DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature "Milomaki - Vom Vergessen und Verschwinden" Von Merzouga Besetzung: (N.N.) SPRECHER 1 (alter Gusinde) SPRECHER 2 (junger Gusinde) SPRECHERIN (Märchen, Wortkette) SPRECHER 3 (Zitate, Wortkette) Regie Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 03. Dezember 2010, 20.10 - 21.00 Uhr "Milomaki - Vom Vergessen und Verschwinden" von Merzouga Besetzung: SPRECHER 1 (alter Gusinde) SPRECHER 2 (junger Gusinde) SPRECHERIN (Märchen, Wortkette) SPRECHER 3 (Zitate, Wortkette) Anmerkung: Martin Gusinde sitzt als alter Mann am Kamin und lässt seine vier Feuerlandreisen und seine Erfahrungen mit den Feuerland Indianern Revue passieren. (SPRECHER 1). Das Duo Merzouga hat zudem diktaphonographische akustische Notizen auf alten Wachswalzen ausgegraben, die der junge Martin Gusinde auf seinen vier Reisen ins Feuerland zwischen 1918 und 1924 gemacht haben muss und die ? naturgemäß in stark verkratzter und verrauschter Akustik ? hier zu hören sind. (SPRECHER 2). Grau gedruckte Worte werden nicht gesprochen. ANMODERATION "Milomaki ? Vom Vergessen und Verschwinden". Intro SPRECHERIN Vor vielen, vielen Jahren, als Sonne und Mond, die Sterne und alle Tiere noch in Menschengestalt auf der Erde wandelten, hatten die Frauen alle Macht über die Männer. Die Männer waren untertänig und gehorsam und befolgten alles, was die Frauen ihnen befahlen. Sie gingen auf die Jagd, hüteten die Kinder, bereiteten das Essen und unterhielten die ständigen Feuer. Eines Tages berieten sich die Frauen, wie sie es anstellen könnten, die Männer in ewiger Unterordnung zu halten. Frau Mond, die Gattin des Sonnenmannes tat sich wegen ihrer Vormachtstellung in der Gemeinschaft besonders hervor. Sie erfand folgendes Spiel: Jede Frau sollte sich eine Rindenmaske über das Gesicht stülpen, mit Erdfarben eine Zeichnung darauf malen und einen Fellumhang tragen. Derart unkenntlich gemacht, sollten die Männer glauben, dass es sich bei ihren verkleideten Frauen um Geister, sogenannte Kloketen handle. Die Geister würden auf die Erde kommen um nach dem Rechten zu sehen, und um alle Männer zu bestrafen, die den Frauen nicht Gehorsam leisteten. SPRECHER 2 Ich verlasse Anfang Dezember 1918 Santiago, um in Valparaiso mich einzuschiffen. Ich ziehe nicht mit der Absicht aus, unbekannte Gebiete erst zu entdecken; denn die landschaftlichen Verhältnisse der feuerländischen Inseln sind bereits weitreichend untersucht worden. Ebensowenig könnte ich mich der Hoffnung überlassen, einem fremden Volksstamm oder einer neuen Art von Eingeborenen zu begegnen. Die drohende Gefahr des völligen Aussterbens der südlichsten Erdbewohner und die Aussicht, sie könnten einen beachtlichen Beitrag zur Kenntnis der frühzeitlichen Verhältnisse in der großen Menschheitsfamilie liefern: diese beiden Gründe drängen mich stark, die Feuerländer zum Gegenstand einer sich lange hinziehenden Forschung zu wählen. SPRECHER 3 (über die folgende Passage in die Komposition hineingewoben) Kataix, Ulen und Matan Kosmenk und Kúlan, Tánu des Südens und Talen, der mächtige Geist des Nordens SPRECHERIN Von nun an versammelten sich die Frauen regelmäßig in einer großen Hütte, um Kloketen zu spielen und die Männer in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie forderten in dieser Zeit von den Männern besonders viel Fleisch, um die Geister, wie sie den Männern erzählten, mit großen, saftigen Happen Guanacofleisch zu besänftigen. Als Herr Sonne eines Tages erschöpft von langer Jagd eine kleine Rast an einem kühlen Waldbächlein machte, hörte er zufällig, wie zwei Mädchen, die unweit von seinem Rastplatz badeten, sich kichernd unterhielten. Sie amüsierten sich über die Leichtgläubigkeit der Männer! Wie vom Blitz erleuchtet, durchschaute er das betrügerische Spiel der Frauen, jetzt wusste er es: die sogenannten Geister sind nicht Wesen aus einer anderen Welt, sondern die eigenen vermummten Weiber! Er schlich sich davon und erzählte unverzüglich allen Männern, was er gehört hatte. SPRECHER 2 Die überall verbreitete niedrige Meinung über die Feuerländer beruht teilweise auf den unrichtigen Vorstellungen, die man sich von ihrer Heimat gebildet hat. Diese ist tatsächlich ein unwirtlicher, fast ständig von Sturm und Kälte heimgesuchter Bereich. Aber auch dort ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur so innig, dass sich die Eingeborenen darin zurechtgefunden und ihre Lebensform den Umweltbedingungen vorteilhaft angepasst haben. SPRECHERIN Nun schmiedeten die Männer einen schrecklichen Racheplan. Mit Knüppeln bewaffnet überfielen sie die Große Hütte, in der die Frauen Kloketen spielten und schlugen, trotz der grässlichen Drohungen, die ihnen ihre überraschten Weiber entgegenschleuderten, alle Frauen nieder. Nur Frau Mond wagten sie nicht umzubringen, aus Angst, das ganze Firmament würde sonst zusammenbrechen. Sie hat aber in diesem Kampf kräftige Schläge und Brandwunden mitbekommen. Man kann sie auch heute noch in ihrem Gesicht sehen. Sie floh hinauf ins Firmament und ihr Gatte Sonne rannte ihr nach, allerdings ohne sie je zu erreichen. SPRECHER 2 Von ihren armseligen Daseinsbedingungen schließt man auf einen geistig-sittlichen Tiefstand, auf eine dem Tiere vergleichbare Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit, die sich stumpfsinnig abfindet mit dem, was entwickelte Menschen niemals befriedigen könnte. SPRECHERIN In der Zwischenzeit trat eine wundersame Veränderung ein: alle Frauen, denen es gelang, in eiligster Flucht zu entkommen, verwandelten sich in Tiere und flohen in den Wald. Man erkennt noch heute ihre Bemalung, die sie sich damals in der Großen Hütte angelegt hatten. Die Männer jedoch berieten sich und beschlossen die Macht für alle Zeiten an sich zu reißen und von nun an selbst mit Kloketen-Spielen ihre Frauen in Angst und Schrecken zu versetzen. Nie wieder sollten die Frauen ihre Macht zurückgewinnen. Deshalb hüten sie bis heute ihr Kloketen-Geheimnis mit größter Sorgfalt. SPRECHER 3 Dieser alte Mythos schildert den Ursprung der geheimen religiösen Zeremonie der Feuerlandindianer, die bei den Selk'nam "kloketen", bei den Yamana "kina" und bei den Halakwulup "yincihaua" heißt. Teil 1 SPRECHER 1 Ich wurde am 29. Oktober 1886 in Breslau geboren und trat 1900 dem Orden der Steyler Missionare in Heiligkreuz bei. Nachdem ich Hebräisch, Griechisch, Chemie, Medizin und Theologie studiert hatte, wurde ich 1911 zum Priester geweiht und 1912 als Lehrer der Naturwissenschaften nach Santiago de Chile geschickt. Dort höre ich zum ersten Mal von den bereits stark von weißen Siedlern und Farmern bedrängten Feuerländern. Ich bin 32 Jahre alt, als ich mich von Santiago aus aufmache, die vom Untergang bedrohte Kultur der Feuerland Indianer zu erforschen. SPRECHER 2 Das ganze Gebiet stellt eine wirr zerrissene Masse zahlreicher Inseln dar, zwischen die sich die schaumgekrönten Wellen einzwängen. Bis an die Wasserfläche reichen die dunkelblättrigen antarktischen Buchen herunter, sie trotzen jedem noch so rauen Unwetter. SPRECHER 1 Es ist die erste von insgesamt vier Forschungsreisen nach Feuerland, die ich in den Jahren 1918 ? 1924 unternehme. SPRECHER 2 Im Westen drängen sich die Buchen sogar bis an die Ränder der vielen Gletscher heran, die sich als breite Eisströme in die ruhelose Salzflut hineinschieben. In dieser Welt der schroffen Gegensätze leben die Yamana. SPRECHER 1 Im nördlichen Gebiete dehnen sich Ebenen aus, endlose Pampas, ein Landschaftsbild, das in der Seele ein tiefes Ahnen des Rätselhaften auslöst, ein unbestimmtes, wohltuendes Gefühl des Unbekannten. SPRECHER 2 Im mittleren Teile verlieren sich die Pampas, die Ebene geht in welliges Gelände über und macht größeren Hügeln Platz. Die Landschaft verändert sich vollständig, erscheint als weiter Park, als ungeheurer Wald. Dann wieder niederer Buschwald, wie von Meisterhand gruppenweise hingesetzt, dazwischen ein Netz von Lichtungen, liebliche Wiesen mit stillen Seen. In diesen grünen mittleren Hochebenen mit ihren üppigen Wiesen schweifen ungestört zahlreiche Guanacorudel umher; hier lebt noch der letzte Rest der Selk'nam, schön gebaute, athletische Gestalten. Kein Stürmen der Pampaswinde mehr. Hier herrscht das tiefe Schweigen des Waldes. SPRECHER 1 Unweit davon türmt sich die massige Kordillerenkette, der letzte Ausläufer der Anden, schneeige, von ewigem Eis gekrönte Gipfel, um sich dann jenseits in Hunderte von Einbuchtungen, Baien, malerische Fjorde und Schluchten zu zerstückeln, in die das Meer viele Kilometer weit vordringt, zwischen hohen, steil abstürzenden Wänden, die mit dichter Vegetation bedeckt und von silbernen Bändern rauschender Wasserfälle durchzogen sind. SPRECHER 2 Unberührte Urwälder mit immergrünen farbenfrischen Buchen, Myrthen, Zypressen und Magnolien bilden den wunderbaren Hintergrund für gewaltige Gletscher, die sich nicht selten bis ins Meer stürzen. SPRECHER 1 Als ich Anfang 1919 in Puerto Rio Grande an der Ostküste der Isla Grande meinen ersten Feuerländer zu Gesicht bekomme, bin ich überrascht und zugleich enttäuscht: Sie sind schöne, große Menschen, aber in erbärmliche europäische Kleidung gehüllt, die ihnen ungelogen das Aussehen von verkommenen Vagabunden verleiht! SPRECHER 2 Am 19. Januar 1919 breche ich in Puerto Rio Grande zu der 14km nördlich, im eigentlichen Indianergebiet gelegenen katholischen Missionsstation auf. Pater Zanchetta heißt mich herzlich willkommen. Finde hier gerade noch neun Indianer vor, ein altes Ehepaar, fünf alleinstehende betagte Frauen und zwei junge Männer, die gemeinsam mit chilenischen Arbeitern den Dienst in den Stallungen versehen. SPRECHER 1 Dort packt mich erst mals das blanke Entsetzen angesichts der Verwüstungen an Menschenleben unter diesem prächtigen Indianerstamm. SPRECHER 2 Heute steht nur noch eine Handvoll Überlebender an dieser Stätte, die für einige hundert Leute früher Zuflucht und Stützpunkt gewesen war! Wo sind sie alle geblieben, diese schönen, wetterharten und genügsamen Menschen? Sie, die rechtmäßigen Kinder ihrer Heimat, müssen ihr Land den Tausenden von Schafen überlassen, die auf der weiten Steppe friedlich grasen! SPRECHER 1 Behutsam nehme ich ersten Kontakt zu den Indianern auf. Die Erwachsenen sind anfangs sehr scheu. Erschwerend kommt hinzu, dass sie vorwiegend ausgesprochen negative Erfahrungen mit Weißen gemacht haben. Der Zugang zu den Kindern ist leichter. Sie sind munter, aufgeweckt und sehr neugierig. Dass die Kinder mich bald ins Herz geschlossen haben, hilft mir, das Vertrauen der Erwachsenen zu gewinnen; denn die Feuerländer sind ein ausgesprochen kinderliebes Volk! SPRECHER 2 "Sie leben vorwiegend monogam, und es ist beeindruckend, wie außerordentlich groß ihre Kinderliebe ist! Neuvermählte warten ungeduldig auf die erste Frucht ihrer Liebe, und sie sind stolz möglichst viele gesunde, muntere und folgsame Kinder ihr eigen zu nennen." SPRECHER 1 Ich beginne ihre Sprache zu lernen, und es gelingt mir nach und nach das Vertrauen der Erwachsenen zu gewinnen. Ich begleite die Männer auf der Jagd und nehme mehr und mehr am alltäglichen Leben der Indianer teil. Schließlich werde ich in ihre geheimsten religösen Rituale eingeführt. Ich nehme sogar an einer Jugendweihe und an einer Kloketen-Feier teil. Von den Selk'nam erhalte ich den Namen "Mank'ácen" oder "Schattenfänger". So umschreiben die Indianer die ihnen unbekannte Bezeichnung "Fotograf". SPRECHER 2 Von ihren armseligen Daseinsbedingungen schließt man auf einen geistig-sittlichen Tiefstand, auf eine dem Tiere vergleichbare Genügsamkeit... Interlude 1 Das Interlude 1 wird an dieser Stelle in Form einer Textcollage in die Wachswalzenkomposition eingewoben. SPRECHERIN der letzte Ausläufer der Anden; schneeige, von ewigem Eis gekrönte Gipfel... SPRECHER 3 "Feuerland" (Variante:) SPRECHER 1 "Feuerland" SPRECHERIN Hunderte von Einbuchtungen, malerische Fjorde und Schluchten, in die das Meer viele Kilometer weit vordringt... SPRECHER 3 "Feuerland" - eine wirr zerrissene Masse zahlreicher Inseln, zwischen die sich die schaumgekrönten Wellen einzwängen und die sich über eine Gesamtfläche von 72.000 km2 erstreckt... SPRECHERIN steil abstürzende Wände, die mit dichter Vegetation bedeckt und von silbernen Bändern rauschender Wasserfälle durchzogen sind... SPRECHER 3 Aber auch dort ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur so innig... (Variante:) SPRECHER 2 Aber auch dort ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur so innig... SPRECHERIN die Kultur der dort lebenden drei großen nomadischen Indianerstämme Selk'nam, Yamana und Halakwulup SPRECHER 3 zum Gegenstand einer sich lange hinziehenden Forschung zu wählen. (Variante:) SPRECHER 2 zum Gegenstand einer sich lange hinziehenden Forschung zu wählen. SPRECHERIN niederer Buschwald, wie von Meisterhand gruppenweise hingesetzt, dazwischen ein Netz von Lichtungen, liebliche Wiesen mit stillen Seen... SPRECHER 3 Die drohende Gefahr des völligen Aussterbens dieser südlichsten Erdbewohner und die Aussicht, sie könnten einen beachtlichen Beitrag zur Kenntnis der frühzeitlichen Verhältnisse in der großen Menschheitsfamilie liefern... SPRECHERIN unberührte Urwälder mit immergrünen Buchen, Myrthen, Zypressen und Magnolien... gewaltige Gletscher, die sich bis ins Meer stürzen... SPRECHER 3 bevor es für immer zu spät ist. (Variante:) SPRECHER 2 bevor es für immer zu spät ist. Teil 2 SPRECHER 1 Wie fast alle Forschungsreisenden jener Zeit, habe auch ich einen Edison-Phonographen im Gepäck. Mit diesem portablen Gerät, das Schallinformation durch einen Trichter verstärkt und auf eine Wachswalze ritzt, zeichne ich im Auftrag des Berliner Phonogramm-Archivs Gesänge und Lieder der Feuerländer auf; es entstehen auf diese Weise die einzigen Tondokumente dieser untergegangenen, Jahrtausende alten Kultur. SPRECHER 3 Diese Sammlung phonographischer Aufnahmen befindet sich im Besitz des Berliner Phonogramm-Archivs im Ethnologischen Museum Berlin/Dahlem. Im Keller des Phonogramm-Archivs lagern in schmucklosen Metallregalen 30.000 historische Wachszylinder, davon 16.800 originale Walzenaufnahmen, die zwischen 1893 und 1954 auf zahllosen Expeditions- und Forschungsreisen in die entlegensten Winkel der Erde gemacht wurden. SPRECHER 3 "Die Gefahr ist groß, dass die rapide Ausbreitung der europäischen Kultur auch die letzten Spuren fremden Singens und Sagens vertilgt. Wir müssen retten, was noch zu retten ist, noch ehe zum Automobil und zur elektrischen Schnellbahn das lenkbare Luftschiff hinzugekommen ist." Erich Moritz von Hornbostel, Chemiker und Musikethnologe. Leiter des Berliner Phonogramm-Archivs von 1901-1933. SPRECHER 1 Die Ergebnisse meiner, später von der Fachwelt als "bahnbrechend" bezeichneten Feldforschungen veröffentliche ich in meinem mehrere Tausend Seiten umfassenden ethnologischen Werk "Die Feuerland Indianer". Als 1931 der 1200-seitige erste Band über den Stamm der Selk'nam erscheint, sind nur noch 84 Stammesangehörige am Leben. SPRECHERIN Kataix, der Gehörnte Ulen, der Dickkopf Matan, ein gutmütiger männlicher Geist Kosmenk und Kúlan, die sich ewig Streitenden Tánu des Westens, ein dickbäuchiger, gemütlicher Geist SPRECHER 2 Es waren wahrscheinlich die ständig brennenden Feuer der, am Festland lebenden Selk'nam, die Magellan 1520 beim Durchqueren des nach ihm benannten Wasserwegs zu seiner Wortschöpfung inspirierten. Die Feuerländer, mit denen die Seefahrer am häufigsten in Berührung kamen, waren jedoch die Yamana und Halakwulup, die als Seenomaden im Gewirr der Inseln, Gletscher und Fjorde leben. Ihr Leben ist bestimmt von der Suche nach Nahrung, und sie sind permanenter Bedrohung durch Stürme und Kälte ausgesetzt. Sie sind in Rindenkanus unterwegs, auf denen sie ein ständiges Feuer unterhalten. Mehr als einfache Hütten kennen sie nicht, da sich das Land mit seinen Krüppelwäldern, Gestrüpp und Mooren nicht zur Landwirtschaft eignet. Ihre Praxis, sich mit einer Lehm- oder einer Transchicht gegen Dauerregen und Kälte zu schützen, erregt bei den europäischen Reisenden Abscheu. SPRECHER 3 "Während wir eines Tages in der Nähe der Wollaston-Inseln an Land gingen, ruderten wir neben einem Canoe mit sechs Feuerländern. Es waren dies die verächtlichsten Geschöpfe, die ich irgendwo gesehen habe. Diese elenden, armen Geschöpfe waren in ihrem Wachstum verkümmert, ihre hässlichen Gesichter waren mit weißer Farbe beschmiert, ihre Haut schmutzig und fettig, ihre Stimmen misstönend. Erblickt man solche Menschen, so kann man kaum glauben, dass sie unsere Mitgeschöpfe und Bewohner einer und derselben Welt sind." Charles Darwin, 1831 SPRECHER 1 Geniale Strategien um in einer der unwirtlichsten Regionen der Erde zu überleben, werden als besonders primitiv und wenig entwickelt missverstanden. Dabei sind die Feuerland Indianer auf die Nutzung ihrer natürlichen Umwelt in hohem Maße spezialisiert. Trotz des kargen Landes und des rauen Klimas nützen sie verschiedenste Ressourcen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und ihre Lebenswelt zu gestalten. Dem komplexen Weltbild, der Mythologie und der rituellen Struktur zollte man im Laufe der Geschichte wenig Beachtung, größere geistige Leistungen wurden den Feuerländern schon immer gänzlich abgesprochen. SPRECHER 3 "Am Morgen schickte der Kapitän eine Abteilung ab, um mit den Feuerländern Kontakt aufzunehmen. Als wir in Rufweite gekommen waren, kam einer der vier Eingeborenen, welche da waren, vorwärts, um uns zu empfangen, und fing an äußerst heftig zu rufen, mit dem Wunsche, uns nach dem Platze hinzuleiten, wo wir landen sollten. Als wir am Lande waren, sah die Gesellschaft im ganzen beunruhigt aus, sie fuhren aber fort, beständig zu sprechen und mit großer Geschwindigkeit zu gestikulieren. Es war ohne alle Ausnahme das merkwürdigste und interessanteste Schauspiel, das ich je erblickte: Ich hätte kaum geglaubt, wie groß die Verschiedenheit zwischen wilden und zivilisierten Menschen sei: Sie ist größer als zwischen einem wilden und domestizierten Tier, insofern beim Menschen eine größere Veredelungsfähigkeit vorhanden ist." Charles Darwin, 1831 SPRECHER 1 Diese Einschätzungen liefern den weißen Farmern, Goldsuchern und Kopfgeldjägern einen willkommenen moralischen Vorwand, ihr aggressives Vorgehen gegen die Indianer zu legitimieren, das in dem Genozid mündet, dem die Feuerländer am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Opfer fallen. SPRECHERIN Kataix, Ulen und Matan Kosmenk und Kúlan, Tánu des Südens und Talen, der mächtige Geist des Nordens SPRECHER 3 "Viele Abenteurer, die der Goldhunger aus allen Verbrecherquartieren Europas dorthin gelockt hatte, widmeten sich, nachdem ihre Hoffnung auf den erwarteten Goldsegen enttäuscht war, für Rechnung der weißen Kolonisten der Jagd auf die Indianer, die als friedfertiges und harmloses Volk von Jagd und Fischfang ihr Leben fristeten. Der Kopf eines erlegten Indianers wurde mit einem Pfund Sterling bezahlt und der Jäger erhob das Blutgeld gegen Übergabe der beiden Ohren, die an Ort und Stelle verbrannt wurden, wodurch der Auftraggeber vermeiden wollte, dass der weiße Kopfjäger die Ohren ein zweites Mal als Quittung präsentierte. Einige geschäftstüchtige Engländer schickten die Schädel der getöteten Indianer dem Londoner Anthropologischen Museum, das bis zu acht Pfund für den Kopf bezahlte. Man schonte dabei weder Frauen, noch Kinder oder Greise. Die Jäger töteten mit Vorliebe Indianerfrauen, die kurz vor der Entbindung standen, weil sie dann statt eines Pfundes zwei Pfund Sterling erhielten, wenn sie mit den Ohren der Mutter auch die des Kindes mit ablieferten, das sie aus dem Mutterleib herausgeschnitten hatten. Dort, wo die Indianer ihr kümmerliches Leben fristeten, ließ sich eine Aktiengesellschaft nieder, die sich heute mit einem Kapital von 1,8 Millionen Pfund Sterling, einem Besitzstand von 2 Millionen Rindern und einem Weidegrund von 1,2 Millionen Hektar mit Fug und Recht das größte Unternehmen der Welt auf dem Gebiete der industriellen Viehzucht nennen darf." "Natur und Kultur", Tyrolia Innsbruck, Missionszeitschrift von 1929 Interlude 2 ("Kleines Wachswalzen Requiem") Wir hören die Walze eines feuerländischen Trauergesangs; das Interlude 2 wird anschließend in Form einer Textcollage in die folgende Wachswalzenkomposition eingewoben. SPRECHERIN + SPRECHER 3 Mank'ácen, der Schattenfänger und sein junger Freund Toin, der ihm einmal das Leben rettete... SPRECHERIN + SPRECHER 3 Tenenensk, der mächtigste Medizinmann der Selk'nam SPRECHERIN + SPRECHER 3 Pedro Grande, ein Sänger der Halakwulup. Die kleine Yamana-Frau Nelly und Inxiol, der bei den Selk'nam als besonders gutaussehend galt, mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter... SPRECHER 3 Tenenensk, Mank'ácen und sein junger Freund Toin, SPRECHERIN Kataix, Ulen und Matan, SPRECHER 3 gespenstische Masken und Tanzstäbe und Kämme aus Delfin-Kiefern, (Variante:) SPRECHER 2 gespenstische Masken und Tanzstäbe und Kämme aus Delfin-Kiefern, SPRECHERIN Kosmenk und Kúlan und Tánu des Südens, SPRECHER 3 Rindenkanus, Umhänge aus Seelöwenfell, (Variante:) SPRECHER 2 Rindenkanus, Umhänge aus Seelöwenfell, SPRECHERIN Ciexaus und Kewanix-Spiel, SPRECHER 3 und ein Wörterbuch in einer Sprache, die niemand mehr spricht. (Variante:) SPRECHER 1 und ein Wörterbuch in einer Sprache, die niemand mehr spricht. Teil 3 SPRECHER 3 "Die Gefahr ist groß, dass die rapide Ausbreitung der europäischen Kultur auch die letzten Spuren fremden Singens und Sagens vertilgt. Wir müssen retten, was noch zu retten ist." SPRECHER 1 Erich Moritz von Hornbostel bestückte in dieser Zeit so gut wie jede Expedition, die das Land verließ, mit einem Edison-Phonographen. SPRECHER 3 "Der von mir mitgeführte Phonograph war ein gewöhnlicher Excelsior-Apparat. An der Küste arbeitete er noch zufriedenstellend; aber jetzt in der tiefen, schwül-heißen Senke, war es jedoch unmöglich die Aufnahmen zu reproduzieren, ohne die ganze Oberschicht der Walze durch die Nadel zu zerstören. Vielleicht ist die Wachsschicht durch die Hitze zu weich geworden. Erst im frischeren Hochland wird es wohl wieder gute Resultate geben." Theodor Koch-Grünberg, Anthropolge, 1899 auf der erfolglosen Xingu-Expedition in Brasilien. SPRECHER 1 Das Phonogramm-Archiv besitzt zwei Sammlungen mit insgesamt 86 Wachszylindern, die Koch-Grünberg in Brasilien aufgenommen hat. Er hat auf seinen Reisen wertvolle Erkenntnisse über die südamerikanischen Indianer gesammelt. Wie ich beschäftigt auch er sich intensiv mit der Mystik der von ihm studierten indigenen Kulturen. 1927 erscheint etwa ein Buch mit seinen Transkriptionen von Märchen der Indianer vom Roroima-Fluss in Nordwest-Brasilien. SPRECHER 3 "Im Vergleich zu Grammophonaufnahmen und kommerziell vertriebenen Edison-Walzen ist der Anteil von Störgeräuschen bei den Feldforschungsaufnahmen mit dem Phonographen vergleichsweise hoch. Dies hat unterschiedliche Ursachen: Generell sind die Produktionsbedingungen während einer Feldforschungsreise weit von idealen Bedingungen entfernt. In tropischen Regionen war die Gefahr des Schimmelbefalls der Walzen latent. Hinzu kommen mangelhafte Aufnahmesysteme und Umweltbedingungen, die nicht gerade als staubfrei zu bezeichnen sind. Die verschiedenen Stationen der Sammlung zwischen dem zweiten Weltkrieg und ihrer Rückkehr ins Ethnologische Museum Anfang der 90er-Jahre haben den Zustand der Aufnahmen am nachhaltigsten verschlechtert: Auslagerung in Bunker, Abtransport nach Leningrad, Rücktransport nach Berlin-Hauptstadt der DDR, Einlagerung im Keller mit dazugehörigem Wasserschaden, all das hat sowohl die noch vorhandenen Originale, wie die Kupfernegative mit einer Schmutz- und Schimmelpatina überzogen, die unüberhörbar ist." Albrecht Wiedmann, Tontechniker im Phonogramm-Archiv zuständig für die Digitalisierung der Wachszylinder. SPRECHER 1 Der Kampf um die Bewahrung der mit dem Phonographen eingefangenen Musik beginnt für den Forscher bereits unmittelbar nach der Aufnahme. SPRECHER 3 Von diesem Moment an scheint das Thema des Vergessens und Verschwindens die fragilen Wachszylinder auf allen Ebenen durch die 100 Jahre ihrer Existenz bis zum heutigen Tag zu begleiten. Die Geschichte des Phonogramm-Archivs ist die Geschichte einer beständigen Anstrengung, gegen das Verschwinden der dokumentierten Kulturen einerseits, und gegen das Verblassen und Verfallen der gesammelten Dokumente andererseits, anzuarbeiten. Das Störgeräusch, das dem Wissenschaftler bei der Analyse der Wachszylinder ein oft beinahe unüberwindbares Hindernis ist, ist im selben Maße zugleich eine sinnlich-poetische Metapher des langsamen Verschwindens. Interlude 3 Alle Begriffe werden von Sprecher 3 und der Sprecherin aufgenommen und anschließend collagiert. SPRECHER 3 + SPRECHERIN Funkelrauschen Körnerrauschen Sprenkelrauschen Kristallrauschen Weißes Rauschen Rosa Rauschen Blaues Rauschen Graues Rauschen Britzelrauschen Riffelrauschen Schaumrauschen Brutzelrauschen Donnerrauschen Blätterrauschen Wasserrauschen Straßenrauschen Meeresrauschen Atemrauschen Sternenrauschen SPRECHER 2 + SPRECHERIN "Dessen war ich mir bewusst, dass dieser Besuch mein letzter sein würde. Den Rest dieses Stammes noch einmal hier zu versammeln, bemühte ich mich von Anfang an. Etwa sechs Personen streiften noch auf den Wollaston-Inseln mit einigen Robbenschlägern herum, und nach ihnen sandte ich eigens ein Boot aus; leider gelang es nicht, sie aus der Abhängigkeit von jenen Europäern zu befreien. Von ihnen und wenigen Einzelpersonen samt Mischlingen abgesehen waren alle Yamana um mich vereinigt; ihre Gesamtzahl reichte damals nicht mehr an die 70 heran. Oft erschauderte ich beim Anblick dieser Handvoll Menschen, denen als Überbleibsel eines vielhundertköpfigen gesunden Volkes das grausige Schicksal nur noch wenige Lebensjahre gewährte." SPRECHER 3 Martin Gusinde, 1923 SPRECHER 1 Lieder, die längst verklungen sind aus Mündern, die sich längst für immer geschlossen haben, schimmern durch eine dichte Schicht aus grobkörnigem, feinkörnigem, konturreichen Rauschen hindurch und berühren das Ohr des Hörers, hundert Jahre nach ihrer Aufnahme. (Variante:) SPRECHER 3 Lieder, die längst verklungen sind aus Mündern, die sich längst für immer geschlossen haben, schimmern durch eine dichte Schicht aus grobkörnigem, feinkörnigem, konturreichen Rauschen hindurch und berühren das Ohr des Hörers, hundert Jahre nach ihrer Aufnahme. (Variante:) SPRECHERIN Lieder, die längst verklungen sind aus Mündern, die sich längst für immer geschlossen haben, schimmern durch eine dichte Schicht aus grobkörnigem, feinkörnigem, konturreichen Rauschen hindurch und berühren das Ohr des Hörers, hundert Jahre nach ihrer Aufnahme. Coda SPRECHERIN Vor vielen, vielen Jahren kam aus dem großen Wasserhaus, der Heimat der Sonne, ein kleiner Knabe, der so wunderschön singen konnte, dass viele Leute von nah und fern herbeieilten, ihn zu sehen und zu hören. Der Knabe hieß Milomaki. Als aber die Leute, die ihn gehört hatten, heimkehrten und Fische aßen, fielen sie alle tot nieder. Da ergriffen die Angehörigen Milomaki, der inzwischen zum Jüngling herangewachsen war, und verbrannten ihn auf einem großen Scheiterhaufen. SPRECHER 3 Martin Gusinde kehrt nie wieder nach Feuerland zurück. Er stirbt hochbetagt und auf ein vielbewegtes Forscher- und Gelehrtenleben zurückblickend, zurückgezogen und krank am 18. Oktober 1969 in St. Gabriel bei Wien. Obwohl seine komplexe und vielschichtige Darstellung der Lebenswelt der verschwundenen Kulturen der Feuerlandindianer bis heute wissenschaftliche Gültigkeit besitzt, erinnert sich im 21. Jahrhundert kaum jemand an den Namen Gusindes. Er ist, genauso wie die Geschichte der ehemals südlichsten Bewohner der Erde, die er erforschte, heute weitgehend in Vergessenheit geraten. (Variante:) SPRECHER 1 (Haltungswechsel: weg vom persönlichen "Plauderton" hin zum Ton einer neutralen Berichterstattung) Martin Gusinde kehrt nie wieder nach Feuerland zurück. Er stirbt hochbetagt und auf ein vielbewegtes Forscher- und Gelehrtenleben zurückblickend, zurückgezogen und krank am 18. Oktober 1969 in St. Gabriel bei Wien. Obwohl seine komplexe und vielschichtige Darstellung der Lebenswelt der verschwundenen Kulturen der Feuerlandindianer bis heute wissenschaftliche Gültigkeit besitzt, erinnert sich im 21. Jahrhundert kaum jemand an den Namen Gusindes. Er ist, genauso wie die Geschichte der ehemals südlichsten Bewohner der Erde, die er erforschte, heute weitgehend in Vergessenheit geraten. SPRECHERIN Der Jüngling Milomaki aber fuhr bis zu seinem Ende fort, wunderschön zu singen. Er starb und wurde von den Flammen verzehrt. Seine Seele aber stieg zum Himmel auf. Aus seiner Asche erwuchs noch am selben Tage ein langes grünes Blatt. Es wurde zusehends größer und größer, breitete sich aus und war am anderen Tag schon ein hoher Baum, die erste Paschiubapalme. Die Leute machten aus ihrem Holz große Flöten, und diese gaben die wunderschönen Weisen wieder, die einst Milomaki gesungen hatte. Die Männer blasen diese Flöten bis zum heutigen Tag, jedes Mal wenn die Waldfrüchte reif sind, und fasten und tanzen zu Ehren Milomaki, der alle Früchte geschaffen hat. Die Weiber aber und die kleinen Knaben dürfen die Flöten nicht sehen, sonst müssen sie sterben. SPRECHERIN Mysterium des Sonnenheros, des Erzeugers allen Wachstums der Nahuna-Indianer, Rio Apaporis, Nordwestbrasilien. Aufgezeichnet von Theodor Koch-Grünberg 1911. (VARIANTE:) SPRECHER 3 Mysterium des Sonnenheros, des Erzeugers allen Wachstums der Nahuna-Indianer, Rio Apaporis, Nordwest-Brasilien. Aufgezeichnet von Theodor Koch-Grünberg 1911. ABMODERATION ?Milomaki ? Vom Vergessen und Verschwinden? Feature von Merzouga 1