KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Am Strand ist das Paradies. Am Strand ist die Hölle - Mythos + Realität von Kalifornien (Th. Pynchon + D. Winslow) Autor : : Matthias Eckoldt Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 30.04.2013 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 30.04.13: "Am Strand ist das Paradies. Am Strand ist die Hölle." Mythos und Realität Kalifornien in den Romanen von Thomas Pynchon und Don Winslow Von Matthias Eckoldt Sprecherin Zitator 1 - Pynchon Zitator 2 - Winslow + Voice over Im O-Ton: . Don Winslow . Heinz Ickstadt Regie: Musikakzent und unterlegen. Zitator 2: Am Strand von Laguna Beach. Der schönsten Perle in der Kette südkalifornischer Küstenstädte, die sich von Newport Beach bis runter nach Mexiko zieht. Newport Beach, Corona de Mar, Capistrano Beach, San Clemente, Oceanside, Carlsbad, Leucadia, Encinitas, Cardiff-by-the-Sea, Solana Beach, Del Mar, Torrey Pines, La Jolla Shores, Pacific Beach, Mission Beach, Ocean Beach, Coronade, Silver Strand, Imperial Beach. Alle sind schön, alle prima, aber am besten ist Laguna. Regie: Musik hoch und unterlegen. Zitator 2: Das war der offizielle Name, den die Stadt vom Staat Kalifornien erhielt, bis jemand daraufkam, dass es streng genommen gar keine Lagune dort gibt, sondern sich der Name von "canada las de lagunas" ableitet, was im Spanischen "Schlucht der Seen" bedeutet. Aber Laguna ist nun mal nicht bekannt für seine Seen, sondern für seine Strände und für seine Schönheit. Auf die sich Ben, Chon {Aussprache Schonn} und O einiges einbilden. Schließlich sind sie hier aufgewachsen und halten das alles für selbstverständlich. Nur Chon gerade im Moment nicht, weil sein Heimaturlaub abgelaufen ist und er wieder nach Afghanistan muss. Oder auch - Affengeilistan. Regie: Musik hoch und aus. Sprecherin: Ben und Chon {Aussprache Schonn} - das sind die "Kings of Cool" im Thriller von Don Winslow. Sie stellen das beste Marihuana Kaliforniens her. Und die Joints gehören zum Lebensgefühl unter dem immerblauen Himmel des bevölkerungsreichsten Bundesstaates der USA so wie der Sand zu den endlosen palmengesäumten Stränden und wie die gewaltigen Wellen zum Pazifik. Ein magischer Ort, an dem es nur eine Lebensmaxime gibt: Happy in california! (1)O-Ton(Winslow 23:58): You know, I'm a New England boy. ... Zitator 2: Wissen Sie, ich bin ein Junge aus Neu England. Ich komme aus einer sozial konservativen Gesellschaft. Und auf einmal fand ich mich da draußen in Laguna Beach wieder. Die Amerikaner gehen nach Kalifornien, um dort ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Sprecherin: Don Winslow zog in den neunziger Jahre selbst in den Westen: (2)O-Ton(dito): Zitator 2: Mich fasziniert diese Idee vom Westen, die ja auch in der Literatur beschrieben wird. Man geht in den Westen, um dort zu sterben oder um sich neu zu definieren. In unseren Märchen, unserer Mythologie - immer geht es um den Sonnenuntergang im Westen. Kalifornien ist berühmt dafür, sich aus sich selbst heraus wieder erfinden zu können. Der Amerikanische Traum, besonders durch Hollywood belebt, hat nicht wirklich etwas mit der Realität zu tun. Aber wir wollen an diesem Bild festhalten. Und mir gefällt es, morgens in Kalifornien zu erwachen. Ich möchte wissen, was sich die Leute hier Tag für Tag einfallen lassen. Es gibt immer etwas Neues, etwas Anderes, etwas Albernes, etwas, worüber man sich lustig machen kann. Ich jedenfalls mag diese Stimmung sehr. (1'/3'15) Regie: Musik schon unter letzte Sätze, unter O-Ton 3 weg. (3)O-Ton(Ickstadt 1:35): Außerdem spielt Kalifornien für Amerika die Rolle, die Berlin für Deutschland spielt. Sprecherin: Der Amerikanist Heinz Ickstadt. (4)O-Ton(dito): Was immer passiert, zuerst passiert es dort. Es ist, als ob dort der Seismograf der ganzen Nation wäre. Kalifornien gilt als verrückt. Es ist allerdings auch so etwas wie das Paradies, der erfüllte amerikanische Traum. Der Weg nach Westen endet zwangsläufig in Kalifornien. Und dann hat man das Paradies. Aber so ganz ist es dann doch kein Paradies. Und zusammen mit den Erwartungen gibt es die Riesenenttäuschungen. ... Die ganze Phantasieindustrie, die in Amerika am Werk ist, ist fokussiert auf Hollywood. Traum und Wirklichkeit haben sich fast so durchdrungen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, was wirklich und was Traum oder Fiktion oder Lüge oder Manipulation ist. Und Pynchon hat alle diese Verschwommenheiten aufgegriffen und daraus sein eigenes Kalifornien gemacht, das, wenn Sie so wollen, in nuce unsere manipulierte, fiktionalisiert, mediatisierte Welt ist. (1'/4,15) Sprecherin: Thomas Pynchon ist der Nestor der postmodernen Literatur. Der große Unbekannte, dessen reale Existenz bis heute ein Geheimnis geblieben ist, soll in den sechziger und siebziger Jahren in Kalifornien gelebt haben. In Manhattan Beach im Los Angeles County. In seinem jüngsten Roman "Natürliche Mängel" taucht dieser Ort als Gordita Beach auf. Hier hat die Hauptfigur Larry Sportello - genannt Doc - sein Detektivbüro. Auf dem Schild an der Tür stehen drei Buchstaben: L, S, D - Zitator 1: Lokalisierung, Sicherheitscheck, Detektei. Darunter prangte die Darstellung eines riesigen, blutunterlaufenen Augapfels mit buchstäblich tausenden von durchgeknallten Kapillaren in den psychedelischen Lieblingsfarben Grün und Magenta, mit deren detaillierter Wiedergabe Doc eine Kommune von Speedfreaks beauftragt hatte. Regie: Musik unterlegen. Zitator 1: Es war schon vorgekommen, dass potenzielle Klienten das Augenlabyrinth stundenlang betrachtet und darüber vergessen hatten, weshalb sie eigentlich gekommen waren. Manchmal - normalerweise wenn er Gras rauchte - erhellte sich die Szenerie in den Schatten, als hätte jemand nur gerade so viel am Kontrastknopf der Schöpfung gefummelt, dass alles einen Unterschimmer, einen leuchtenden Rand bekam und die Nacht demnächst irgendwie einmalig zu werden versprach. Sprecherin: Doc Sportello bekommt von seiner Ex-Freundin Sashta den Auftrag, das Verschwinden ihres aktuellen Geliebten, Mickey Wolfmann, aufzuklären. Wolfmann ist eine hoch ambivalente Figur. Knallharter Immobilienhai und zugleich Wohltäter, der kostenlosen Wohnraum zur Verfügung stellt, perverser Triebtäter, zugleich aber sehr liebevoll um das Wohl seiner Freundin bemüht und dann Jude mit einer ihm treu ergebenen Schlägertruppe von der Arischen Bruderschaft. Da dämmert es sogar Doc mit seinen verkifften Hirnwindungen: Zitator 1: Moment, ich hab in Gemeinschaftskunde zwar oft geschwänzt, aber ... Juden und die Arische Bruderschaft ... war da nicht mal irgendwas von wegen, gleich hab ich's ... Hass? Sprecherin: Der Hippie Doc Sportello ist einer jener Antihelden, die Pynchons Romane bevölkern. Gutmütige Typen, bierbäuchiges Jo-Jo's, wie sie der Autor selbst einmal nannte, die durch die Handlung treiben, ohne sich um ihr Handeln zu bemühen. Nichts geschieht aus eigenem Antrieb, was geschieht, geschieht mit ihnen. Eine denkbar schlechte Figurenhaltung für einen Privatdetektiv, der zudem noch oft genug von seinem löchrigen Kiffergedächtnis im Stich gelassen wird. So ist "Natürliche Mängel" eine Krimi-Parodie, die allerdings weitaus mehr als die Ironisierung eines Genres im Sinn hat. (5)O-Ton(Ickstadt 22:10): Alle postmodernen Romane sind in gewisser Hinsicht Kriminalromane, weil man auf den Spuren von etwas ist, was letztlich nicht genau zu definieren ist - etwas Bedrohliches. Das ist bei allen Pynchon-Romanen der Fall, aber in diesem letzten ist es wirklich auch im Genre des Kriminalromans ... und Doc hat gewisse Ähnlichkeiten mit Philip Marlowe. Das sind ja alles Kalifornien-Romane. Chandler ist ja auch ein kalifornischer Autor. ..... In gewisser Hinsicht ist Doc auch so. Klar, er lebt im Kontext dieser Hippie-Welt in Kalifornien, die Pynchon ... offensichtlich liebevoll betrachtet, weil sie eins haben, dass sie eben nicht die Machtstrukturen ausleben, obwohl sie sich ihnen eben nicht entziehen können. Insofern sind sie dann doch so etwas wie Blumenkinder. Etwas naiv, anfällig und täuschbar. Aber dann auch liebenswert gerade aus dieser nichtweltlichen Perspektive. In diesem Kontext ist Doc der Repräsentant der Blumenkinder, der ja auch ständig kifft und sich nicht mehr genau erinnern kann, weil das LSD zum Teil seine Gehirnzellen ausgelöscht hat, aber zugleich auch in der Rolle von Philip Marlowe, der die Sache der Opfer ... dass er die vertritt und insofern genau die Rolle hat, die Philip Marlowe fünfzig oder sechzig Jahre vorher hatte. (1,30/8,45') Regie: Musik schon unter letzte Sätze von O-Ton 5. Unter Sprecherin wegblenden. Sprecherin: Auch unter den "Kings of Cool" gibt es einen "Doc". In ihrem Drogenkonsum haben beide Figuren durchaus Berührungspunkte, ansonsten aber ist dieser Doc so ziemlich das Gegenteil von Pynchons Hippie-Detektiv. Er ist ein Überflieger, ein Macher. Er ist die südkalifornische Surferversion eines Meeresgottes. Dazu hat er Geld. John, Vater des Drogenproduzenten Chon aus "Kings of cool", lernt den Surfergott zwanzig Jahre vor der Jetztzeit des Romans kennen. 1967, ganz oben auf der Welle der Gegenkultur. Regie: Musik Zitator 2: "Willst du einen Taco?" "Hab kein Geld", erwidert John. "Ich hab Geld!" Der Mann gibt ihm zwei Tacos und ein Schälchen mit scharfer Sauce. "Danke", sagt John. "Ich bin der Doc! Peace!" Dann geht der Doc weiter und verteilt Tacos, als wären es Fische und Brote. Wie Jesus, nur dass Jesus übers Wasser gegangen ist und der Doc drauf reitet. ((John nimmt seinen Taco und setzt sich auf die Bordsteinkante neben ein Mädchen, das aussieht, als wäre es neunzehn oder zwanzig. "Ich heiße Starshine." Heißt du nicht, denkt John. Er hat schon mit vielen Hippies geredet, und alle nennen sich Starshine, Moonbeam oder Rainbow, obwohl sie in Wirklichkeit Rebecca, Karen oder Susan heißen. John will einfach nur seine Tacos essen und sich wieder verziehen. Dann sagt Starshine: "Wenn du ausfgegessen hast, blas ich dir einen." John geht nicht mehr nach Hause. Nie mehr.)) Regie: Musik hoch und unterlegen. Sprecherin: Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Cowart von der Universität South Carolina schrieb, dass er, als er den Roman "Kings of Cool" von Don Winslow las, zuerst die unheimliche Ahnung hatte, dass Pynchon hier unter Pseudonym veröffentlicht. Cowart sah denselben sprühenden Geist, dieselben sarkastischen Redewendungen und dieselbe Affinität zum kalifornischen Milieu. Was hält Don Winslow von Pynchons Roman "Natürliche Mängel"? (6)O-Ton(Winslow 27:00): I've not read it. I apologize. (7)O-Ton(Ickstadt 41:40): ... Es könnte auch in der Tat sein, dass er sich nur auf das konzentriert, was ihm vor Augen liegt und Pynchon ... mit diesem ganzen enzyklopädischen Wissen eine andere Kategorie von Roman ist als das, was Winslow macht. (30"/12') Sprecherin: Und die Namensgleichheit der Protagonisten? Wie kam es dazu? (8)O-Ton(Winslow 27:27): I think there is a little bit of coincidence ... Zitator 2: Wahrscheinlich ist diese Übereinstimmung ein wenig zufällig und ein wenig logisch zugleich. Natürlich kann ich nicht für Pynchon sprechen, aber ich erkläre es Ihnen aus meiner Sicht. Ich denke, dass der moderne Kriminalroman von den alten Wildwestromanen, also den Cowboyromanen herrührt. Als die Cowboys weit in den Westen ritten, mussten sie schließlich am Ozean Halt machen. Aus dem Cowboyroman wurde so der Kriminalraum. Mit sehr ähnlichen Motiven. Der Cowboyheld ist der moderne Privatdetektiv mit vergleichbaren Codes. "Durch die schäbigen Straßen muss ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst." Dieser berühmte Satz von Raymond Chandler beschreibt den klassischen Cowboyhelden. Beim Schreiben meiner Kriminalromane über Kalifornien, benutze ich westernmäßige Spitznamen. In Kings of Cool ist "Doc" ein Echo eines berühmten Amerikaners aus dem wirklichen Leben, ein bad guy, ein Antiheld - Doc Halliday. Dieser Cowboy-Slang ist nicht außergewöhnlich, wenn man über Kalifornien schreibt. Die Cowboys von damals gibt es nicht mehr, aber sie leben in der Kriminal-Literatur weiter. (1,20/13,30') Sprecherin: Don Winslow erzählt eine moderne Cowboy-Story. Ben, Chon und die "O" genannte Ophelia, ein ebenso reiches wie entwurzeltes Kind einer überspannten 68erin sind die Sympathieträger des Buches. Sie nehmen den Kampf gegen die übermächtigen Drogenkartelle auf und bekommen es mit roher Gewalt zu tun, mit korrupten Richtern und mit Cops, die für die andere Seite arbeiten. Doch wie aussichtslos ihre Lage auch ist, Ben und Chon finden auf die perfidesten Attacken ihrer Gegner immer wieder eine Antwort. Ben mit den Mitteln des Verstandes, Chon, der ausgebildet ist, um in Afghanistan Jagd auf Terroristen zu machen, mit verschiedensten Kampfkünsten: Zitator 2: "Bist du Brian?" "Ja!" Schlechte Antwort. Echt schlechte Antwort. Chons Roundhouse-Kick bricht Brian den Kiefer und verpasst ihm eine Gehirnerschütterung, noch bevor er mit kleinen Doppelkreuzen in den Augen, als wäre es ein Zeichentrickfilm, bewusstlos auf den Boden knallt. Chon steigt über Brians der Länge nach ausgestreckten Körper und rammt Kumpel Nummer eins eine Faust in den Solarplexus, woraufhin dieser sich krümmt. Er packt ihn am Hinterkopf und zerrt ihn nach unten, während er ihm gleichzeitig ein Knie ins Gesicht donnert und sich um Kumpel Nummer zwei kümmert, der sein Gesicht mit den Fäusten umrahmt, was ihm überhaupt nichts nutzt, da Chon ihn mit einem Sidekick ans rechte Schienbein von den Füßen fegt. Kumpel Nummer zwei knallt hart mit dem Hinterkopf auf den Boden, aber nicht so hart wie die beiden Tritte, die Chon in seinem Gesicht platziert und die ihm die Nase zertrümmern und das Bewusstsein rauben. Chon steigt über die Herumliegenden zu Brian, der auf allen Vieren kriecht und erfolglos versucht, auf die Beine zu kommen. Chon packt ihn am Kragen und zerrt ihn zum Transporter. "Brian, tu von hier und heute an Kunde: Es ist nicht okay, unsere Ware zu stehlen. Es ist ganz und gar nicht okay, unseren Leuten ein Haar zu krümmen. Und noch was." Chon zieht Brians rechten Arm über die Stoßstange des Transporters, nimmt den Baseballschläger und - KNACK. Brian schreit. (/15,45) Regie: Musik unterlegen. Sprecherin: Winslow beschreibt den Sündenfall Kaliforniens. Als Hippies und Surfer zusammentrafen, verlor das Paradies seine Unschuld. In der Gegenkultur grassierte plötzlich ein Krankheitskeim. Und der hieß: Geldverdienen. Zitator 2: Endlich - endlich! - haben Surfer was gefunden, womit sie Geld verdienen können, ohne sich einen Job suchen zu müssen. Und wie sie Geld verdienen. Jede Menge. Millionen. Sie kaufen sich sogar eine Yacht zum Abhängen und um Dope von Mexiko rauszusegeln. Surfer und Dope passen zusammen wie ... wie ... ähhhh ... Surfer und Dope. Sprecherin: Ausgerechnet die Outlaws also, die für das andere, neue, süße, freie Leben standen, fanden Geschmack an den harten Dollars, die nicht zuletzt im Drogengeschäft zu verdienen waren. Das Geld wurde dann in Immobilien investiert. (9)O-Ton(Winslow 20:42): The californias dream became real estate. Zitator 2: Der Kalifornische Traum ist ein Synonym für Immobilienbesitz geworden. Die Leute wollten sich in Kalifornien niederlassen und benötigten Geld und Arbeit. Die Hippie-Ideal-Existenz wurde aufgegeben und man versuchte, die Kommune gegen die Eigentumswohnung einzutauschen. Noch ehe sich die Leute versahen, befanden sie sich mitten im kapitalistischem Wettbewerb, den sie ja einst so verachteten. Inzwischen ist Kalifornien überbevölkert. Immobilienpreise schnellen absurd in die Höhe. Mit dem Surfen verhält es sich ähnlich. Je mehr Surfer es gibt, um so weniger Wellen. Man streitet sich um den Platz. Das widerspricht jedoch dem ursprünglichen Beatnik-Gefühl des Surfens. Dahin hat sich dieser Traum und das ganze Land entwickelt. (1,15'/17,30') Sprecherin: Auch Thomas Pynchon geht es um die dunkle Seite Kaliforniens. Allerdings ist das Böse in seinen Romanen nie klar zu identifizieren. So gibt es auch in "Natürliche Mängel" jede Menge Verschwörungen und Verschwörungstheorien, ohne dass Doc Sportello auch nur einen einzigen Schuldigen zur Strecke bringen könnte. Gravitationszentrum der Finsternis ist der "golden fang", der "Goldene Fang". Ein ominöser Schoner, der Gerüchten nach in San Pedro vor Anker liegt und sich im Besitz des ebenso ominösen Mickey Wolfmann befindet, den Doc mit Mandat sucht. Als ein neuer Klient Doc um Schutz für seine Freundin Jade bittet, eröffnen sich dem Privatdetektiv allerdings - wiederum ohne sein Zutun - weitere Dimensionen des "Goldenen Fangs": Regie: Musik unterlegen. Zitator 1: Doc zündete einen Joint aus kolumbianischem Stoff von Standardqualität an, der sich als gesprächsanregend erwiesen hatte, und ehe Jason wusste, wie ihm geschah, quatschte er ohne Punkt und Komma von Jade: "Sie geht zu viele Risiken ein. Zum Beispiel diese Typen vom Goldenen Fang, Mann - mit denen ist sie viel zu dicke!" "Ja ... ach so ... den Namen hab ich schon irgendwie gehört." "Indonesisches Heroinkartell. Vertikale Unternehmensintegration. Sie finanzieren es, bauen es an, verarbeiten es weiter, importieren es, strecken es, verteilen es. Genial." "Dieses süße Ding dealt mit Smack?" "Vielleicht nicht, aber sie hat in einem Massagesalon gearbeitet, der die Fassade für eine ihrer Geldwäschereien abgibt." Unten am Sunset trennte sich Doc von Jason, spazierte den Hügel hinauf und dachte: Mal sehen - es ist ein Schoner, der Waren ins Land schmuggelt. Es ist eine zwielichtige Holdinggesellschaft. Jetzt ist es auch noch ein südostasiatisches Heroinkartell. Vielleicht mischt Mickey Wolfmann dabei mit. Wow, dieser Goldene Fang, Mann - für jeden was anderes, wie es so schön heißt. (10)O-Ton(Ickstadt 4:45): Die Zeit Nixon/Reagan, dieser Übergang, in der die Hoffnung auf den Untergrund schon längst aufgegeben worden ist und die Manipulation der bestehenden Gesellschaft den Untergrund mühelos absorbiert hat, der nun selber manipuliert und sich in den Träumen einer Alternativwelt hingibt, die aber an Strippen gezogen wird von Mächten, die unsichtbar sind oder irgendwie symbolische Funktion haben wie der Goldene Fang oder so eine Fiktion. ... Eine unsichtbare Macht, von denen man bei Pynchon - mit solchen Mächten arbeitet er häufig. ... Aber je weiter man es verschiebt, ist immer noch eine Macht, die hinter dieser Macht ist. Möglicherweise ist es die Macht der menschlichen Ohnmächtigkeit, dass es immer etwas größeres gibt, das ihn manipuliert und hält. Und die Angst vor dem Tod, die letztlich die äußerste Ohnmacht ist gegenüber einer übermächtigen Instanz. (1'/20,30') Sprecherin: Der französische Philosoph Gilles Deleuze bezeichnete dieses Matroschka-Prinzip der Macht als rhizomatisch. Demnach verbreitet und verzweigt sich Macht und die von ihr produzierte Wahrheit wie ein Rhizom, wie das Wurzelgeflecht der Pflanzen. In genau dieses Netzwerk begeben sich die Figuren in Pynchons Romanen gleichsam ziellos hinein. Wie Doc müssen sie alle Hoffnung fahren lassen auf lineare Abfolgen und logische Schlüsse. Der Zufall, der Abweg, nicht der Vorsatz bringen Erkenntnisse. Und nur in dem planlosen Sichtreibenlassen gibt es vielleicht die Möglichkeit, etwas in Erfahrung zu bringen, das sich dann jedoch wiederum nur als eine Variante der Wahrheit herausstellt. So geraten Pynchons Figuren zwangsläufig in eine Paranoia hinein, da sie ständig unter dem Zwang stehen, nach Zusammenhängen zu suchen, wo es möglicherweise gar keine gibt. Zitator 1: So oder so. Sie werden's Paranoia nennen. Entweder Du bist tatsächlich auf einen geheimen Schatz, auf eine verborgene Schicht Deiner Träume gestoßen, auf ein Nachrichtennetz, über dessen Drähte eine ganz schöne Menge von Amerikanern aufrichtig miteinander kommunizieren kann, während sie ihre Lügen, ihr routinemäßiges Geschwätz, das sich bis zum Erbrechen wiederholt, all die Früchte ihrer geistigen Armut, dem offiziellen Verteilersystem der Regierung anvertrauen, vielleicht aber bist Du sogar auf eine echte Alternative zu dieser Ausweglosigkeit, zu diesem einförmigen Leben, dem jede Überraschung so völlig fehlt, zu diesem Leben, das die Seele jedes Amerikaners zerreißt, den Du kennst, und Deine eigene auch, gestoßen. Oder: Du bildest Dir das alles nur ein. Oder ein Komplott ist gegen Dich geschmiedet worden, ein Komplott, das so teuer und so bis ins kleinste durchgeplant ist, dass man alle Deine Schritte überwacht. (11)O-Ton(Ickstadt 18:55): Das ist die paranoideste Vorstellung überhaupt, dass alles mit allem zusammenhängt. ((Sprecherin: Unverbundenes zu verbinden, chaotische Vielheit in geordnete Einheit zu überführen ist für Pynchon zugleich auch Kern abendländischer Rationalität. Mit dem Ziel, über die Gefahr der Zerstreuung, der entropischen Auflösung zu triumphieren. Ein von vornherein verlorenes Spiel, da die Auflösung in Form des Todes beschlossene Sache ist. Doch Resignation ist nicht angesagt, stattdessen läuft das paranoische Bewusstsein zu immer größerer Form auf. )) (12)O-Ton(Ickstadt): Diese Paranoia ist sicher im Zentrum. ... Alles, was geschieht, da ist irgendeine Instanz, die dahinter ist. Du kannst es Gott nennen, du kannst es aber auch Kapitalismus nennen oder Stalin. Es gibt immer etwas, das mehr ist als du und das die Strippen zieht. Und das kann dann in der Welt, in der wir Leben durchaus Erkenntnisfunktion haben. In Pynchons Welt sind die Leute sowohl verrückt paranoid als auch aus ihrer Verrücktheit erkenntnisbeziehend. So dass die Grenze zwischen verrückt-paranoid und erkenntnis- paranoid nie zu ziehen ist. ... Und wenn man LSD nimmt, ist man doppelt paranoid, weil da der Drang, Verbindungen zu entdecken, ungeheuer groß geworden ist. (1'/24') Regie: Musik Zitator 2: Der Doc gibt Stan und Diane Tacos. Stan und Diane geben dem Doc Blotter-Acid. Der Doc geht wieder in Wasser, schwingt sich auf eine Welle und entdeckt, dass die Welle aus denselben Molekülen besteht wie er selbst, so dass er gar nicht eins werden muss mit der Welle, sondern bereits eins ist mit ihr, dass wir alle dieselbe Welle sind. Und so geht er hin und sucht Stan und Diane und erzählt mit Tränen in den Augen davon. Der Doc kommt mit seinen Surferkumpels wieder und alle werfen sie Trips. Was jetzt entsteht, ist der schlimmste Alptraum der Republikaner von Orange County - die übelsten antisozialen Elemente (Surfer und Hippies) vereinen sich in einem dämonischen, berauschenden Fest der Liebe und planen selbiges zu einer festen Einrichtung zu machen. Stan und Diane verkaufen das Tibetanische Totenbuch, das Anarchist Cookbook und On the Road, außerdem Räucherstäbchen, Sandalen, psychedelische Poster, Rockalben, Batik-T-Shirts, Freundschaftsbändchen, den ganzen Hippie-Quatsch, und verteilen Acid an die eingeweihten Angetörnten. (25,15') Sprecherin: Im Rausch treffen sich die literarischen Entwürfe von Don Winslow und Thomas Pynchon. Die Verbundenheit mit allem Existierenden, die der Doc aus "Kings of cool" hier im LSD-Rausch bis auf die Molekülebene empfindet, gleicht der paranoischen Ermittlerenergie, die Doc Sportello in "Natürliche Mängel" antreibt, sich dem unentwirrbaren Netz von Zusammenhängen hinzugeben. Zitator 1: Als Privatdetektiv warf man in dieser Stadt nicht jahrelang Acid ein, ohne sich irgendwann extrasensorische Fähigkeiten anzueignen. Sprecherin: ... stellt Sportello bei einer seiner Recherchegänge fest. Durch das permanente Training des Rausches kann und muss der Doc nicht mehr scharf zwischen Wirklichkeit, Traum und Fiktion unterscheiden. Er hat sich selbst in ein Zwischenreich gekifft, in dem die Realität der Realität nicht mehr die entscheidende Rolle spielt. Zitator 1: In seine Wohnung zurückgekehrt, betrachtete Doc eine Zeitlang ein Samtbild von einer der mexikanischen Familien, die am Wochenende entlang der Boulevards durch das grüne Flachland zwischen Gordita und dem Freeway, wo die Leute noch auf Pferden ritten, ihre Stände aufbauten. Aus dem Kastenwagen hinein in die ruhige Morgenfrühe gelangten dann sofabreite Kreuzigungen und Letzte Abendmähler, Rocker auf detailiert ausgeführten Harleys, mit Schnellfeuergewehren bewaffnete, beinharte Superhelden. Das Bild von Doc zeigte einen südkalifornischen Strand, den es so nie gegeben hatte - Palmen, Bikini-Bräute, Surfbretter, die ganze Leier. Er sah es als Fenster, durch das er hinausschauen konnte, wenn es ihn überforderte durch das herkömmliche aus Glas hinauszuschauen. (13)O-Ton(Ickstadt 30:00): Bewusstseinserweiterung in jedem Fall, damit spielt Pynchon. Aber ich glaube, es kommt ihm hier wirklich auf die Erfassung dieses verrückten Lebensstils - das ist die Kleidung, die er beschreibt, die Redeweisen, die bekiffte Existenz, dass man so viel hört, ohne genau zu wissen, was es eigentlich bedeutet, auf welcher Bewusstseinsebene man gerade ist ... das also in diesem Roman so dominant ist. ... Wir sehen eine Welt, die so total medialisiert ist, dass die Realität vom Medium nicht mehr zu trennen. Und auch die Erkenntnisleistungen der verschiedenen Figuren immer auch dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre Erkenntnis übers Träumen erfolgt oder über Fiktionen, und der Leser dann immer noch nicht weiß, ob das, was als Erkenntnis zu fassen ist, nicht doch nur eine Phantasie ist von irgend jemandem. Entweder eine Fiktion der Figur, oder aber eines Films. ..... Die Filmindustrie hat das Leben so durchdrungen, dass auch hier die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Film und Leben wirklich nicht mehr zu greifen ist. (1,15/28,15) Regie: Musik Sprecherin: Die Romane von Thomas Pynchon und Don Winslow dringen in die Seele Kaliforniens ein. Nur am Strand der Westküste konnte dieses flirrende Spiel aus Illusionen Lebenswirklichkeit werden. Nur hier, in dem von der Natur so reich bedachten Dauer-Wohlfühlkima, konnte die Realität zur Fitktion werden. Die Wunschmaschine Hollywood läuft nach wie vor hochtourig. Wer sich - auf literarischen oder leibhaftigen Wegen - in jenen Schmelztiegel der westlichen Welt hineinbegibt, wird erfahren, dass in Kalifornien die Menschheit ihre moderne Mythologie erträumt. Unablässig entstehen neue Lebensstile, Moden, Hypes und Trends. Don Winslow hat hier sogar die ersten Vorboten eines neuen Paradieses ausmachen können: (14)O-Ton(Don Winslow 25:29): I see a new face in california and hear a new voice of california. Zitator 2: Ich sehe ein neues Gesicht und höre eine neue Stimme Kaliforniens. Wenn man am Strand von San Diego entlangspaziert, sieht man alle möglichen Leute. Weiße, Afrikaner, Amerikaner, Latinos, Mexikaner, Hawaiianer, Inselbewohner des Pazifics, Asiaten und Südasiaten. Sie alle sprechen eine Melange aus Englisch und Muttersprache. In Kalifornien entsteht so eine neue Sprache. Das finde ich großartig. Es stimmt mich sehr optimistisch für das Land. Ich beobachte immer wieder Menschen am Strand, die bikulturelle Freundschaften und Ehen geschlossen haben und einfach eine gute Zeit miteinander verbringen. Nebenbei bemerkt habe ich noch nie einen ethnischen Konflikt am Strand beobachtet. Das gibt Hoffnung, dass sich die Kulturen und Sprachen in 20 bis 30 Jahren noch sehr viel mehr gemischt haben werden. Wir werden ein stolzes Land sein, wenn sich diese Vielfalt vom pazifischem Raum bis hin zum Osten des Landes hin ausbreitet. (1,15'/29,30') Regie: Musik hoch und aus. ++++++++++++++++++++ 1