COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel am 26.08.2012 ?Gold mit Handicap ?Marianne Buggenhagen freut sich auf ihre letzten Paralympics ? und die Zeit danach Autor: Ronny Blaschke Autor 1 Anfang September 2011 heißt der Bundespräsident Christian Wulff, noch ist er ein gern gesehener Repräsentant. Atmo 1 Rede Christian Wulff Autor 2 In einem Festsaal in Berlin-Mitte hält Wulff eine 15 Minuten lange Rede, Anlass ist der 60. Geburtstag des Deutschen Behindertensportverbandes, des DBS. Das Licht des Saales ist gedimmt, die Wände sind mit weinroten Samtgirlanden verziert, hinter einem Absperrseil warten Journalisten und Fotografen. In Abendkleidern und dunklen Anzügen sitzen 150 Gäste an runden Tischen. Wenige Meter von der Bühne entfernt hat Marianne Buggenhagen eine gute Sicht. O-Ton 1 Marianne Buggenhagen ?Ich freue mich, wenn ich dabei bin, aber ich dränge mich nicht unbedingt danach. Weil es ist nicht unbedingt meine Welt. Man muss sich fein anziehen, ich fühle mich am wohlsten in ganz normaler Kleidung. Ich denke, das ist das, was mir am wenigsten fehlen wird.? Autor 3 Die Leichtathletin Marianne Buggenhagen hat neun Goldmedaillen bei Paralympics gewonnen, sie hat zwanzig Siege bei Weltmeisterschaften errungen, dutzende regionale und nationale Titel. Im Diskuswerfen, Kugelstoßen, Speerwerfen, Mehrkampf. 1994 wurde sie Sportlerin des Jahres, als erste Athletin mit einer Behinderung. Diese Erfolge haben Buggenhagen besondere Begegnungen ermöglicht: mit dem früheren US-Vizepräsidenten Al Gore oder dem einstigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Buggenhagen hat viele Ehrungen erhalten, auch den Noel Foundation Award, der zuvor Mutter Theresa zugesprochen wurde. Auch an diesem Abend in Berlin gehört Buggenhagen zu den Ehrengästen. O-Ton 2 Marianne Buggenhagen ?Da fühle ich mich noch unwohler, wenn die Bundeskanzlerin da ist. Denn es ist sehr oft so, dass ich mich auch neben sie setzen muss. Gott sei Dank kann man sich mit ihr gut unterhalten. Die ersten Male war ich so gehemmt, ich hatte keine Freude dran. Also es ist das wirklich, was ich nicht unbedingt brauche.? Atmo 2 Klavier Autor 4 Kellnerinnen in weißen Kostümen schenken Wein nach. Die Funktionäre des Deutschen Behindertensportverbandes berichten auf ihrer Geburtstagsfeier von einer rasanten Verbandsentwicklung. Stolz betonen sie die Fortschritte: Mehr Medieninteresse, mehr Sponsoren, mehr Respekt. Marianne Buggenhagen hat diesen Wandel begleitet, sie stimmt der optimistischen Einschätzung zu, aber nicht in allen Punkten. O-Ton 3 Marianne Buggenhagen ?Es ist viel Prominenz hier von der Politik, die Großen vom Nichtbehindertensport, vom olympischen Sport. Es wäre vielleicht eine Möglichkeit, auf Schwierigkeiten hinzuweisen. Ich denke, ich bin ein Mensch, der immer perfekt sein möchte, und das erwarte ich auch von anderen. Wenn es machbar ist, es gibt immer Möglichkeiten, wo es nicht machbar ist. Aber ich denke, wenn man Fehler nicht aufzeigt, dann werden die auch nicht abgestellt. Von oben nach unten, das funktioniert nicht ganz. Von der Information her. Sie müssten ein bisschen durchsichtiger sein.? Autor 5 Marianne Buggenhagen wurde 1953 im vorpommerschen Ueckermünde geboren. Sie ist eine kräftige Frau von 1,90 Meter mit kurzen, blonden Haaren. Die DDR hatte nicht an den Paralympics teilgenommen, ihr Fördersystem war an den medaillenträchtigen Disziplinen Olympias ausgerichtet, und so konnte Buggenhagen erst 1989 mit Leistungssport beginnen, im Alter von 36 Jahren. Seit ihren ersten Erfolgen hat sie sich vorgenommen, ihre Bekanntheit zu nutzen, sportlich, gesellschaftlich, politisch. Die Rede von Christian Wulff auf dem Geburtstag des DBS hält sie für aufrichtig. O-Ton 4 Marianne Buggenhagen ?Es gibt Politiker, wo ich das einfach in Frage stelle, das erkennt man schon an der Aura, das es aufgeschrieben ist und abgelesen wird ? und dieses Gefühl hatte ich nicht.? Atmo 3 Kanzleramt Autor 6 Ein Sprung in den August dieses Jahres, das Bundeskanzleramt begeht seinen Tag der offenen Tür. An einem Stand im Kanzlergarten, direkt an der Spree, verteilen Mitarbeiter des Deutschen Behindertensportverbandes Broschüren und Filmmaterial. Auf einem Handbike können Gäste die Bewegungen von Athleten nachstellen, daneben steht eine Tischtennisplatte. Auf der Bühne spricht Friedhelm Julius Beucher über die Paralympics, er ist seit 2009 Präsident des DBS. Am 29. August beginnen die vierzehnten Sommerspiele, mit 4200 Athleten aus mehr als 160 Ländern. Für Marianne Buggenhagen sind es die sechsten Spiele. O-Ton 5 Friedhelm Julius Beucher ?Marianne Buggenhagen ist eines der immer bekannter werdenden Gesichter des deutschen Behindertensports. Das ist für eine ganz wichtige Erfahrung, die wir bei immer mehr Sommer- und Wintersportlern haben, die praktisch wie Marianne Buggenhagen automatisch bei den Menschen die Wahrnehmung hervorrufen: Das ist doch die berühmte Behindertensportlerin.? Autor 7 Friedhelm Julius Beucher beobachtet den paralympischen Sport seit zwanzig Jahren, zwischen 1990 und 2002 saß er für die SPD im Bundestag, vier Jahre war er Vorsitzender des Sportausschusses. Der DBS vereint fast 620000 Mitglieder in 5800 Vereinen, seit Beuchers Amtsübernahme sind 150000 Neue dem Verband beigetreten. Beucher wird nicht müde, Gleichberechtigung für Athleten mit Behinderung zu fordern, in Finanzierung, Infrastruktur, Medien. Er sagt auch, der DBS sei noch lange nicht auf Augenhöhe, umso wichtiger seien Identifikationsfiguren. Wie Marianne Buggenhagen. O-Ton 6 Friedhelm Julius Beucher ?Das ist aber auch das Ergebnis einer Lebenskarriere, die nur von Ausnahmesituationen gekennzeichnet ist. Sie zeigt noch vielen, vielen jüngeren Athleten, wo der Hammer hängt.? Atmo 4 Trainingshalle Hohenschönhausen Autor 8 Ende November 2011: Im Sportforum Hohenschönhausen, im Osten Berlins, verbringt Marianne Buggenhagen ihren sportlichen Alltag. An sechs Tagen in der Woche trainiert sie hier Kraft, Ausdauer, Technik. Seit 1994 hat sie tausende Kilometer zwischen Wohnung und Sporthalle zurückgelegt. O-Ton 7 Marianne Buggenhagen ?Ich trainiere gerne, weil es mir einfach gut tut. Ich trainiere nicht nur für Weiten und Leistung, sondern eigentlich für mich. Weil nach dem Training fühle ich mich richtig gut. Ja, wenn ich auch manchmal morgens aufstehe und denke: alles tut weh. Was so ab fünfzig ist. Spätestens nach dem Training tut mir nichts mehr weh.? Autor 9 Etwa fünfzig Sportler sind an diesem Morgen in der Halle aktiv. Sprinter stürzen sich aus dem Startblock, Weitspringer versuchen sich in Trockenübungen. Marianne Buggenhagen schnallt ihren Körper an einem Metallstuhl fest. Sie dehnt noch einmal ihren Oberkörper, pustet in ihre Hand, wirkt hochkonzentriert. Mit einer mächtigen Bewegung stößt sie eine fünf Kilo schwere Kugel gegen ein dickmaschiges Netz. Sie atmet kurz durch, wiederholt den Vorgang, fast sechzig Mal. Atmo 5 Trainingshalle Hohenschönhausen Autor 10 In den siebziger Jahren hatte Buggenhagen eine solche Kraftanstrengung noch für unmöglich gehalten. Sie spielte Volleyball, doch für eine große Karriere fehlte ihr das Talent. 1976 erkrankte sie am Rückenmark, seitdem ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie hatte damals nicht das Ziel Weltmeisterin zu werden, sie wollte ihr Leben wieder selbst gestalten. Ins Theater gehen können, ohne Angst, auf Toilette zu müssen. Ihre Hose wechseln können, selbstständig, ohne fremde Blicke. Mit Mitte zwanzig war Buggenhagen der Verzweifelung nahe, sie suchte einen Ausweg ? und fand den Sport. O-Ton 8 Marianne Buggenhagen ?Ich saß im Rollstuhl wie eine Ente. Der Stuhl war schwer, früher hat er das Doppelte gewogen wie die heutigen Rollstühle. Ich musste den Berg hoch und es fiel mit wirklich schwer. Und dann habe ich diese Rollstuhlbasketballgruppe gesehen. Die hatten die gleichen Rollstühle und konnten sich perfekt bewegen, konnten noch den Ball abspielen, die konnten alles mit diesem Rollstuhl machen, waren wendig. Da habe ich davor gestanden und habe gesagt: das möchtest du auch können. Und dann habe ich angefangen, habe gefragt, ob ich mitmachen kann: ,Ja, natürlich kannst du mitmachen?. Dann bin ich hin, schon nach acht Wochen habe ich gemerkt, dass ich meinen Alltag besser bewältigen konnte. Wir müssen ja alles über die Hände machen: Vom Rollstuhl auf die Toilette, vom Rollstuhl ins Bett, vom Rollstuhl überall hin. Die Hose muss man sich im Sitzen anziehen. Das ist alles eine Kraft- und Technikfrage, und das fiel mir alles leichter durch den Sport.? Autor 11 Nach den Kugelstoß-Übungen in Hohenschönhausen gehen Buggenhagen und ihr langjähriger Trainer Bernd Mädler den Plan bis zu den Paralympcics durch: die Trainingslager in Kienbaum, auf Lanzarote, in Südtirol; die vielen Wettkämpfe, Verbandstreffen und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Buggenhagen und Mädler kennen sich seit zwanzig Jahren. Bernd Mädler ist ein Mann von mächtiger Statur, mit Schnauzbart und Stoppelfrisur, er bezeichnet sich als harten Hund, der schon an der Körpersprache erkenne, wie es Buggenhagen geht. O-Ton 9 Bernd Mädler ?Sie ist nach wie vor stark motiviert, sie ist sehr leistungsbezogen. Es ist so, dass ich manchmal sogar eher bremsen muss, weil sie ? ich will mal nicht sagen übermotiviert ist ? sondern dass sie manchmal Trainingseinheiten hatte, wo sie mit sich nicht so zufrieden ist mit der Trainingsleistung. Oder sich zuviel auf den Tisch zieht. Insbesondere auch alle anderen Aktivitäten. Sie hat natürlich, das ist ganz normal bei Marianne, jeden Tag kommen da viele Mails, da kommen viele Einladungen. Dann soll sie da mit helfen und da was machen.? Atmo 6 Trainingshalle Hohenschönhausen Autor 12 Marianne Buggenhagen und Bernd Mädler verbinden viele Erinnerungen. Buggenhagen wollte nach den Paralympics in Peking vor vier Jahren ihre Laufbahn beenden. Es dauerte wenige Monate, bis sie das Training vermisste, die Wettkämpfe, das Adrenalin, die Routine ? und Rituale. Sie sitzt nun wieder auf dem Metallstuhl, dieses Mal mit Diskus. Sie befeuchtet ihren Zeigerfinger und pustet in die Hand. O-Ton 10 Marianne Buggenhagen ?Ich mache meinen Zeigefinger nass. Damit der Diskus, es ist ja so, dass er relativ trocken ist, so und dann rutscht er mit aus der Hand. Also mach ich den Zeigefinger nass, um ihn anschließend wieder trocken zu machen. Ja, das ist so: Auch wenn ich nur Diskuswerfen demonstrieren soll, mach ich es auch. Es geht nicht mehr anders, das habe ich über zwanzig Jahre gemacht, es geht nicht mehr anders.? Atmo 7 BBC-Nachrichten Autor 13 Nach mehr als sechs Jahrzehnten kehren die Paralympics in diesem Sommer zu ihren Wurzeln zurück. Und daher lohnt sich ein Abstecher nach Buckhamshire. Ende Juni dieses Jahres enthüllen Ärzte in einem Krankenhaus nordwestlich von London die Bronzestatur eines britischen Idols: Ludwig Guttmann. Dutzende Gäste applaudieren, einige haben Tränen in den Augen. Die BBC sendet ausführliche Nachrichten. Auch Marianne Buggenhagen hat sich intensiv mit Guttmann beschäftigt. Er ist ein Vorbild nach ihrem Geschmack. Atmo 7 BBC-Nachrichten Autor 14 Der deutsche Neurologe Guttmann, Sohn eines jüdischen Gastwirts, hatte während der Reichskristallnacht sechzig Juden Zuflucht in seiner Klinik in Breslau geboten. 1939, als die Lage für ihn unerträglich wurde, ging er nach England, mit seiner Frau, zwei Kindern und vierzig Mark in der Tasche. In der Kleinstadt Stoke Mandeville revolutionierte Guttmann die Behandlung von Querschnittsgelähmten. Sie lagen nicht mehr in der hintersten Ecke des Krankenhauses, sie erhielten eine Rundumversorgung, ihre Lebenserwartung stieg enorm. O-Ton 11 Rickie Burman ?Er hat sehr schnell erkannt, dass körperliche Herausforderungen auch für Menschen mit Behinderung und für Kriegsversehrte wichtig sind. Das wollten ihm viele Mediziner nicht glauben, doch Ludwig Guttmann beharrte auf seinem Standpunkt. So wurde er der Vater der Paralympics.? Autor 15 Rickie Burman leitet das Jüdische Museum in London. Im Foyer erinnert eine Ausstellung mit bislang unveröffentlichten Fotografien an den Ursprung der Paralympics: Im Herbst 1944 war Ludwig Guttmann auf seinem Krankenhausgang auf Patienten gestoßen, die in ihren Rollstühlen übers Parkett stürmten und mit Spazierstöcken auf eine Scheibe schlugen. Guttmann spielte mit, und so wurde Rollstuhl-Polo geboren. Bald darauf trieben viele Patienten Sport: die Bewegung stärkte ihr Immunsystem, förderte ihr Selbstvertrauen. 1948 organisierte Guttmann im Park seines Krankenhauses einen Wettkampf im Bogenschießen für 16 Kriegsversehrte. Diese Spiele von Stoke Mandeville begannen im Juli 1948 am selben Tag wie die Olympischen Spiele in London. O-Ton 12 Chris Holmes ?Es ist eine gewaltige Leistung, die Ludwig Guttmann vollbracht hat. Er hatte eine Vision, an die viele Menschen heute noch nicht glauben: Dass der Sport Menschen mit Behinderung aus aller Welt zusammenführen kann. Guttmanns Schatten ist riesig, und so möchten wir dieses Vermächtnis 2012 besonders würdigen.? Autor 16 Der ehemalige Schwimmer Chris Holmes hat in England eine vergleichbare Stellung wie Marianne Buggenhagen in Deutschland. Er ist einer der erfolgreichsten Paralymier der britischen Geschichte, nun verantwortet er im Londoner Organisationskomitee die Planungen der Paralympics. Der Vierjahresrhythmus der Weltspiele hatte 1960 in Rom begonnen. 1984 kehrten die Paralympics nach Stoke Mandeville zurück, da sich der Olympia-Gastgeber Los Angeles geweigert hatte, auch Sportler mit Behinderung zu begrüßen. 1996 hatten die Olympia-Organisatoren von Atlanta noch vor den Paralympics mit dem Abbau der Sportstätten begonnen. Seitdem habe sich viel geändert, sagt Chris Holmes. O-Ton 13 Chris Holmes ?Es gibt bei uns keine Trennung zwischen Paralympics und Olympia, wir sind ein Organisationskomitee. Ob Transport, Technik oder Versorgung, unsere Mitarbeiter haben von Anfang an für beide Ereignisse geplant. Das gilt auch für den Bau des Olympischen Dorfes und die Sportstätten. Sie sind fast vollständig barrierefrei. Es gibt nur einen gemeinsamen Weg, diese Botschaft soll von unseren Spielen ausgehen.? Atmo 8 Büro Autor 17 Chris Holmes hat ein Büro in Canary Wharf, einem Hochhauskomplex im Osten Londons. Vor seiner Tür sitzen etwa hundert Mitarbeiter in einem Großraum. Die Paralympics stellen Rekorde auf: 2,1 von 2,5 Millionen Tickets sind verkauft, 6000 Journalisten werden berichten, alle 55 lokalen Sponsoren Olympias stützen auch die Paralympics. Der britische Fernsehsender Channel 4 wird 150 Stunden lang von den Spielen senden. Der Standard für Menschen mit Behinderung in Großbritannien ist bereits hoch, und trotzdem wurden in London Fahrstühle und Rampen gebaut. Atmo 9 Olympia-Eröffnungsfeier Autor 18 Die Briten wollen Volksnähe und Euphorie während der Olympischen Spiele nun auch bei den Paralympics fortsetzen. Die BBC hat Sir Ludwig Guttmann ein Fernsehdrama gewidmet, eines der Olympia-Maskottchen heißt Mandeville. Guttmann starb 1980, er hatte vielen Kriegsversehrten das Leben gerettet. In London werden nun auch Kriegsveteranen teilnehmen, aus dem Irak oder Afghanistan. Für die Paralympics schließt sich ein Kreis. Das macht sie auch für Marianne Buggenhagen ganz speziell. Atmo 10 Krankenhaus von innen Autor 19 Das Helios-Klinikum in Berlin-Buch Ende März dieses Jahres. In der zweiten Etage, Station D, am Ende eine langen Ganges, liegt der kleine Gymnastikraum mit der Nummer 2056. An der Wand hängen breite Spiegel, daneben Plakate der Wirbelsäule und ein Skelett. Zwischen einer Kletterwand aus Holz, roten Gummibällen und einer Massageliege kramt Marianne Buggenhagen in einer Kiste und holt Schwungtücher, Therabänder und Plastikstäbe hervor. Anfang der siebziger Jahre hatte sie in Buch eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Diesen Job musste sie wegen ihrer Krankheit aufgeben. Doch ganz möchte sie nicht auf die Arbeit mit Menschen verzichten. Dreimal in der Woche ist sie in Buch als Mitarbeiterin der Physiotherapie tätig. O-Ton 14 Marianne Buggenhagen ?Ich lebe auch für und mit dem Beruf. Es macht mir riesig Spaß, mit Menschen zu arbeiten, weil ich merke, dass sie gern in die Gruppen kommen, und dass sie auch gern mit mir arbeiten. Und wenn man das merkt, dass etwas zurückkommt, dann macht die Arbeit auch Spaß. Ich denke, sage ich mal, dass mein Promistatus hier gar nicht wichtig ist, sondern dass ich einer von ihnen bin. Dass ich auch mit Handicap durchs Leben gehe. Und dass ist viel wichtiger: ich kann mit ihnen auf Augenhöhe arbeiten. Ich kann ihnen zeigen, wie bestimmte Sachen gemacht werden. Und ich werde voll angenommen, und das ist das schöne. Also ich könnte nicht im Büro sitzen und nur Schreibkram machen, das wäre nicht mein Ding.? Atmo 11 Gymnastik-Übungen Autor 20 Vor Marianne Buggenhagen sitzen sieben Patienten in einem Halbkreis, sie leiden an ganz unterschiedlichen Krankheiten. Buggenhagen möchte ihren Tag auflockern, mit Dehnungen und Spielen. Sie begegnet den Patienten mit Empathie, möchte Spaß vermitteln. Sie lächelt, motiviert, hört zu. Dazu passt der Titel ihrer 1996 erschienen Biographie: ?Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt.? O-Ton 15 Marianne Buggenhagen ?Das ist sehr oft sogar eine zusätzliche Trainingseinheit. Gestern habe ich fast zwei Stunden nur mit Theraband gearbeitet mit den Patienten. Ich versuche immer, jeden Tag etwas anderes reinzubringen. Und es sind auch of welche da, die Hilfe brauchen: wo ich den Arm führen muss, wo ich das Bein führen muss. Also es ist auch manchmal körperlich sehr anstrengend.? Atmo 12 Gymnastik-Übungen Autor 21 Marianne Buggenhagen hat im Klinikum Freunde gewonnen, aber auch Freunde nach schweren Krankheiten verloren. Sie weiß, dass Sport ein Privileg ist, ein Medium, um sich auszudrücken. So scheint sie es zu genießen, dass ihre Patienten die Bewegung genauso schätzen wie sie selbst. Buggenhagen lässt erst einen, dann zwei, schließlich drei Bälle kreisen und aufspringen. Nicht jeder Sportler mit Behinderung ist so aktiv. O-Ton 16 Marianne Buggenhagen ?Ich bin ja einer der wenigen, die überhaupt berufstätig sind. Viele leben von ihrer Rente, sind damit glücklich. Für mich ist es nicht das hundertprozentige Ding. Es ist natürlich auch schwierig, mit dem Handicap überhaupt eine Arbeit zu finden, die man gerne macht. Und wenn ich jetzt eine Arbeit machen müsste am Computer, oder Schreibarbeit, ich glaube, dann würde ich auch Rente beantragen.? Autor 22 Aus Deutschland werden 150 Sportler an den Paralympics teilnehmen, doch stehen sie symbolhaft für die allgemeinen Sorgen von Menschen mit Behinderung? Die Vereinten Nationen haben den Begriff ?Inklusion? 2006 auf die Agenda gesetzt. Ihre Konvention fordert die gleichberechtigte Teilhabe, in Deutschland trat dieses Übereinkommen im März 2009 in Kraft. Wird der deutsche Sport einem inklusiven Anspruch gerecht? Marianne Buggenhagen hat Zweifel: Viele Sportstätten sind nicht barrierefrei, ihnen fehlen Geräte und Material, so dass Teilhabe nicht möglich ist. In der Ausbildung von Trainern und Lehrern ist Inklusion kaum Thema. Und wie soll ein gemeinsames Wettkampfsystem geschaffen werden, wenn im Behindertensport die unterschiedlichen Einschränkungen schwer zu vereinbaren sind? Hubert Hüppe ist seit 2009 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. O-Ton 17 Hubert Hüppe ?Inklusion im Sport würde für mich bedeuten, dass wo immer es geht, Behinderte und Nichtbehinderte zusammen Sport treiben. Dass auf Dauer irgendwann vielleicht auch die Olympischen und Paralympischen Spiele zusammengeführt werden. Das heißt ja nicht, dass sie dieselben Sportarten machen müssen. Aber dass man auch sich begegnet und zusammenkommt, so wie auch blinde mit körperbehinderten Sportler zusammenkommen, was sie vielleicht sonst auch nicht automatisch tun würden. Es wird sicherlich nicht von heute auf morgen der Deutsche Behindertensportverband aufgelöst, darum geht es ja auch nicht. Sondern es geht ja darum: Wie schafft man barrierefreien Sport, also wie kommen die Leute zusammen? Und da kann man über die Sportförderung sicherlich, wenn es Steuermittel sind, auch sagen: Können wir das eine oder andere dann nicht bevorzugen, wenn es inklusiv ist? Und dafür würde ich mich schon aussprechen.? Autor 23 Noch sind Partnerschaften von Sportverbänden für behinderte und nichtbehinderte Athleten Ausnahme. Eine davon hat der Deutsche Schützenbund geschaffen: Die Rollstuhlfahrerin und Paralympics-Siegerin Manuela Schmermund darf sich in der Bundesliga mit Schützen ohne Behinderung messen. Ein anderes Beispiel? Der Rollstuhlbasketballclub Köln lässt auch nichtbehinderte Menschen mitspielen, um Vorurteile abzubauen. Hubert Hüppe: O-Ton 18 Hubert Hüppe ?Ich glaube, eines der größten Probleme das ist, dass Menschen ohne Behinderungen nicht gelernt haben, mit Menschen mit Behinderungen umzugehen. Das liegt daran, dass man sich nie begegnet. Dass man gesonderte Sportarten hat, gesonderte Schulen hat, gesonderte Arbeitsbereiche, gesonderte Wohnbereiche hat, und man sich deshalb auseinanderdividiert.? Autor24 In Großbritannien oder Kanada sind Sportler mit und ohne Behinderung in denselben Verbänden und Vereinen organisiert, sie unterliegen denselben Förderrichtlinien. Ein deutscher Paralympics-Sieger wird in London mit einer Prämie von 4500 Euro belohnt, für Gold-Gewinner ohne Handicap war die Auszahlung mehr als dreimal so hoch. Welches Signal geht von diesem Unterschied aus? Der Berliner Schwimmtrainer Matthias Ulm. O-Ton 19 Matthias Ulm ?Ja, ganz klar, Ihr seid weniger wert. Wenn ich mir das für unsere Sportler angucke: Also die Topleute trainieren einen völlig identischen Trainingsaufwand, die sind genauso dreißig Stunden in der Woche im Kraftraum, in der Schwimmhalle oder auf dem Fahrradergometer, oder wo auch immer. Und da muss ich natürlich ganz ehrlich sagen. Die haben im Alltag schon weniger. Es ist für sie deutlich schwieriger, einen Sponsor zu finden oder sonst irgendwas. Warum sollte es dann nicht wenigstens die gleiche Prämie geben?? Atmo 13 Unfallkrankenhaus Autor 25 Das Unfallkrankenhaus im östlichen Berliner Stadtteil Biesdorf vor zwei Wochen. An einem sonnigen Nachmittag werden in einem Park neben dem Krankenhaus die Paralympics-Teilnehmer aus Berlin Richtung London verabschiedet. Politiker, Funktionäre, Ärzte stehen am Buffet und halten Small Talk. Auf dem Truck eines Sponsors befindet sich die Bühne, ein Moderator befragt Athleten und Förderer des Behindertensports. Marianne Buggenhagen sitzt mit ihrem Mann Jörg im hinteren Bereich. Auch er ist auf einen Rollstuhl angewiesen, seit einem Motorradunfall 1975. Kennengelernt haben sie sich 1977, geheiratet ein Jahr später. Sie leben in Bernau, nordöstlich von Berlin. Schnell wird die Ähnlichkeit zwischen ihnen deutlich. O-Ton 20 Jörg Buggenhagen ?Also ich halte Marianne den Rücken frei, organisiere für sie die ganzen Geschichten mit Unterkünften, wenn sie irgendwo hin muss ? also lieber im Hintergrund. Viele Auftritte, wo man sich dann zeigen muss: das ist nicht so unsere Welt.? Autor 26 Der 57 Jahre alte Jörg Buggenhagen hat eine Schulung absolviert, um die Internetseite seiner Frau noch professioneller gestalten zu können. Zuletzt hat er sie öfter zu Terminen begleitet, während der Paralympics wird er Anfragen von zu Hause bearbeiten. Zu teuer wäre eine Reise nach London, sagt er, zu wenig Zeit hätte Marianne Buggenhagen durch den Wettkampfstress, zu abgeschottet sei das Olympische Dorf, auch für Familienmitglieder. Atmo 14 Reporter befragen Buggenhagen Autor 27 Nach der offiziellen Verabschiedung auf der Bühne befragen zwei Zeitungsreporter Marianne Buggenhagen nach ihren Chancen auf eine Goldmedaille. Ihre Paradedisziplin ist das Diskuswerfen, doch in ihrer Wettkampfklasse wurde der Diskus gestrichen. Nun erhofft sich sie im Kugelstoßen zumindest Bronze. Die Reporter wollen auch wissen, wie oft Buggenhagen bereits an Paralympics teilgenommen hat. Sie scheinen nicht wirklich vorbereitet zu sein. O-Ton 21 Jörg Buggenhagen ?Das ist das Problem, und das ist meine Frau auch ein bisschen ? wie soll ich das sagen ? enttäuscht. Also wenn ein Sportreporter oder egal welche Zeitung, und dann solche Fragen kommen, dann sagt sie: Schauen Sie mal auf meine Homepage. ,Ach die haben Sie auch?. Und das ist schon enttäuschend.? Atmo 15 Unfallkrankenhaus Autor 28 Marianne Buggenhagen wird an diesem Nachmittag oft von Gästen angesprochen. Nachdem sie 1994 Sportlerin des Jahres geworden war, dachte sie, der paralympische Sport sei am Ziel. Statt über ihre Leistungen berichteten die meisten Journalisten jedoch über ihr Schicksal, ihr Leben im Rollstuhl. Buggenhagen wurde nicht ins Aktuelle Sportstudio eingeladen, sondern ins Gesundheitsmagazin. Sie sagt, sie er ereiche ihre Erfolge mit Behinderung, nicht trotz Behinderung. Aus einer Aktiven ist längt eine Aktivistin geworden: als Dozentin in der Universität, als Workshop-Leiterin mit Kindern, als Beraterin von Unfallopfern. Zwei Schulen tragen ihren Namen, und schon jetzt sind die Wochen nach den Paralympics verplant. O-Ton 22 Marianne Buggenhagen ?Da sind teilweise Selbsthilfegruppen, die Probleme haben, es sind politische Veranstaltungen. Wir überlegen schon genau, an welchen Veranstaltungen wir teilnehmen, wenn wir merken, dass wir nur ? missbraucht: ist blöd ? dass wir vorgeführt werden, dass wir wie Alibi-Behinderte vorgestellt werden ? das machen wir nicht so gerne. Das flacht dann auch relativ schnell wieder ab, nach den Paralympics weis ich, dass man ein Jahr aktuell ist und man zu solchen Veranstaltungen eingeladen wird. Und im zweiten ist schon die Hälfte weniger. Und im dritten Jahr hat man uns schon wieder vergessen.? Autor 29 Anfang 2011 ist Marianne Buggenhagen in Neuseeland Weltmeisterin geworden, im Diskuswerfen und Kugelstoßen. Ihre Konkurrentinnen waren zum Teil vierzig Jahre jünger. Manchmal fragt sie sich, ob sie dem Behindertensport noch gut tue, ob sie das Feld nicht lieber Jüngeren überlassen solle. Doch dann denkt sie an die DDR zurück, als sie nicht bei Paralympics starten durfte. 1986 hatte sie Verwandte im Westen besucht und unter falschem Namen an einem Wettkampf in Bad Krautheim teilgenommen. Von den Paralympics 1988 in Seoul erfuhr sie aus den Zeitungen, mit ihren Leistungen hätte sie dort Gold gewonnen. Wie geht es weiter für Marianne Buggenhagen? Bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro wäre sie 63 Jahre alt. O-Ton 23 Marianne Buggenhagen ?Und ich glaube, ich werde mal ein paar Tage, ein paar Wochen Pause machen. Und dann werden wir sehen.? ?Ich sage Ihnen: Rio ist eine schöne Stadt.? ?Ja, vielleicht ist es auch für mich schön, sehr schön sogar. Vielleicht bin ich dabei, ich weis es nicht, ich möchte mich heute nicht festlegen.? Musik: ?Heimat? Interpret: Kollektiv Turmstraße 7