Deutschlandradio Kultur Das Ende der Hauptschule? Ein regionaler Überblick in Sachsen, Bremen und Bayern. Von Claudia Altmann, Christina Selzer und Michael Watzke Länderreportmagazin: Das Ende der Hauptschule? Ein regionaler Überblick - Sachsen, Bremen und Bayern. 8.11.2011 Das Ende der Hauptschule? - Das Beispiel Bayern Länge: 6'46 Min. Autor: Michael Watzke Redaktion: Carsten Burtke Die traditionelle Hauptschule, einst der wichtigste Schultyp überhaupt, ist vom Aussterben bedroht. In nur noch fünf von 16 Bundesländern gibt es sie. Und auch in diesen Ländern ist nicht klar, wie lange noch. In Berlin, Hamburg oder Bremen hat man sich schon in den letzten Jahren für ein Zwei-Säulen-Modell in der Schullandschaft entschieden. In Sachsen hat man die Hauptschule nach der Wende gar nicht erst eingeführt. Und so steht Bayern, das unter dem neuen Namen "Mittelschule" weiterhin vehement an der Hauptschule festhält, inzwischen mehr oder weniger alleine da mit seiner Schulpolitik. Aber wie lange noch. Michael Watzke hat für den Länderreport nachgefragt: Die Hauptschule in Bayern heißt seit einem Jahr nicht mehr Hauptschule, sondern Mittelschule. Zum Beispiel die Albert-Schweitzer-Mittelschule im Münchner Problemviertel Neuperlach. Der dortige Rektor Rudolf Wenzel erklärt den Namens-Unterschied: 1. Rudolf Wenzel "Die Mittelschule muss gewisse Kriterien erfüllen: sie muss ein Ganztages-Angebot anbieten und sie muss dem Schüler die Möglichkeit eröffnen, einen mittleren Schulabschluss zu erreichen. Wenn eine Hauptschule diese Kriterien erfüllt, dann kann sie Mittelschule werden." 98% aller bayerischen Hauptschulen nennen sich inzwischen Mittelschule. Erstens, weil die bayerische Staatsregierung zusätzliches Geld für Ganztags-Abgebote locker gemacht hat. Zweitens, weil kleinere bayerische Gemeinden durch Mittelschul-Verbünde ihren Schulstandort retten können. Und drittens, weil Mittelschule besser klingt als Hauptschule. Letztere hatte auch in Bayern bei vielen Eltern den Ruf einer Resterampe. Zu Unrecht, findet Rektor Rudolf Wenzel: 2. Rudolf Wenzel "Ich habe aktuell in diesem Schuljahr 38 Schüler in der fünften Klasse und 125 Kinder in der neunten Klasse! Also so schlecht kann der Ruf der Hauptschule nicht sein, wenn letzlich die Hauptschule die Auffangstation für alle diejenigen ist, die an irgendwelchen anderen Schularten gescheitert sind." Der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle, CSU, hält eisern an der Haupt- und Mittelschule fest. Er spricht nicht gern vom dreigliedrigen Schulsystem, sondern von einem, Zitat: "differenzierten Bildungsangebot contra Einheitsschule". 3. Ludwig Spaenle "Eine Schulart ist kein Selbstzweck, sondern sie muss etwas anbieten, das andere Schulen nicht anbieten. Und die Mittelschule in Bayern kann den Weg über die vertiefte Berufsorientierung zur dualen Ausbildung so intensiv begleiten wie keine andere Schulart. Deshalb ist für uns die Abschaffung einer Schulart, die ein solches Alleinstellungs-Merkmal hat, der falsche Weg." Die vertiefte Berufs-Orientierung - darauf legt Spaenle besonderen Wert. Vor allem, weil die bayerische Wirtschaft immer lauter über Fachkräftemangel klagt. An der Albert-Schweitzer-Mittelschule in München-Neuperlach arbeitet Rudolf Wenzel mit vielen Münchner Firmen und Institutionen zusammen. 4. Rudolf Wenzel "Was brauchen denn unsere Schüler? Unsere Schüler sind nicht die Fittesten, nicht die Wiefsten. Oft aber von der Empathie her die Geeignetsten für bestimmte Berufe, nämlich für Tätigkeiten im Einzelhandel. Deshalb haben wir uns überlegt: wir kooperieren mit Firmen des Einzelhandels. Wir kooperieren mit der Firma Tengelmann und mit DM. Wobei für mich ein ganz wesentliches Kriterium ist: ich kooperiere nur mit Firmen, die einen Betriebsrat haben." Denn nur Firmen mit Betriebsrat haben auch eine Auszubildenden- Vertretung. Und die brauchen seine Schüler, sagt Rektor Wenzel. In Neuperlach gibt es besonders viele ausländische Schüler. Sie profitieren seit einigen Jahren von einer Sonderregelung des Kultusministeriums: 5. Rudolf Wenzel "Nämlich, dass Klassen, in denen der Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund mehr als 50% beträgt, auf eine Höchststärke von 25 eingefroren werden. Das kann dazu führen, dass man mit 38 Kindern plötzlich zwei Klassen hat. Und das ist dann schon eine sehr erfreuliche Situation für die Kinder, der Lehrer kann sich wirklich um diese Kinder kümmern. Er kann sie fördern." Das ist auch dringend notwendig. Denn so erfolgreich das bayerische Bildungssystem bei der Eliteförderung ist, so schlecht schneidet es beim Thema Bildungs-Gerechtigkeit ab. Kein Wunder, sagt Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrer-Verbandes, BLLV. Wenzel wirft dem CSU-geführten Kultusministerium vor, es habe seine Mittel jahrelang vor allem in die bayerischen Gymnasien gepumpt. 6. Klaus Wenzel "Man hat sich um das G8 gekümmert, aber die Hauptschule war immer das ungeliebte Stiefkind. Und in Stiefkinder wird nicht so viel investiert. Das ging über Jahrzehnte so, und jetzt haben wir die Rechnung. Deswegen hat die Hauptschule kein Imageproblem, denn die Arbeit, die da geleistet wird, ist wirklich gut. Aber sie hat ein Akzeptanzproblem. Und diese Akzeptanz kann ja auch nicht herbeigeredet werden. Da hätte man beizeiten finanzieren und investieren müssen." Nun versucht die Staatsregierung gegenzusteuern. Denn sie spürt die Unzufriedenheit der bayerischen Kommunen. Viele CSU-Bürgermeister auf dem flachen Land leiden unter massivem Schülerrückgang. Sie fürchten, dass ihre Hauptschule vor Ort schließen muss und die Gemeinde dann den wichtigen Status als Schulstandort verliert. Das könnte sich bei der kommenden Landtagswahl für die CSU rächen. BLLV-Präsident Wenzel fürchtet ein gewaltiges Schulsterben: 7. Klaus Wenzel "Wenn alles so bleibt, wie es ist, werden wir bis zum Jahr 2030 etwa 50% der jetzigen Mittelschul-Standorte verlieren. 50% ! Das heißt, von den bestehenden 1000 Schulen etwa 500!" Auch andere Bundesländer haben dieses Problem. Sie reagieren mit dem Umbau vom drei- auf ein zweigliedriges Schulsystem oder mit Gemeinschaftsschulen. Denn das Geld im Haushalt ist knapp. Im reichen Bayern dagegen ist Geld da, sagt Kultusminister Spaenle: 8. Ludwig Spaenle "Das ist eine kostenintensive Strategie, wenn man kleine Schulstandorte mit geringen Klassenstärken unter dem Dach eines Schulverbundes erhält. Aber wir halten es für notwendig, um Bildungsgerechtigkeit auch in einem großen Flächenstaat sicherzustellen." Die Frage ist: kann sich Bayern den Luxus von drei verschiedenen Schularten auf Dauer leisten? Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer will unter keinen Umständen den ausgeglichenen Staatshaushalt ohne Neuverschuldung opfern. Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrer-Verbandes, gibt dem dreigliedrigen Schulsystem in Bayern eine Halbwertszeit von höchstens zwei Jahren. In München- Neuperlach, an der Albert-Schweitzer-Mittelschule, erklärt Rektor Rudolf Wenzel, es komme gar nicht so sehr auf die Schulform an, sondern auf den Lehrer: 9. Rudolf Wenzel "Ich würde jetzt nicht unterscheiden zwischen Mittelschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium, nennen Sie mir irgendeinen Namen. Sondern ich würde unterscheiden: wie werden die Kinder gefördert? Auf der einen Seite die gutbegabten, auch theoretisch gutbegabten Kinder mit dem extrem hochspezialisierten Fachlehrer. Und auf der anderen Seite die nicht so hoch begabten Kinder mit einem pädagogisch versierten Lehrer, der sie wirklich bis zu dem ihnen möglichen Schulabschluss begleitet." In Bildungsvergleichen schneidet Bayern Jahr für Jahr besser ab als fast alle anderen Bundesländer. Belegt der Freistaat diese Spitzenposition trotz oder wegen seines dreigliedrigen Schulsystems? Bisher konnte das kein Bildungs-Wissenschaftler stichhaltig erklären. Länderreportmagazin: Das Ende der Hauptschule? Ein regionaler Überblick - Sachsen, Bremen und Bayern. 8.11.2011 Das Ende der Hauptschule? - Das Beispiel Bremen Länge: 6'30 Min. Autor: Christina Selzer Redaktion: Carsten Burtke Die Reform im Schulsystem war eine der Reaktionen auf den Pisa- Schock. Denn der saß tief: Als die OECD im Jahr 2000 zum ersten Mal die Leistungen im internationalen Rahmen verglich, erreichten die Schüler in Deutschland nicht einmal Mittelmaß. Und in Bremen waren die Ergebnisse besonders schlecht. Im Stadtstaat leben besonders viele sogenannte "bildungsferne" Eltern, Harz-Vier- Empfänger und Migranten. Ihre Kinder landeten früher meist auf der Hauptschule. Doch die gehört inzwischen der Vergangenheit an, berichtet Christina Selzer: Atmosphäre Schule Was sich in der Bremer Schullandschaft in den vergangenen Jahren verändert hat, kann man unter anderem bei einem Besuch der "Oberschule in den Sandwehen" sehen. Der Name klingt ein bisschen nach heiler Welt - doch früher war das einmal eine Problemschule in einem sozial schwierigen Umfeld im Bremer Norden. Die Klientel: Kinder aus bildungsfernen, sowie Harz-Vier-Familien, aus Einwandererfamilien, die zuhause wenig Unterstützung bekommen. Die soziale Struktur ist zwar nicht besser geworden, im Gegenteil. Dennoch ist die frühere Haupt- und Realschule heute so etwas wie eine Vorzeigeschule. Hier werden schwache und starke Schüler gemeinsam unterrichtet. Friedrich-Karl Jostes ist Schulleiter und kennt die Schule noch aus einer Zeit, als Haupt- und Realschüler in verschiedenen Klassenzimmern saßen. Das Ergebnis: Die Leistungen der Hauptschüler wurden immer schlechter. 1. Friedrich-Karl Jostes "In einer Hauptschule funktioniert es nicht, weil die Vorbilder fehlen. Ich hab auch einen Weg vom Saulus zum Paulus gemacht. Ich hab auch mal gedacht, man könnte durch gezielte Förderung die Hauptschule zu einer interessanten Schule machen. Ich glaube da nicht mehr dran." Schule ist ein Lebensraum und nicht bloß eine Bildungseinrichtung, lautet sein Credo. Die Schule müsse die Stärken der Kinder finden und sie fördern. Die Hauptschule hält Jostes für komplett überholt. Denn sie basiere auf der Idee, die Kinder nach Leistung zu selektieren, sie in Kästchen zu stecken. 2. Friedrich-Karl Jostes "Das stecken ja Schicksale dahinter. Es ist ja nicht immer eine Frage der Intelligenz. Wir wissen, dass auch in den früheren Sonderschulen sehr intelligente Kinder saßen. Die sind ja auf unterschiedlichen Wegen dorthin gekommen. Aber die Frage bleibt. Wie soll passieren, dass Kinder vom Vorbild lernen, wenn sie nur unter Gleichen sind." Jostes führt häufig Besucher herum, denn die "Oberschule in den Sandwehen" hat über Bremen hinaus einen guten Ruf. Das Cafe wird von einer Schülerfirma geführt, die Bibliothek heißt Lesegarten, es gibt eine helle freundliche Mensa mit Blick ins Grüne. Theater- und Musikräume. Und einen Computerraum: Atmosphäre Computerraum Von den rund 20 Arbeitsplätzen sind fast alle belegt, die Schüler arbeiten alleine oder in Gruppen an ihren Hausaufgaben. 3. Fabian "Wir schreiben ein Projekt in Physik, jeder hat ein Thema gekriegt und da muss ich jetzt einen Versuch durchführen und erklären, wie das funktioniert." Erklärt der 16jährige Fabian. Seine Schule findet er in Ordnung. 4. Fabian "Der Umgang mit den Mitschülern ist okay, die Lehrer sind auch ganz nett." Und auch Mohammed hat nichts auszusetzen. 5. Mohammed "Ich finde meine Schule eigentlich ganz gut, ich gehe immer gerne hin. Nach der Schule will ich mein Abitur versuchen, die Möglichkeit habe ich ja, wenn ich die Empfehlung bekomme. Wenn ich das nicht schaffe, versuche ich das Fachabi zu machen." Wer sich anstrengt, kann nach der zehnten Klasse in eine gymnasiale Oberstufe wechseln. Der Erfolg ist messbar. Immerhin 30 Prozent eines Jahrgangs haben das im vergangenen Jahr geschafft. Bremen hat sich als erstes Bundesland 2009 von den Haupt- und Realschulen verabschiedet. Harry Eisenach von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Bremen ist froh, dass es sie in Bremen nicht mehr gibt. Auch er hat früher einmal Hauptschüler unterrichtet. 6. Harry Eisenach "Die Eltern, die sich für ihre Kinder interessieren, die durch das Schulsystem durchblicken, haben gemerkt, dass die Kinder mit der Hauptschule kaum eine Chance haben. Nicht nur, weil das auf dem Zeugnis steht, das kommt noch dazu, dass das die Arbeitgeber abschreckt, sondern weil die Bildung durch das lernarme Niveau, in dem die Leistungsstarken fehlen, nicht ausreicht." Bevor in Bremen die Hauptschule abgeschafft wurde, gab es noch einen Zwischenschritt: Haupt- und Realschüler wurden gemeinsam in Sekundarschulen unterrichtet. Das war zwar eine bessere Mischung, die Hauptschüler wurden sogar besser. Doch auch dieses Konzept ging nicht auf. Nur wenige Eltern wollten ihre Kinder dorthin schicken, erklärt Cornelia von Ilsemann von der Bremer Bildungsbehörde. 7. Cornelia von Ilsemann "Die Elternakzeptanz ist von Jahr zu Jahr gebröckelt. Die Erfahrung zeigt, dass Eltern bei Schulen, in denen sie den Eindruck haben, es ist eine negativ ausgelesene Schülerschaft, die aber interessiert sind am Fortkommen ihrer Schüler, erschrocken sind." Viele Eltern schicken ihre Kinder dann doch lieber auf eine höhere Schule. Wenn es klappt, am liebsten aufs Gymnasium. Harry Eisenach von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW kann das zwar verstehen. Er kritisiert aber das Bremer Schulsystem, in dem es neben der Oberschule, die ja für alle Kinder gedacht ist, doch noch Gymnasien gibt. Seine Befürchtung: Wenn die leistungsstarken Schüler auf staatliche Gymnasien oder Privatschulen gehen, dann werden jene Oberschulen, die keine eigene Oberstufe haben, zu dem, was früher die Hauptschulen waren: Zu Restschulen. 8. Harry Eisenach "Wenn man so ein System hat, werden alle anderen Schularten die Schwächeren behalten, dann wird passieren, dass die Schularten immer mehr nach unten gezogen werden. Die Schwachen, das heißt, diejenigen, die sozial schwach sind und die, die die im Sozialverhalten Probleme haben, die bleiben in den anderen Schularten." Cornelia von Ilsemann vom Senat für Bildung und Wissenschaft sieht da keine Gefahr: 80 Prozent der Bremer Schüler gehen nach ihren Angaben in die Oberschule. Damit sei das die Schulform für die Mehrheit der Schüler. Eigentlich lautete die Vision in Bremen: "Eine Schule für alle". Lernstarke und Lernschwache sollen auf der Oberschule, einer Art Gesamtschule, gemeinsam lernen. So ganz gelang der Aufbruch in die Gemeinschaftsschule aber nicht, denn die Abschaffung der Gymnasien ließ sich nicht durchsetzen. Jetzt herrscht in Bremen für die kommenden Jahre erst einmal ein Schulfrieden. Alle Parteien haben das neue Zwei- Säulen-Modell akzeptiert. Diese Reform ist hoffentlich auch erst einmal die letzte, wünschen sich Lehrer, Schüler und Eltern. Sie wollen endlich in Ruhe arbeiten und nicht mehr unter dem Bremer Schulsystem leiden, das seit Jahren eine Dauerbaustelle ist. Länderreportmagazin: Das Ende der Hauptschule? Ein regionaler Überblick - Sachsen, Bremen und Bayern. 8.11.2011 Das Ende der Hauptschule? - Das Beispiel Bremen Länge: 6'06 Min. Autor: Claudia Altmann Redaktion: Carsten Burtke Glaubt man den Bildungsmonitoren, dann findet man die klügsten Schüler in Sachsen. Seit Jahren behauptet sich der Freistaat im nationalen und internationalen Vergleich auf Spitzenplätzen. Jedes Jahr hat die Hälfte der sächsischen Schulabgänger einen Realschulabschluss in der Tasche. Das sind zehn Prozent mehr im Bundesdurchschnitt. Hauptschulen wurden hier gar nicht erst eingeführt. Aber das allein ist keineswegs die magische Formel zum Erfolg. In Sachsen bekommen nicht nur die Schüler gute Zensuren, sondern auch die Lehrer und sogar die Politiker. Das alles spricht für das Schulsystem, das nach der Wende gegen den Bundestrend eingeführt und durchgesetzt wurde, meint unsere Korrespondentin Claudia Altmann: Länderreportmagazin: Das Ende der Hauptschule? - Ein regionaler Überblick in Sachsen, Bremen und Bayern. 8.11.2011 Das Ende der Hauptschule? - Das Beispiel Bremen Länge: 6'06 Min. Autor: Claudia Altmann Redaktion: Carsten Burtke Sachsen ist von Anfang an eigene und eigenwillige Wege gegangen: Es gibt keine Hauptschule, das Schulsystem ist zweigliedrig und das Abitur wird nach zwölf Jahren abgelegt. Wie funktioniert es genau: Die sächsischen Kinder gehen vier Jahre in die Grundschule und haben dann zwei Möglichkeiten. Entweder sie wechseln auf die Mittelschule oder aufs Gymnasium. Jede Mittelschule besteht aus Haupt- und Realschulgang. Dabei bedeutet Hauptschule hier, dass die Schüler in den fünf Fächern Mathe, Deutsch, Englisch, Physik und Chemie gesonderten Unterricht besuchen. Alle anderen Fächer haben sie mit ihren Klassenkameraden des Realschulgangs. Das bringt nicht nur längere und stabile soziale Bindungen, sondern verhindert auch Stigmatisierung, so die Erfahrung von Uschi Kruse, stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. 1. Uschi Kruse "Der Vorteil des zweigliedrigen Schulsystems liegt daran, dass man eine Stufe weniger hat, in die abgeschult wird. Also die Hauptschule als die Schule der Verlierer, die existiert nicht." Zudem ist das System für den einzelnen Schüler durchlässiger, erklärt Dorit Stenke von der Sächsischen Bildungsagentur, die das Modell seit Anfang der 1990er Jahre wissenschaftlich begleitet hat. 2. Dorit Stenke "Ich sehe ja sozusagen immer, wie man im Psychologischen sagt, die Stufe der nächst höheren Entwicklung. Also das heißt, wenn ich dort in einem Hauptschulbildungsgang bin, muss ich nicht nach dem Abitur streben, aber ich kann schon mal nach dem Realschulabschluss streben. Und auch die Lehrer können einen in diese Richtung eben auch ein bisschen beraten und gleichzeitig weiß man, es ist realistisch. Man kennt die Schüler, die in dem Realschulbildungsgang sind und man weiß, die sind nicht so ganz ganz anders, als ich. Die arbeiten vielleicht ein bisschen mehr oder sind ein bisschen fleißiger oder haben auch Unterstützung von zu Hause, aber das ist nicht vollkommen aus der Welt für mich. Und diese Perspektive vor Augen zu haben, macht schon viel aus." Aber das allein war nach Ansicht der Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin nicht der einzige Schlüssel zum Erfolg des zweigliedrigen Systems. 3. Dorit Stenke "Und ein anderer Punkt, den Sachsen wirklich gut gelöst hat, ist die Kontinuität, die es seit den 90er Jahren auch im Bildungsbereich gefahren hat. Also wenn man sich andere Bundesländer angeguckt, gerade Sachsen-Anhalt, zum Teil auch Brandenburg, Mecklenburg- Vorpommern musste dann auch sein Schulnetz noch mal revidieren, weil sie einfach mit zu vielen Schularten oben auf dem Land unterwegs waren und die demographische Entwicklung nicht antizipiert haben." Anders in Sachsen. Nach der Wende erkannte man schnell, dass in absehbarer Zeit viele Stühle in den Klassenzimmern leer bleiben würden und reagierte darauf, sagt CDU-Kultusminister Roland Wöller. 4. Roland Wöller "Wir haben jetzt etwa halb so viele Schülerinnen und Schüler seit Anfang der 90er Jahre. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes ein Demographielabor. Dieser Schülerrückgang musste verkraftet werden. Was wir getan haben ist, wir haben wesentlich weniger Lehrer abgebaut. Also keiner musste entlassen werden. Es war Teilzeit notwendig, aber gleichwohl, haben wir die Mehr-Lehrer dazu benutzt, ganz gezielt in die Qualität des Unterrichts zu investieren, ganz gezielt in die individuelle Förderung zu investieren." Die Grundschullehrer waren fast 20 Jahre in Teilzeit, auch viele Mittel- und Gymnasiallehrer mussten in diesen sauren Apfel beißen. 5. Uschi Kruse "Die Lehrerinnen und Lehrer haben nicht nur viel gearbeitet und damit Opfer gebracht, sondern die haben auch ganz persönlich finanzielle Opfer gebracht, um dieses Schulsystem am Leben zu halten." Dass die Lehrerschaft das mitgemacht hat, lag zum großen Teil daran, dass sie hinter diesem Modell standen und von dessen Vorteilen überzeugt waren. Ebenso wie die Entscheidungsträger in der Politik, sagt Gewerkschafterin Uschi Kruse. 6. Uschi Kruse "Ich glaube, das war erstens ein kluger Schachzug des damaligen interessanterweise sozialdemokratischen Staatssekretärs, der nicht noch mal Hauptschulen wollte. Und darüber hinaus kamen die Lehrer aus einem integrierten Schulsystem und wollten auch nicht Haupt- und Realschulen und haben da auch ziemlich protestiert." Und lagen mit Wolfgang Nowak - von 1990 bis 1994 Staatssekretär - auf einer Wellenlänge. Dessen Devise war damals, etwas zu schaffen, was zu den Verhältnissen in Sachsen passte. Dazu gehörte neben Neuem auch Erhaltenswertes aus der DDR. Also das Abitur nach zwölf Jahren, der berufsbildende und praxisbezogene Unterricht und die ausgezeichnete naturwissenschaftliche Bildung. Dass junge Sachsen in Mathe, Physik und Chemie brillant sind, liegt nach Meinung von Dorit Stenke daran, 7. Dorit Stenke "...dass wir in diesen Fächern mit einem sehr hohen Stundenanteil unterwegs sind und mit einer sehr motivierten Lehrerschaft." Diese durfte nicht nur ihre Erfahrungen einbringen, sondern wurde von Nowak geradezu aufgefordert. 8. Dorit Stenke "Er hat mal auf einer Mittelschulkonferenz 1993 hier in Dresden in der Dreikönigskirche gesagt: Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt. Und das ist für Menschen in Schulen ein so unglaublicher Satz - wenn wir uns angucken, was Schulen für Verordnungen haben, was sie für Regelungen haben, was in Lehrplänen steht - und dann steht da ein Staatssekretär vor denen und sagt, probiert's doch aus." Diese Freiräume nutzten die Pädagogen und wie man sieht, erfolgreich. 9. Dorit Stenke "Strukturdebatten nutzen der einzelnen Schule relativ wenig. Was der einzelnen Schule nutzt ist, Spielräume zu haben, um sich selber ausgestalten zu können. Und ich denke diese Spielräume haben die Mittelschulen und die Gymnasien hier gehabt in diesem Land und sie brauchten sich dann nicht mehr um Strukturfragen so viele Gedanken machen. Sie mussten immer ihre inneren pädagogischen Entscheidungen treffen, aber sie mussten sich sozusagen nicht vollständig neu gründen und immer wieder vollständig neu erfinden." Stattdessen haben sie Raum und Zeit zum Lehren und Erziehen. So die wohl wichtigste Lektion, die man aus dem sächsischen Schulweg lernen kann. 10. Roland Wöller "Schule braucht, wenn sie erfolgreich ist, Verlässlichkeit. Sie braucht Ruhe. Und wenn ich als Kultusminister einen Wunsch frei hätte in Deutschland, dann würde ich vor jedes Klassenzimmer ein Schild hängen, wo draufsteht: Bitte nicht stören! Lasst die Lehrerinnen und Lehrer in Ruhe ihren Unterricht machen. Es gibt viel zu viele Reformen. Es gibt viel zu viele Verordnungen und Gesetze. Jedes Jahr eine neue Reformsau, die durch's Dorf getrieben wird. Wir haben seit 20 Jahren dort Verlässlichkeit. Und dass der sächsische Weg ein stückweit auch den deutschen Weg mitbestimmt, das erfüllt die Sachsen und gerade die Lehrerinnen und Lehrer, die hier viel bestimmt haben auch mit Stolz."