COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 28. September 2009, 19.30 Uhr Klassenunterschiede Wie gerecht ist unser Steuersystem? Von Winfried Roth OT 1 (Westerwelle): Das ist die beste Antwort auf einen Abschwung: gebt den Bürgern mehr von dem, was sie sich selbst erarbeitet haben! Lasst Ihnen mehr von ihrem Fleiß! Sprecher: Guido Westerwelle, FDP. OT 2 (Müntefering): Der Eingangssteuersatz sinkt von 14 auf 10 Prozent.Und wir machen eine leichte Erhöhung der Steuern bei denen, wo das Paar mehr als 20 000 Euro im Monat hat. Sprecher: Franz Müntefering, SPD. OT 3 (Merkel): Für mich ist die Aufgabe erst einmal, die, die im mittleren Bereich Einkommenssteuern zahlen, zu entlasten. Damit ein Signal zu geben - wer sich anstrengt, wer Leistung erbringt, soll belohnt werden. Sprecher: Angela Merkel, CDU. OT 4 (Künast): Wenn hier wirklich und ernsthaft Steuersenkungen angekündigt werden, ist das zeitgleich die Ankündigung von Sozialabbau. Sprecher: Renate Künast, Die Grünen. Musik Sprecher vom Dienst: Klassenunterschiede Wie gerecht ist unser Steuersystem? Eine Sendung von Winfried Roth Sprecher: Nicht nur 2009, auch in früheren Wahlkämpfen forderten Politiker und Politikerinnen mehr Steuergerechtigkeit. Und sie versprachen meist Steuersenkungen - möglichst für alle. An manches Versprechen konnten die Gewählten sich dann nicht mehr erinnern. Dennoch bewiesen sie Reformeifer: Schwarz-Gelb, Rot-Grün oder Schwarz-Rot - wem haben sie gegeben, wem genommen? Die eigene Steuerklasse kennt man - das Dickicht von Reformen, verwirrenden Fachbegriffen und zahllosen Prozentsätzen dagegen durchschaut kaum noch jemand. OT 5 (Werkhäuser): Es ist mir dermaßen zuwider, mich überhaupt damit zu befassen (lacht)... Sprecher: Die Steuerzahlerin Marion Werkhäuser ist Rechtsanwaltsgehilfin in Frankfurt am Main. Wie ihr geht es vielen - viele spüren auch ein Unbehagen an zu hohen Steuern. Allerdings: OT 6 (Richter): Interessanterweise gilt schon seit Jahrzehnten, dass der durchschnittliche Steuersatz, bezogen auf das Einkommen, sehr stabil ist über Jahrzehnte hinweg. Sprecher: Der Rechtsanwalt Andreas Richter ist Steuerexperte in der großen Kanzlei Pöllath + Partners in Berlin. Die durchschnittliche Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger lag seit den Anfängen der Bundesrepublik stets zwischen 23 und 25 Prozent des Sozialprodukts. Verändert hat sich aber die Belastung der unterschiedlichen Einkommensgruppen. Für Lohnsteuerzahler gab es in den letzten zehn Jahren durchaus Entlastungen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Bach. OT 7 (Bach): Die Belastungen im unteren Einkommensbereich sind bei der direkten Besteuerung gesunken - weil man hier die Grenze, ab der Steuer gezahlt wird, deutlich angehoben hat. Sprecher: Direkte Steuern sind Steuern auf Gehälter, Gewinne und Vermögen. Die öffentliche Debatte wurde lange von Politikern und Experten bestimmt, die gerade die Gewinn- und Vermögenssteuern für zu hoch halten. OT 8 (Richter): Man erreicht auch eine psychologische Schwelle, wo man sich fragt - lohnt es sich überhaupt noch, wenn von jedem Euro, den man verdient, die Hälfte an das Finanzamt geht? OT 9 (Bach): Wir erleben seit ungefähr zwei Jahrzehnten, dass der Anteil der Gewinn- und Kapitaleinkommenssteuern eher rückläufig ist. OT 10 (Richter): Während wir bis Ende der neunziger Jahre noch 53 Prozent Spitzensteuersatz hatten, ist er zeitweise 2005/6 auf 42 Prozent heruntergegangen. Sprecher: Die Entlastung von Besserverdienenden und Unternehmen, so hieß es zu Zeiten von Schwarz-Gelb, Rot-Grün oder Schwarz-Rot, nutze allen. Das garantiere mehr Investitionen und Arbeitsplätze. Es gab aber auch beachtliche Steuererhöhungen: OT 11 (Bach): Gleichzeitig hat man die indirekten Steuern ausgeweitet. Und diese Steuer, die Mehrwertsteuer, trifft die ärmeren Menschen wesentlich stärker - relativ zu ihrem niedrigen Einkommen. Sodass insgesamt hier die Steuerbelastung zugenommen hat. Sprecher: Stark gestiegen sind nicht nur die indirekten, also die Verbrauchssteuern, sondern auch die Sozialabgaben. Das war der Preis für ein einigermaßen funktionierendes Gesundheitssystem - und Folge der höheren Anzahl von Rentnern und Arbeitslosen. Aber das ist ein anderes Thema. Ist das deutsche Steuersystem auf lange Sicht gerechter geworden? Musik OT 12 (Richter): Steuergerechtigkeit in einer hochkomplexen Industriegesellschaft zu erreichen, scheint nach den Erfahrungen der letzten zehn, zwanzig Jahre sehr schwierig zu sein. Sprecher: Rechtsanwalt Andreas Richter. OT 13 (Bading): Das kann nie gerecht sein. Man kann dem vielleicht nahekommen. Nein, das kann nie gerecht sein. Sprecher: Detlef Bading, Baufacharbeiter aus Berlin. Eine allgemein akzeptierte Vorstellung von Steuergerechtigkeit gibt es nicht. Wie lässt sich der Begriff Gerechtigkeit aus der Welt des Rechts und der Ethik in die Welt der Produktion und der Finanzen übertragen? Ist es möglich, gerechte Gehälter oder Gewinne zu bestimmen? In einigen Fragen herrscht in der Öffentlichkeit weitgehende Übereinstimmung - und doch tun sich häufig Widersprüche auf. OT 14 (Bading): Wenn man es gerecht machen möchte, bin ich der Meinung, muss man es erst mal verständlicher machen. OT 15 (Werkhäuser): Man hat keine Chance, es zu durchschauen - und man soll es wohl auch nicht. Sprecher: Zu den Mindeststandards für ein Steuersystem könnte gehören, dass es transparent und einfach sein soll - das ist es in Deutschland sicher nicht. Möchten wir wissen, wie viel Steuern der Nachbar, der Milliardär oder das Fußballidol zahlen - wie es in einigen skandinavischen Ländern möglich ist? Ist die "Steuererklärung in zehn Minuten" ein taugliches Modell? OT 16 (Richter): Das einfache Steuerrecht gilt als gerecht, weil keine Schlupflöcher da sind. Ob es in einer entwickelten Industriegesellschaft überhaupt möglich ist, eine einfache Steuer zu konzipieren, würde ich eher bezweifeln. Jedenfalls - die Idee, dass die Steuererklärung auf einem Bierdeckel gemacht werden kann, hat sich in keinem westlichen Industrieland durchgesetzt. Sprecher: Andere Fragen werden von Steuerzahlern wie Experten ebenso kontrovers beantwortet, wie zum Beispiel: sollen - über das Ehegattensplitting - Ehen finanziell gefördert werden? Oder wäre es gerechter, nur Paare und Einzelne mit Kindern zu fördern? Ist es gerechter, eher das Einkommen oder eher den Verbrauch zu besteuern? Sind die staatlichen Leistungen den Einkommensverlust für die Bürgerinnen und Bürger wert? Zu den noch am ehesten akzeptierten Grundsätzen von Steuergerechtigkeit gehört die Steuerprogression. Stefan Bach, Steuerexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: OT 17 (Bach): Damit ist gemeint, dass Personen, die ein hohes Einkommen haben, stärker belastet werden sollen als Personen mit niedriger Leistungsfähigkeit. Das heißt, die starken Schultern sollen mehr tragen und die ärmeren Bevölkerungsgruppen sollen nicht so hoch belastet werden. Sprecher: Detlef Bading, der lange als Betriebsschlosser in einem Großunternehmen beschäftigt war: OT 18 (Bading): Ich hab gut gearbeitet, hab gut verdient - und fand dort die steuerliche Belastung gerecht. OT 19 (Bach): Ein weiterer Aspekt der Steuergerechtigkeit ist, dass die Steuer die wirtschaftlichen Prozesse nicht stark belasten soll. Sprecher: Vielleicht ist es auf den ersten Blick ungerecht, Besserverdienende und Unternehmen steuerlich zu entlasten. Auf den zweiten Blick profitieren womöglich alle davon - durch mehr Investitionen und Arbeitsplätze. Detlef Bading ist seit drei Jahren arbeitslos, allenfalls in 400-Euro- Jobs beschäftigt. OT 20 (Bach): Auch unter den Erwerbstätigen gibt es einen nennenswerten Personenkreis, der gar keine Einkommenssteuer zahlt. Das sind Leute mit sehr niedrigen Einkommen, die es ja leider zunehmend gibt. Sprecher: Ein anderer weithin anerkannter Grundsatz von Steuergerechtigkeit lautet: das Existenzminimum soll steuerfrei bleiben. Für Alleinstehende liegt die Grenze bei einem Bruttolohn von etwa 900 Euro. Fast ein Drittel der Erwerbstätigen in Deutschland zahlt keine Einkommenssteuer - Billigjobber, viele Teilzeitkräfte, auch kleine Geschäftsleute. Aber gibt es wirklich ein Leben ohne Steuern? Musik OT 21 (Bading): Da hab ich auch gesagt - ich zahle ja gar keine. Aber ich zahle schon - eben indirekt. Sprecher: Detlef Bading über die vielen gleichsam verdeckten, die indirekten Steuern. OT 22 (Werkhäuser): Es ist einem gar nicht bewusst, wie viel man eigentlich zahlt. Man vergisst das einfach. Sprecher: Marion Werkhäuser. Verbrauchssteuern wie Mehrwert-, Mineralöl- oder Stromsteuer fallen für Durchschnittsverdiener und ärmere Bevölkerungsgruppen besonders ins Gewicht. Wenn der Arbeitslose Detlef Bading ein Brot oder ein Steak kauft, stehen 7 Prozent Mehrwertsteuer auf dem Kassenzettel. Für Lebensmittel gilt gewöhnlich ein ermäßigter Satz - für die meisten anderen Produkte und Dienstleistungen sind es 19 Prozent. OT 23 (Bading): Ich hab mal durchgesehen Quittungen usw. Ich denke, dass wir mindestens 25-30 Prozent unseres Einkommens an Verbrauchssteuern abführen. Sprecher: Die gut verdienende Rechtsanwaltsgehilfin Marion Werkhäuser gibt etwa 10 Prozent ihres Nettogehalts für Verbrauchssteuern aus - relativ wenig. Das hängt einmal damit zusammen, dass sie kein Auto besitzt, sondern billiger mit Straßenbahn oder ICE fährt. Vor allem aber verbraucht sie einen größeren Teil ihres Einkommens nicht, sondern legt ihn für das Alter und die Ausbildung ihrer Tochter zurück. Detlef Bading dagegen bleibt zum Sparen nichts. OT 24 (Bach): Wir beobachten einen verstärkten Trend zur indirekten Besteuerung. Man hat die Mehrwertsteuer mehrfach angehoben auf jetzt 19 Prozent. Sprecher: Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. OT 25 (Bading): Es sind doch keine Verbrauchssteuern gesenkt worden. Energiesteuern, die exorbitant gestiegen sind ... Versicherungssteuer, Grundsteuer - alles ist erhöht worden. Sprecher: Vom gesamten Steueraufkommen in Deutschland entfällt heute fast die Hälfte auf Verbrauchssteuern. Vor dreißig Jahren sah das Bild noch ganz anders aus - damals machten sie nur etwa ein Drittel des Aufkommens aus. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Der Politik ging es um einen Ausgleich für die sinkenden Gewinnsteuern. Höhere Energiesteuern wurden gebraucht, um die Beiträge zur Rentenversicherung stabil zu halten. Man begründete die Erhöhung außerdem mit ökologischen Argumenten. Was macht gerade indirekte Steuern für Politiker so anziehend? OT 26 (Bading): Um die Mehrwertsteuer beim Einkaufen kommt keiner herum, um die Mineralölsteuer beim Tanken kommt keiner herum. Sprecher: Wie gerecht ist die steigende Belastung von Geringverdienern, Arbeitslosen oder Rentnern durch Verbrauchssteuern? Widerspricht das nicht dem Grundsatz, das Existenzminimum nicht zu besteuern? Stefan Bach: OT 28 (Bach): In den USA oder in Japan ist es so, dass Lebensmittel oder Bekleidung steuerfrei sind, um die sozialen Verwerfungen zu verringern. Musik OT 29 (Werkhäuser): [Blättern] Das ist 2007 - (2:12) Mein Bruttoarbeitslohn war 46 300 Euro. Gezahlt hab ich 9007 Euro an Lohnsteuer. Das entspricht einem Satz von 19,45 Prozent. Sprecher: Die Lohnsteuer ist die wichtigste Steuer nach der Mehrwertsteuer. Zusammen sichern diese beiden "Massensteuern" fast 60 Prozent der Staatsfinanzen. Für Marion Werkhäuser wie für viele andere Beschäftigte ist der langfristige Trend ihrer Belastung durch Lohnsteuer nur mit Mühe zu ermitteln - wegen wechselnder Wochenarbeitszeiten oder Veränderungen der familiären Situation. Bei Detlef Bading ist es überschaubarer. Im Rückblick auf die zehn Jahre vor 2006, als er arbeitslos wurde, sagt er: OT 30 (Bading): Da hab ich festgestellt, dass für mich die Lohnsteuer doch günstiger geworden ist, dass sich da schon was getan hat. Sprecher: Tatsächlich ist in der Bundesrepublik die durchschnittliche Belastung von Beschäftigen durch Lohnsteuer gegenüber den neunziger Jahren leicht gesunken. Gerechter werden soll die Lohnsteuer durch zahlreiche - oft problematische - Sonderregelungen, vom Ehegattensplitting über die "Absetzbarkeit" eines Arbeitszimmers bis zur Entfernungspauschale. Solche Regelungen sollen die persönlichen Lebensbedingungen besser berücksichtigen. Häufig werden solche Gestaltungsmöglichkeiten nicht genutzt - angefangen beim Lohnsteuerjahresausgleich. Viele Durchschnittsverdiener zahlen mehr als sie müssten. OT 31 (Bading): Das glaube ich auch, dass viele aus Bequemlichkeit gar nicht die Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Sprecher: Die Belastung durch Lohnsteuer ist gerade in den letzten zehn Jahren zurückgegangen, auf lange Sicht ist aber die Belastung durch Verbrauchssteuern gestiegen. Für Durchschnittsverdiener liegt daher die gesamte steuerliche Belastung heute höher als vor dreißig Jahren - ähnlich wie für Geringverdiener oder Arbeitslose. Musik OT 32 (Richter): Erfolgreiche Unternehmer finden es selbstverständlich, dass Steuern zu zahlen sind. Wir wissen, das Spitzensteuersätze in Deutschland eher von kleinen Gruppen gezahlt werden - dass aber diese Gruppe doch beim Steueraufkommen einen ganz erheblichen Beitrag leistet. Sprecher: Der Steuerberater und Rechtsanwalt Andreas Richter, der vor allem Menschen aus den Einkommenseliten berät. OT 33 (Werkhäuser): Die profitieren ja auch ganz stark von dem, was die Gemeinschaft bereitstellt. Spitzeneinkommen - die kommen zustande, weil eine Infrastruktur bereitgestellt wird, weil Leute ausgebildet werden, die diesen Leuten zuarbeiten. Das sind die vielen Kleinen, die die Rahmenbedingungen geschaffen haben. Da kann auch ordentlich was zurückfließen. Sprecher: Marion Werkhäuser. Für die breite Bevölkerung gab es in den letzten zehn Jahren unter dem Strich keine Steuerentlastung - wie war es bei den Einkommens- und Vermögenseliten? Für sie haben Steuern auf den Verbrauch vergleichsweise geringe Bedeutung, denn, so Andreas Richter: OT 34 (Richter): Es ist bei diesen Einkommensgruppen durchaus üblich, dass 50 Prozent gespart werden. Sprecher: Die Einkommen dieser Eliten stammen oft aus ganz unterschiedlichen Aktivitäten. So zahlen sie Einkommenssteuer auf ihre Arbeitseinkommen - etwa Unternehmer in Familienfirmen, angestellte Topmanager oder Selbständige wie Ärzte und Rechtsanwälte. Eine größere Rolle spielen für sie gewöhnlich Einkommen aus Kapitalbesitz - Dividenden, Spekulationsgewinne oder Zinsen. Entsprechend werden auch Gewinnsteuern wie die Abgeltungssteuer fällig. Andere Steuern werden nicht von Einzelpersonen, sondern nur von Unternehmen aufgebracht - wie Gewerbe- und Körperschaftssteuer. Die Steuersätze berücksichtigen dabei die Belastung der einzelnen Kapitaleigentümer etwa durch Einkommenssteuer. Außer den laufenden Gewinnen wird - in geringem Maß - auch der Vermögensbestand besteuert. Seit man in den neunziger Jahren die "eigentliche" Vermögenssteuer faktisch abschaffte, steht die Erbschaftssteuer im Vordergrund. Zusammen entfallen auf Gewinn- und Vermögenssteuern etwa 25 Prozent des Aufkommens. OT 35 (Bading): Das Gefühl bei den kleinen Leuten, sag ich mal, ist doch so - je mehr man hat, desto weniger zahlt man. OT 36 (Richter): Jetzt haben wir durch die Einführung einer Reichensteuer wieder steigende Steuersätze, sodass wir im Spitzenbereich heute bei 45 Prozent sind. OT 37 (Bach): Es ist allerdings so, dass es letztlich auf die effektive Steuerbelastung ankommt. Sprecher: Für Besserverdienende und Unternehmen sind oft die Steuersätze weniger bedeutsam - auch die eindrucksvollen Spitzensteuersätze zwischen 40 und 50 Prozent: sie werden nur selten gezahlt. Wichtiger sind Gestaltungsmöglichkeiten, die Gewinneinkommen in der Steuererklärung verkleinern - oder sie sogar völlig verschwinden lassen. So können Unternehmen legal Gewinne kleinrechnen, indem sie Abschreibungen - also Wertverluste von Gebäuden oder Maschinen - unrealistisch hoch ansetzen... OT 38 (Bach): ... oder indem man Gestaltungsmöglichkeiten bei Rückstellungen nutzt - man macht jetzt schon Kosten geltend, obwohl sie erst später anfallen. Sprecher: Schließlich werden gerade die Steuererklärungen von Großunternehmen oft nur oberflächlich geprüft - allein schon, weil den Finanzbehörden qualifiziertes Personal fehlt. Hinzu kommen die Auswirkungen der Globalisierung: OT 39 (Richter): Da ist es für einen Unternehmer schon attraktiv zu schauen - wie sind eigentlich die steuerlichen Rahmenbedingungen in anderen Ländern? OT 40 (Bach): Da gibt es natürlich viele Möglichkeiten für Unternehmen oder Kapitalanleger, zwischen diesen Steuersystemen hin- und herzuspringen. - gleichzeitig nutzen die Staaten das, um ihre Standortattraktivität zu erhöhen. OT 41 (Richter): Aber meist ging es auch darum, die Märkte zu erschließen. Die Steuer ist nur einer von vielen Faktoren bei der Standortwahl. Sprecher: Die legalen Steuersparmöglichkeiten im In- und Ausland schienen vielen Reichen offenbar zu dürftig. Im Lauf der Jahre wurden Hunderte von Milliarden illegal aus Deutschland etwa auf karibische Inseln, in die Schweiz, aber auch in EU-Länder wie Luxemburg oder Malta verschoben. Detlef Bading fordert eine andere Politik, wenigstens innerhalb der EU: OT 42 (Bading): Da muss irgendwann eine EU-weite Steuergerechtigkeit her. Sonst wird jeder Staat gegen den andern ausgespielt von den Großunternehmen und am Ende hat niemand etwas davon. Sprecher: Ein beachtlicher Teil der jährlich etwa 600 Milliarden Gewinneinkommen in Deutschland wird auf unterschiedliche Weise an den Finanzämtern vorbeigeschleust. Im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat man nachgerechnet: OT 43 (Bach): Wenn man die Gewinne nach den volkswirtschaftlichen Rechnungen vergleicht mit den Gewinnen, die in der Steuerstatistik erfasst werden, stellt man eine Differenz von etwa hundert Milliarden Euro pro Jahr fest, das sind 4 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Sprecher: Erst seit ein, zwei Jahren versucht die Politik, hier mehr Steuergerechtigkeit durchzusetzen Musik OT 44 (Bach): Vor zwanzig Jahren lagen die Unternehmenssteuersätze noch bei ungefähr 40 Prozent im Durchschnitt. Diese Belastung hat sich deutlich zurückgebildet - auf mittlerweile 25 bis 30 Prozent in den westlichen Industrieländern und in Osteuropa 10 bis 20 Prozent. Sprecher: Auch in Deutschland wurden die Gewinn- und Vermögenssteuern angesichts des internationalen "Wettlaufs nach unten" gesenkt - von Schwarz-Gelb, von Rot-Grün und von Schwarz-Rot. Im Vergleich zu den großen EU-Staaten sind diese Steuern inzwischen niedrig. Die Hoffnung war: es werde eine Menge Kapital nach Deutschland zurückströmen und hier bei den Finanzämtern deklariert werden. Trotz geringerer Steuersätze würden die Einnahmen steigen. Vor allem bleibe den Unternehmen mehr Geld für Investitionen und Arbeitsplätze. Aber stimmt diese Grundannahme überhaupt? OT 45 (Bach): Im internationalen Vergleich können wir sehen, dass es Länder gibt mit sehr hohen Steuerbelastungen, die eine gute wirtschaftliche Entwicklung haben - auch einen gut ausgebauten Wohlfahrtstaat haben, etwa die skandinavischen Länder. Wenn der Staat gut wirtschaftet und wichtige öffentliche Leistungen bereitstellt, dann kann ein hohes Steueraufkommen sogar das Wirtschaftswachstum steigern. Sprecher: In der Bundesrepublik trugen die Gewinn- und Vermögenssteuern 1978 noch etwa 30 Prozent zum gesamten Steueraufkommen bei, 2008 machten sie, wie erwähnt, nur noch etwa 25 Prozent aus - in manchen Jahren sogar erheblich weniger. Der Satz der Körperschaftssteuer, die von GmbHs und Aktiengesellschaften gezahlt wird, sank zwischen 1988 und 2008 von etwa 50 auf 15 Prozent. Außerdem wurden die Gestaltungsmöglichkeiten gerade für spekulative Geschäfte erweitert. Für den Bauarbeiter Detlef Bading ist klar, warum die Politik so handelt: OT 46 (Bading): Die Lobby der Unternehmer ist wesentlich stärker als die Lobby der kleinen Leute. Sprecher: Der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Bach: OT 47 (Bach): Aber man soll auch nicht glauben, dass die Unternehmer sich komplett arm rechnen können. So leicht geht das auch nicht. Die Abschreibungsmöglichkeiten sind deutlich verschlechtert worden. Auch hat man im internationalen Kontext die Anforderungen deutlich verschärft. Sprecher: Die Vermögenssteuern, in erster Linie die Erbschaftssteuer, leisten mit etwa 5 Milliarden Euro jährlich nur noch einen sehr bescheidenen Beitrag zum Staatshaushalt - weniger als die Tabaksteuer. Auch diese Entwicklung erscheint unter dem Aspekt der Steuergerechtigkeit erstaunlich. Immerhin verfügt das reichste Zehntel der Haushalte in Deutschland über fast zwei Drittel des Immobilien-, Geld- oder Produktivvermögens von etwa 7.000 Milliarden Euro. Wahrscheinlich könnte diese Elite einiges mehr zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beitragen. Unter dem Strich kam es also zu einer spürbaren Entlastung der Gewinneinkommen und Vermögen: OT 48 (Bach): Man hat die Steuersätze gesenkt - im Gegenzug die Bemessungsgrundlagen verbreitert. Aber insgesamt ist hier ein Bedeutungsverlust zu verzeichnen. Sprecher: Diese Reformen waren offensichtlich nicht effizient - gemessen an den Ansprüchen der verantwortlichen Politiker. Die Hoffnung auf eine Rückkehr von Kapital aus dem Ausland - und in der Folge steigende Steuereinnahmen - erwies sich als Illusion. War diese Entlastung gerecht? Einen wichtigen Anhaltspunkt für Steuergerechtigkeit liefert wieder eine Zahl - Steuern sind ein ziemlich sprödes Thema. Die gesamtwirtschaftliche Gewinnquote gibt den Anteil der Gewinne an allen Einkommen an. Nur einen kleineren - nicht genau bekannten - Teil dieser Gewinne verbuchen Durchschnittsverdiener für sich, etwa in Form von Zinsen auf Sparguthaben oder Lebensversicherungen. Das weitaus meiste fließt auf die Konten der Einkommens- und Vermögenseliten. 2008 lag die gesamtwirtschaftliche Gewinnquote in Deutschland bei 39 Prozent. Man könnte erwarten, dass die Gewinneinkommen auch zur Finanzierung des Staates ungefähr 40 Prozent beitragen - mindestens. Tatsächlich sind es höchstens 25 Prozent. Mit Blick auf Steuergerechtigkeit erscheint das irritierend. Musik OT 49 (Bading): Da bin ich nicht der Meinung, dass das einen großen Beschäftigungseffekt hätte, wenn die Steuern sparen. Denn die Steuern sind schon gesenkt worden - hat ja keine Arbeitsplätze gebracht. Sprecher: Von der Entlastung der Reichen erwarteten viele Politiker wahrscheinlich nicht mehr Gerechtigkeit - aber mehr Investitionen und Arbeitsplätze. Detlef Bading hat leider recht. Ein solcher Zusammenhang lässt sich nicht nachweisen. Die Gewinne der großen Unternehmen in Deutschland - der GmbHs und Aktiengesellschaften - stiegen auch dank der Steuerentlastungen von 1991 bis 2007 um etwa 140 Prozent. Die Investitionen dieser Firmen in Industrie und Dienstleistungen nahmen aber nur um 30 Prozent zu. OT 50 (Werkhäuser): Ich denke, man muss, wenn man Steuergeschenke macht, damit vorsichtig und sehr zielgenau umgehen, die Leute dürfen Entlastungen haben, dass man sagt, die dürfen Steuerentlastungen haben - für jeden Arbeitsplatz, den sie schaffen. Sprecher: schlägt Marion Werkhäuser vor. Die gestiegenen Gewinne aber wurden großenteils nicht für produktive, sondern für spekulative Zwecke verwendet. Mit anderen Worten - die Steuersenkungen für Besserverdienende und Unternehmen trugen zur Überhitzung der Finanzmärkte und schließlich zur globalen Wirtschaftskrise bei. Musik OT 51 (Bading): Die sagen, es gibt keine Steuererhöhung nach der Wahl. Die Steuern werden sicherlich erhöht. Es bleibt ja gar keine andere Wahl, wenn man jetzt die Staatsverschuldung sieht. Wo soll das Geld herkommen? Sprecher: Die tiefe Wirtschaftskrise seit 2008 wird über viele Jahre auch die Steuerpolitik beeinflussen. Mitten in dieser Krise versprach Schwarz-Gelb im Bundestagswahlkampf die Senkung von Lohn- und Gewinnsteuern - wenn auch ohne Termin. Die SPD kündigte - ebenfalls unter dem Motto "Mehr Steuergerechtigkeit!" - vorsichtige Entlastungen für Geringverdiener und leichte Mehrbelastungen für Reiche an. Grundsätzlich können sich Steuersenkungen positiv auf die Wirtschaftsentwicklung auswirken. Dann steht mehr Einkommen für den Konsum zur Verfügung - Umsätze und Gewinne der Unternehmen steigen. In Krisenzeiten allerdings verpuffen Steuersenkungen häufig - wenn das zusätzliche Geld nicht für Autos, Eigentumswohnungen oder Restaurantbesuche ausgegeben, sondern aus Angst vor noch schlechteren Zeiten gespart wird. In Zeiten der Flaute ist es vermutlich besser, wenn der Staat die Steuern nicht senkt und selbst mehr Geld ausgibt. Ein Anschubeffekt für Konjunktur und Beschäftigung ist bei staatlichen Investitionen einigermaßen sicher. Außerdem sind Steuersenkungen angesichts der zunehmenden Staatsverschuldung unrealistisch. Für die Stabilisierung der Wirtschaft sind seit dem Herbst 2008 gewaltige öffentliche Mittel aufgewandt worden. Arbeitslosigkeit, Umsatz- und Gewinneinbrüche führen ohne Zweifel noch zu dramatischen Steuerausfällen. Der Ökonom Stefan Bach über die Folgen: OT 52 (Bach): Die öffentlichen Haushalte laufen im Moment massiv in die Defizite. Und selbst wenn wir die Krise in zwei, drei Jahren hoffentlich überwunden haben, werden wir immer noch hohe Haushaltsdefizite haben. Sprecher: Eine derartige Ausnahmesituation macht gewöhnlich Steuererhöhungen notwendig. Die Alternative ist die radikale Einschränkung öffentlicher Leistungen. OT 53 (Bach): Wenn die Staatsverschuldung nicht ins Uferlose wachsen soll, wird vermutlich kein Weg an Steuererhöhungen vorbeiführen. Und hier bietet sich wieder einmal die Mehrwertsteuer an. Musik Sprecher: Versuch einer Bilanz. In den letzten Jahren verbuchen die Kapitaleigentümer in Deutschland um die 35 Prozent aller Einkommen für sich. Zum Steueraufkommen tragen sie infolge der Steuerreformen nur 20 bis 25 Prozent bei. Vor allem wegen des Megatrends "steigende Verbrauchssteuern" zahlen Durchschnitts- und Geringverdiener wesentlich mehr als ihrem Einkommensanteil entspricht. Bedeutet das mehr Steuergerechtigkeit? Sollten sich die Wohlhabenden im Sinn der Progression nicht sogar überdurchschnittlich an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beteiligen? Ist das verbreitete Unbehagen an zu hohen Steuern wirklich berechtigt? Marion Werkhäuser, Rechtsanwaltsgehilfin in Frankfurt am Main: OT 54 (Werkhäuser): Man kriegt ja viel zurück. Insofern ist Steuerzahlen schon eine gute Idee. Wir haben ein Schulsystem, ein Verkehrssystem, das funktioniert, wir haben einen Rechtsstaat, der meistens gut funktioniert. Wir können uns keinen eigenen Swimmingpool leisten, wir können uns eine nichtsubventionierte Opernaufführung nicht leisten. Das sind ja alles Dinge, für die es sich lohnt, Steuern zu zahlen. Sprecher vom Dienst: Klassenunterschiede Wie gerecht ist unser Steuersystem? Eine Sendung von Winfried Roth Es sprach: Victor Neumann Ton: Barbara Zwirner Regie: Rita Höhne Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 5