter den Auseinandersetzungen steckt ein tiefer liegender Konflikt. Die meisten Führungspositionen an der Akademie besetzen nach wie vor Ausländer, davon viele Deutsche, die ihr Wissen nach Russland gebracht haben. Lomonossow will, dass auch seine Landsleute aufsteigen und seine Heimat anfängt, als Bildungsnation auf eigenen Füßen zu stehen. Doch mit seinem aufbrausenden Charakter eckt er oft an und wird ausgebremst. Schließlich nimmt Lomonossow Kontakt mit seinem langjährigen Gönner Iwan Schuwalow auf. Einst hatte er den jungen Schuwalow in der Dichtkunst unterrichtet, und seitdem Kontakt zu dem Adligen gehalten. Schuwalow ist Anhänger der Aufklärung, steht in Briefkontakt mit Diderot und Voltaire. O-Ton 16: Peter Hoffmann Lomonossow hat Schuwalow im Grunde genommen benutzt, und zwar ganz bewusst benutzt, um bestimmte Gedanken, bestimmte Bestrebungen durchsetzen zu können. Er war im Grunde genommen der Mäzen, für ihn die Verbindung zum Hof, solange die Kaiserin Elisabeth lebte. Schuwalow hatte keinen persönlichen Ehrgeiz, er strebte kein Amt an, er hatte genug Geld, seine Brüder waren alle in einflussreichen Positionen, er hat jedes Staatsamt abgelehnt. Sprecher: An der Akademie der Wissenschaften gibt es zwar auch ein Gymnasium und eine Universität, doch beide fristen ein trauriges Dasein. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses kommt an der Akademie in Petersburg zu kurz. Es gehört nicht zu der Art von Renommeepflege, die Kanzleichef Schumacher betreibt. Gemeinsam entwickeln Schuwalow und Lomonossow die Idee einer unabhängigen Universität in Moskau. 1755 wird in Moskau feierlich die erste unabhängige Universität Russlands eröffnet. Entsprechend den Plänen Lomonossows mit einem angeschlossenen Gymnasium. Russisch und Latein sind im Unterricht und in den Vorlesungen gleichberechtigt. Bei der Eröffnung wird allerdings Schuwalow als ihr Gründer gefeiert, Lomonossow ist nicht einmal eingeladen. Sprecherin: Als die Zarin Elisabeth Anfang 1762 stirbt und Katharina die Große Regentin wird, verliert auch Iwan Schuwalow seinen Einfluss bei Hofe. Das Verhältnis zwischen Lomonossow und der neuen Zarin ist unterkühlt: Katharina forciert eine weitere Europäisierung Russlands, eine Ode Lomonossows zu ihrer Krönung ignoriert sie. Lomonossow selbst ist gesundheitlich angeschlagen. Sein Körper ausgemergelt, seine Haut gelblich verfärbt, das Gehen fällt ihm zunehmend schwer. Die Vermutung liegt nahe, dass die vielen chemischen Versuche der Grund für sein Leiden sind. Doch bis kurz vor seinem Tod nimmt er an Akademiesitzungen teil, und auch als er schon an seine Wohnung gefesselt ist, verfasst er weiter Briefe und Denkschriften. 1765 stirbt Lomonossow mit nur 53 Jahren. Sprecher: Kurz nach dem Tod Lomonossows geht die Universität an der Petersburger Akademie ein, und die Moskauer Universität bleibt knapp fünfzig Jahre lang die einzige Universität im Land. Ruhm war der Moskauer Universität demnach sicher, und Ruhm sollte sie wiederum stiften, als nach dem Ende des zweiten Weltkrieges der Bau des neuen Uni-Gebäudes auf den Moskauer Sperlingsbergen begann. Stalins Architekten entwarfen einen riesigen Gebäudekomplex im sozialistischen Zuckerbäckerstil. Regie: Musik: Moskva maijskaja (sowjetisches Arbeiterlied, Komposition: 1937, Aufnahme: 1959) Sprecherin Der russische Chemie-Professor Valery Lunin kann sich an den Bau des neuen Gebäudes gut erinnern. O-Ton 18: Valery Lunin (russisch) Übersetzer: Ich war auf dem Land, 500 km von Moskau hörte ich im Radio, dass sie die Uni bauen. Ich war 13 Jahre alt und habe zu meiner Mutter gesagt, nach der Schule fahre ich zu der Uni und studiere dort. Sie sagte: Da wartet doch keiner auf dich. Aber ich antwortete: Ich komm da schon hin. Lomonossow ist zu Fuß dorthin gegangen, ich fahre mit dem Zug. Natürlich war der Einfluss der Uni enorm. Sprecher: 1940 war die Universität nach Lomonossow benannt worden, und spätestens ab diesem Zeitpunkt wird Lomonosow Teil der sowjetischen Propagandapolitik und Mythenbildung. Er wird als Vater der russischen Wissenschaft verehrt, quasi als Vorreiter der beschleunigten Technisierung, Alphabetisierung und Industrialisierung. Sprecherin Sowjetische Lomonossow-Biographien üben die Kunst der Weglassung und zeichnen bisweilen ein einseitiges Bild. Lobhudelei aus politischen Gründen, nennt der Eberhard Knobloch das. O-Ton 19: Eberhard Knobloch Sein Vater war Nordmeerfischer, also er kam aus sehr einfachen Verhältnissen. Das war natürlich für die Sowjetunion, die ja den Arbeiter- und Bauernstaat proklamierte, ein gefundenes Fressen zu sagen, das ist einer von uns. Das ist ja auch nicht ganz falsch, er hat sich also aus sehr einfachen Verhältnissen zu einem der großen Wissenschaftler seines Landes emporgearbeitet. Sprecher: Eberhard Knobloch, Wissenschaftshistoriker an der Berliner Akademie der Wissenschaften. Er findet, dass man Lomonossow im Westen dennoch nicht gerecht wird. O-Ton Ton 20: Eberhard Knobloch Es bleibt ein Defizit, dass man Lomonossow bis heute, würde ich sagen, nicht wirklich angemessen umfassend gewürdigt hat. Die europäische Zentrierung der Wissenschaft wird ja erst in unserem Jahrhundert, oder damals Ende des 20. Jahrhunderts nach und nach abgebaut. Und dabei muss man eben sagen, dass durch den Eisernen Vorhand allzu lange Russland gar nicht als europäische Macht wahrgenommen wurde. Da war eben eine riesige Wand, und dahinter war nüscht. Also mit anderen Worten, man wird in den Wissenschaftsgeschichten, die es so generell gibt, Lomonossow immer nur eine kleine Rolle eingeräumt bekommen. Also nicht eine so überragende Rolle, wie er für sein Land gespielt hat. Sprecherin: Eberhard Knobloch nennt Lomonossow den Newton der Sowjetunion. Das Format eines Universalgelehrten wie Leibniz habe er dabei allerdings nicht erreicht. O-Ton 21: Eberhard Knobloch Dann muss man natürlich auch sagen, fairerweise für Lomonossow erwähnen, er ist ja nur 53 Jahre alt geworden. Leibniz ist etwa 70 Jahre alt geworden. Er hat einfach mehr Zeit gehabt, sich zu äußern und kreativ zu sein. Das gilt auch für Newton oder ähnliche Größen, wie Galilei. Wie alt sie werden, macht einen Unterschied, um Bedeutung im universellen Sinn zu erlangen. Sprecher: Ohne Lomonossow wäre die Begründung der russischen Wissenschaften nicht möglich gewesen. Schon der russische Nationaldichter Alexander Puschkin, der ein Viertel Jahrhundert nach Lomonssows Tod geboren wurde, war sich der historischen Bedeutung seines Vorbildes bewusst: Zitator: Ungewöhnliche Willenskraft mit ungewöhnlicher Kraft des Verstandes vereinend, umfasste Lomonossow alle Zweige der Aufklärung. Der Durst nach Wissenschaft war die stärkste Leidenschaft seiner Seele, die von Leidenschaft erfüllt war. Er hat alles erprobt und ist in alles eingedrungen. Atmo: Straßenverkehr mit Vogelgezwitscher Sprecherin Zurück im sächsischen Freiberg, der zweiten Station Lomonossows in Deutschland. Fragt man hier nach ihm, kennen ihn tatsächlich viele: In der DDR war der Wissenschaftler ganz selbstverständlich Stoff in den Schulen. Nach dem Mauerfall fiel die Lomonossow-Rezeption auch hier in einen kurzen Tiefschlaf, doch inzwischen wird er wiederentdeckt. O-Ton 22: Norman Pohl Das ist ein Weg, den Freiberger Studenten zum Beispiel zurücklegen, wenn sie auf den Campus gelangen wollen, der außerhalb der Stadt gelegen ist. Die Bergakademie hat zusammen mit der Stadt und mit dem Verein der Freunde und Förderer entschieden, hier eine Meile der Wissenschaft entstehen zu lassen. Wir schauen jetzt auf den vielleicht berühmtesten Studenten der Bergakademie, Alexander von Humboldt, eine eine Büste auf einer Stele, und hier im Umkreis werden weitere Arrangements entstehen. Und es wird hier ein Bildnis von Lomonossow installiert werden, allerdings stand es erst gestern in der Zeitung und deshalb kann ich noch nicht sagen, wo genau, an welchem Platz. Sprecherin: So kann es sein, dass Lomonossow in Freiberg bald direkt neben Alexander von Humboldt steht. Jede Geschichte hat ihre Helden und so will auch jede Stadt einen Helden etablieren. Lomonossow wird Zeugnis geben von der Wissenschaftstradition der sächsischen Kleinstadt. Immer wieder kommen Delegationen von russischen Energieunternehmen nach Freiberg, die an der Bergakademie ihren Nachwuchs ausbilden lassen. Ein Besuch an der Büste wird dann sicherlich auch auf dem Programm stehen. Verwendete Literatur: Peter Hoffmann, Michail Vasil'evic Lomonosov. Ein Enzyklopädist im Zeitalter der Aufklärung, Peter Lang, Frankfurt am Main 2011. Michail Wassiljewitsch Lomonossow. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band I: Naturwissenschaften - Briefe. Akademie-Verlag, Berlin 1961. Michail Wassiljewitsch Lomonossow. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band II: Geschichte, Sprachwissenschaft und anderes - Briefe. Akademie-Verlag, Berlin 1961. Wilhelm Schütz, Michail W. Lomonossow. BSB B.G. Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig 1976. 1