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Die Aufdeckung des Abgasskandals, die sich am Sonntag jährt, hat auch die Belegschaft des 12-Marken-Konzerns tief erschüttert. Inzwischen sorgen sich viele um ihre Arbeitsplätze, fragen sich, wie es mit ihnen, mit VW weitergehen soll. Der Besuch des Wolfsburger Stammwerks ist die heikelste Station auf der Sommerreise des Ministerpräsidenten vor wenigen Wochen. Stephan Weil ist sichtlich bemüht, Zuversicht zu verbreiten. Er sitzt im Aufsichtsrat des Weltkonzerns, das Land Niedersachsen ist mit einem Anteil von 20 Prozent VW-Großaktionär. ?Wir haben es hier mit einer wirklich riesengroßen Anhäufung von Fehlern zu tun, die über viele Jahre und bei vielen Millionen Fahrzeugen auf allen Teilen der Welt zum Ausdruck gekommen ist. Aber die Bewältigung dieser wirklich schlimmen Fehler, die da gemacht wurden, die macht deutliche Fortschritte. Alle Beteiligten haben in den letzten Monaten vor diesem geschilderten Hintergrund unter massiver Anspannung gearbeitet.? Wer im Einzelnen für was verantwortlich ist, lässt auch Volkswagen selbst seit Monaten von internen und externen Ermittlern wie der US-Kanzlei Jones Day untersuchen. Die ersten Analysen zeigen, dass der immense Schaden sich aus Regelverstößen auf allen Ebenen zusammensetzt und sich über Jahre zu der hoch toxischen Wolke zusammenbraute, die nun über dem Konzern hängt. VW wollte in den USA Marktanteile gewinnen und mehr Dieselautos verkaufen. Doch Abgasnormen und Kostenvorgaben ließen sich offenbar nur mit Hilfe einer Software einhalten, die auf dem Prüfstand den Testmodus erkennt - und dann die Motorsteuerung so verändert, dass weniger Stickoxide entweichen. Eine kleine Gruppe aus der Motorentechnik soll bereits 2005 den folgenschweren Beschluss zum Einsatz einer verbotenen Abschalteinrichtung getroffen? und dieses so genannte ?Defeat Device? tief in der komplexen Motorsteuerung versteckt haben. Ihr schmutziges Geheimnis stritten die Wolfsburger trotz eindeutiger Testergebnisse lange ab. Als die US-Umweltbehörden EPA und CARB im Juli 2015 damit drohten, neue Modelle nicht zu zertifizieren, räumte VW die Manipulationen nur gegenüber den Behörden ein. Kurz darauf, am 18. September, veröffentlichten die Behörden ihre Ergebnisse in der sogenannten "Notice of Violation" und drohten wegen Verstößen gegen die Abgasnormen mit Strafen von umgerechnet bis zu 18 Milliarden Euro. Am 20. September gab VW öffentlich zu, manipuliert zu haben. "Die Untersuchung ? die ja noch nicht abgeschlossen ist ? hat viele Ergebnisse gezeigt. Sie ist auch sehr tiefgehend gewesen. Da sind wirklich viele hundert Menschen befragt worden, da sind gigantische Datenbestände ausgewertet worden ? und ich glaube, ich habe die Geschichte sehr klar verstanden, wie es dazu kommen konnte.? Was genau falsch lief und wer verantwortlich ist, hat VW aber noch immer nicht klar benannt. Kritiker werfen dem Konzern vor, immer nur das zuzugeben, was längst bewiesen ist. Volkswagen will die Ergebnisse der firmeninternen Untersuchungen bis zum Jahresende veröffentlichen. Auch Ministerpräsident Weil vertröstet die Öffentlichkeit: "Es ist oft genug gesagt worden ? der Aufsichtsrat würde sehr gerne sehr viel klarer auch zum Ausdruck bringen, was er weiß und wie er den Hergang einschätzt. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen und auch akzeptieren, dass man natürlich dadurch auch Ermittlungen stören kann, und das führt dazu, dass wir nicht das alles sagen können, was wir wissen.? Kurz vor seinem Rücktritt als Konzernchef hatte Martin Winterkorn diesen größten Skandal der Firmengeschichte noch als ?Fehler einiger weniger? bezeichnet. In den USA hat mit James Liang vor wenigen Tagen erstmals ein Ingenieur zugegeben, persönlich beteiligt gewesen zu sein.Der 62jährige Liang hatte jahrelang in Wolfsburg gearbeitet und war zur Entwicklung des ?Clean Diesel? in die USA delegiert worden. In der Zentrale sind mittlerweile sechs von neun Vorstandsmitgliedern ausgewechselt worden, der frühere Finanzvorstand Hans-Dieter Pötsch wurde zum Chef des Aufsichtsrats ernannt. Gegen zahlreiche Führungskräfte und Vorstände wird ermittelt, darunter auch Winterkorns Nachfolger VW-Chef Matthias Müller und VW-Markenvorstand Herbert Diess. ?Es ist eine große Herausforderung ? und gleichzeitig ist das ein Unternehmen mit einer ungeheuren Kompetenz, sehr viel Engagement, auch einer starken wirtschaftlichen Substanz. Und deswegen bin ich unter dem Strich zuversichtlich!? Inmitten der größten Krise hat VW-Lenker Müller zugleich den "größten Wandel" in der Konzerngeschichte ausgerufen. Analysten und Anleger wurden auf milliardenschwere Investitionen in visionäre Geschäftsmodelle und batteriegetriebene Fahrzeuge eingestimmt. Audi, Porsche und VW sollen den Markt mit einer Vielfalt smarter Stromer elektrisieren. Auf dem weltweit wichtigsten Automarkt China bemüht sich VW um eine Kooperation mit JAC, dem derzeit größten chinesischen Hersteller von mit Strom betriebenen Autos. Bernd Ponick, Leiter des Instituts für Antriebssysteme und Leistungselektronik an der Leibniz-Universität in Hannover traut dem Unternehmen und der Region einen solchen Umstieg durchaus zu. Das Know-How sei vorhanden und müsse keineswegs Arbeitsplätze kosten. "Sie brauchen für die Entwicklung mehr E-Ingenieure und weniger Maschinenbauer vielleicht. Diese Ingenieure werden auch an der Uni Hannover, an der TU in Braunschweig ausgebildet ? einzelne hundert pro Jahr, wenn man die Fachhochschulen mit dazu nimmt. Und es ist auch durchaus möglich, einen erfahrenen Maschinenbauingenieur weiter zu qualifizieren, sodass er in der Konstruktion von elektrischen Antrieben eingesetzt werden kann.? Solche Umschulungsphasen wurden gerade im letzten Semester mit Erfolg durchgeführt: ?Wir haben uns  gerade in NS sehr intensiv damit beschäftigt, wie man denn vorgebildete Ingenieure  weiter qualifizieren kann. Und das kann man wirklich erreichen mit sehr kompakten Schulungsphasen, die einzelne Wochen dauern.? Aber nicht nur im Bereich Ausbildung, auch im Bereich Infrastruktur seien die Voraussetzungen für einen schnellen Einstieg in große Stückzahlen von E-Motoren in der Region günstig, so Ponick.  ?Conti hatte da in Gifhorn ja ein E-Motorenwerk gebaut, VW baut  eigene e-Motoren in Kassel, Bosch baut sie in Hildesheim ? da sind wir in Niedersachsen schon von der Zulieferindustrie her sehr gut aufgestellt.? Natürlich beschäftigen Krise und Umbau auch die Beschäftigten. Im Werk Emden laufen aufgrund gesunkener Nachfrage zigtausende Passat weniger vom Band als im Vorjahr. Vom Umbau wären zum Beispiel die 7000 Beschäftigten im Werk Salzgitter besonders betroffen, die zukünftig deutlich weniger Verbrennungsmotoren bauen werden. Bernd Osterloh ist seit 2005 der oberste Betriebsrat bei Volkswagen und sitzt auch im Aufsichtsrat des Konzerns, mit seinen weltweit gut 600.000 Mitarbeitern. Der einflussreiche Gewerkschafter von der IG Metall will ? besser: muss ? an den Wandel glauben. Denn schon länger ist klar: Nur mit Blech verbiegen lässt sich auf Dauer kein Geld mehr verdienen. ?Wir gehen davon aus, dass wir in fünf Jahren ungefähr jedes vierte oder fünfte Auto im Endeffekt mit einer Batterie oder mit einem Elektromotor antreiben werden. Und das bedeutet erstmal, dass wir gucken müssen, dass wir für die 80 Prozent ? dass es da keine Veränderung gibt. Und dann müssen wir natürlich gucken, dass genau diese 20 Prozent, dass wir da natürlich auch das Personal für ausbilden, dafür qualifizieren - aber natürlich auch gucken, dass die Arbeitsplätze hier in Deutschland bleiben und nicht, dass wir ganz bestimmte Umfänge vielleicht aus dem asiatischen Raum bekommen!? Entscheidend für das Gelingen ist, ob die Wolfsburger es schaffen, den Vorsprung asiatischer Technologie in Sachen Batterie einzuholen. Das Herz einer Batterie ist ihre Zelle. Von ihr hängt ab, wie weit die Ladung reicht und wie lange sie lebt. Der Konkurrent Daimler stieg im vorigen Jahr aus der Fertigung aus. Die Batteriezellen kommen mittlerweile aus Japan, Südkorea oder China. Im Sonnenstaat Kalifornien hat sich das relativ kleine Start up Tesla nach zehnjähriger Startphase zu einem der weltweiten Marktführer bei Elektroautos aufgeschwungen. Mit Investoren-Legende Elon Musk an der Spitze steckt der Tech-Konzern bereits Milliarden in die eigene Entwicklung und Produktion smarter Akkus. Als Lokalpatriot und Strippenzieher warnt Osterloh eindringlich davor, noch lange abzuwarten. Eine Chance für den Wiedereinstieg sieht er bei der nächsten, leistungsstärkeren Batteriegeneration: ?Das gehört zu uns, das muss zum Unternehmen gehören, weil 40 Prozent der Wertschöpfung eines Batteriefahrzeuges zukünftig die Batterie sein wird!? Der Aufbau einer eigenen Batteriefertigung wird Jahre dauern, Milliarden kosten und wohl nur in einer gemeinsamen Aktion der deutschen Autobauer und Zulieferer möglich sein.  Ob die deutschen Autobauer ihre Batterien künftig im eigen Land fertigen können, hängt von den Stückzahlen ab ? und die schlichte Realität ist ernüchternd: Gerade einmal 12.363 Elektroautos wurden im Vorjahr in Deutschland zugelassen. Auf das Manko angesprochen, reagiert Osterloh schmallippig: ?Das ist zu früh zu sagen, wer da ´ne Chance hat! Das kommt natürlich auch darauf an, wenn ich mal den Elon Musk angucke, wie da natürlich subventioniert wird und wie da im Endeffekt die Strompreise sind. Da geht es nicht darum, wieder zu sagen: Ich brauche ein Bonbon für die Automobilindustrie ? aber solche Entscheidungen werden rein betriebswirtschaftlich getroffen. Und ich glaube, da haben wir im Gegensatz zu ein paar mittel- und osteuropäischen Ländern ein paar wirtschaftliche Nachteile. Man muss gucken, wie man das kompensiert!? Im Frühling waren Pläne bekannt geworden, wonach bis Ende 2017 in der VW-Verwaltung jeder zehnte Job wegfallen könnte. Allerdings will Konzernchef Müller den Umbau des klassischen Autobauers zum Mobilitätsanbieter der Zukunft ohne Entlassungen stemmen. Betriebsrat und Management haben einen Zukunftspakt geschlossen, verhandeln über die Neuausrichtung der renditeschwachen Kernmarke VW und ihrer Werke. Betriebsbedingte Kündigungen wird es mit ihm nicht geben, konstatiert Osterloh. Der einflussreiche Gewerkschafter rechnet jedoch damit, dass durch den Einzug selbstlernender Maschinen in den kommenden Jahren auch bei Volkswagen Arbeitsplätze verloren gehen. "Ich sehe Riesenchancen in der Krise! Ich habe mich selbst aktiv in der Krise für den Konzern entschieden, weil ich der festen Überzeugung war: Wenn ich jetzt in dieser Phase zu Volkswagen gehe, wird der Wille zur Veränderung größer sein als in anderen Unternehmen, die jetzt vielleicht auf einer Erfolgswelle reiten." Johann Jungwirth spricht lieber vom Neustart als von der Krise; von Innovationen, die unsere Vorstellung vom Automobil und von der Mobilität an sich von Grund auf verändern werden. Der ehemalige Daimler- und Apple-Manager hat lange im Silicon Valley gearbeitet. Seit einem halben Jahr ist der dynamische Jungmanager oberster Digitalstratege bei Volkswagen. Jungwirth, 43, offenes Hemd, gewinnendes Lächeln, empfängt die Besucher in der Abgeschiedenheit einer ehemaligen Gießerei auf dem Wolfsburger Werksgelände. Wo einst Funken flogen und Dämpfe waberten, entsteht gerade die Schmiede der Zukunft: eine lichte Bürowelt. Der Chefstratege preist den Ehrgeiz seines Entwicklerteams. Was ihn bewegt, ist die Herausforderung, ein reifes Produkt wie das Automobil mit seiner 130-jährigen Geschichte von Grund auf neu zu denken: "Das Automobil wurde 1886 erfunden. Und da gab es den Umstieg eben vom Pferd aufs Auto. Und jetzt wird es soweit sein, dass wir die erste Neuerfindung des Automobils erleben werden und selber im Prinzip im driver seat gestalten dürfen. Und das ist einmalig!" Wettbewerber wie Apple und Uber tüfteln längst an eigenen Systemen ? und drohen den klassischen Automobilbauern mit ausgefallenen Designlösungen und Elektroantrieben zuvorzukommen. Google lässt seit 2009 kugelförmige Roboterautos durch das Silicon Valley rollen, auch Apple soll unlängst mit heimlichen Testfahrten von Roboterautos gestartet sein. Jungwirth sieht die amerikanischen IT-Unternehmen mehr als Partner bei einer Jahrhundertaufgabe, denn als Rivalen, die nur das Knowhow absaugen und kluge Köpfe abwerben. "Wir bauen die besten Autos der Welt - und da müssen wir uns auch nicht verstecken! Wir haben dort sehr gute Beziehungen und ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch hier schauen sollten, dass wir die Stärken kombinieren, dass wir damit Mobilität demokratisieren." Nach der Vision der Automobilindustrie sollen die ersten vollautonomen Stromer bereits in drei bis fünf Jahren auf den Markt kommen. Ganze Flotten solcher selbstfahrenden Fahrzeuge mit Batterieantrieb schweben Jungwirth vor. Sie stehen nicht mehr ungenutzt auf Parkplätzen, sondern lassen sich per Smartphone oder Tablet anfordern. Mit künstlicher Intelligenz transportieren sie die Insassen dann zu jedem beliebigen Einsatzort: "Das Auto der Zukunft wird auf jeden Fall voll elektrisch fahren. Es wird autonom fahren können. Und dann steigt man dort ein? und es wird ein Modell geben als Sofa und als Lounge. Es wird ein Modell geben mit meinem Home Office oder vielleicht ein Kinosaal - was auch immer man sich vorstellen kann! Der Mobilitätsmarkt der Zukunft ist ein Milliardengeschäft ? und die kreative Phantasie kennt offenbar keine Grenzen. "Muss ich Gas geben ??? ?Genau! Und Sie sehen jetzt das Angebot, dass das Fahrzeug automatisch fahren kann ?? Noch ist der Mensch das Steuern gewöhnt, er reagiert mit Unbehagen, wenn das System übernimmt. Das erfährt Stephan Weil auf der nächsten Station seiner Sommerreise: Der Ministerpräsident sitzt etwas angespannt neben grinsenden Forschern - im Fahrsimulator des Instituts für Verkehrssystemtechnik in Braunschweig, das zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gehört. ?Beim Thema autonomes Fahren, wurde mir gesagt, ist Deutschland ganz sicher mit in der internationalen Spitzengruppe. Da ist mir ein sehr gesundes Selbstbewusstsein entgegengebracht worden?? ? freut sich Weil als er der Versuchsanordnung entstiegen ist. Als Regierungschef im Autoland Niedersachsen gehört der strategische Weitblick zur zwingenden Grundausstattung. Weil orakelt: ?Wenn ich mir die Automobilbranche der Zukunft vorstelle, dann werde ich da beides drin finden. Dann werde ich Fahrzeuge sehen, die einen individuellen Eigentümer haben, aber mit einem ganz anderen Service. Und gleichzeitig wird man einen ganz anderen Mix von unterschiedlichen Verkehrsträgern erleben, die aufeinander abgestimmt sind. Ich glaube, man sieht heute schon sehr deutlich, in der jüngeren Generation, dass da das eigene Auto nicht mehr automatisch das Freiheitssymbol ist, dass man unbedingt haben möchte, sondern dass man da ein Auto auch sehr viel stärker vom Nutzwert her betrachtet, insbesondere in den hoch belasteten Großstädten und in den hoch belasteten Ballungsräumen.? Einige Tage nach Weil´s Stippvisite bei den DLR-Forschern reist auch Jürgen Resch in die vom Feinstaub hoch belastete Löwenstadt. Der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH) betrachtet den Nutzwert, mehr aber noch den ?Schmutz-Wert? von Automobilen. Nach EU-Regeln dürfen in der Atemluft im Jahresschnitt maximal 40mg/m³ Stickoxid enthalten sein. Vielen Regionen und Metropolen drohen Strafzahlungen falls sie es nicht schaffen, die Stickoxid-Grenzwerte einzuhalten. Deshalb will auch die Deutsche Umwelthilfe schmutzige Diesel-Fahrzeuge aus deutschen Innenstädten verbannen. Der Verband überzieht einzelne Kommunen mit Klagen vor den Verwaltungsgerichten, gewinnt einen Prozess nach dem anderen und dringt auf Vollzug der Urteile. Die Deutsche Umwelthilfe hat sich deshalb eigene mobile Geräte zugelegt, um den Schadstoffausstoß von Dieselfahrzeugen im Alltagsbetrieb ? anstatt unter Laborbedingungen auf dem Prüfstand ? zu messen. Das Resultat sei ein Skandal im Skandal, schimpft Resch auf einer Podiumsdiskussion in Braunschweig, zu der Grünen-Politiker Jürgen Trittin eingeladen hat. Ganz unten auf Reschs Liste finden sich einige Fahrzeuge, die auch auf der Straße die erlaubten Grenzwerte für Stickoxid und Kohlendioxid einhalten ? darunter auch umgerüstete Selbstzünder von VW.  Modelle fast aller Hersteller lagen jedoch um das Fünf- bis Achtfache darüber. Der Abgasskandal reicht also längst über Wolfsburg hinaus ? die gesamte Autoindustrie ist betroffen. "Das ist für uns vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge in vielen tausend Fällen, weil ich hier Fahrzeuge auf die Straße bringe, die die Innenstädte fluten mit einem giftigen Gas!? Der so gescholtene VW-Konzern hat mit Ulrich Eichhorn den neuen Leiter der Forschung und Entwicklung in den Ring geschickt. Die beiden liefern sich einen Schlagabtausch. In der VW-Stadt Braunschweig sind die Sympathiebekundungen des Publikums an diesem Abend erstaunlich ausgeglichen. Resch kriegt Applaus für seine flammende Philippika auf die betrügerische Autobranche. Aber auch Eichhorn erntet Zustimmung als er betont, die Dieseltechnologie sei heute viel weiter: ?Wenn wir heute die ganze Flotte an Euro 5- und frühen Euro 6-Autos und auch Euro 4-Autos ? da gibt es aber nicht mehr so viele ? durch moderne Euro 6-Autos ersetzen würden, wäre sofort das NOX-Problem und alle möglichen anderen Dinge gelöst.? Dass die meisten Dieselfahrzeuge unter realen Fahrbedingungen weit mehr Schadstoffe ausstoßen als bei den offiziellen Prüfverfahren von TÜV, DEKRA und Co. ist seit Jahren bekannt. Doch erst seit Bekanntwerden des Abgasskandals werden strengere EU-weite Testzyklen und die Streichung von Steuersubventionen für die in Europa weit verbreitete Dieseltechnologie überhaupt erst ernsthaft diskutiert. Sachverständige und Umweltschützer fordern vor allem präzisere Regeln für Abschalteinrichtungen der Abgasreinigung. Diese sind generell verboten, mit Ausnahme der so genannten ?Thermofenster? zum Motorschutz ? das sind bestimmte Temperaturbereiche, in denen nach Angaben der Hersteller die Stickoxide am effektivsten aus den Abgasen gefiltert werden, ohne dass dabei ein Risiko für Motorschäden bestehe. ?Herr Resch, unsere Fahrzeuge erfüllen nach der Umrüstung alle gesetzlichen ?? ?Das war nicht meine Frage ?? Auch in Braunschweig streiten die geübten Kontrahenten Resch und Eichhorn mit Inbrunst darüber, wie sauber moderne Selbstzünder denn nun wirklich sind. Auch das staunende Publikum will gern wissen, ob der Rückruf von 2-einhalb Millionen betroffenen VW-Dieselautos allein in Deutschland am Ende wohl zur Farce gerät: ?In welchem Temperaturfenster halten Sie die entsprechenden Werte ein?? ? Sie sprechen in der Gegenwartsform. Unsere Dieselfahrzeuge, die wir heute produzieren, haben ein Thermofenster in der Form wie Sie das beschreiben, wo abgeschaltet wird, nicht ? und funktionieren bis in negative Temperaturen hinein!? Wir sind zurück in Wolfsburg: An einem Freitag Anfang September eröffnet ein Zulieferbetrieb sein nagelneues Entwicklungszentrum am größten und bedeutendsten VW-Standort. Sonne, Sekt und smarte Autos: Ein Termin, so ganz nach dem Geschmack von Angelika Jahns. Erst zerschneidet die CDU-Kreisvorsitzende das rote Band, dann setzt sie sich in einen der ausgestellten automobilen Prototypen ? ein voll vernetzter Stromer in Leichtbauweise. ? Ist ja der Hammer! Da kommt man sich ja vor wie im Weltraum (lacht)? Das heutige Wolfsburg mit seinen 120.000 Bewohnern war im Gründungsjahr 1938 lediglich als Beiwerk der Volksmotorisierung vorgesehen. Am Zeichentisch entwarf der Architekt Peter Koller eine Stadt, die den Arbeitern des VW-Werks als Unterkunft dienen sollte. Die engen Verflechtungen von Politik und Wirtschaft wirkten auch nach Kriegsende 1945: Volkswagen  wurde zum Symbol für die Deutsche Wirtschaft schlechthin. Von nah und fern strömten die Siedler herbei. Sie kamen der Arbeit wegen: Italiener, Tunesier, Vetriebene  aus Schlesien. Lange Zeit ging es immer nur aufwärts in dieser Musterstadt für das Musterwerk: Der Weltkonzern verdiente Milliarden, das zahlte sich auch für Wolfsburg aus. Dann erfuhr die Welt vom  Abgasskandal. Die Folgen des Betrugs an elf Millionen VW-Kunden sind auch in Wolfsburg noch kaum absehbar. Eine zusätzliche Belastung war der beispiellose Machtkampf, den VW sich vor einigen Wochen mit zwei Zulieferfirmen der strategisch vernetzten Prevent-Gruppe geliefert hat.  Tagelang standen die Bänder still, unter anderem ruhte die Golf-Produktion in Wolfsburg. 100 Millionen Euro könnte VW die Zwangspause durch den Lieferboykott am Ende kosten.  In Wolfsburg sind die Einnahmen aus der Gewerbesteuer um 80 Prozent eingebrochen. Bislang konnten Politiker wie Angelika Jahns aus dem Vollen schöpfen ? jetzt müssen sie das Sparen lernen. ?Vor allem ist wichtig, dass Volkswagen durch die Strafzahlungen nicht so sehr belastet wird, dass letztendlich Arbeitsplätze in Gefahr sind.? Noch rinnen die Wasserspiele vor dem Rathaus in der Porschestraße. VW sponsert Konzert und Kunst, Tanz und Theater. Oberbürgermeister Klaus Mohrs (SPD) hat einen Einstellungsstopp und eine Haushaltssperre erlassen ? und verbreitet dennoch Zuversicht: ?In dieser Stadt wird immer experimentiert ? und gerade in Krisenzeiten, wo man vieles ausprobieren muss, vieles neu denken muss. Wir fangen einfach an, weil wir gar keine Zeit haben, bis zum Ende durchzuplanen. Wir zerbrechen uns im Moment gerade die Köpfe über Smart City ? digitale Entwicklungen ? also, die Frage die noch in vielen Städten überhaupt nicht gestellt wird: Elektromobilität.? Es klingt modern, es klingt nach Aufbruch - doch die letzte Station auf unserer Reise durch das VW-Krisenland Niedersachsen wirkt ernüchtert. Wolfsburg, Braunschweiger Straße 10: Hier wurde 2012 die e-Mobility-Station eingerichtet. Auf den ersten Blick sieht sie wie eine ganz gewöhnliche Tankstelle aus. Beim Näherkommen wird klar: Hier stehen ausschließlich Elektro-Zapfsäulen. An diesem Nachmittag parkt nur ein e-Up! auf dem Gelände, es ist der Dienstwagen der Betreiber. "Wir sind die erste kompakte Elektro-Tankstelle in Deutschland, in Europa ? und wir können hier Fahrzeuge mit Strom laden." Sagt Jörg Rohde. Er hat gerade Dienst - aber trotzdem Zeit für ein Gespräch. Denn was fehlt, ist Kundschaft. Die Station ist ein Vorzeigeprojekt der Wolfsburg AG, die zur Wirtschafts- und Strukturförderung gegründet wurde. Noch docken hier nur wenige Autos an: "Wir haben heute schon zwischen 20 und 25 Lade-Vorgänge pro Tag!" Die dauern je nach Steckverbindung und Ladesystem zwischen einer halben- und mehreren Stunden. Aufgeladen werden nicht nur VW-Modelle, sondern auch die der Konkurrenz: "Tesla ist momentan in aller Munde. Wir haben hier ganz viele Gäste mit dem Model S, die hier das Auto laden. Es ist ein gelungenes Fahrzeug, das muss man neidlos anerkennen! An diesem Beispiel wird deutlich: VWs Kaltstart in die Zukunft kommt spät, vielleicht zu spät. Und nicht nur VW, sondern die gesamte deutsche Automobilbranche hat gemeinsam mit der Politik zu lange auf die falsche Karte gesetzt. Dennoch ist die Situation ? auch in Niedersachsen - nicht hoffnungslos. Die deutschen Automobilbauer seien für den Umstieg nicht so schlecht aufgestellt, wie man meine, urteilt Bernd Ponick, Leiter des Instituts für Antriebssysteme und Elektrotechnik der Uni Hannover: ?Wenn man ein bisschen mehr in die Entwicklung investiert und feilt, dann kann man e-Fahrzeuge bauen, die von den Antrieben deutlich leistungsfähiger und trotzdem kompakter sind, als es ein Tesla heute kann. Nach meiner Wahrnehmung haben alle dt. Hersteller ? VW und andere auch -  und dt. Zulieferer sehr viel getan und investiert, die Entwicklungsprozesse, die Qualifikationsprozesse für Fahr-Anwendungen (wo die Elektronik durchgeschüttelt wird..) ? wie man das qualifiziert - was man tun muss, damit es funktioniert, diese Arbeiten sind gemacht? Wieviel Luft VW für den Umbau bleibt, hängt aber davon ab, wie teuer die Bewältigung des Betrugs ausfällt. In den USA, wo alles begann, haben Strafjuristen und Anwälte mindestens 15 Milliarden Dollar ? umgerechnet rund 13 Milliarden Euro ? herausgeschlagen. Aber das ist längst nicht alles: Justiz- und Umweltbehörden von US-Bundesstaaten bis zum Freistaat Bayern reichen Klagen gegen Volkswagen ein. Ob die wegen des Abgasskandals unlängst auf knapp 18 Milliarden Euro aufgestockten Rückstellungen ausreichen, ist fraglich. Kaum jemand aber wird die Entwicklungen in den nächsten Wochen so intensiv verfolgen, wie die Menschen im Herzland von VW.