COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur - 16.02.2014 Besetzt Literarische Annäherungen an den 'stillen Ort' Von Beate Ziegs Hinweis: Orthographie und Grammatik in den Zitaten sowie evtl. Hervorhebungen entsprechen den Quellen, denen sie entnommen sind. MUSIK ATMO Jemand sitzt auf einem Plumpsklo, reißt Zeitungsschnipsel von einem Na-gel, aus der Tiefe das Muhen von Kühen ZITATOR Handlich zu mehr oder weniger dicken Packen zurechtgeschnittene Zeitun-gen, gelocht und an einer Schnur von einem Nagel in der Holzbretterwand hängend, mit der Variante, daß die Sprache der Schnipsel überwiegend das Slowenische war, des vom Großvater abonnierten Wochenblatts „Vestnik“ („Der Bote“).1 SPRECHERIN Unter dem Sitz befindet sich ein senkrechter Schacht, der ein Stockwerk tiefer direkt über dem Misthaufen im Viehstall endet. Von dort steigt ein Licht herauf – ZITATOR – höchstens bis zur halben Höhe des Schachts, nein, nicht einmal, kaum eine Ellenbogenlänge hoch (), ein Schimmern, das wohl verstärkt wird von dem vielen Gelb des mit dem Viehmist vermengten Strohs in der Tiefe und die Innenwände des Schachts plastisch macht, indem es deren Form, den Kreis, nachzieht: lebende Geometrie, natürliche.2 SPRECHERIN Gerüche tun nichts zur Sache. Ebenso wenig Geräusche. Die Stille des Ortes entspringt dem Grundanderen, das ihn definiert: ZITATOR Dieses viel Mehr, –3 SPRECHERIN – das in eins geht mit dem Verriegeln der Tür – ZITATOR – mit [dem] großen Aufatmen: „Endlich allein!“4 SPRECHERIN 1. Kapitel: „Endlich allein!“ Kurzer Ausklang der Musik SPRECHER Könnte man einer so alltäglichen und bisweilen noch immer als „ruchbar“ tabuisierten Lokalität wie der Toilette eine Hommage widmen, so wäre Pe-ter Handkes Versuch über den Stillen Ort sicherlich eine der zärtlichsten Ehrenerweise, die in letzter Zeit erschienen sind. Wie er bekennt, hat ihn das aus früher Kindheit erinnerte große Aufatmen über das Alleinsein ein Leben lang begleitet. In rückschauender Selbstbeobachtung stößt er auf Merkwürdigkeiten wie der Ähnlichkeit von Klosett und Beichtstuhl. Eine Ähnlichkeit, die schon allein aufgrund der Abseitigkeit dieser beiden Orte gegeben ist. Aber noch merkwürdiger ist ihm, – ZITATOR – daß man, ohne Vorsatz oder Plan, die stillen Orte aus sich selber heraus schaffen konnte, von Fall zu Fall, inmitten eines Tumults – gerade im Tu-mult ().5 SPRECHERIN Also doch eine Hommage! Denn was wäre die noch so abseitige Lokalität ohne die Menschen, die sie aufsuchen? Peter Handke steht mit seinem Versuch über den Stillen Ort in einer reichen literarischen Tradition – einer Tradition, die um so mehr erstaunt, als unsere Sprache für das, was man an diesem Ort verrichtet, nur Hilfskonstruktionen zu bieten hat: sich erleich-tern, sich die Hände waschen, mal schnell dorthin verschwinden, wohin auch der Kaiser zu Fuß geht, oder einfach nur mal eben müssen müssen. SPRECHER Ganz zu schweigen von all den anderen Umschreibungen, seien sie nun vulgärer, kindlicher oder medizinischer Natur. De-fä-kie-ren zum Beispiel. SPRECHERIN Und dann gibt es für schätzungsweise jeden dritten Toilettengänger eine Tätigkeit, die selbst den marodesten Abort in ein wundersam-poetisches Refugium verwandelt: lesen. Wohl niemand zuvor hat das so präzise be-schrieben wie James Joyce in seinem Ulysses. ZITATOR [Leopold Bloom] stieß die gebrechliche Tür des Abtritts auf. Bloß achtge-ben, daß mir die Hose hier nicht dreckig wird, für die Beerdigung. () Auf dem Kackstuhl hockend, entfaltete er seine Zeitung und schlug auf den ent-blößten Knien die Seiten um. Irgendwas Neues und Leichtes. Keine große Eile. Ruhig noch ein bißchen zurückhalten. Unser Preisausschreiben, der Leckerbissen der Woche. Matchams Meisterstreich. Von Mr. Philip Beau-foy, Playgoers’ Club, London. (). Honorar in Höhe von einer Guinee pro Spalte wurde an den Verfasser überwiesen. () In Ruhe las er, seinen Drang noch unterdrückend, die erste Spalte und begann, schon nachgebend, doch mit Widerstreben noch, die zweite. Auf ihrer Mitte angelangt, gab er seinen letzten Widerstand auf und erlaubte seinen Eingeweiden, sich zu erleich-tern, ganz so gemächlich, wie er las, und immer noch geduldig lesend, die leichte Verstopfung von gestern ganz verschwunden. Hoffentlich ists nicht zu groß, geht sonst mit den Hämorrhoiden wieder los. Nein, grade richtig. So. Ah! () Drucken jetzt praktisch alles. Sauregurkenzeit. Er las weiter, ge-lassen über seinem eigenen aufsteigenden Geruch sitzend.6 SPRECHERIN Und seine Gedanken fließen lassend bis hin zu der Vorstellung, auch er könne eine Geschichte für das Preisausschreiben erfinden. Bloß welche? SPRECHER Kein Problem für den jungen, talentierten Dichter namens Baal, der vor lauter Einfällen gar nicht an sich halten kann und das Zeug zum Shooting-Star hat. Dummerweise schläft er mit der Frau seines Gönners, dem dar-aufhin alles Gönnerhafte abhanden kommt. Der Rüpeleien nicht genug, zwingt Baal seine Geliebte obendrein, in einer Branntweinschänke einen wildfremden Kutscher zu küssen. ATMO Schenke mit lautem Publikum ZITATORIN Er hat getrunken, liebe Frau. Morgen tut es ihm leid. SPRECHERIN Wenn Sie wüssten: so ist er immer. ZITATORIN Jetzt fängt er auch noch an zu singen! SPRECHERIN „Singen“ nennen Sie das? ZITATOR (hat bereits unter Sprecherin u. Zitatorin begonnen) Orge sagte mir: der liebste Ort Auf Erden war ihm immer der Abort. Dies sei ein Ort, wo man zufrieden ist Daß drüber Sterne sind und drunter Mist. Ein Ort sei einfach wundervoll, wo man Selbst in der Hochzeitsnacht allein sein kann. Ein Ort der Demut, dort erkennst du scharf: Daß du ein Mensch nur bist, der nichts behalten darf. Ein Ort der Weisheit, wo du deinen Wanst Für neue Lüste präparieren kannst. Wo man, indem man leiblich lieblich ruht Sanft, doch mit Nachdruck etwas für sich tut. Und doch erkennst du dorten, was du bist: Ein Bursche, der auf dem Aborte – frißt!7 SPRECHER „Bravo! – Ein feines Lied!“ klatschen die Fuhrleute, während Baal sich wei-ter volllaufen lässt. Böse und asozial ist er. Ganz dem anti-illusionären Kon-zept seines Schöpfers Bertolt Brecht verpflichtet, wird er verelendet auf der Schwelle einer Holzfällerhütte krepieren. Seine letzten Worte sind: ZITATOR Ich horche noch auf den Regen.8 ATMO Los Angeles: Straßenverkehr, Polizeisirenen, Menschen SPRECHERIN Auch hier nur Anti-Illusionäres: Buden aus Pappkarton, Festungen aus Wellblech. Armut, Elend und Gewalt. Aber kein Regen. Stattdessen ein strahlend schöner Morgen nach dem anderen. SPRECHER Weshalb der amerikanische Skandalautor James Frey seinen Gegenwarts-roman genau so genannt hat: Strahlend schöner Morgen. Der ergießt sich Tag für Tag über die Mega-City Los Angeles, dem eigentlichen Mittelpunkt des Geschehens, um den unzählige Menschen mit ihren Geschichten krei-sen. Darunter auch Old Man Joe, der so heißt, weil er wie Ende siebzig aussieht, obwohl er keine vierzig ist. Am Südende von Venice Beach, wo hunderte Obdachlose ihr Dasein fristen, gilt er als weiser, wohlwollender Al-ter. SPRECHERIN Denn er hat es geschafft, sich in einer Toilette, die zu einer Imbissbude ge-hört, häuslich einzurichten. Solange er die Touristen nicht belästigt und die Toilette sauber hält, darf er auf dem Fußboden neben der Kloschüssel schlafen, das Waschbecken benutzen – und vor allem: den Spülkasten. Darin hortet er nämlich seine Chablis-Vorräte. ZITATOR Der Chablis ist mein, das Meer ist aus Wein, es wird mich befrei’n, genau wie einst Kain, Chablis, Chablis, Chablis.9 SPRECHERIN Old Man Joe ernährt sich von Essensresten. Eines strahlend-schönen Mor-gens entdeckt er hinter einer Mülltonne ein Mädchen: blond, zugedröhnt mit irgendeinem Stoff, blutend, missbraucht. Er lacht ihr freundlich zu. ZITATOR Ich heiße Joe. Ich habe eine Toilette. Ich gehe kurz hinein, danach kannst du sie für dich allein haben.10 ZITATORIN Hast du Drogen darin versteckt? ZITATOR So etwas in der Art. – Ich will nur auf mein Eigentum aufpassen. ZITATORIN Sie geht hinein, schließt die Tür. () Er hört, wie das Wasser läuft, er hört, wie das Mädchen flucht, Fuck, Scheiße, Kacke, Arsch sagt. Dann tritt Stille ein. Er wartet ein paar Minuten, vielleicht trocknet sie sich ab, er wartet noch ein paar Minuten, klopft an die Tür. Keine Reaktion. Er klopft noch ein-mal, wartet, keine Reaktion. Er klopft ein drittes Mal. Nichts. Er schließt die Tür auf, sie sitzt mit an die Brust gezogenen Beinen auf dem Fußboden. ZITATOR Alles in Ordnung? – Warum sitzt du auf dem Fußboden? ZITATORIN Nur so. Er fühlt sich gut an. ZITATOR Der Toilettenfußboden? ZITATORIN Ich habe seit fast einem Jahr nicht mehr drinnen geschlafen. Noch länger war ich nicht mehr allein in einer Toilette. Einen Ort, wo ich die Tür ab-schließen kann, hatte ich zuletzt als kleines Kind. SPRECHERIN Sie starren einander an. Dann geht sie. Old Man Joe schaut ihr nach und wünscht sich, sie hätte sich mit einem Lächeln von ihm verabschiedet. Atmo klingt aus ZITATOR Mein Gesicht im Spiegel: () grau und gelblich mit violetten Adern darin, scheußlich wie eine Leiche.11 SPRECHER Ob sich der Ingenieur Walter Faber – der berühmte Homo faber – auf einer Flughafentoilette einschließt und erleben muss, wie sein Selbstbild ins Wanken gerät; ob Erich Maria Remarque, der als blutjunger Soldat im Er-sten Weltkrieg Dienst leisten musste, die Latrine zu einem Ort der Ruhe und des Friedens inmitten des Schlachtenlärms verklärt – ZITATOR Man könnte ewig so sitzen.12 SPRECHER Oder ob der 17jährige Edgar Wibeau in Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf ausgerechnet auf einem finsteren Plumpsklo Be-kanntschaft mit Goethes Werther macht, der sein Leben verändern wird – ZITATOR Und kein Papier, Leute. Ich fummelte wie ein Irrer in dem ganzen Klo her-um. Und dabei kriegte ich dann dieses berühmte Buch oder Heft in die Klauen. () Ich opferte zunächst die Deckel, dann die Titelseite und dann die letzten Seiten, wo erfahrungsgemäß das Nachwort steht, das sowieso kein Aas liest.13 SPRECHER – die Varianten und Motive des ab-ortigen Alleinseins sind so zahlreich wie die Menschen, die sich in einer Bedürfnisanstalt einschließen. SPRECHERIN Oder in einem „Klosett“ – eine Bezeichnung, die sich von dem lateinischen Verb „claudere“ gleich „abschließen“ herleitet und eng mit den Begriffen „Klause“ und „Kloster“ verwandt ist. SPRECHER Und mit dem Theaterstück Huis clos – Geschlossene Gesellschaft – von Jean-Paul Sartre. SPRECHERIN Von Innen verschließbare Toiletten und Badezimmer gibt es allerdings erst seit ungefähr 1900 in Europa – und dann auch nur für das Bürgertum. Der Großteil der rasant wachsenden Stadtbevölkerung musste sich mit Nacht-töpfen begnügen, die auf die Straße entleert wurden. SPRECHER Oder mit Massenlatrinen. „Latrine“ ist ein Lehnwort aus dem lateinischen Verb „lavare“, was „sich baden“ oder „sich waschen“ bedeutet. In Paris hatte diese Einrichtung jedoch wenig mit Sauberkeit zu tun: Um 1886 zählte man ganze 26.000 Wassertoiletten, die von nahezu 500.000 Einwohnern frequentiert wurden. Besonders in den Armenvierteln der Großstädte waren die hygienischen Verhältnisse dermaßen katastrophal, dass immer wieder Tausende von Menschen der Cholera oder anderen Pandemien zum Opfer fielen. SPRECHERIN Den Luxus, eine der öffentlichen Latrinen und erst recht eine so genannte „Prachtlatrine“ aufzusuchen, konnten sich auch im alten Rom nur die Wohl-habenden leisten, denn ihre Benutzung ließen sich die Kaiser seit Vespa-sian etwas kosten: „Pecunia non olet – Geld stinkt nicht.“ Damals gab es in Rom knapp 50.000 Mietshäuser, in denen auf engstem Raum durchschnitt-lich 40 Menschen lebten. Ohne Bad, ohne Toilette, ohne fließendes Was-ser. Der Kot wurde in einem Kübel gesammelt, dessen Inhalt wiederum in einem Fass, das am Fuß des Treppenhauses stand und von Zeit zu Zeit von Mistpächtern und Müllkutschern abgeholt wurde. SPRECHER Ganz anders hingegen die Prachtlatrinen: in Form und Funktion wohldurch-dachte Gebäude mit effizienter Spülung, weiter Öffnung im Dach für die Durchlüftung und Fußbodenheizung. Die 50 bis 60, mitunter sogar 100 Mar-morsitze waren allerdings so eng angeordnet, dass der neu Hinzukommen-de unweigerlich über den zunächst der Tür Sitzenden stolpern musste. SPRECHERIN Der Beliebtheit dieser Treffpunkte tat das jedoch keinen Abbruch, denn wie Inschriften beweisen, verfügten Kaufleute oft sogar über reservierte Plätze – was zu der Vermutung berechtigt, dass die Redewendung „sein Geschäft machen“ ihren Ursprung in der römischen Latrine hat. SPRECHER Und dass es keine Trennung nach Geschlechtern gegeben zu haben scheint, wird die Freude am neuesten Klatsch und Tratsch nur befördert haben. SPRECHERIN Sicherlich. SPRECHER Gesellig ist, wer gerne etwas von sich gibt. Von einem „stillen Örtchen“ konnte jedenfalls keine Rede sein, weder bei Arm noch bei Reich. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Schamgefühl, das körperliche Berüh-rungsängste oder peinliche Verlegenheit ob der eigenen Gerüche und Ge-räusche vermutlich nicht kannte. SPRECHERIN Doch je privater die Verrichtung wurde und je rigider die Hygieneverord-nungen, um so verschämter und prüder wurde der Umgang mit den eige-nen Ausscheidungen. Ein Paradebeispiel dafür, wie wirkmächtig Scham un-ser Verhalten beeinflussen kann, liefert Thomas Brussig in seinem Wende-roman Helden wie wir, dessen Protagonist Klaus Uhltzscht – schon der Na-me eine Unmöglichkeit! – ausgerechnet mit einem Stasi-Mitarbeiter als Va-ter und einer Hygieneinspektorin als Mutter geschlagen ist. Mehr anal-wär-tige Kontrolle geht nicht. ZITATOR „Klaus“, sagte sie, als sie das Bad betrat, wo ich gerade mein großes Ge-schäft erledigt hatte, „merkst du was?“ Was meinte sie? Was hätte mir auf-fallen müssen? Hatte ich etwas vergessen? () „Merkst du nichts?“, fragte sie erneut, hob die Nase und schnüffelte ein paar Mal Luft ein. „Es schnup-pert!“ Nie wieder gab ich meiner Mutter Gelegenheit, meine Scheiße zu re-klamieren – aber zu welchem Preis! Ich spülte seit jenem Tag jedesmal so-fort, wenn es platschte, und erhob mich dabei immer von der Toilettenbrille – weil ich es nicht leiden konnte, von irgendwelchen Tröpfchen besprenkelt zu werden. () Was für ein Bild: Gebückt und mit heruntergelassenen Hosen rangiere ich in meinem Rücken Toilettenbrille und Spülung. () Es kommt noch schärfer: Aus Gründen, die ich selbst nicht verstehe, umwickle ich auf allen Toiletten, deren Hauptnutzer ich nicht duze, die Toilettenbrille sorgfäl-tig mit Toilettenpapier. Ich wickle. Immer. () Im Anschluß an meine Verrich-tung wird das ganze Papier abgerissen und weggespült – sofern der Ab-fluss mitspielt. Ich habe schon Hunderte von Toilettenverstopfungen verur-sacht. Aber ich mache weiter! Wie ein Triebtäter! Born to be a Toilettenver-stopfer! Auf jede Osteuropareise nehme ich mehrere Rollen Toilettenpapier mit, um auch die dortigen Toiletten zu verstopfen. Irgendwann werden sie mich an der Grenze verhaften: „Nun, steigen Sie aus, Sie haben gemacht Einreise vor drei Tagen mit vier Rollen Toilettenpapier, und jetzt Sie haben keine Rolle. Wo ist Papier?“ Na, wo wohl; in den fünfzehn verstopften Toi-letten. Jawohl, fünfzehn.14 ATMO Toilettenpapier wird in großen Mengen abgerollt, Spülung wird betätigt, Klo läuft über Atmo hat unter Zitat begonnen, die letzten Sätze gehen „im Klo“ unter SPRECHERIN 2. Kapitel: „Kein heiliger Ort mehr“ ATMO Herumhantieren in einer verstopften Toilette SPRECHER „Ich will helfen“, sagt der Junge.15 ZITATOR Vielen Dank, mein Junge, das weiß ich zu schätzen. Aber es ist keine Ar- beit, bei der man Hilfe braucht. SPRECHER Ich kann dir Ideen geben. ZITATOR Das stimmt, du hast gute Ideen. Aber leider reagieren Toiletten nicht auf Ideen. Toiletten gehören nicht zum Reich der Ideen, sie sind einfach grobe Dinge, und die Arbeit mit ihnen ist nichts als grobe Arbeit. SPRECHER Der Junge schüttelt den Kopf. „Es ist meine Kacke“, sagt er. „Ich will hier-bleiben!“ ZITATOR Es war deine Kacke. Aber du hast sie ausgeschieden. Du bist sie losge-worden. Sie gehört nicht mehr dir. Du hast kein Recht mehr darauf. Im Ab-wassersystem vereint sie sich mit der Kacke von anderen Menschen und wird zur allgemeinen Kacke. SPRECHER Inés zieht sich schnaubend in die Küche zurück. „Warum ist Inés dann bö-se“, fragt der Junge. ZITATOR Es ist ihr peinlich. Man spricht nicht gern über Kacke. Kacke stinkt. Kacke ist voller Bakterien. Kacke ist nicht gut für dich. SPRECHER Warum? ZITATOR Warum was? SPRECHER Es ist auch ihre Kacke. Warum ist sie böse? ZITATOR Sie ist nicht böse, sie ist nur empfindlich. Aber man braucht nicht empfind- lich zu sein, weil, wie ich dir gesagt habe, es ab einem bestimmten Punkt nicht die Kacke einer bestimmten Person ist, es ist einfach Kacke. SPRECHERIN Und so geht es noch eine Weile weiter in einem der zahlreichen Ping-Pong-Dialoge zwischen Simon und dem nervtötend-altklugen David, die sich durch den Roman von J.M. Coetzee, Die Kindheit Jesu, ziehen. Dabei wer-den oft die elementarsten philosophischen Fragen westlicher Kulturge-schichte verhandelt – wie hier zum Beispiel Platons Ideenlehre, die ausge-rechnet an einer verstopften Toilette exemplifiziert wird. ZITATOR Wir Menschen haben in dieser Beziehung Glück. Wir sind nicht wie Kacke, die zurückbleiben und wieder mit Erde vermischt werden muss.15 SPRECHER Wie sind wir? ZITATOR Wie sind wir, wenn wir nicht Kacke sind? Wir sind wie Ideen. Ideen sterben nie. Das wirst du in der Schule lernen. SPRECHER Aber wir machen Kacke. ZITATOR Das stimmt. Wir haben Teil am Ideal, aber wir machen auch Kacke. Das kommt, weil wir eine doppelte Natur haben. Ich weiß nicht, wie ich es noch einfacher ausdrücken soll.15 Atmo klingt aus SPRECHERIN Das Klo fungiert also nicht nur als literarischer Ort, an dem der Held oder die Heldin mehr oder weniger zu sich selber findet; es dient auch als Schauplatz von Handlungen, als Ort für Begegnungen. Doch haben diese Begegnungen selten einen schöngeistigen Unterton wie bei Coetzee. In den meisten Fällen haftet ihnen etwas Verwerfliches und Obszönes an. Vorreiter für dieses Genre war Henry Miller. In Zeiten von „Feuchtgebieten“ à la Charlotte Roche muten seine Sexismen fast schon spießig an, aber in den 60er und 70er Jahren machte er Furore. Etwa in Stille Tage in Clichy als ein elend arm und versoffen durch Absteigen und Hurenhäuser vaga-bundierender Schriftsteller, der auch schon mal zu dritt in einer Badewanne landet. ZITATOR Da ich das Bedürfnis hatte, Wasser zu lassen, schiffte ich in aller Ruhe. Die Mädchen waren entsetzt. Anscheinend hatte ich etwas Unsittliches getan. Plötzlich wurden sie mißtrauisch. [Würde ich] sie auch bezahlen? Wenn ja, wieviel?16 SPRECHER Welch harmloses Geplansche im Vergleich zu den mit Gewalt, Demütigung und Selbstzerstörung aufgeladenen Spielchen, die Elfriede Jelinek ihre Fi-guren treiben lässt. Da wäre zum Beispiel der Fabrikdirektor Hermann, der in dem Prosastück Lust seine Gattin Gerti zwecks Analverkehr hin und wie-der über den Rand der Badewanne drückt. ZITATORIN Der Mann lebt in seiner eigenen Lebenshölle, aber manchmal muss er her-auskommen und einen Ausflug auf die Weide machen.17 SPRECHER So der lakonische Kommentar zum Tatbestand andauernder Vergewalti-gung in der Ehe. Die beiden haben einen Sohn; ZITATORIN [der] läuft hinter dem Vater her, damit aus ihm auch ein Mann werden kann.18 SPRECHER Als er unerwartet den Tatort betritt, ZITATORIN erhascht er mit seinen einfältigen Augen gerade noch die leidenden Körper, wenn sie, klaffend wie wunde Abgründe, einander besuchen kommen.17 ATMO Park nachts, Schritte ZITATORIN Jagdlich webt sich das Schiffchen Erika locker durchs Revier, das sich über den ganzen grünen Teil des Praters erstreckt. () Sie wittert nervös und vor-beugend. Sie zieht die Luft ein und bläst sie wieder aus.19 SPRECHER Mit dem Schiffchen ist die Klavierlehrerin Erika Kohut gemeint, deren Lei-densgeschichte sie zur wohl berühmtesten Figur von Elfriede Jelinek ge-macht hat: von der Mutter umklammert und zur Pianistin dressiert, auf der Jagd nach voyeuristischer Befriedigung nachts durch den Praterstrich strei-fend, immer eine sorgfältig eingewickelte Rasierklinge bei sich tragend, um sich die Handrücken zu ritzen – oder auch schon mal vor einem alten Ra-sierspiegel ihres Vaters die Schamlippen. Die verstörenden Mechanismen der Gewalt und Erniedrigung spitzen sich zu, als der Student Walter Klem-mer sich entschließt, seine Klavierlehrerin zu erobern. Im sterilen Weiß ei-ner Schülertoilette, deren Geruch an eine Pestgrube erinnert – ZITATORIN Hier zischen also die Kleinmänner ihre gelben Strahlen () hinein oder malen Muster an die Wand. Man sieht es der Wand an.20 SPRECHER – hier also kommt es zu einer qualvollen Begegnung zwischen Erika Kohut und Walter Klemmer. MUSIK ZITATORIN Sie will nichts als sich in einem langen, heißen Schwall aus sich heraus-schütten. () Nur eine versperrbare Tür muß es geben! Ohne Verriegelung könnte sie um keinen Preis etwas unter sich lassen. Der Riegel funktioniert und löst bei Erika eine Schleuse. () Jemand öffnet erneut eine Tür und kommt herein. Es sind unverkennbar Männerschritte, die näherkommen, und es erweist sich, daß die Schritte zu Walter Klemmer gehören, der Erika vorhin nachgelaufen ist. () ZITATOR Erika, sind Sie da? ZITATORIN Es kommt keine Antwort, nur ein abnehmendes Plätschern schallt aus ei-ner der Kabinen (). Es gibt die Richtung an. () Klemmer findet geistesge-genwärtig einen schmutzigen Blechkübel (), dreht ihn um, stellt sich darauf und langt über die Trennwand, hinter der die letzten Tropfen gefallen sind. () Erika ist knallrot im Gesicht und spricht nicht. Von oben herab entriegelt () Klemmer die Tür. () Gemäß dem Anlaß gibt sich Erika als Person sofort auf.21 SPRECHER Nachdem Walter Klemmer Erika Kohut aus der Kabine herausgeholt hat, drückt er ihr einen Kuss auf den Mund, greift ihr unter den Rock, beißt an ihr herum, bellt immer wieder ihren Namen, schluchzt vor Gier – während sie ruhig dasteht, erfüllt von einer Scham, die ihr durchaus angenehm ist. Plötzlich holt sie seinen Schwanz raus. ZITATORIN Sie hält Klemmer an dessen Glied auf Armlänge ab, während er noch wahl-los in ihrem Geschlecht herumfuhrwerkt. Sie bedeutet ihm, damit aufzuhö-ren, weil sie ihn sonst verläßt. () Der Schüler steht in leichter Grätschposi-tion vor der Lehrerin und sieht das Ende noch nicht ab. Er überläßt sich ver-stört dem fremden Willen. () Auffordernd hält er ihr sein kleines Maschinen-gewehr am Abzug hin, damit sie es fertig abschießt. Doch Erika sagt, sie möchte es jetzt nicht mehr anfassen, um keinen Preis. Klemmer biegt sich in der Mitte durch und beugt den Oberkörper bis fast auf seine Knie hinun-ter. Er torkelt in dieser Stellung im Klovorraum umher. () Er ist ganz außer Kontrolle geraten, weil der Mann in ihm mißbraucht wurde. () Erika K. geht zur Tür und verabschiedet sich lautlos. () Klemmer wird von der offenen Tür eingerahmt, ein nicht sehr wertvolles Gemälde.21 Musik klingt aus SPRECHER In ihrem Bestreben, den Krieg der Geschlechter in all seinen sadomasochi-stischen Ausformungen so drastisch wie möglich aufzudecken, ist Elfriede Jelinek so sehr auf die Toilette als Handlungsort fixiert, dass die Volkshoch-schule in Wien-Hietzing eine der Damentoiletten nach ihr benannt hat. SPRECHERIN Eines der Herrenklos ist wiederum Thomas Bernhard gewidmet. Der hatte in seinem heiteren Roman Alte Meister den Kunstkritiker Reger aufs Heftig-ste über die Toiletten der Bundeshauptstadt herziehen lassen. ZITATOR In Wien auf den Abort gehen zu müssen, ist meistens eine Katastrophe, man macht sich in ihnen, wenn man kein Akrobat ist, schmutzig und der Gestank in ihnen ist so groß, daß er sich oft auf Wochen in den Kleidern festsetzt.22 ZITATORIN Stell dir vor, die Vorhänge seien beiseite gezogen, vorm Auge weg, die Duschvorhänge, die Türen transparent, sähest du in () alle Badezimmer deiner Stadt, morgens, sähest sie da stehen, zerknittert, unfroh, dem Tod noch mal von der Schippe runter.23 SPRECHER Auch Sibylle Berg hat ein Faible für Ab-Ortiges. In ihrem Roman Sex 2 schaut ein geschlechtsloses Ich durch sorgsam verschlossene Türen – und damit in die Köpfe der Menschen, die sich dort aufhalten. MUSIK ZITATORIN Das Bad von Barbara, 35, und Torsten, 36 Sie vorm Spiegel. Er auf der Toilette. Dünsten Schlaf aus, Schweißgeruch. Unfrohe Gerüche. Ungutes Schweigen. Nichts Verbindendes. Und kein hei-liger Ort mehr. Als sie in die Wohnung gezogen waren, war es ein Platz für Intimitäten, jede neue, ein Grund zum Feiern. () Wie sie weinte, als er das erste Mal vor ihr auf Toilette saß. So nah, so anders, ihre Liebe jetzt und tot. Nur noch ein Mann auf der Toilette, eine Frau vor dem Waschbecken, die die Sonne nicht mehr sehen, vor dem Fenster.24 ZITATOR Das Bad von Joachim, 34 Die Tür fest verschlossen, zweimal, liegt Joachim in der Badewanne und so hoch der Schaum, daß ihn niemand mehr sehen kann. Mich gibts nicht mehr, denkt Joachim, taucht den Kopf unter Wasser, und nun ist auch ru-hig. Hört er die Kinder nicht mehr schreien, das Leben nicht mehr. () Und taucht nicht mehr auf, der Joachim.24 ZITATORIN Das Bad von Rita, 17 Rita wankt ins Bad, Klamotten am Boden, eine verdammte angefressene Pizza (). Ist egal. Hauptsache Spaß haben. Was sonst. () Sieht sich, in ei-nem halbtoten Spiegel, sieht mies aus, fühlt sich mies, was ist, wenn es keinen Spaß mehr macht. Das Tanzen, das Pillen schlucken, wenn einem einfach nur schlecht wird, vor Langeweile.24 ZITATOR Das Bad von Kurt, 77 Steht () auf alten Beinen, riecht seinen alten Geruch (). So viele Jahre, so kurz das Leben. Die Hälfte davon zugebracht in Badezimmern (), nur um sich sauber zu halten, für ein Leben, das dreckig genauso sinnlos gewor-den wäre.24 SPRECHER Irgendwann können die Badezimmer all diese unfrohen Gesichter und schmutzigen Leiber nicht mehr ertragen. Mit einem Aufschrei saugen sie ihre Peiniger ins Klo, erwürgen sie mit den Schnüren der Klospülung und erschlagen sie mit Klodeckeln. ZITATORIN Eine kurze Aktion, dann ist Ruhe. Die Bäder spülen kurz nach. Und eine friedliche Sauberkeit im ganzen Land.25 Musik klingt aus SPRECHERIN Friedliche Sauberkeit? Für den homosexuellen Ich-Erzähler des Romans In den Wolken von Adrian Pais ist das eindeutig zu viel des Guten. Er will Eks- tase, Techno, Sex und Drogen. In einer Stimmung, die zwischen Lebens-hunger und Lebensmüdigkeit oszilliert, zieht er in den späten neunziger Jahren eine Winternacht lang durch den Untergrund Berlins. ZITATOR Auf dem Rückweg () muss ich dringend pinkeln. Ich schlage den Weg zur öffentlichen Toilette ein, aber als ich näher komme, stelle ich fest, dass es kein WC mehr gibt. Über Nacht verschwinden die Dinge spurlos in dieser Stadt. () Selbstverständlich [wird] auch das sexuelle Nomadentum in den Klappen der Hygienebombe zum Opfer fallen. () In den letzten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung entfachte der keimfreie Staat () solch einen an-tibakteriologischen Krieg gegen die Stadt und ihre Bewohner, dass das Le-ben auf den Straßen schließlich so langweilig geworden ist wie ein Spazier-gang durch das Diplomatenviertel. Fast alle antiken öffentlichen Toiletten wurden abgerissen und durch die klinischen „City-Toiletten“ ersetzt, die aussehen wie elektronische Raumschiff-Klos (). Tatsächlich fühlt man sich wie ein scheißender Astronaut, wenn sich die Kloschüssel automatisch desinfiziert und dabei ähnliche Geräusche produziert wie die Anti-Aliens-Waffen der Ghostbusters. () Braucht man für den Abwurf des Detritus län-ger als der Kloroboter für einen menschlichen Standarddarm vorgesehen hat, [öffnet] die demokratische City-Toilette kurzerhand ihre Pforten, damit man das unbefleckte Reich der Technologie verlässt und draußen, wieder den rauen Naturgesetzen ausgeliefert, nach Herzenslust erfrieren kann.26 ATMO City-Toilette: Schritte, Münzen werden eingeworfen, Tür öffnet sich etc. ... Atmo hat unter Zitat begonnen, steht kurz frei, auf den Ausklang Sprecherin SPRECHERIN 3. Kapitel: „Anus mundi“ MUSIK ZITATOR Die Geschichte der Menschen spiegelt sich in der Geschichte der Kloaken wieder. () Der Wald hatte die Höhle, Paris die Kloake. () Die Kloake ist das Gewissen der Stadt.27 SPRECHERIN Victor Hugo, Die Elenden. SPRECHER (als Zitator) Weil sie keine Toiletten zur Verfügung haben, verrichten die Menschen [in Kibera, einem Elendsviertel von Nairobi], ihr Geschäft in Plastiktüten, die sie anschließend auf die Straße werfen.28 SPRECHERIN Jahresbericht 2012 der Vereinten Nationen Über die menschliche Entwick- lung. ZITATOR Überall Fäulnis und giftige Ausdünstung. Hier und da ein Kellerloch, aus dem heraus Villon mit Rabelais plaudert.27 SPRECHER (als Zitator) In Jakarta und Manila wurden die bestehenden Kanalisationssysteme durch die rasche Verstädterung völlig überfordert, da nicht ausreichend in die Mo-dernisierung investiert wurde. Dies hatte zur Folge, dass überall auf Gru-benlatrinen zurückgegriffen wurde, die nun das Grundwasser verseuchen, Flüsse verpesten, Wasserquellen verunreinigen und die öffentliche Gesund-heit gefährden.29 ZITATOR Alle Unreinheit der Zivilisation, einmal außer Betrieb, fällt in diese Grube der Wahrheit, in die unaufhaltsam alles hinabgleitet, sie wird von ihr verschlun-gen, aber auch zur Schau gestellt.30 SPRECHER (als Zitator) Rund 2,6 Milliarden Menschen – die Hälfte der Bevölkerung in den Entwick-lungsländern – haben keinen Zugang zu grundlegender Sanitärversorgung. () Jedes Jahr müssen 1,8 Millionen Kinder sterben, weil sie kein sauberes Wasser und keine ausreichende Sanitärversorgung haben – dem gegen-über nimmt sich die Zahl der Opfer gewaltsamer Konflikte gering aus.28 ZITATOR Die Aufrichtigkeit des Unrats gefällt uns, sie beruhigt das Gemüt. Wer seine Zeit auf Erden damit zugebracht hat, das Schauspiel des vornehmen Ge-tues zu ertragen, das die Staatsräson, der Eid, die politische Weisheit, die menschliche Gerechtigkeit, die professionelle Rechtschaffenheit, die harten Verhältnisse und die unbestechlichen Talare aufführen, den erleichtert es, wenn er eine Kloake betritt und den Schlamm sieht, der alldem entspricht.30 SPRECHER (als Zitator) Die Politik, die bei der Sanitärversorgung betrieben wird, ist genauso von Bedeutung für die Lage einer Nation wie Wirtschaft, Verteidigung oder Han-del es sind, doch wird Sanitärversorgung immer nur als zweit- oder drittran-gig betrachtet.29 ZITATOR Wir sagten es gerade, die Geschichte geht durch die Kloake. () Der Beob-achter der Gesellschaft muß in diese Schattenwelt eindringen. Sie gehört zu seinem Laboratorium. () Ausweichen ist zwecklos, denn von welcher Seite zeigt man sich dabei? Von der Seite der Schande.31 Musik klingt aus SPRECHERIN Victor Hugo umschrieb es poetisch und beredt, der Bericht der UNO drückt es neutral bürokratisch aus: Die verheerende Krise in der Wasser- und Sa-nitärversorgung ist nicht nur eine Frage der Knappheit, sondern auch und vor allem eine Frage der Macht. SPRECHER Und damit auch der Armut, der Ungleichheit und der verletzten Würde. Wenn indische Frauen und Kinder zum Beispiel am Rand von viel befah-renen Bahntrassen ihre Notdurft verrichten, so tun sie dies nicht, weil sie kein Schamgefühl haben, sondern weil ihre Behausungen nicht an die Ka-nalisation angeschlossen sind und sie nicht das Geld für einen Anschluss haben. SPRECHERIN Auf den Zusammenhang zwischen Macht und Kloake hat schon 1968 Chri-stian Enzensberger in seinem Größeren Versuch über den Schmutz hinge-wiesen. Darin kommt eine referierende Stimme zu dem Schluss: ZITATOR Jeder Träger von Schmutz sei mächtig, sagte er, und jeder Inhaber von Macht verwende den Schmutz zu seiner Herrschaft. () Daß Macht und Schmutz sich unvermeidlich zusammentun, sagte er weiter, erkläre sich aus ihrer ähnlichen Wirkung auf die Person. Vor der Macht beuge man sich, mache sich klein, gehe in die Knie, krieche im Staub, werde zum sich krüm-menden Wurm, zur Wenigkeit, zum Nichts; man kontrahiere ganz allge-mein, auch physiologisch, bis zum Schweißausbruch, bis zur erniedrigen-den Entleerung. () Nicht anders als bei der Beschmutzung. Was sich mit ihr androhen lasse, sei inzwischen ja klar: die Auflösung der Person nach Iden-tität und Struktur, eine Art kleiner Tötung.32 SPRECHERIN In Jurek Beckers Roman Jacob der Lügner besteht die „kleine Tötung“ un-ter anderem darin, dass die Bewohner eines namenlosen Ghettos die ab-schließbare Toilette nicht benutzen dürfen, sondern sich irgendwo hinter Zäunen und Sträuchern erleichtern müssen: ZITATOR Was hat ein Jude auf einem deutschen Klosett verloren?!33 SPRECHERIN Jede Zuwiderhandlung wird unweigerlich mit dem Tode bestraft. Jacobs Lügen über den Vormarsch der Russen und die bevorstehende Be-freiung sind zur über-lebensbestimmenden Hoffnung für die Ghettobewoh-ner geworden. Doch benötigt Jacob „echte“ Informationen, um immer neue Geschichten erfinden zu können. Als er eines Tages sieht, wie ein deut-scher Wachtposten mit einer Zeitung in dem Toilettenhäuschen verschwin-det, fasst er einen lebensgefährlichen Plan. MUSIK ZITATOR Wie war das noch mit den Zeitungen damals, unsere hatten meistens acht Seiten, vier Blätter, nehmen wir an, seine hatte auch vier, das wäre der Normalfall. Ein Blatt zerreißt man einmal, dann noch einmal, dann ein drit-tes Mal, das gibt pro Seite, Moment, das gibt pro Seite acht Stückchen. () Vier Blätter mal acht, das sind zweiunddreißig Stückchen, soviel braucht kein gesunder Mensch, man zerreißt nur eine Seite, und die übrigen legt man sich hin zum Lesen. Aber auch wenn er alle zerrissen hat, auf jeden Fall liegt noch etwas da, wenn er den Rest nicht in seiner Unwissenheit hinterhergeworfen hat. SPRECHER (als Zitator) „Was murmelst du dauernd?“ fragt Kowalski. ZITATOR Ich murmel? SPRECHER (als Zitator) Die ganze Zeit. Vier und sechzehn und das müßte soviel und soviel, was rechnest du aus? () ZITATOR Arbeite weiter und dreh dich nicht nach mir um. SPRECHER (als Zitator) Wieso? Was ist denn? ZITATOR Ich gehe auf ihr Klosett.34 SPRECHERIN Jacob schafft es tatsächlich, unbemerkt in das Häuschen zu gelangen – und auch wieder heraus. Aber der Informationsgehalt der Zeitungsschnip-sel erweist sich als äußerst mager. Derweil werden die ersten Bewohner des Ghettos in Vernichtungslager deportiert, wo die exkrementellen Demü-tigungen weitaus perfider sind. SPRECHER Es begann bereits auf dem Weg dorthin in Viehwaggons ohne Latrinen und hörte selbst in der letzten Phase des Krieges bei den so genannten Todes-märschen nicht auf: Wer stehenblieb, um zu urinieren, riskierte erschossen zu werden. ZITATOR Urin und Kot liefen die Beine der Gefangenen hinunter. () Nachts froren die Exkremente an und hörten so auf zu stinken. Wir waren keine menschli-chen Wesen im herkömmlichen Sinne mehr. Nicht einmal Tiere, nur verrot-tende Körper auf zwei Beinen.35 SPRECHER Terence Des Pres in seinem Buch Der Überlebende. SPRECHERIN Tatsächlich ging es nicht um bloße „Vertierung“ der Menschen, sondern darum, zielgerichtet all das zu verneinen, was ein Exemplar der Spezies homo sapiens zum Menschen macht. Das System der Entwürdigung war wohldurchdacht: Abgesehen davon, dass sie für die Anzahl der KZ-Insas-sen ohnehin nicht ausreichten, waren die Zeiten für den Besuch der Aborte streng reglementiert. Oft mussten die Gefangenen knietief im Kot Schlange stehen. Toilettenpapier gab es nicht, so dass sie Teile ihrer Kleidung zur Reinigung benutzen mussten. Auch kam es vor, dass die Wachtposten das Essgeschirr der Gefangenen in die Latrinen warfen. Diese mussten es wie-der herausfischen – und anschließend daraus essen. SPRECHER Die rumänische Schriftstellerin Ana Novac wurde im Sommer 1944 als 14-jährige ins KZ Auschwitz verschleppt. Dort führte sie ein Tagebuch, das un-ter dem Titel Die schönen Tage meiner Jugend erschienen ist. ZITATORIN Die Latrine! () Mit Recht wird sie der „Club“ genannt, denn es ist ein interna-tionales Zentrum, vielleicht das ungewöhnlichste der Welt. Hier begegnete ich zum ersten Mal Franzosen, zwei Chinesen (beide einarmig), Griechen, Holländern, Belgiern, Spaniern, Polen, Russen, Männer und Frauen, die sich auf der doppelten Reihe der „Sitze“ drängen, die sich der Länge nach durch die riesige Baracke zieht. Gleich nach dem Appell stürmt alles hier-her. Man stelle sich vor: fünf- oder zehntausend Menschen, die durch die-selbe Tür wollen! Und wenn wir nur von hinten bedrängt würden! Aber was uns vorne erwartet, ist noch schlimmer: der Jaucheeimer. Der „Latrinendra-che“ ist eine energische Person. () Gewöhnlich steht sie mit gespreizten Beinen auf der Latrine, den Eimer randvoll, bereit, einen damit zu besprit-zen. Ein Tropfen genügt, und man weicht, um sich stoßend, zurück und be-ginnt in allen Sprachen zu brüllen, sogar auf chinesisch... Daß ich dem doppelten Druck der Scheiße und der Menge jeden Tag entkommen bin, dafür gibt es keine Erklärung. Es grenzt ans Übernatürliche.36 SPRECHER Von Nationalsozialisten wie dem SS-Sturmbannführer und KZ-Arzt Heinz Thilo wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ohne Umschweife als „anus mundi“ bezeichnet: Arsch der Welt. SPRECHERIN Thomas Harlan, der Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan, hat den Groß-teil seines Lebens damit verbracht, NS-Täter aufzuspüren und anzuklagen oder wenigstens namentlich bekannt zu machen. Die Dokumente, auf die er stieß, das Begreifen dessen, was wie geschehen war, machten Thomas Harlan, wie er selbst einmal sagte, zu einem „Fachmann des Bösen“. Wie schwer verdaulich dieses Wissen sein kann, schildert er in seinem Roman Rosa. Die Szene spielt in Polen, auf dem Klo einer Fernfahrerkneipe. MUSIK ZITATOR Die Latrine war ein Neubau. Direkt neben den Geleisen des Verschiebe-bahnhofs () stand der graue Plattenkubus neben erbrochenen Fischresten und einer toten Katze, nur ein paar Schritte entfernt vom Hinterausgang der Privatgaststätte, im Garten. () Wer über dem Geschmeiß saß, das sich tief unten in der Senkgrube mit Scheiße verwöhnen ließ, beobachtete nicht oh-ne Lust die runde, ungehobelte Öffnung des Kloakenbretts, die ein Joch war, in das jeder Kopf paßte. () Hier wenigstens, Zeitung lesend in der Ei-seskälte, halbe Kreuzworträtsel und die Geständnisse der Kindestöterin F. () – hier wenigstens schlugen dir die hartnäckigen Dämpfe deines Kots brühwarm in die Fresse zurück.37 Musik geht in Atmo über ATMO Nachts in einer Schiffskabine: entfernt das träge Krängen des Schiffes ZITATOR Psst! Arschloch!38 SPRECHERIN Auch in Jonathan Franzens Roman Die Korrekturen schlägt die Scheiße zu- rück. ZITATOR Mit einem Ruck wachte Alfred auf (). War noch jemand in der Kabine? „Arschloch!“ „Wer ist da?“, fragte er halb herausfordernd, halb ängstlich.38 SPRECHERIN Alfred, ein Angehöriger der amerikanischen Mittelklasse, ist ein pedanti-scher, ordnungsfixierter und herrschsüchtiger Rentner, der an Parkinson und Altersdemenz erkrankt und zunehmend die Kontrolle über sich verliert. Das Malheur passiert ihm ausgerechnet während einer Schiffsreise nach Norwegen, zu der ihn seine Frau Enid überredet hat. ZITATOR Außerhalb seiner selbst konnte er das Psch, Psch zweier Hände hören, die an ihren Gelenken sacht auf den Laken hin- und herschwangen. () Und je-manden, der da unten, in dem zweifelhaften Raum unter dem Bettzeughori-zont, kicherte. () Ein kleines Tier, eine Maus, huschte in die Schattenschich-ten am Fuß von Enids Bett. () „Arschloch, Arschloch!“, höhnte der Besucher und trat aus der Dunkelheit in die Bettranddämmerung. Mit Bestürzung er-kannte Alfred ihn. Zuerst sah er die eingesackten Konturen, dann stieg ihm ein Hauch von bakteriellem Verfall in die Nase. Das war keine Maus. Das war der Scheißhaufen.39 SPRECHERIN Und zwar seiner, der – nicht nur unter der Bettdecke – eine eigene entfes-selte Existenz entfaltet. Ein weicher Stuhl mit losem Maul und einer Einstel-lung, die Alfred gespenstisch vertraut vorkommt. ZITATOR „Pfllaaatsch!“, höhnte der Scheißhaufen. Er war an der Wand über Alfreds Koje wieder aufgetaucht und hing halsbrecherisch () neben einer gerahm-ten Radierung vom Osloer Hafen. „Der Teufel soll dich holen!“, sagte Alfred. „Du gehörst hinter Schloss und Riegel!“ Der Scheißhaufen keuchte vor Lachen, während er sehr langsam an der Wand herabglitt (). „Mir scheint“, sagte er, „ihr analfixierten Typen hättet gerne alles hinter Schloss und Riegel. Kleine Kinder zum Beispiel, absolute Katastrophe, Mann, die reißen dir deinen Plunder aus den Regalen (). Ab in den Knast mit ihnen! Und die Polynesier, Mann, die tragen Sand ins Haus und schmieren Fischsauce auf die Möbel, und all die geschlechtsreifen Puppen mit ihren entblößten Möpsen? Einsperren! Und wo wir schon mal dabei sind, wie wäre es mit zehn oder zwanzig Jahren für jeden kleinen gei-len Teenager, ich meine, apropos Unverschämtheit, apropos null Disziplin. Und Neger (heikles Thema, Fred?), ich höre Hottentotten-Geschrei und wil-de Grammatik, ich rieche Alkohol von der malzigen Sorte und schweren, fettigen Schweiß. () Und diese Kariben mit ihren Riesenjoints und ihren blähbäuchigen Gören und, also echt, () die Chinesen, Mann, diese arsch-kriechenden, komisch benamsten Weicheier (). Wie wär’s, schmeißen wir doch einfach ’ne Atombombe auf alle eins Komma zwei Milliarden von de-nen, he? Der Teil der Welt wäre dann schon mal sauber. () Und diese Ju-den mit ihren beschnittenen Schwänzen und ihrem gefillte fisch (), und eure weißen angelsächsischen Protestanten mit ihren ellenlangen Motorjachten und laufärschigen Polopferden? () He, komisch, Fred, die einzigen Leute, die nicht in dein Gefängnis gehören, sind nordeuropäische Männer der obe-ren Mittelschicht.“40 Das Zitat langsam unter Sprecherin ausblenden SPRECHERIN Noch während sein Kot über alles herzieht, was er selbst am liebsten im Klo runter spülen würde, auf dass der Gesellschaftskörper – die Nazis nannten ihn „Volkskörper“ – von Schädlingen gereinigt werde, kriecht Alfred auf allen Vieren ins Bad und tritt die Tür hinter sich zu. ZITATOR Einen Augenblick lachte er über die Absurdität seiner Lage. Da saß er () auf dem Boden eines schwimmenden Badezimmers und wurde von einem Ge-schwader Fäkalien belagert. Man kam schon auf die sonderbarsten Einfälle, so spät in der Nacht.41 Die Atmo klingt mit entferntem Schiffshupen aus SPRECHERIN 4. Kapitel: „So viel Leere“ MUSIK ZITATOR Kack in die Stiefel, piß aus dem Fenster, schrei Scheiße, laß den Dünnpfiff wässrig sein und die Fürze eisern; rülps den Leuten ins Gesicht.42 SPRECHER Gustave Flaubert. ZITATOR Wir wollen uns mit Kognak berauschen Wir wollen unsere Weiber vertauschen Wir wollen uns mit Scheiße beschmieren Wir wollen überhaupt ein freies Leben führen!43 SPRECHER Ödön von Horváth. Die Vorliebe von Autoren jeglicher Couleur für die Fäkalsprache ist auffal-lend. Sie dient als Ausdruck des Aufbegehrens gegen die als vornehm-ver-krustet empfundenen Werte und Schamgefühle des Bürgertums. Einerseits. Andererseits spiegelt sie aber auch das innige Verhältnis vieler Vertreter der schreibenden Zunft zu ihren eigenen Ausscheidungen wieder. Kaum ei-ner hat das so kurz und bündig formuliert wie Max von der Grün: ZITATOR Ich schreibe, wie ich scheiße. Weil ich muss.44 SPRECHER Für den bereits zitierten Gustave Flaubert war der kreative Schreibprozess in erster Linie eine Sache der Verdauung; Jean Paul meinte ebenfalls, der Ursprung der meisten Schriften lasse sich „aus dem Magen heraus“ erklä-ren; Elias Canetti befand, dass nichts so sehr zu einem gehört habe, „als was zu Kot geworden ist“; der Zeit seines Lebens mit Verstopfung geschla-gene Martin Luther bekannte, dass das stille Örtchen der Wartburg der ei-gentliche Geburtsort für seine reformatorischen Ideen war; und Thomas Mann berichtete in seinen Tagebüchern ausführlich über „Darmspasmen“ oder „Stauungsgefühle“. Seine letzte Eintragung lautet: ZITATOR Verdauungssorgen und Plagen.45 SPRECHERIN Doch ist das alles nichts gegen den Lobgesang, den Günter Grass in sei-nem Roman Der Butt anstimmt. Nicht ohne Hybris lässt Grass sein männ-liches Künstler-Ich dem eigenen Kothaufen zujauchzen: ZITATOR Wir staunen uns an. Wir haben uns was zu sagen. Mein Abfall, mir näher als Gott oder du oder du.46 SPRECHERIN Kein Wunder, dass dieses lyrische Ich einen seiner erfülltesten Momente auf der Toilette während einer Durchfallattacke erlebt. „Leer und allein“ hat Günter Grass das Gedicht genannt. ZITATOR Hosen runter, Hände wie zum Gebet, trifft mein Blick voll: die dritte Kachel von oben, die sechste von rechts. Durchfall. Ich höre mich. Zweitausendfünfhundert Jahre Geschichte, frühe Erkenntnis und letzte Gedanken lecken einander, heben sich auf. () So viel Leere ist schon Vergnügen: allein auf dem Klo mit dem eigenen Arsch. Gott Staat Gesellschaft Familie Partei ... Raus, alles raus. Was riecht, bin ich. Jetzt weinen können.47 SPRECHERIN Es ist ein absolut existentieller Augenblick, der hier geschildert wird. Nicht nur, dass im wahrsten Sinne des Wortes hemmungslos auf alles geschis-sen wird, was drückt und zwickt und zwackt; überdies fallen die Probleme scheinbar unverdaut ebenso durch den Körper wie durch den Geist hin-durch: „Raus, alles raus.“ Was bleibt, ist nackte Existenz jenseits aller Glaubens- und Staatssysteme, auch jenseits aller Ideengeschichte – und erst recht jenseits aller Gesellschafts- und Familienzwänge. SPRECHER Auch der über jeden Zweifel an seiner Vornehmheit erhabene Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat über seine Scheiße sowie die Scheiße an sich nachgedacht – und die Verwendung des Begriffs als Schimpfwort kategorisch abgelehnt. Stattdessen wendet er das körperlich wie sozial Ausgestoßene zu einer satirischen Gesellschaftskritik. ZITATOR Immerzu höre ich von ihr reden als wär sie an allem Schuld. Seht nur, wie sanft und bescheiden sie unter uns Platz nimmt! Warum besudeln wir denn ihren guten Namen und leihen ihn dem Präsidenten der USA, den Bullen, dem Krieg und dem Kapitalismus? Wie vergänglich sie ist, und das was wir nach ihr nennen wie dauerhaft! Sie, die Nachgiebige, führen wir auf der Zunge und meinen die Ausbeuter. Sie, die wir ausgedrückt haben, soll nun auch noch ausdrücken unsere Wut? Hat sie uns nicht erleichtert? Von weicher Beschaffenheit und eigentümlich gewaltlos ist sie von allen Werken des Menschen vermutlich das friedlichste. Was hat sie uns nur getan?48 SPRECHER Die referierende Stimme in Christian Enzensbergers Größerem Versuch über den Schmutz preist ebenfalls den intimen Charakter des Schreibens. Aber sie kritisiert auch, dass jeder Schriftsteller ihn nicht nur behauptet, sondern gleichzeitig auch verletzt. ZITATOR Eine gewisse Unappetitlichkeit sei diesem Handwerk daher auch nicht ab-zusprechen. Sie liege freilich nicht in der gelegentlichen Wahl eines anstö-ßigen Themas, sondern, ganz wie im Fall der leiblichen Absonderung, in der unsicheren Zugehörigkeit zur Person des Urhebers, in der Schamlosig-keit nicht nur des Zurücklassens, sondern auch noch der Veröffentlichung. Damit ende sein Exkurs, und auch sonst habe er zum () privaten Schmutz-bereich nichts mehr zu sagen.49 SPRECHERIN Wir schon. Denn das letzte Wort gebührt dem, mit dem diese literarische „Toiletten-Sitzung“ begonnen hat: Peter Handke. Wie er schreibt, waren der „vordringlichste und mächtigste“ Anlass für seinen Versuch über den Stillen Ort – ZITATOR – jene Übergänge () von Stummheit, Geschlagensein mit Stummheit, zur Wiederkehr der Sprache und des Sprechens – immer wieder erlebt, und im Lauf des Lebens zunehmend stärker, im Moment des Schließens und Ab-sperrens der bewußten Tür, allein mit dem Ort und seiner Geometrie, weg von den anderen. Draußen: Verstummen. Verstummtheit. Sprachloswerden. Sprachverlust. Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der anderen, von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet – verödet. () Höchstens ein Tonloses: „Ich muß kurz verschwinden!“ () Die in der Regel so steilen, heimelig abgetretenen Stufen hinab, Tür zu, den Riegel senkrecht oder waagrecht gestellt, und schon hebt es zu reden an im Verstockten, () in einer ganz anderen, einer unerhörten Erleichterung, und wenn auch zum Beispiel bloß so: „Ja, da schau her. Ist das denn mög-lich?“ () Das Grölen, Gellen, Toben und Kreischen draußen: verwandelt in Volksge-murmel und Weltgeräusch. Los, auf, zurück zu den andern, vielsilbig, voll von der Redelust.50 MUSIK Quellennachweis: 1) Peter Handke, Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp. Berlin 2012: 11 2) Ebda.: 15 3) Ebda.: 49 4) Ebda.: 76 5) Ebda.: 46 6) James Joyce, Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1975: 92f 7) Bertolt Brecht, Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1968: 22 8) Ebda.: 67 9) James Frey, Strahlend schöner Morgen. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. List. Berlin 2011: 63 10) Ebda.: 205ff (Quellenangabe gilt für die gesamte Szene) 11) Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1976: 11 12) Eva Maria Remarque, Im Westen nichts Neues. Kiepenheuer und Witsch. Köln-Berlin 1961: 11 13) Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1973: 35 14) Thomas Brussig, Helden wie wir. Verlag Volk & Welt. Berlin 1996: 43ff 15) J.M. Coetzee, Die Kindheit Jesu. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer. Frankfurt am Main 2013: 169ff (Quellenangabe gilt für die gesamte Szene) 16) Henry Miller, Stille Tage in Clichy. Aus dem Amerikanischen von Kurt Wagenseil. Lizenz-ausgabe Buchergilde Gutenberg. Frankfurt am Main 2001: 105 17) Elfriede Jelinek, Lust. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 1992: 72 18) Ebda.: 24 19) Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 1986 (hier 2009): 137 20) Ebda.: 175 21) Ebda.: 174ff 22) Thomas Bernhard, Alte Meister. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1988: 61ff 23) Sibylle Berg, Sex 2. Reclam. Leipzig 2002: 43 24) Ebda.: 43ff 25) Ebda.: 46 26) Adrian Pais, In den Wolken. Aus dem argentinischen Spanisch von Simone Reinhard. Ver- lag Hans Schiller. Berlin-Tübingen 2010: 92ff 27) Victor Hugo, Die Elenden. Dritter Band. Fünfter Teil: Jean Valjean. Aus dem Französischen von Paul Wiegler und Wolfgang Günther. Verlag Volk und Welt. Berlin 1990: 102 28) Hans-Christoph Neidlein (Hg.), Nicht nur eine Frage der Knappheit. Macht, Armut und die globale Wasserkrise. UNO-Verlag. Bonn 2006 (hier die Kurzfassung des Berichts): 7 29) Ebda.: 16 30) Victor Hugo, a.a.O.: 103 31) Ebda.: 103f 32) Christian Enzensberger, Größerer Versuch über den Schmutz. dtv. München 1970: 48f 33) Jurek Becker, Jacob der Lügner. Reclam. Leipzig 1988: 87 34) Ebda.: 87f 35) Terrence Des Pres, Der Überlebende. Anatomie der Todeslager. Mit einem Nachwort von Arno Grün. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Monika Schiffer. Klett-Cotta. Stuttgart 2008: 105 36) Ana Novac, Die schönen Tage meiner Jugend. Aus dem Französischen von Eva Molden-hauer. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2009: 203f 37) Thomas Harlan, Rosa. Eichborn. Frankfurt am Main 2000: 78f 38) Jonathan Franzen, Die Korrekturen. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Ro-wohlt. Reinbek bei Hamburg 2002: 390 39) Ebda.: 392 40) Ebda.: 395f 41) Ebda.: 398 42) Zitiert nach „Den lieben Gott kann man nicht riechen“ (ohne Autorennennung) in Der Spie-gel Nr. 33/1984: 122 43) Ödön von Horváth, Sechsunddreißig Stunden. Die Geschichte von Fräulein Pollinger. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1993: 24 44) Zitiert nach Gudrun Norbisrath: „Elfriede Jelinek und die Wirtschaftskrise“ in Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 19.04.2009 45) Inge Jens (Hg.), Thomas Mann. Tagebücher 1953-1955. S. Fischer. Frankfurt am Main 2003: 1001 46) Günter Grass, Der Butt. Luchterhand. Darmstadt und Neuwied 1977: 354 47) Ebda.: 304 48) Hans Magnus Enzensberger: „Die Scheiße“ in ders. Gedichte 1955-1970. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1971: 156 49) Christian Enzensberger, a.a.O.: 33 50) Peter Handke, a.a.O.: 107ff Außerdem verwendete Literatur (Auswahl): Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 1984 Daniel Furrer, Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Lizenzausgabe). Darmstadt 2004 Dominique Laporte, Eine gelehrte Geschichte der Scheiße. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 1991 Florian Werner, Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße. Nagel & Kimche. München 2011 1