COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel am 28.11.2010 Der lange Lauf gegen das Virus - HIV-Positive stärken mit Sport ihr Selbstbewußtsein Autor: Ronny Blaschke Atmo 1 Herzklopfen (Einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor 1 Der Klang des Körpers - Ralph Ehrlich kennt ihn genau. Er wird das Frühjahr 1995 nicht vergessen, er hat die Szenen genau vor Augen: Ehrlich lässt sich bei seinem Hausarzt untersuchen, er gibt Blut ab, nun wartet er auf das Ergebnis, zwei Wochen lang. Er kann kaum schlafen, seine Hände zittern, sein Herz rast. Dann erhält er die Diagnose: HIV-positiv - im Alter von 31 Jahren. O-Ton 1 Ralph Ehrlich "Ich kannte vorher noch nie einen HIV-Positiven. Und der Arzt hatte mir damals gesagt, drei oder vier Jahre hätte ich noch zu leben. Damit bin ich aus dem Sprechzimmer raus und ich glaube, ich habe dann ziemlich lange irgendwie geheult, ich weiß gar nicht mehr wie lange. Und ich hab ja wirklich gedacht, das Leben ist zu Ende. Für mich brach eine Welt zusammen, ich dachte, es ist wirklich Schluss. Also vier Jahre, mir was es unvorstellbar, wie sollte ich in vier Jahren mein Leben planen? Also da gingen Sachen durch den Kopf, die, ich weiß nicht, ich glaube, das kann keiner nachvollziehen." Atmo 2 Berliner Aidshilfe (schon unter O-Ton blenden, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 2 November 2010, die Berliner Aidshilfe in der Meinekestraße, Bezirk Charlottenburg, im Westen der Hauptstadt. Ralph Ehrlich ist in der Öffentlichkeitsarbeit tätig, ehrenamtlich. Er blickt aus freundlichen Augen, er hat eine groß gewachsene, drahtige Statur. Ehrlich ist inzwischen 47 Jahre alt. Trägt Jeans, T-Shirt, Baseballmütze. Auf seinem Schreibtisch liegen Briefe und Broschüren. Auf dem Flur geht es hektisch zu, häufig klingeln die Telefone, im Wartezimmer sitzen drei junge Männer und eine Frau. Atmo 2 Berliner Aidshilfe kurz hochziehen Autor 3 Seit 15 Jahren lebt Ralph Ehrlich mit HIV. Die Diagnose von 1995, die Ankündigung eines baldigen Todes, hat sich nicht bewahrheitet. Ehrlich fühlt sich gut, gesund, er hat kaum Einschränkungen. Dank medizinischer Fortschritte: früher hatte er am Tag 17 Tabletten nehmen müssen, heute sind es drei morgens und zwei abends. Doch das ist nicht alles: Ralph Ehrlich ist zu einem Vorbild geworden. Mit seiner Geschichte gibt er Orientierung. Atmo 3 Tastatur (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor 4 Rückblende: Um die Jahrtausendwende will Ralph Ehrlich sein Leben verändern. Er fühlt sich abgeschreckt von HIV-Infizierten in seinem Umfeld. Es sind Bekannte, die überzeugt sind, dass ihr Leben keinen Morgen mehr kennt. Die ihr Geld verprassen, in ihren Wohnungen hocken, mit ihrem Rentenausweis auf Rabattsuche gehen. Ralph Ehrlich denkt immer mehr an Morgen, sogar an Übermorgen. Er stellt seine Ernährung um, verzichtet auf Alkohol, geht früh schlafen. Nur in einem Punkt plagen ihn Zweifel. Ist er noch leistungsfähig? Reicht seine Kraft für Sport? O-Ton 2 Ehrlich "Also ich habe nie an Sport gedacht, also eher ganz im Gegenteil, habe gedacht: lieber nicht. Schon gar nicht Sport irgendwie draußen, weil das Risiko, irgendwie Grippe zu bekommen, sich zu erkälten, sich irgendwie zu verletzen, also Sport eher gar nicht. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass ich überhaupt noch leistungsfähig bin. Mir wurde ja eigentlich immer gesagt, ich bin ja überhaupt nicht mehr leistungsfähig. Da war Sport sozusagen eigentlich das allerletzte, woran ich gedacht habe." MUSIK 1 Interpret und Komponist: David Gray Titel: Morning Theme, Album: Foundling, Länge: 2:44 min, Jahr 2010 Label: IHT Records Limited Polydor; LC00309. 0602527475981 Atmo 4 Atemgeräusche (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor 5 Ralph Ehrlich besiegt seine Zweifel, er traut sich hinaus. Wenn ihm das Grübeln die Laune verdirbt, springt er aus seinem Sessel, geht schwimmen oder fährt mit dem Rad. Oder er schlüpft in seine Sportschuhe und läuft einfach los. Um die Häuser, durch die Straßen, in den Park. Atmo 4 Atemgeräusche hochziehen und unter O-Ton O-Ton 3 Ehrlich "Also ich bin eigentlich am Anfang auch immer irgendwo hingelaufen, wo ich auch jemanden kannte, weil ich dachte, ja wenn doch irgendetwas passiert, dann weißt du, dann kannst du da hingehen und klingeln. Ich hatte, glaube ich, auch immer mein Handy dabei, was ja völlig unpraktisch ist, weil in der Sportlerlaufhose hinten zieht es ja auch die Hose runter. Hatte das einfach immer mit, weil ich mir doch nicht so ganz sicher war, klappt das wirklich auch alles." Autor 6 Es dauert Monate, bis Ralph Ehrlich seine Unsicherheit verliert. Er verausgabt sich immer mehr, seine Laufstrecken werden länger, anspruchsvoller. Er tastet sich in Extreme vor. 2007 wird er Mitglied eines riskanten Projekts. Zwanzig HIV-Positive trainieren für den Marathon in Berlin. Freunde glauben, Ehrlich hätte den Verstand verloren, sie fürchten, er würde sich zu Tode rennen. Doch es kommt anders. Die Trainingsgruppe reist zu Vorbereitungsläufen in ganz Deutschland. Sportler solidarisieren sich, Freundschaften entstehen. Der Marathon rückt näher - am Tag vor dem Lauf erkennt sich Ehrlich nicht wieder. O-Ton 4 Ehrlich "Und dann habe ich, glaube ich, doch noch einmal richtig Respekt bekommen, der sich darin äußerte, dass ich mich die ganze Nacht übergeben habe, es mir richtig schlecht ging, richtig Kopfschmerzen hatte. Ich weiß noch wie alle Team-Mitglieder, fast alle Teammitglieder bei mir ums Bett halt standen und gesagt haben: der läuft den morgen nicht, das geht gar nicht." Atmo 5 Marathon (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor, später unter O-Ton ausblenden) Autor 7 September 2008, Ralph Ehrlich geht in Berlin an den Start. 42,195 Kilometer: ist diese Distanz für einen HIV-Positiven zu bewältigen? Ehrlich geht den Lauf gemächlich an, nur die Ziellinie vor Augen, sein Herz pocht. Er wartet auf die Rebellion seines Körpers, doch sein Körper spielt das Spiel mit. Meter für Meter, Stunde für Stunde. Ehrlich genießt den Applaus der Zuschauer wie einen warmen Sommerregen, lange ist er nicht so glücklich gewesen. Während er sich heute an den Marathon erinnert, glänzen seine Augen und er scheint durch seinen Gesprächspartner hindurch zu schauen. O-Ton 5 Ehrlich "Genau wir jetzt beim Gespräch mir so ein bisschen die Tränen kommen, das ist einfach so. Und als ich dann die Vierziger-Marken sehen konnte, so die Enddreißiger, da war einfach nur noch Freude, irgendwie nur noch geheult und da wurde mir aber bewusst, wenn ich diesen Weg weitergehe und diesen Weg auch mit vielen anderen weitergehe, dass ich zumindest an dieser blöden Infektion nicht sterben werde. Und der Marathon und das Laufen hat mir wieder diese Stärke zurückgegeben, diese Sicherheit zurückgegeben, dass ich sage: es geht!" Atmo 6 Trommelwirbel und Startschuss (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor 8 August 2010, der Volkspark Friedrichshain im Osten Berlins. Ralph Ehrlich hat die Pessimisten buchstäblich abgehängt. Freunde und Bekannte haben sich ihm angeschlossen. Nun ist er Organisator einer Benefizveranstaltung, ihr Titel: Liferun, Lebenslauf. Atmo 6 Trommelwirbel und Startschuss (kurz bei Startschuss hochziehen, dann wieder unter Autor und langsam ausblenden) Autor 9 Siebzig Läufer gehen im Volkspark auf eine zehn Kilometer lange Strecke. Es regnet in Strömen, es ist kühl, doch Ralph Ehrlich lacht. Er schätzt, dass zwanzig Prozent der Teilnehmer HIV-positiv sind. Für sie geht es nicht um den Sieg - sondern um Solidarität für eine vernachlässigte Minderheit. Seit zwei Jahren leitet Ehrlich eine Laufgruppe für Infizierte. Ihre Mitgliederzahl wächst, es sind Freundschaften entstanden. Doch einfach ist die Aufbauarbeit nicht, zum Beispiel in der Sponsorensuche. O-Ton 6 Ehrlich "Obwohl mehrfach kontaktiert, überhaupt nichts zurückkam oder da immer noch scheinbar Berührungsängste sind, was ich sehr, sehr schade fand. Viele, die halt immer noch so fragen wie: Kann man das überhaupt, mit HIV laufen? Und was ist denn, wenn der jetzt fällt, wenn der stürzt, kann ich den dann anfassen?" Autor 10 HIV ist übertragbar durch Sperma und Blut, nicht durch Speichel, nicht durch Händeschütteln. Geduldig wird Ralph Ehrlich jene Fragen weiter beantworten und Klischees entlarven. Er breitet seine Arme aus, symbolisiert etwas Großes. Er spricht von dem Virus wie von einem hinterlistigen Boxer, der stark ist, aber nicht unbesiegbar. Ehrlich ist für die HIV-Aids-Prävention viel unterwegs, er hält Vorträge, nimmt an Diskussionen teil, sucht Sponsoren und Partner. Für seine Zuhörer ist er glaubwürdiger als manche Wissenschafter und Ärzte, denn Ehrlich hat selbst erlebt, wovon er spricht. O-Ton 7 Ehrlich "Hab auch meine körperlichen Veränderungen gemerkt. Wie einfach dort Muskeln sind auf einmal, wo man sie gar nicht erwartet hat. Ich gehe alle drei Monate zu meinem Arzt zur Blutkontrolle: Was sagen eigentlich meine kleinen Helferzellchen? Wie kommen die damit zurecht? Und die waren halt da schon gut. Also es war ein Anstieg zu sehen, und dann nach der zweiten Kontrolle war ein richtiger Anstieg zu sehen. Jetzt kann ich es mir gar nicht mehr wegdenken, das gehört eigentlich wie zu meiner Therapie dazu momentan, das Laufen. Also mein Arzt sagt wirklich, hätte ich diese HIV- Erkrankung nicht, wäre ich eigentlich so mit einer der Gesündesten in seiner Praxis überhaupt." MUSIK 2 Interpret und Komponist: David Gray Titel: Morning Theme, Album: Foundling, Länge: 2:44 min, Jahr 2010 Label: IHT Records Limited Polydor; LC00309. 0602527475981 Atmo 7 Gesundheitsministerium (aus Musik in die Atmo übergehen, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 11 November 2010, das Bundesgesundheitsministerium in der Berliner Friedrichstraße. Kameras und Fotoapparate sind auf Minister Philipp Rösler gerichtet, der über eine Präventionskampagne gegen HIV spricht. Sechzig Journalisten sind erschienen, im Hintergrund steht Ralph Ehrlich mit verschränkten Armen. Die Pressekonferenz ist für ihn eine gute Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. An den Seiten des Saales stehen große Plakate. Darauf sind Menschen zu sehen, die das Virus in sich tragen und sich gegen Ausgrenzung positionieren. Auf einer Großbildleinwand wird ein Film über sie gezeigt. Atmo 7 Gesundheitsministerium hochziehen Autor 12 Die Kampagne zeigt: HIV war, ist und bleibt aktuell. Am 1. Dezember 1981 wurde Aids als eigenständige Krankheit erkannt. Seitdem sind 25 Millionen Menschen gestorben. Zurzeit leben 33 Millionen mit dem Virus, in Deutschland 67000, 82 Prozent Männer. Die Medizin ermöglicht mittlerweile eine fast normale Lebenserwartung. Viel wurde über das Virus geforscht, doch es gibt noch immer Neuigkeiten. Zum Beispiel im Sport, von Professor Jürgen Rockstroh. Er ist Infektiologe an der Universitätsklinik Bonn und Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft, einer wissenschaftlichen Vereinigung. Rockstroh führt mit Forschern der Sporthochschule Köln eine Studie durch. Ihre Leitfrage: Welche Wirkung hat extremes Training auf HIV-Infizierte? O-Ton 8 Jürgen Rockstroh "Gibt ja viele Hinweise, dass wie ein Mensch sich fühlt, ein Einfluss auf das Immunsystem hat und alles, was einen sich gut fühlen lässt, kann also auch einen Einfluss haben. Insofern glauben wir, dass Sport eben tatsächlich möglicherweise günstige Eigenschaften hat. Und erste Zwischenanalysen zeigen, dass in der Tat das Immunsystem sich unter so einer sportlichen Belastung wie einem Marathon tatsächlich eher positiv entwickelt. Und das ist für uns natürlich eine ganz große Überraschung und solche Arbeiten sind bislang noch nicht durchgeführt worden. Ich denke schon, dass das dazu führen wird, dass man einen natürlichen Umgang mit HIV und Sport finden wird." Atmo 8 Kölner Sporthochschule (schon unter O-Ton legen, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 13 Das Labor der Sporthochschule Köln ist mit Messgeräten, Sportutensilien und Kabeln zugestellt. Der Mediziner Jürgen Rockstroh und seine Kollegen begleiten 15 Probanden. Langsam erhöhen sie ihr sportliches Pensum. Vor Abschluss ihrer Studie zeigt sich, dass Sport helfen kann. Zum Beispiel gegen Lipodystrophie, bekannt als Fettverteilungsstörungen. Bei vielen HIV-Positiven wird Fett an Armen, Beinen oder im Gesicht abgebaut - und am Rumpf angelagert. Sport kann diesen Prozess eindämmen. Doch Jürgen Rockstroh plädiert für Sorgfalt. Die Überlastung wird bei Infizierten schneller erreicht, ihre Regeneration beansprucht Zeit. Auch dürfen Nebenwirkungen nicht unterschätzt werden. Zum Beispiel Neuropathien, Erkrankungen des Nervensystems. Sie können Gefühlsstörungen in den Füßen verursachen, sodass man den Auftritt beim Laufen nicht genau spüren kann. So entsteht Verletzungsgefahr. O-Ton 9 Rockstroh "Man muss ein bisschen sozusagen auch auf die Begleitumstände achten. Für manche ist vielleicht bei Wirbelsäulenschaden oder Knieverletzungen oder bestehenden Gelenk-Veränderungen dann eben Schwimmen oder Fahrradfahren die bessere Alternative. Ich glaube nicht, dass man jetzt sagen muss: Jeder muss jetzt Marathon laufen. Ich glaube, das wäre zu weit gegriffen. Aber ich denke, eine sportliche Betätigung ist gut. Ist eine der wenigen Untersuchungen, wenn man so fragt: was kann bei einem Menschen Überleben verbessern, dann ist es das Gehen einer Strecke von mehr als 1000 Metern pro Tag signifikant mit einem besseren Überleben verbunden." Musikclip 1 Hip Hop Macic Johnson (nach O-Ton, einige Sekunden stehen lassen, unter Autor) Autor 14 Sport als Stütze der Therapie, Sport als Ausgangspunkt für Prävention: Die bekannteste Symbolfigur dafür ist der Amerikaner Earvin Magic Johnson. Am 7. November 1991 gibt der Basketballstar der Los Angeles Lakes seinen Rücktritt bekannt. O-Ton 10 Magic Johnson "I was thinking like everybody else was thinking..." "Ich habe wie jeder gedacht, Aids sei nur eine Krankheit der Schwulen. Doch inzwischen treffen die meisten Neu-Infektionen Heterosexuelle, und deshalb möchte ich jetzt die Menschen warnen, aufklären und Leben retten." Autor 15 Johnson gründet eine Stiftung und wird Präsident der US-Kommission gegen Aids. Sein Abschied vom Leistungssport ist vorübergehend. 1992 reist er mit dem amerikanischen "Dream Team" zu den Olympischen Spielen nach Barcelona. O-Ton 11 Johnson "And life goes on..." "Wissen Sie, sie können weiterleben und hoffentlich kann ich diese Goldmedaille auch erreichen, und zwar nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Menschen in den USA und für jeden, der den HI-Virus hat. Also ich repräsentiere schon eine ganze Menge Leute." Musikclip 2 Hip Hop Magic Johnson (unter O-Ton, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 16 Johnson gewinnt mit den USA Olympisches Gold, er wird als Held gefeiert. Unbeschwert bleibt sein Leben nicht. Mitspieler und Gegner äußern ihre Angst vor der Ansteckung, und so muss Johnson endgültig zurücktreten. Archiv 1 Louganis Autor 17 Ähnliche Erfahrungen durchleidet Johnsons Landsmann Greg Louganis. Der Olympiasieger im Wasserspringen ist mit HIV infiziert. Groß ist seine Furcht während Olympia 1988 in Seoul. Bei einem Sprung verletzt er sich am Hinterkopf, blutend fällt er ins Wasser. Louganis denkt an seine Konkurrenten. Können sie sich im Becken anstecken? Sind sie in Lebensgefahr? Erst 1994 bekennt sich Louganis zu seiner Infektion. Seitdem engagiert er sich in der Prävention und verweist auf Schicksale bekannter Leistungssportler. Auf den amerikanischen Tennishelden Arthur Ashe oder den britischen Eiskunstläufer John Curry - beide sind an Aids gestorben. O-Ton 12 Michael Stich "Es war klar, dass es etwas für Kinder sein sollte, und HIV/Aids war damals ja eigentlich schon ein Thema, was überhaupt nicht mehr stattfand in der Öffentlichkeit. Dann ist ein ehemalige Kollege von mir, der Michael Westphal, daran gestorben. Das war ein kleiner Bezugspunkt. Aber auch das eigene Unwissen über die Krankheit hat dazu beigetragen, dass ich gesagt habe: Mensch, ich will eigentlich selber mehr darüber wissen und meine Vorurteile abbauen können." Autor 18 Der Tennisspieler Michael Stich gründet 1994 eine Stiftung, um das Bewusstsein gegen HIV zu schärfen. Er sammelt Spenden, organisiert Drachenbootrennen und Golfturniere, ein Teil seiner Siegprämien fließt an Kliniken und Aidshilfen. Stich regt Diskussionen an und findet Nachahmer. Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beauftragen Sportler für ihre Botschaften. Zum Beispiel Boris Becker: 2005 tritt er in einem Werbespot auf, bei der Sicherheitskontrolle im Flughafen kramt er ein Kondom hervor. Archiv 2 Werbespot Autor 19 Der Fußballer Michael Ballack, die Boxerin Regina Halmich oder die Fechterin Imke Duplitzer - sie alle beteiligen sich an der HIV-Aids-Prävention. Seit 2000 werden bei Olympischen Spielen Kondom-Editionen unter den Athleten verteilt. Ob diese Maßnahmen die öffentliche Wahrnehmung beeinflussen? Michael Stich hat Zweifel. O-Ton 13 Stich "Ich glaube, dass es einen anderen, sehr wichtigen Aspekt hat, und zwar die soziale Integration. Dass einfach die Infizierten, wie ich auch der Meinung bin, einfach wie ganz normale Menschen genommen und gesehen werden, die einfach ne Krankheit haben, wie viele andere Menschen andere Krankheit haben, aber trotzdem am sozialen Leben teilhaben können. Aber das passiert halt in unserem Land nicht. Die Ausgrenzung ist nach wie vor extrem groß, die soziale Isolation dieser Menschen ist extrem groß, und dass aber in erster Linie, weil die gesunden Menschen einfach zu wenig Wissen haben, und die diejenigen sind, die die Kranken wirklich ausgrenzen. Und dieses Aufeinanderzubewegen funktioniert komischerweise nicht." MUSIK 3 Interpret und Kompinst: Nick Cave Titel: As I sat sadly by her sid, Album: No more shall we part, Länge: 6.14 min Label: Mute Records Limited Polydor; LC05834, Jahr 2001 Atmo 9 Einlass Schwimmhalle (unter Musik legen, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 20 Oktober 2010, das Stadtbad Wilmersdorf, im Südwesten Berlins. Klaus Wittke steht im Foyer und zieht eine Karte über einen Scanner. Nach und nach schieben sich 13 Männer und zwei Frauen durch ein Drehkreuz. Sie sind Mitglieder der Schwimmgruppe "Positeidon". Ihr Name ist eine Abwandlung von Poseidon, dem Gott des Meeres in der Griechischen Mythologie. Klaus Wittke ist ehrenamtlicher Leiter von Positeidon, der größten Selbsthilfegruppe der Berliner Aidshilfe, gegründet 1990. O-Ton 14 Klaus Wittke "Und zwar unter dem Hintergrund, dass damals die ersten HIV-Positiven, die dann schwimmen gegangen sind, in der Öffentlichkeit ein bisschen gemieden wurden, weil natürlich die Leute natürlich noch nicht so aufgeklärt waren. Und jeder hatte Angst: ach, da könnte man sich anstecken, wenn man denen zusammen schwimmen geht. Auch von den Positiven selber waren oft Ressentiments da, weil sie dann auch zum Teil sichtbare Hautausschläge hatten, und trauten sich von sich aus auch nicht in die Öffentlichkeit." Autor 21 1990, in der Gründungszeit von Positeidon, bestimmen Hysterie und Unwissenheit die Debatte um HIV und Aids. Die Schwimmer bekommen das zu spüren. Sie werden in den Bädern kritisch beobachtet, sie müssen Beschimpfungen und Drohungen über sich ergehen lassen. Bademeister verweigern ihren Dienst, weil sie sich vor einer Ansteckung fürchten. Demonstrativ laufen sie mit Desinfektionsmittel durch die Halle. Daraufhin ziehen sich Mitglieder zurück, Sport wird für sie zu einer Bürde. O-Ton 15 Wittke "Und diesen Bann hat seinerzeit die Anne Momper gebrochen, das ist die Gattin des damaligen Regierenden Bürgermeisters Walter Momper in Berlin. Und sie ist dann im Juni 1990 in unserem Stammschwimmbad in der Krummen Straße öffentlichkeitswirksam, das heißt, mit Presse, mit Positiven schwimmen gegangen. Und das hat eben diese Wirkung gebracht. Das hat man gezeigt hat: Okay, seht her, ich trau mich auch mit denen ins Wasser, dann könnt ihr das auch machen." Atmo 10 Schwimmen (unter O-Ton, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 22 Das Stadtbad Wilmersdorf ist gut gefüllt, es riecht nach Chlor, Schulkinder schwimmen neben Senioren. Dazwischen krault Klaus Wittke mit kräftigen Zügen durchs Becken. Der 57-Jährige ist mittelgroß, von gedrungener Statur, eloquent und zuvorkommend. Wittke erhält seine Diagnose 1994, als Verwaltungsbeamter des Berliner Bausenats lässt er sich pensionieren. Das Schwimmen ist für ihn der Startschuss, um in die Offensive zu gehen. Bei Positeidon trägt er als Leiter seit fünf Jahren Verantwortung, er kann gestalten, motivieren, Orientierung geben. Atmo 10 Schwimmen noch mal hochziehen O-Ton 16 Wittke "Die Leute haben also erstmal von sich aus jede Woche ihren festen Termin, wo sie sich treffen. Er wird auch sehr rege genutzt zum Austausch zum Thema HIV und Aids. Ich erlebe oft, dass dann einige Schwimmer zu mir kommen, oder ich erlebe auch in anderen Gesprächen, wo dann die Leute sagen, ja, ich habe die und diese Kombination oder bin mit meinem Arzt nicht zufrieden. Und wir können aus unserer doch oft reichen Erfahrung dann schon schöpfen und sagen: probiere es doch mal so, ich habe die Erfahrung mit denen Kombinationen gemacht. Und daraus ergeben sich auch ganz große soziale Aspekte, die die Gruppe zusammen halten." MUSIK 4 Interpret und Kompinst: Nick Cave Titel: As I sat sadly by her sid, Album: No more shall we part, Länge: 6.14 min Label: Mute Records Limited Polydor; LC05834, Jahr 2001 Atmo 11 Umkleidekabine (kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 23 Nach einer Stunde Schwimmen treffen sich die Mitglieder in der Umkleidekabine. Sie sind erschöpft, haben ihr persönliches Erfolgserlebnis geschaffen. Nun sprechen sie über ihren Alltag. Die Themen haben sich über die Jahre verändert. Anfang der neunziger Jahre entbrennen hitzige Diskussionen über Therapierezepte, Arztempfehlungen, Pillendosierungen. Die Fluktuation der Gruppe ist enorm, Mitglieder sterben oder fühlen sich zu schwach. Die Beständigkeit wächst jedoch von Jahr zu Jahr. Über 90 Mitglieder hat Positeidon zurzeit, die jüngsten sind dreißig Jahre alt, die ältesten über 70. Klaus Wittke hält den Betrieb am Laufen. O-Ton 17 Wittke "Insbesondere wenn wir im Sommer eine Sommerpause haben, dann schließen die Bäder, in der Regel sind es immer zwei Monate, die dann das Hallenbad geschlossen ist. Und in der Zeit biete ich dann auch viele Ausflüge an, jedes Jahr was anderes, mindestens alle 14 Tage irgendetwas, dass auch in diesen zwei Monaten die Gruppe nicht auseinander fällt, das also immer der Kontakt dableibt. Und es haben sich auch schon Freundschaften entwickelt innerhalb der Gruppe, ja sogar Paare haben sich auch gefunden." Autor 24 Die Mitglieder von Positeidon schaffen sich im Schwimmbad ihre eigene Öffentlichkeit - und trotzdem bleiben sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die meisten trauen sich nicht in ein gewöhnliches Fitnessstudio oder in den Fußballklub um die Ecke. Manchmal ist Klaus Wittke ein schwimmender Seelsorger. Er hört Geschichten, die von Angriffen und Ausgrenzung handeln, von Mobbing und Diskriminierung. Einige Mitglieder sind auf die Schwimmgruppe angewiesen, die von der Berliner Aidshilfe getragen wird - sie können sich keine Mitgliedbeiträge für Sport leisten. O-Ton 18 Wittke "Es arbeiten auch viele weiter, manche auch aus den Gründen, weil sie es auch wollen, weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, viele aber auch, und das erlebe ich in der Gruppe immer wieder, die aus finanziellen Gründen sich einfach nicht leisten können, zu Hause zu bleiben und so zu leben, dass sie mit ihrem Alltag zurecht kommen." Autor 25 Wie viele Sportler sind gezwungen, im Verborgenen mit dem Virus zu leben? In der Handball-Verbandsliga, in der Gymnastikgruppe, im Turnverein? Leistungs- und Breitensport haben nie ein klares Konzept für HIV-Positive entworfen. Angebote wie jene von Positeidon sind selten, in Kleinstädten oder auf dem Land sucht man sie vergeblich. Dabei ist Aufklärung dringend nötig, findet Jürgen Rockstroh, Infektiologe der Uni-Klinik Bonn und Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft. Jährlich stecken sich in Deutschland 3000 Menschen mit HIV an. O-Ton 19 Rockstroh "Ich glaube eher, dass im Moment HIV und Aids wieder so ein bisschen in Vergessenheit geraten. In dieser Behandelbarkeit verliert sich ja auch so ein bisschen der Schrecken der Erkrankung, weil eben früher die, die dann eben infiziert waren, meistens dann auch krank wurden und viele auch verstarben, hat das eben auch einen Schockeffekt gehabt. Aber jetzt ist mit dieser Behandelbarkeit auch das Interesse von vielen geringer. Gibt auch Leute, die in ihren persönlichen Schutzmaßnahmen nachlässiger werden. Naja, wenn es denn passiert, dann kann ich auch behandelt werden. Viele Leute sind einfach auch müde nach 20 Jahren HIV-Botschaften." Atmo 12 Geburtstag Berliner Aidshilfe (unter O-Ton , kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor 26 Oktober 2010, das Rote Rathaus in Berlin. Die Berliner Aidshilfe feiert ihren 25. Geburtstag. 300 Gäste hören die Rede des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit, unter ihnen sind der Marathonläufer Ralph Ehrlich und der Schwimmer Klaus Wittke. Beide sind HIV-positiv, beide haben eine Bewegung ins Leben gerufen. Auf der Gala pflegen sie Kontakte mit Förderern und Sponsoren, auch das gehört zu ihrem Ehrenamt. Die Berliner Aidshilfe hatte in einem viertel Jahrhundert viele schwere Phasen erlebt, ihr sportliches Angebot will sie nun in einem Verein zusammenführen. Eine Kegel-Abteilung existiert bereits, bald sollen Radfahren, Tennis und Rudern hinzukommen. Vielleicht wird Sport zum 50. Geburtstag der Aidshilfe Alltag für HIV-Positive sein. Der Begriff Höchstleistung erhielte dann eine neue Bedeutung. MUSIK 5 Interpret und Komponist: David Gray Titel: Morning Theme, Album: Foundling, Länge: 2:44 min, Jahr 2010 Label: IHT Records Limited Polydor; LC00309. 0602527475981 1