COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitreisen 5. Oktober 2011 Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Auszüge aus dem gleichnamigen Buch von Neil MacGregor Teil 2 Redaktion: Winfried Sträter Lesung in 3 Teilen, gesprochen von 3 Sprecher(inne)n Erstes Kapitel (S. 50ff): Schwimmende Rentiere Spr 2 Schwimmende Rentiere Skulptur aus einem Mammutzahn, gefunden in Montastruc, Frankreich 11.ooo v.Chr. Spr 1 Vor rund 50.000 Jahren muss mit dem menschlichen Gehirn etwas Grundstürzendes passiert sein. Überall auf der Welt begannen die Menschen damit, feste Muster zu schaffen, die schmücken und bezaubern, Schmuck zur Verzierung des Körpers anzufertigen und Darstellungen von Tieren zu produzieren, die um einen herum lebten. Sie erzeugten Objekte, die nicht die Welt verändern, sondern die Ordnung und die Strukturen, die sich in ihr erkennen lassen, erkunden sollten. Kurz: Die Menschen schufen Kunst. die beiden Rentiere, die auf diesem Stück Knochen dargestellt sind, bilden das älteste Kunstwerk, das sich in einem britischen Museum oder einer Kunstsammlung findet. Das Stück entstand gegen Ende der letzten Eiszeit, vor gut 13.000 Jahren. .. Die Skulptur ist ungefähr zwanzig Zentimeter lang und aus dem Stoßzahn eines Mammuts geschnitzt - offenbar aus dem äußeren Ende des Zahns, denn sie ist dünn und leicht gekrümmt. Sie wurde von einem unserer Vorfahren angefertigt, der sich seine eigene Welt vor Augen führen wollte, und dabei übermittelte er seine Welt mit erstaunlicher Unmittelbarkeit auch uns. Wir haben es mit einem Meisterwerk eiszeitlicher Kunst zu tun, und es belegt überdies die große Veränderung, die sich in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns vollzogen hatte. .. Warum verspüren alle modernen Menschen den Drang, Kunstwerke zu schaffen? Warum wird überall aus dem Werkzeugmacher der Künstler? Die beiden Rentiere in diesem Kunstwerk schwimmen dicht hintereinander her, und bei ihrer Positionierung hat der Bildhauer die konische Form des Mammutzahns auf brillante Weise zu nutzen gewusst. Das kleinere, weibliche Rentier schwimmt vorne, wobei das Ende des Zahns seine Nasenspitze bildet; ihm folgt, in der nunmehr breiteren Form des Zahns, das größere Männchen. .. Es handelt sich um ein großartig beobachtetes Stück - und es kann nur von jemandem geschaffen worden sein, der den Rentieren über lange Zeit dabei zugesehen hat, wie sie durch Flüsse schwimmen. Es ist somit sicher nicht nur Zufall, dass es an einem Fluss gefunden wurde, in einer Halbhöhle im französischen Montastruc. Diese Schnitzerei bietet eine wunderbar realistische Darstellung der Rentiere, die vor 13.000 Jahren in riesigen Herden quer durch Europa zogen. Auf dem Kontinent war es damals deutlich kälter als heute; die Landschaft bestand überwiegend aus offener, baumloser Ebene und sah in etwa so aus wie das heutige Sibirien. Für den menschlichen Jäger und Sammler waren die Rentiere auf diesem unerbittlichen Terrain das wichtigste Mittel zum Überleben. Ihr Fleisch, ihr Fell, ihre Knochen und ihr Geweih lieferten alles, was die Menschen an Nahrung und Kleidung brauchten, und dazu noch das Material für Werkzeuge und Waffen. Solange sie Rentiere jagen konnten, würden sie überleben, und zwar bequem überleben. Es überrascht also nicht wirklich, dass unser Künstler die Tiere ziemlich gut kannte und sich entschloss, ein Bild von ihnen anzufertigen. .. Wir sehen diese Tiere eindeutig im Herbst, zur Zeit der Brunft und der Wanderung zu den Winterweidegründen. Nur im Herbst sind Geweih und Fell bei Männchen wie Weibchen so ausgeprägt und in so wunderbarem Zustand. An der Brust des Weibchens sind die Rippen und das Brustbein großartig geschnitzt. Dieses Objekt wurde zweifellos nicht nur mit dem Wissen eines Jägers gestaltet, sondern auch mit der Kenntnis eines Metzgers, von jemandem also, der diese Tiere nicht nur betrachtet, sondern auch ausgeweidet hatte. Wir wissen, dass dieser detailgetreue Naturalismus nur eine der Stilformen war, die den Künstlern der Eiszeit zur Verfügung standen. Im Britischen Museum findet sich noch eine weitere Skulptur, die in der gleichen Höhle bei Montastruc gefunden wurde. Sie ist von auffallender Parallelität, was kein Zufall sein kann: Sind unsere Rentiere aus dem Zahn eines Mammuts geschnitzt, so zeigt die andere Skulptur ein Mammut, das aus dem Geweih eines Rentiers gefertigt wurde. Das Mammut freilich ist sogleich als solches erkennbar, aber doch ganz anders gestaltet - vereinfacht und schematisiert, irgendwo zwischen Karikatur und Abstraktion. Diese Paarung ist kein bloßer Zufall: Die Eiszeitkünstler verfügen über eine ganze Palette an Stilen und Techniken - abstrakt, naturalistisch, ja sogar surreal -, sie kennen aber auch Perspektive und ausgefeilte Komposition. Wir haben es mit modernen Menschen mit modernen menschlichen Gehirnen zu tun. Sie leben zwar noch vom Jagen und Sammeln, aber sie interpretieren ihre Welt mittels Kunst. Steven Mithen, Professor an der University of Reading, beschreibt diese Veränderung folgendermaßen: "Irgendwann in der Zeit vor 50.000 und 100.000 Jahren passierte etwas mit dem menschlichen Gehirn, das dafür sorgte, dass sich diese phantastische Kreativität, Vorstellungskraft und künstlerische Fertigkeit entwickeln konnten - vermutlich wurden verschiedene Teile des Gehirns neu miteinander verbunden, so dass verschiedene Denkweisen miteinander in Beziehung treten konnten, nicht zuletzt im Hinblick darauf, was die Menschen über die Natur und was sie über die Herstellung von Dingen wissen. Damit erlangten sie eine neuartige Fähigkeit, Kunstgegenstände zu produzieren. Doch auch die Bedingungen der Eiszeit spielten eine zentrale Rolle: Die Menschen standen vor großen Herausforderungen, denn sie mussten lange, harte Winter überstehen - die Notwendigkeit, enge soziale Bindungen aufzubauen, das Bedürfnis nach Ritualen und Religion, all das trug zum damaligen Aufblühen kreativen Kunstschaffens bei. Zu dieser Kunst gehört ein überwältigendes Gefühl der Freude an der Natur, ihrer Wertschätzung und ihres Lobpreises." Diese Wertschätzung gilt nicht nur der Tierwelt - diese Menschen wussten auch, wie man Felsen und Mineralien nutzen konnte. Unsere kleine Skulptur ist .. in Ausführung und Konzeption .. ein sehr komplexes Kunstwerk. Es weist alle Merkmale genauer Beobachtung und gekonnter Umsetzung auf, wie man sie von einem großen Künstler erwartet. Warum aber sollte man so viel Mühe und Sorgfalt auf ein Objekt verwenden, das keinen praktischen Zweck hat? Dr. Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury, erkennt in all dem einen tieferen Sinn: "Man spürt förmlich, dass das von jemandem gefertigt ist, der sich mit großer Vorstellungskraft in die Welt um ihm herum versetzen konnte, der diesen Rhythmus sah und ihn in den eigenen Knochen spürte. In der Kunst dieser Zeit erkennt man, wie Menschen voll und ganz in den Fluss des Lebens einzutauchen versuchen, so dass sie Teil des ganzen Prozesses tierischen Lebens um sie herum werden, und dabei geht es nicht darum, sich mit der Tierwelt zu arrangieren oder den Jagderfolg sicherzustellen. Ich glaube, dabei geht es um mehr. Es geht um die Sehnsucht, in die Welt einzutauchen und dort zu Hause zu sein, und zwar auf einer tieferen Ebene, und das ist tatsächlich ein sehr religiöser Impuls, in der Welt zu Hause sein zu wollen. Mitunter glauben wir, bei Religion gehe es gerade darum, nicht in der Welt zu Hause zu sein, der Kern des Ganzen spiele sich anderswo im Himmel ab; doch wenn man sich die Ursprünge der Religion anschaut, eine Vielzahl von Fragen, die sich in allen großen Weltreligionen finden, dann ist es genau umgekehrt - es geht darum, wie man im Hier und Jetzt lebt und wie man ein Teil dieses Lebensstroms wird." Diese Schnitzarbeit der zwei schwimmenden Rentiere hatte keine praktische Funktion, nur Form. Wurde sie allein wegen ihrer Schönheit gefertigt? Oder diente sie einem anderen Zweck? Indem man etwas darstellt, indem man ein Bild oder eine Skulptur davon anfertigt, haucht man ihm auf fast magische Weise Leben ein und man bestätigt sein Verhältnis dazu in einer Welt, die man nicht bloß erfahren, sondern auch imaginieren kann. Es ist gut möglich, dass die Kunst, die während der Eiszeit überall auf der Welt entstand, in der Tat eine religiöse Dimension besaß, auch wenn wir über irgendwelche rituellen Verwendungen dieser Kunst nur Vermutungen anstellen können. Doch diese Kunst fügt sich in eine Tradition, die bis heute sehr lebendig ist, ein sich entwickelndes religiöses Bewusstsein, das viele menschliche Gesellschaften prägt. Objekte wie diese Skulptur der schwimmenden Rentiere erlauben uns Einblicke in Denken und Fantasie von Menschen, die weit weg, aber doch wie wir sind - in eine Welt, die diese Menschen nicht sehen konnten, die sie aber unmittelbar verstanden. Regie: Musik zwischen den Kapiteln, unter den Zwischentext legen Zwischentext Spr 3: Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Das Objekt der folgenden Geschichte stammt aus Australien, es ist ein Beutestück aus dem Jahr 1770 nach Christus - Zeugnis eines Zusammenpralls zweier Kulturen. Australischer Borkenschild, Holzschild, aus der Botany Bay, Neusüdwales, Australien. Zweites Kapitel (S. 665ff): Australischer Borkenschild (Holzschild, aus der Botany Bay, Neusüdwales, Australien. Um 1770) Spr 2 Der Schild ist .. ein Objekt voll symbolischer Gewalt, ein vielschichtiges Dokument der Geschichte und Legenden, der Weltpolitik und der Rassenbeziehungen. Es ist ein Schild der Aborigines, und es ist eines der ersten australischen Objekte, die nach Europa gelangten. James Cook brachte es von seiner ersten Weltumsegelung mit. .. Wir wissen auf den Tag genau, wann es Cook in die Hände fiel - es war der 29. April 1770 -, weil Cook selbst und einige seiner Begleiter schriftliche Zeugnisse davon hinterlassen haben. Der australische Ureinwohner, dem der Schild gehörte, kannte keine Schrift, weshalb die Geschichte, die Objekte erzählen, so wichtig sein kann: Dieser Schild spricht für den namenlosen Mann, der vor fast 250 Jahren am Ufer der Botany Bay seine erste Begegnung mit einem Europäer hatte. Cook hat in seinem Logbuch die Ankunft an der Ostküste Australiens südlich des heutigen Sydney festgehalten: "Am Sonntag dem 29. nachmittags bei südlichen Winden und klarem Himmel in die Bucht eingelaufen und vor dem südlichen Ufer Anker geworfen." Der Ankerplatz lag in einer Bucht, die ihren späteren Namen, Botany Bay, dem Sammeleifer des Botanikers Joseph Banks verdankte, der Cook auf seiner Reise begleitete. Im Logbuch heißt es weiter: "Sahen beim Einlaufen an beiden Spitzen der Bucht mehrere Eingeborene und ein paar Hütten, ... als wir uns dem Ufer näherten, liefen sie alle weg bis auf zwei Männer, die unsere Landung offenbar verhindern wollten - als ich das sah, befahl ich, die Ruder einzuholen, um mit ihnen zu reden, aber das hatte wenig Sinn, da weder wir noch Tupia ein Wort von dem verstanden, was sie sagten. ... Ich dachte, sie winken uns, an Land zu kommen, aber das war ein Irrtum, denn kaum hatten wir das Ufer erreicht, kamen sie uns wieder in drohender Haltung entgegen, worauf ich mit einer Muskete zwischen sie feuerte, was keine andere Wirkung hatte, als dass sie sich dahin zurückzogen, wo Bündel ihrer Pfeile lagen und einer von ihnen hob einen Stein auf und warf ihn nach uns, worauf ich mit der Muskete eine Schrotladung abschoss, und obwohl der Mann von ein paar Schrotkugeln getroffen wurde, hatte das keine andere Wirkung, als dass er nach einem Schild griff, um sich zu schützen." An dieser Stelle nimmt Joseph Banks in seinem Tagebuch den Faden der Erzählung auf: "... ein Mann, der unsere Landung zu verhindern suchte, kam mit einem Schild aus Baumrinde ans Ufer herunter; diesen ließ er zurück, als er davonrannte, und als wir ihn aufhoben, stellten wir fest, dass er ungefähr in der Mitte von einer Lanzenspitze durchbohrt worden war." Das muss unser Schild gewesen sein. Ungefähr in der Mitte befindet sich das Loch, von dem Banks spricht, und es sind, wie vom Zeichner der Expedition dokumentiert, Spuren von weißer Farbe vorhanden. Der Schild ist grob gehauen, leicht gewölbt, von rötlichbrauner Farbe und etwa einen Meter hoch und 30 Zentimeter breit, was als Schutz für einen Menschen ziemlich schmal ist. .. Der Besitzer des Schildes war ein Mann, dessen Vorfahren seit gut 60.000 Jahren das Land bewohnten, in dem er immer noch heimisch war. Phil Gordon, der am Australischen Museum in Sydney für das Kulturerbe der Aborigines zuständig ist, beschreibt das Leben der australischen Ureinwohner in dieser Region: "Einer der großen Mythen über die Vergangenheit der Aborigines ist die Annahme, dass sie lebten. In der Gegend um Sydney und in fast allen anderen Küstenregionen Australiens hatten die Menschen ein sehr gutes Leben; in den Buchten gab es Fische in Hülle und Fülle, ... das Klima war günstig, die wirtschaftliche Existenz war gesichert. Dadurch blieb den Menschen Zeit, sich mit der spirituellen Seite des Lebens und anderen Aspekten ihrer Kultur zu beschäftigen." Cook und Banks äußern sich an späterer Stelle in ihren Tagebüchern darüber, wie glücklich und zufrieden ihnen die Leute erschienen, obwohl es, wie wir wissen, Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Stammesgruppen gab. Außer Schilden besaßen die Männer Speere, und das Loch in unserem Schild stammt tatsächlich von einer hölzernen Speer- oder Lanzenspitze, die ihn vermutlich während eines Kampfes traf. Dieses Loch sowie die Kratzer und Kerben, mit denen die Oberfläche überzogen ist, machen deutlich, dass der Schild einige Schlachten mitgemacht hat, bevor er als Schutz gegen Cooks Gewehrkugeln herhalten musste. .. Cook hatte natürlich keine Ahnung von den Sitten und Bräuchen der Australier - konnte sie als Europäer auch gar nicht haben -, und so waren die Gelegenheiten zu Missverständnissen bei dieser ersten Begegnung nahezu grenzenlos. Rückblickend kann man sagen, dass vermutlich keine der beiden Seiten die Absicht hatte, die anderen zu töten. Die Einheimischen warfen mit Steinen und Speeren, trafen aber niemanden. Angesichts der Tatsache, dass sie Jäger und Sammler waren, für die es lebenswichtig war, mit dem Speer geschickt umgehen zu können, liegt die Vermutung nahe, dass ihr Angriff nur eine Warnung war - eine Aufforderung an die Fremden, schleunigst wieder zu verschwinden und sie in Ruhe zu lassen. Cook seinerseits rechtfertigt die Gewehrschüsse auf die Beine der Aborigines damit, dass er befürchtet habe, die Speerspitzen könnten vergiftet sein. Als die Einheimischen die Flucht ergriffen, erkundeten Cook und seine Männer die umliegenden Wälder: "Hier stießen wir auf einige kleine Hütten aus Baumrinde, und in einer davon hielten sich vier oder fünf kleinere Kinder auf, für die wir ein paar Perlenketten usw. zurückließen..." Als direkte Begegnungen und der Austausch von Geschenken ausblieben, gab Cook auf und segelte, nachdem er mit seinen Männern eine Woche lang Pflanzen gesammelt hatte, an der Küste entlang weiter Richtung Norden. Als er die Nordspitze Australiens erreicht hatte, erklärte er die gesamte Ostküste offiziell zu britischem Besitz. "Nun hisste ich noch einmal die englische Flagge und nahm im Namen seiner Majestät König Georgs des Dritten die gesamte Ostküste unter dem Namen Neusüdwales in Besitz ... worauf wir drei Salven aus unseren Gewehren abfeuerten, die vom Schiff aus mit der gleichen Anzahl an Salven beantwortet wurden." Das entsprach nicht Cooks üblichem Verhalten, wenn es um Land ging, das bereits bewohnt war. Normalerweise achtete er, wie beispielsweise auf Hawaii, die Rechte der angestammten Bewohner an ihrem Land. Vielleicht begriff er nicht, wie eng die australischen Ureinwohner mit ihrem Kontinent verbunden waren und wie gründlich sie ihn beherrschten. Wir wissen nicht, was ihn zu diesem folgenschweren ersten Akt der Zwangsenteignung bewegte. Kurz nach der Rückkehr von ihrer Expedition empfahlen Banks und andere dem britischen Parlament, in der Botany Bay eine Strafkolonie zu errichten, und läuteten damit die lange, tragische Geschichte ein, die für viele australische Ureinwohner das Ende ihres Stammeslebens bedeutete. Die Historikerin Maria Nugent hat sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Cooks Bild in den Augen der Australier von damals bis heute verändert hat: "In der australischen Geschichtsschreibung wird Cook weitgehend als Wegbereiter der Besiedelung und damit als Gründervater dargestellt. .. Diese Sicht der Dinge hielt sich ziemlich lange, bis in die 1960er und 1970er Jahre, als Vertreter der Aborigines anfingen, .. Kritik an der Rolle Cooks als Gründervater zu üben. Sie sehen ihn als Symbol der Kolonialisierung, des Todes und der Zerstörung. .." Der Borkenschild steht am Anfang einer Jahrhunderte währenden Geschichte der Missverständnisse, der Entrechtung und des Völkermords. Heute lautet die große Frage in Australien, wie eine sinnvolle Wiedergutmachung aussehen könnte und ob sie überhaupt möglich ist. In diesem Prozess spielen Objekte wie dieser Borkenschild, die einen Platz in den Museen Europas und Australiens haben, eine kleine, aber nicht unbedeutende Rolle. Im Rahmen von Forschungsprogrammen werden in Zusammenarbeit mit den indigenen Gemeinden erhaltene Artefakte untersucht und Mythen und Legenden, handwerkliche Fähigkeiten und Gebräuche dokumentiert, um einer Geschichte, die zum großen Teil verloren ist, das zu entlocken, was ihr noch zu entlocken ist. Unser Schild, der beim ersten Aufeinandertreffen zugegen war, könnte nun eine Rolle spielen in einem Dialog, der vor 250 Jahren nicht zustande kam. Regie: Musik zwischen den Kapiteln, unter den Zwischentext legen Zwischentext Spr 1: Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Im letzten Teil des Buches werden Objekte aus den vergangenen hundert Jahren vorgestellt - unter dem Titel: "Die Welt, die wir geschaffen haben". Eines der Objekte unserer jüngsten Vergangenheit und Gegenwart ist - die Kreditkarte. Kreditkarte: Ausgegeben in den Vereinigten Arabischen Emiraten 2009 n. Chr. Drittes Kapitel (S. 739ff): Kreditkarte Spr 3 Wenn man Leute fragt, welche Erfindung des 20. Jahrhunderts ihr Leben am nachhaltigsten beeinflusst hat, würde ihnen vielleicht als erstes das Mobiltelefon oder der Computer einfallen. Die wenigsten würden vermutlich an die kleinen Plastikkarten denken, die zuhauf in ihren Brieftaschen und Portemonnaies stecken. Und doch ist die Kreditkarte seit ihrer Einführung in den 1950er Jahren zu dem Stoff geworden, aus dem unser Leben ist. Zum ersten Mal in der Geschichte ist Kreditnahme kein Vorrecht der Privilegierten mehr, und plötzlich werden - vielleicht als Folge davon - lange nicht mehr gestellte religiöse und moralische Fragen nach Nutzen und Missbrauch des Geldes wieder laut im Zeichen dieses ultimativen Symbols ökonomischer Freiheit, wie es die einen sehen, oder, so die anderen, einer triumphierenden anglo-amerikanischen Konsumgesellschaft. .. Die Kreditkarte ist eine amerikanische Erfindung, die Weiterentwicklung des Kundenkreditkartensystems, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts Verbreitung fand. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die staatlichen Beschränkungen des Geldverleihs aufgehoben wurden, erlebte das Kreditwesen eine ungeahnte Blüte. Als erste Universalkreditkarte wurde 1950 die Karte des Diners Club eingeführt. 1958 folgte der nächste Schritt mit der ersten echten Kreditkarte, die von einer Bank ausgegeben und von einer Vielzahl von Geschäften als Zahlungsmittel akzeptiert wurde. Das war die BankAmericard, Vorgängerin der Visa-Karte und die erste Kreditkarte aus Plastik. Aber erst in den 1990er Jahren setzte sich der Gebrauch auch über die Grenzen von Nordamerika und Großbritannien hinaus durch und wurde weltweit zu einer Selbstverständlichkeit. Täglich werden wir durch Kredit- und Debitkarten an die Tatsache erinnert, dass Geld seinen grundsätzlich materiellen Charakter verloren hat. Das Geld, das wir über die Kreditkarte ausgeben, ist immer neu, frisch und unbenutzt; man kann es überall auf der Erde und über alle Ländergrenzen hinweg sofort abrufen. .. Das Exemplar, das unsere Geschichte erzählt, präsentiert sich stolz als Goldkarte. Die Hauptfunktion der Karte besteht natürlich darin, Bezahlung zu garantieren. Ein vollkommen Fremder kann sich darauf verlassen, dass er letztendlich sein Geld bekommt. Der Gouverneur der Bank von England Mervyn King sieht in diesen Karten lediglich eine neue Lösung für ein uraltes Problem: "Bei jeder Form von Geld oder Karten, mit denen Kaufgeschäfte finanziert werden, ist die Akzeptanz, das Vertrauen, das die Gegenseite der Transaktion entgegenbringt, von entscheidender Bedeutung. .. Als in Argentinien in den 1990er Jahren das Finanzsystem kollabierte und das Land seine Schulden nicht mehr zurückzahlen konnte, verlor die Währung ihren Wert, und in manchen Dörfern kamen als Ersatz für das wertlos gewordene Papiergeld Schuldscheine in Umlauf. Das Problem ist, dass der Empfänger des Schuldscheins demjenigen, von dem er ihn bekommt, vertrauen muss, und das war nicht immer der Fall. Also sind die Leute mit ihren Schuldscheinen zum Dorfpfarrer gegangen und haben ihn gebeten, seine Unterschrift darunter zu setzen. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man sich der Religion bedienen kann, auch wenn es gar nicht um die Religion als solche geht, sondern darum, dass mit ihrer Hilfe das Vertrauen in ein anderes Instrument, dessen man sich bedient hat, gestärkt werden soll." .. Die Goldkarte, um die es hier geht, wurde von der HSBC, der Hong Kong and Shanghai Banking Corporation, mit Sitz in London ausgegeben. Die Abrechnung wird über die US-amerikanische Kreditkarten-Organisation VISA abgewickelt, und sie trägt neben dem englischsprachigen auch einen arabischsprachigen Aufdruck- sie ist, kurz gesagt, weltweit vernetzt als Teil eines Finanzsystems, das sich auf einen komplexen elektronischen Überbau stützt. .. Alle Kreditkarten haben die gleiche international genormte Form und Größe, damit sie in die vielen "Schlitze in der Wand" passen, die in unserer urbanen Welt allgegenwärtig sind. In einer Hinsicht gleichen sie dem herkömmlichen Münz- und Papiergeld: Sie haben zwei Seiten, die wichtige Informationen enthalten. Wenn man unsere Karte umdreht, sieht man einen Magnetstreifen, Teil der elektronischen Kennung, die es uns ermöglicht, unser Geld rund um den Globus relativ sicher zu bewegen. .. Der Mikrotechnik, einer der großen Errungenschaften der letzten Generation, ist es zu verdanken, dass es weltweit einsetzbare Kreditkarten - und damit weltweit agierende Banken gibt. Der kleine schwarze Streifen ist der Held - oder der Schurke - dieses Kapitels. Alles andere ist eine Folge dessen, was er leistet. Kreditkarten machen etwas möglich, was für die meisten Menschen früher unmöglich war: Sie erlauben, dass wir uns Geld leihen, ohne uns den klassischen Pfandleihern oder Kredithaien ausliefern zu müssen. Natürlich birgt diese Möglichkeit Gefahren. Leicht verfügbare Kredite unterminieren traditionelle Tugenden wie Sparsamkeit, weil man das Geld nicht mehr zurücklegen muss, bevor man es ausgibt. Daher ist es kein Wunder, dass Kreditkarten ins Visier von Moralisten geraten und als ihrem Wesen nach gefährlich und sogar frevlerisch eingestuft worden sind. Fraglos fördern Kreditkarten die Bereitschaft der Verbraucher, Geld auszugeben - nicht selten mehr, als sie sich leisten können. Das ist also ein Bereich des Bankenwesens, der schnell zum Gegenstand moralischer und religiöser Debatten wird. Tatsächlich enthält unsere Karte selbst ein religiöses Element, was manch einen überraschen mag. Quer über die Vorderseite zieht sich ein Schmuckstreifen mit einem Muster, das wie ein rotes Sternengitter aussieht. Das Muster erinnert merkwürdigerweise an .. die sudanesische Schlitztrommel, die, als man sie in den islamischen Norden des Sudan brachte, zu Ehren der neuen Welt, in die sie jetzt gehörte, nachträglich mit einem islamischen Schnitzmuster versehen wurde. Das Muster erfüllt auf der Kreditkarte den gleichen Zweck wie auf der Trommel, denn sie ist nicht einfach nur von der HSBC ausgegeben, sondern von der HSBC Amanah, dem islamischen Zweig des Konzerns. Diese Kreditkarte wird als schariakonform vermarktet. In allen abrahamitischen Religionen gibt es Texte, die sich mit dem Problem des Zinswuchers auseinandersetzen, der einen armen Teufel in Schulden stürzen und schließlich ins Verderben treiben kann. .. Folgerichtig haben sich Juden, Christen und Muslime mit den moralischen Implikationen der globalen Finanzwirtschaft auseinandergesetzt: mit der Trennung von Geld und Waren, von Geld und Leistung und vor allem mit den sozialen Folgen zunehmender Verschuldung. Als Konsequenz wurden seit den 1990er Jahren eine Reihe schariakonformer Banken gegründet - sie bieten mittlerweile in über 60 Ländern Dienstleistungen an, die mit islamischen Überzeugungen und Vorschriften vereinbar sind. .. Unsere Kreditkarte verdankt ihre Existenz natürlich der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens. Aber sie ist auch Ausdruck eines Phänomens, das im Widerspruch zu allen Erwartungen des 20. Jahrhunderts steht. Von der Französischen Revolution an waren die meisten Intellektuellen und Ökonomen - einschließlich Karl Marx - der festen Überzeugung, dass die Religion im öffentlichen Leben zunehmend an Bedeutung verlieren würde, dass die Kräfte des Mammon auf lange Sicht Gott verdrängen würden. Doch erstaunlicherweise hat sich die Religion im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in vielen Teilen der Welt im Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Bühne zurückgemeldet. Unsere goldene Kreditkarte ist ein kleiner, aber bezeichnender Teil dieses Phänomens. 1