COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 31. Juli 2013 19.30 Uhr Hitlers Bestseller Die Debatte um die wissenschaftlich-kritische Neuedition von "Mein Kampf" Von Markus Metz und Georg Seeßlen MUSIK DARÜBER ZITATOR Arier: Kulturbegründer 317, 421. - Entwicklungsbild der arischen Kulturschöpfung 319 f. - Eroberer 324. - Rassenmischung 324. - Gemeinschaftsdienst des A. 326. - A. und Jude 329 f. - Vgl. Rasse Aristokratisches Führerprinzip: im völkischen Staat 492 f. - in der NSDAP. 493 Auslese der Tüchtigen im völkischen Staat 477 ... DARÜBER SPRECHER 12 Millionen Mal wurde das Buch "Mein Kampf" von Adolf Hitler bis zum Jahr 1945 verkauft. ERZÄHLERIN Und angeblich hat es damals keiner gelesen... O-TON 01 Wochenschau: Öffentliche Lesung aus "Mein Kampf" beim Arbeitsdienst SPRECHER Und heute? Circa 5 Millionen Treffer ergibt die Google Suche nach "Mein Kampf". Man kann den Text in vielen Sprachen auf den eigenen Computer laden oder ihn sich bequem vorlesen lassen. O-TON 02 "Mein Kampf" englisch ERZÄHLERIN Noch bis zum 31. Dezember 2015 ist die Verbreitung des Buches im Neudruck in Deutschland verboten. Nachdrucke und Übersetzungen finden sich indes nicht nur in den Händen alter und neuer Nazis, sondern dienen den unterschiedlichsten Sekten und Sektierern als Anschauungs- und Propagandamaterial. So soll "Mein Kampf" für das "Christogenea Project" (christogenea.org) beweisen... ZITATOR ... "dass Hitler ein guter Christ war, der sich aus tiefstem Herzen für seine Rasse einsetzte und dem Beispiel von Jesus Christus bis zum bitteren Ende folgte, ganz anders als die modernen Kirchen mit ihren Lippenbekenntnissen." ZITATOR Adolf Hitler "So glaube ich heute im Sinne des Allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn." Adolf Hitler: Mein Kampf (Seite 70) ERZÄHLERIN "Mein Kampf" verspricht noch heute ein lukratives Geschäft. O-TON 03 "Anne Will" Dieser Mann, der britische Verleger Peter McGee wollte "Mein Kampf" in Auszügen an deutsche Kioske bringen. Und erntete einen Sturm der Entrüstung. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden: "Bei dem Gedanken, dass Adolf Hitler zum Bestseller wird, wird mir regelrecht übel." Zudem "besteht doch die Gefahr, dass "Mein Kampf" immer noch wirkt. Und das müssen wir versuchen zu verhindern". Bayern hat gerichtlich untersagen lassen, "Mein Kampf" zu veröffentlichen. Denn der Freistaat besitzt die Urheberrechte. Grotesk: Der Nachdruck ist verboten, das Buch zu lesen und zu besitzen jedoch erlaubt. 70 Jahre nach Hitlers Tod läuft das Urheberrecht an "Mein Kampf" aus. Der bayerische Plan: Die Schüler sollen dann Auszüge im Unterricht lesen können. "Das Ziel ist die Entmystifizierung. Manch einer glaubt ja, da stehe etwas Besonderes drin in dieser paranoiden Schrift." DARÜBER ERZÄHLERIN Aus "Anne Will", ARD 2012 O-TON 03 HOCH SPRECHER Am Münchner Institut für Zeitgeschichte arbeitet ein Historikerteam daran, bis Ende 2015 eine historisch-kritisch kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" vorzulegen. Christian Hartmann leitet das Projekt. O-TON 04 Christian Hartmann Das Verbot ist ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und der Zerschlagung der NS-Diktatur. Die Alliierten versuchten, Deutschland zu entnazifizieren, ein Teil davon war das Verbot des Eher-Verlages, des Parteiverlages der NSDAP. Ende 1945 entschied die US-Army, dass alle Rechte des Eher-Verlags künftig beim Bayerischen Finanzministerium liegen. Das wurde immer wieder kritisiert, die haben aber nichts anderes gemacht, als den uralten Auftrag treu zu verwalten. Das Verbot war eine Zeitlang notwendig bis in die 50er/60er Jahre, als das unselige Erbe noch mehr oder weniger virulent war. Inzwischen ist der Nationalsozialismus immer mehr zu einem Forschungsobjekt geworden; von Hitler ist mittlerweile alles gedruckt und als Edition vorhanden, von seinen allerersten Postkarten bis zu seinem Testament 1945. Der eigentliche Grund, warum "Mein Kampf" noch nicht wissenschaftlich editiert wurde, ist der ungeheure Symbolwert des Buches. Es ist ein Symbol des Dritten Reiches, ein Teil der damaligen Propaganda- und Herrschaftspolitik. MUSIK DARÜBER ZITATOR ... Dadaismus: Bolschewismus in der Kunst 283? Demokratie: germanische 99; - jüdische 99. - Westliche D. Vorläufer des Marxismus 85. - D. und Marxismus 412. - D. Teilziel des Judentums 347. - Jüdische Verfechtung des Gleichheitsprinzips 478. - Verfechtung des Mehrheitsprinzips 498 Deutsche Arbeiterpartei, Vorläufer der NSDAP 236, 388. - Erste Erörterungen 227 Diktatur des Proletariats: eine jüdische Waffe 357 Doktrinarismus, deutscher 120f ... ERZÄHLERIN "Mein Kampf" ist oft wirr und redundant - ein endloses Kreisen um obsessiv wiederholte Phantasmen von Volk, Heimat, Führer, Rasse, Bolschewisten und Juden. Wirklich klar zutage tritt nur Weniges: Zum einen die Bereitschaft zu bedingungsloser Gewalt, die sich nicht schert um menschliche Regungen, Völkerrecht und Moral. Zum anderen die schlichte Aussage: Adolf Hitler hat nicht nur die richtigen Lösungen für das durch den Frieden von Versailles gekränkte und von Juden und Bolschewisten unterwanderte deutsche Volk; Adolf Hitler ist die Lösung. In seinem Buch, das man auch als ein Stück furchtbarster Belletristik lesen kann, erfindet sich Adolf Hitler als Führer. Das Grauen, das von diesem wahrhaft unmenschlichen Text ausgeht, wird auch heute nur unwesentlich dadurch gemildert, dass es Passagen von unfreiwilliger Komik enthält. O-TON 06 Helmut Qualtinger liest "Mein Kampf": "Schon die oberflächlichste Betrachtung zeigt als nahezu ehernes Grundgesetz der Ausdrucksformen des Lebenswillens der Natur ihre in sich begrenzte Form der Fortpflanzung und Vermehrung. Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art: Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin usw. Das ist nur zu natürlich. Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes zur Rassenreinheit ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selber." SPRECHER Helmut Qualtinger liest aus Adolf Hitlers "Mein Kampf": Die Idee entstand 1973 im Thalia Theater Hamburg zum 40. Jahrestag der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus. Qualtingers Lesung ergänzte damals George Taboris Auschwitz-Stück "Die Kannibalen" und eine zeitkritische Revue, die unter dem Titel "Erst ne Weile rechts" die Geschichte Deutschlands in den zehner und zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts kommentierte. ERZÄHLERIN "Mein Kampf" vermittelt ein beinahe lachhaft einfach gestricktes Weltbild. Die Juden und die Bolschewisten sind an allem Schuld. Demokratie und Parlament sind schwach und verräterisch. Nur das eigene Volk und die eigene Rasse zählen. Humanismus ist Unsinn, die Führer müssen befehlen und alle anderen gehorchen. O-TON 08 Christian Hartmann Natürlich kann man "Mein Kampf" verbieten, das ist bislang gemacht worden, man hätte den Straftatbestand der Volksverhetzung. SPRECHER - Christian Hartmann, Historiker am Institut für Zeitgeschichte, München - O-TON 09 Christian Hartmann Es gibt aber zwei Punkte, die da sehr problematisch wären: Erstens kann nicht über den Nationalsozialismus geforscht werden, ohne dass man "Mein Kampf" zur Verfügung hat. Das Buch ist gedruckt, vieles ist heute nicht mehr verständlich. Zweitens ist das Buch im Ausland weit verbreitet und im Internet präsent. Wir können also nur noch die Flucht nach vorne antreten. Zweck und Ziel dieser Edition ist, wir wollen den Mythos von "Mein Kampf" brechen. Historiker sagen dazu dekonstruieren, wir beschäftigen uns Satz für Satz mit den Behauptungen und dann entstehen unten gewaltige Fußnoten, die sich sehr kritisch mit dem Inhalt auseinandersetzen. MUSIK DARÜBER ZITATOR ... Judentum: Gegensatz zum Arier (s. diesen ) 329, 596. - Werdegang des J. 338 f. - Judenfrage 54. - "Religion?" 165. - Der j. Staat 165, 331. - Staat im Staat 334. - Keine Nomaden 338. - Gegenwehr gegen den Antisemitismus 629, 632. - Gefahr jüdischer Bastardierung 629. - Wahrung der Blutreinheit des J. 751. - Christus 336. - Jüdische Demokratie 99. ERZÄHLERIN Was war das Buch damals? Zweifellos die größte Vertextlichung des Nationalsozialismus, der sich ansonsten vorzugsweise über das gesprochene, oder sollten wir sagen: das gebrüllte Wort und über die visuelle Selbstinszenierung vermittelte. Und dies nun nicht obwohl es ein so geistloser und zuweilen gar kindisch-unbeholfener Text ist, der vom Verlag erst in eine lesbare Form gebracht werden musste, sondern gerade deswegen. Mag "Mein Kampf" auch voll von historischem Halbwissen stecken, von Angelesenem und oft einfach nur schlecht Abgeschriebenem - in seinem Charakter ist das Buch unzweideutig und verständlich genug. Buch und Verfasser sind eins; durch jeden Satz, durch jeden Gedankensprung scheint die Selbstinszenierung des kommenden "Führers" durch. SPRECHER Zweifellos gab es auch damals sozusagen intellektuellere Versuche, die faschistische Weltanschauung zu begründen, aber die hat im Gegensatz zu "Mein Kampf" wohl wirklich kaum jemand gelesen. Hitlers Buch forderte nicht nur auf zu politischen Verbrechen, zu Unmenschlichkeit und Mord, sondern bedient sich auch einer pseudo-darwinistischen Metaphorik. Das Unmenschliche schien gerechtfertigt, weil es der Rasse dient, und die Rasse ist nichts anderes als der Ausdruck der Natur. So einfach strickte sich das Weltbild für kommende Massenmörder. O-TON 10 Helmut Qualtinger liest "Mein Kampf": "Damit aber war der Weg, den der Arier zu gehen hatte, klar vorgezeichnet. Als Eroberer unterwarf er sich die niederen Menschen und regelte dann deren Betätigung unter seinem Befehl nach seinem Wollen und für seine Ziele." ERZÄHLERIN Auch wenn ein Schauspieler wie Helmut Qualtinger die innere Hohlheit und die Psychose aus Hitlers Text buchstäblich herauslesen kann, dann ist damit freilich noch lange nicht gesagt, dass eine Publikation deshalb politisch ungefährlich sei. Und noch weniger kann behauptet werden, nach siebzig Jahren sei die Publikation von "Mein Kampf" frei von jenem Symbolwert, der den Nachkommen der Opfer als Hohn erscheinen muss. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland: O-TON 11 Charlotte Knobloch Das geht nicht nur um mich, sondern um alle Menschen, die das Nazi-Regime überlebt haben und die Folgen, die Hitler in "Mein Kampf" nicht nur angedeutet hat, sondern ganz drastisch beschrieben hat, die hat ein Teil erlebt und ein Teil überlebt. Ich fühle mich in einer solchen Situation in meinem Heimatland, das nach sehr langer Zeit wieder mein Heimatland wurde, wirklich in einer Situation, wo "Mein Kampf" im Schaufenster eigentlich unvorstellbar ist. MUSIK DARÜBER ZITATOR Nationalsozialismus: Grundsätze und Organisation: Antiparlamentarisch 378. - Teilnahme am Parlament nur taktisch 379. - Aristokratisches Führerprinzip 493. Parlamentarismus: P. und Marxismus 85. - Wegbereiter des Marxismus 85. - Teilziel des Judentums 347. O-TON 12 Christian Hartmann Unsere Arbeit an "Mein Kampf" sieht so aus: Konkret sind es sechs Wissenschaftler sowie einige Praktikanten. "Mein Kampf" besteht aus zwei Bänden oder 27 Kapiteln und die sind verteilt: Jeder arbeitet an seinem Kapitel, aber die werden dann noch einmal gemeinsam durchdiskutiert. Wir versuchen, das Buch von vier Seiten zu umstellen: Wir schreiben eine eigene Einleitung. Wir schreiben einen breiten Kommentar, wo Satz für Satz bewertet und kommentiert wird. Wir schreiben am Anfang jedes Kapitels ein Essay zur Entstehungsgeschichte des Kapitels, und am Ende des Kapitels sind die Lesarten zwischen den verschiedenen Auflagen. Allein diese Edition ist ein gewisser Verfremdungseffekt. Die Argumente, die wir in Fußnoten gegen das Hitlersche Denken anführen, sind so gewichtig und versammeln so viel Wissen, dass von dem Buch und seiner Strahlkraft nicht mehr viel übrig bleibt. ZITATOR Adolf Hitler "Es ist vernichtend, vor dem dürren Scheidemann, dem feisten Herrn Erzberger und einem Friedrich Ebert und all den zahllosen anderen politischen Knirpsen zu Kreuz gekrochen zu sein." ERZÄHLERIN Dieses Hitler-Zitat versehen die Historiker mit folgender kommentierender Anmerkung: ZITATOR "Es war das Schicksal dieser drei deutschen Politiker, dass sie 1918 schließlich die Verantwortung für das militärisch-politische Desaster übernehmen mussten, das andere angerichtet hatten. Dass sie die Nation in ihrer größten Krise vor Schlimmeren bewahrt haben, hat ihnen nicht allein Hitler nicht gedankt. Matthias Erzberger wurde 26.8. 1921 von rechtsradikalen Terroristen, Angehörigen der Organisation Consul, ermordet. Am 4.6. 1922 wurde ein Mordanschlag auf Scheidemann verübt; die Attentäter spritzten ihm Blausäure ins Gesicht." SPRECHER Von solchen Anmerkungen ausgehend lässt sich weiter nachforschen: Wie entstand und wie funktionierte diese rechte Terrororganisation namens Consul? Wie gelang es Hitler und seiner Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die vielen rechtsextremen Konkurrenzorganisationen entweder zu zerschlagen oder zu vereinnahmen? Und welche Rolle spielte dabei dieser merkwürdige hybride Text "Mein Kampf"? O-TON 13 Christian Hartmann Das Interessante an "Mein Kampf" ist, dass es ein Pamphlet ist, aber in der Präzision seiner Aussagen oft sehr verwaschen bleibt. Das Buch lebt von vielen Anspielungen oder Unterstellungen, und wir versuchen, das wirklich zu präzisieren: Zahlen, Daten, Fakten. Hitler behauptet z.B., die Politiker von vor dem Ersten Weltkrieg hätten sich alle vor der Revolution feige verkrochen und erst danach weitergemacht. Jetzt ist es so, es gibt da einen großen Elitenwandel in den deutschen Parteien, wie stellt man den dar? Ich habe also bei allen Parteien die Vorsitzenden kurz erwähnt und es wird klar, 1918/19 gab es eine tiefe Zäsur. Die Parteien davor und danach haben als Organisation etwas miteinander zu tun, aber nicht mehr von ihren Repräsentanten. So werden Stück für Stück diese Dinge widerlegt. Das sind teils schwierige Dinge, oft heiße Eisen, wenn er z.B. sagt, die Presse wäre jüdisch. Aber auch da gibt es inzwischen Studien, deren Ergebnisse man zusammenfassen kann und die zeigen: Das sind alles Phantasmagorien. ERZÄHLERIN Zweifellos hilft eine historische Dekonstruktion des Textes von "Mein Kampf" dabei, auch die verborgenen Absichten, den taktischen Charakter des Buches zu verstehen. Aber wie damals lässt sich auch heute die Wirkung eines solchen Textes nicht reduzieren auf Behauptungen und Diffamierungen sowie das Verdrehen historischer Tatsachen. In seinem Kern ist dieser Text nämlich etwas, das man heute wohl als "Hasspredigt" bezeichnen würde. Auf irgendeinen Wahrheitsgehalt kommt es einer solchen nicht an. Vielmehr geht es darum, gewalttätige Impulse frei zu setzen: O-TON 14 Helmut Qualtinger liest "Mein Kampf": "Das Ergebnis jeder Rassenkreuzung ist also immer folgendes: a) Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse, b) körperlicher und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines langsam aber sicher fortschreitenden Siechtums. Eine solche Entwicklung herbeiführen heißt aber doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers. Als Sünde aber wird diese Tat auch gelohnt. Hier freilich kommt der echt judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des modernen Pazifisten: Der Mensch überwindet eben die Natur. Millionen plappern diesen jüdischen Unsinn gedankenlos nach und bilden sich am Ende wirklich ein, selbst eine Art von Naturüberwinder darzustellen. Wobei ihnen als Waffe jedoch nichts weiter als eine Idee zur Verfügung steht, noch dazu eine so miserable, dass sich nach ihr wirklich keine Welt vorstellen ließe." SPRECHER Wie es hier Helmut Qualtinger in seiner theatralischen Lesung aus "Mein Kampf" deutlich macht, funktioniert der Text kaum als Überzeugungsarbeit. Man muss ihn sich vielmehr vorstellen als Komposition von Schlagworten, Partikeln aus vorgeformter Ideologie, psychotischen Hass-Ausbrüchen und einem offensichtlichen Gespür für das, was in der deutschen, nun ja, Volksseele vor sich ging. In diesem Text, den Adolf Hitler angeblich seinem Stellvertreter Rudolf Hess diktierte, geht es nie nur um das, was gesagt wird, sondern immer auch darum, wie es gesagt wird. Wie zum Beispiel die Details eines kleinbürgerlichen Lebens mit historischer Sendung verbunden werden. Oder wie sich persönliche Kränkungen in Energien politischer Kriminalität verwandeln lassen. Im Übrigen war es durchaus ein Motiv des Autors, mit seinem Buch Geld zu verdienen, und zwar viel Geld, das Hitler unter anderem für seine Anwaltskosten benötigte. Mit anderen Worten: "Mein Kampf" war nicht nur als politische Kampfschrift gedacht, es war auch ein taktisch geplanter Bestseller, ein perfides Stück Massen-Entertainment. MUSIK DARÜBER ZITATOR Preußenhetze während des Krieges 621, 627. - Jüdisches Ablenkungsmanöver 212, 623, 627. - P. der feindlichen Flugblattpropaganda 207 Proletariat: Anwachsen des P. eine Verfallserscheinung 255, 288. - Diktatur des P. eine jüdische Waffe 357 Propaganda 194f. - Aufgabe 197, 654. -Zweck 194. - Psychologische Bedingungen 198, 523. - Kunst der P. 197 ... O-TON 15 Charlotte Knobloch Der Möglichkeit eines wissenschaftlichen Kommentars wurde von den Verfolgtenverbänden in Israel ganz entschieden widersprochen. ERZÄHLERIN - Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern - O-TON 16 Charlotte Knobloch Und dieses Thema wurde bei einem Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer in Israel auf die Tagesordnung gebracht und der Vorschlag, doch zu prüfen, inwieweit man die Veröffentlichung gesetzlich verhindern kann, wurde diskutiert. ERZÄHLERIN Nach der Kritik aus Israel untersuchen das Bundesjustizministerium und eine vom Bayerischen Landtag eingesetzte Expertenkommission die Veröffentlichung auf urheber-, straf- und völkerrechtliche Relevanz und Verbotstatbestände. Gleichzeitig arbeiten die Historiker weiter an der kommentierten Neuedition. Die Aufregung um das Buch, ein publizistisches Grundrauschen, pädagogische Diskussionen, Talkshows und Leitartikel, schließlich die neuerliche politische Debatte, ob nicht etwa doch ein vollständiges Verbot zu erwägen sei - das alles gibt dem Buch eine gespenstische Bedrohlichkeit. SPRECHER Doch was gäbe es darin noch Neues zu finden? Dass Hitler ein mörderischer Rassist war? Dass er sich wie so viele seiner späteren Bewunderer mit der deutschen Sprache schwer tat? Dass er sich die Geschichte zurechtgebogen und als Autor hemmungslos bei anderen gestohlen hat? ERZÄHLERIN Für den Umgang mit Hitlers "Mein Kampf" gibt es derzeit wohl keine wirklich ideale Lösung. Zu groß sind die Widersprüche. SPRECHER Es ist richtig: Wer unbedingt "Mein Kampf" lesen möchte, der kommt im Internet nach ein paar Klicks an den Text, kauft sich ein Exemplar im Antiquariat oder im Ausland. In einer Medienlandschaft wie der heutigen lässt sich ein Buch möglicherweise verbieten, zum Verschwinden wird es deswegen noch lange nicht gebracht. ERZÄHLERIN Ebenso richtig ist aber auch, dass einer vollkommenen Freigabe von "Mein Kampf" ein hoher Symbolwert zukommt. Wäre mit diesem Buch nicht auch "erlaubt", was darin zu finden ist? Oder wäre der deutsche Faschismus nun endgültig ein Teil der Geschichte, mit dem man umgehen kann wie mit anderen Teilen der Geschichte - mit einer Mischung aus Faszination und Grauen? O-TON 17 Christian Hartmann Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass "Mein Kampf" in der Neonazi-Szene eine Rolle spielt. Das ist nicht gerade eine besonders intellektuell gestimmte Szene. Das Buch verlangt Arbeit, es ist derartig zeitbezogen. Es geht z.B. um die Distanzierung Hitlers von der völkischen Szene. Vieles verstehen sogar wir nicht: Es gibt bei Hitler den Begriff des ,Rucksack-Spartakisten'. Was ist das? Wahrscheinlich die Unterstellung, die plündern alle. Bis mir klar wurde, es gab damals Emissäre zwischen Deutschland und Russland - und die sind gemeint. Da gibt es so viele Anspielungen, die heute nicht mehr verstanden werden. "Mein Kampf" ist da viel zu abgehoben, zu kompliziert und zu schwer verständlich. Auch unter dem Aspekt ist klar, für die Neonazi-Szene ist das ein Symbol, damit kann man angeben und Position beziehen. Es ist ein klares Bekenntnis - aber der Inhalt, da frage ich mich sehr, ob der so wirkt? SPRECHER "Mein Kampf" ist als Text immer zweierlei zugleich: Auf der einen Seite ein notwendiger historischer Quellentext, ohne den die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen nicht zu verstehen ist. Und auf der anderen Seite ein Text, der für sich selbst den Straftatbestand von Volksverhetzung, Rechtfertigung von Verbrechen und Diskriminierung erfüllt. Man muss demnach eine Lösung dafür finden, den Text einerseits für den kritischen Umgang mit der Geschichte, auch und gerade an Schulen und Universitäten zugänglich zu machen, und zugleich zu verhindern, dass er als Text wie jeder andere auf dem kommerziellen Medienmarkt kursieren kann. ERZÄHLERIN Können, dürfen wir uns wirklich vorstellen, dass eine unkommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" auf den deutschen Bestsellerlisten auftaucht? Für die Suche nach einer wenn nicht idealen, so doch akzeptablen Lösung sind Justiz und Politik zuständig. Aber nicht allein. Es muss auch eine gesellschaftliche Verständigung darüber geben, wie viel wir uns zumuten wollen vom Grundtext des Nationalsozialismus und in welcher Form. Und dabei gilt es, nicht allein die pragmatischen Argumente zu berücksichtigen, sondern auch die Stimmen der Mahner und Kritiker. "Mein Kampf", vielleicht hätte man es schon ein wenig vorher bedenken können, wird noch einmal und gespenstisch genug zu einem Prüfstein für deutsche Politik und Erinnerungskultur. MUSIK DARÜBER ZITATOR Zionismus 60, 356. - Protokolle der Weisen von Zion 337? Zusammenbruch, der deutsche, 1918: Ursachen 245, Tiefste Ursachen: rassisch 310. Jüdische Gefahr 359. - Nicht: der Verlust des Krieges 247. - Die Schuldigen 249. - Ziellosigkeit der deutschen Politik 295. - Psychologische Fehler der Regierung 304. - Vgl. Verfallserscheinungen. 2