KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.11.0 Titel der Sendung: Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann -Georg Büchner in den Dankreden der Preisträger Autor : Michael Opitz Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 14.02.2012 Besetzung : Erzähler : Sprecher : Zitator Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann" Georg Büchner in den Dankreden der Preisträger Autor: Michael Opitz Sendetermin: 14. Februar 2012 Redaktion: Sigried Wesener Erzähler: Zitator: Sprecher: Musik: Atmosphäre in einem Abgeordnetenhaus, Stimmengewirr, Ermahnung zur Ruhe! I. Erzähler: Es herrscht Unruhe im Hessischen Landtag, als der Abgeordnete Julius Reiber im August 1922 dem hohen Haus vorschlägt, einen nach Georg Büchner benannten Hessischen Staatspreis für Kunst einzurichten. Seiner Meinung nach bedarf der Vorschlag "keiner weiteren Begründung". Doch das wird im Abgeordnetenhaus anders gesehen, denn der in der Nähe von Darmstadt geborene Georg Büchner war nicht nur Dichter, sondern auch Revolutionär, einer, der im damaligen Hessen steckbrieflich gesucht wurde. Zitator: "Steckbrief. Der hierunter signalisierte Georg Büchner..." Sprecher: Geboren am 17. Oktober 1813 in Goddelau/ Großherzogtum Darmstadt. Zitator: "... Student der Medizin, hat sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indicierten Teilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen." Sprecher: Im "Hessischen Landboten" prangert er die Verletzung der Menschenrechte an, das Motto der Flugschrift "Friede den Hütten! Krieg den Palästen" gilt als Anstiftung zum Hochverrat. Geräusch vom Heruntersausen einer Guillotine! Zitator: "Man ersucht deshalb die öffentlichen Behörden des In- und Auslandes, denselben im Betretungsfalle festzunehmen" Sprecher: Büchner soll vor Gericht gestellt werden. Ein Prozess steht auch im Zentrum seines Stückes "Dantons Tod". Als die französische Revolution an der "Magenfrage" scheitert, enden Danton und Robespierre auf dem Schafott. Geräusch vom Heruntersausen einer Guillotine! Zitator: "Personalbeschreibung [von Georg Büchner]. Alter: 21 Jahre Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maaßes Haare: blond Stirne: sehr gewölbt Nase: stark Mund: klein Kinn: rund Gesichtsfarbe: frisch Statur: kräftig schlank Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit." Sprecher: Büchner wird gesucht, weil er zu gut sieht. Sein "Woyzeck", der Aufschrei eines Elenden aus der Schar der Erniedrigten, der seine Geliebte Marie tötet, als sie ihm genommen werden soll. Mehr besitzt er nicht. Geräusch vom Heruntersausen einer Guillotine! Sprecher: Büchner flieht nach Straßburg und später in die Schweiz, wo er an der Universität Zürich mit einer Arbeit "Über das Nervensystem der Flussbarbe" promoviert. Ins Exil getrieben, erkrankt Büchner an Typhus und stirbt am 19. Februar 1837 im Alter von nur 24 Jahren. Zwei Tage später wird er in Zürich beigesetzt. Geräusch vom Heruntersausen einer Guillotine! II. Erzähler: Erst nach heftigen Debatten nimmt der Hessische Landtag Julius Reibers Vorschlag an. Den Georg-Büchner-Preis gibt es seit 1923. Doch erst seit 1951 verleiht ihn die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung als Literaturpreis. Als erster erhält der Schriftsteller Gottfried Benn die Auszeichnung. Benn hat mit seinen "Statischen Gedichten" in der deutschen Nachkriegsliteratur einen neuen Ton angestimmt. Literarisch ist Benn erste Wahl. Aber als Sympathisant mit der nationalsozialistischen Bewegung ist er auch nicht unproblematischer Kandidat, der erst in die innere Emigration gegangen war, als die Nationalsozialisten mit ihm nichts anzufangen wussten. Der Arzt Gottfried Benn erweist in seiner Dankrede zunächst dem Mediziner Georg Büchner seine Referenz. Dann kommt er auf dessen Drama "Woyzeck" zu sprechen. 1. O-Ton Gottfried Benn, 13:20-13:58 "Bevor ich hierher reiste, las ich noch einmal den Woyzeck. Schuld, Unschuld, Armseligkeit, Mord, Verwirrung sind die Geschehnisse. Aber wenn man es heute liest, hat es die Ruhe eines Kornfeldes und kommt wie ein Volkslied mit dem Gram der Herzen und der Trauer aller. Welche Macht ist über dieses dumpfe menschliche Material hinübergegangen und hat es so verwandelt und es bis heute so hinreißend erhalten?" (Benn, Reclam 1951-1971, S. 11f.) III. Erzähler: Mehr als die zentralen Motive des Stückes muss Benn nicht erwähnen, um die Parallelen zur unmittelbaren Gegenwart der Nachkriegszeit deutlich zu machen. Benn hält sich an Büchners Drama, als er von Armseligkeit, Mord und Verwirrung spricht, aber er öffnet mit diesen Verweisen auch einen Raum, in dem neben dem Armierungssoldaten Woyzeck Platz für eine ganze Generation von schuldig gewordenen Verwirrten bleibt. Die Verführten, an die sich Benn wendet, sind einem falschen Dämon gefolgt und haben nun schwer an ihrer Schuld zu tragen: 2. O-Ton Gottfried Benn, 13:57-14:40 "Wir rühren an das Mysterium der Kunst, ihre Herkunft, ihr Leben unter den Fittichen der Dämonen. Die Dämonen fragen nicht nach Anstand und Gepflegtheit der Sitte, ihre schwer erbeutete Nahrung ist Tränen, Asphodelen und Blut. Sie machen Nachtflüge über alle irdischen Geborgenheiten, sie zerreißen Herzen, sie zerstören Glück und Gut. Sie verbinden sich mit dem Wahnsinn, mit der Blindheit, mit der Treulosigkeit." (Benn, Reclam 1951-1971, S. 12.) IV. Erzähler: Die Entscheidung, Gottfried Benn mit dem Büchner-Preis auszuzeichnen, hat symbolischen Wert. An den Namensgeber des Preises wird dabei weniger gedacht, umso mehr aber an die Deutschen, die sich schuldig gemacht haben. Viele von ihnen können in Gottfried Benns Biographie die Verwerfungen der eigenen Lebensgeschichte wiedererkennen. Mit der Vergabe des Preises an Gottfried Benn wird neben dem literarischen auch ein politisches Zeichen gesetzt. Benn erhält den Preis als Vertreter der inneren Emigration. Ein Jahr später hätte die Akademie einen Schriftsteller mit dem Büchner-Preis auszeichnen können, der gezwungen war, ins Exil zu gehen. Doch weder Thomas Mann, noch Bertolt Brecht oder Alfred Döblin erhält 1952 die Auszeichnung. Der Preis wird in diesem Jahr nicht vergeben. Musik: V. Erzähler: In seiner Dankrede bei der Entgegennahme des Büchner-Preises 1960 bezieht sich Paul Celan auf ein Datum, das Büchner am Anfang seiner "Lenz"-Novelle erwähnt. Diesem Datum, dem 20. Jänner, nähert sich Celans Rede. Wie Benn kommt auch Celan beim Nachdenken über Büchner auf Armseligkeit und Mord zu sprechen - Celan allerdings, indem er auf ein Datum verweist. 3. O-Ton Paul Celan, 12:38-12:47 "Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein 20. Jänner eingeschrieben bleibt?" (Celan, Der Meridian, S. 8.) VI. Erzähler: Paul Celan erwähnt den Tag, an dem Büchners Lenz in der gleichnamigen Novelle durchs Gebirge streift und wahnsinnig wird. Das Datum schreibt Geschichte. Denn Celan erinnert noch an einen anderen 20. Januar, den des Jahres 1942, als auf der Wannsee-Konferenz die "Endlösung" der Judenfrage beschlossen wird. Dieser Tag hat sich Celan ins Gedächtnis eingeschrieben. Für ihn markiert der 20. Januar 1942 den Beginn eines anderen Wahnsinns. Der Tod wird zu einem Meister, der aus Deutschland kommt. Ein Datum markiert eine historische und eine literarische Zäsur: 4. O-Ton Paul Celan, 12:36-13:05 "Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ,20. Jänner' eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben? Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?" (Celan, Der Meridian, S. 8.) VII. Erzähler: Gezwungen, in einer verkehrten Welt zu leben, wird Lenz wahnsinnig. Diesen Gedanken Büchners greift Celan auf und denkt ihn weiter. Für ihn steht Auschwitz am Beginn eines anderen, nicht in Worte zu fassenden Wahnsinns. Dieser historische Bezugspunkt klingt immer wieder an, direkt benennt er ihn nicht. Dennoch fehlt es der Rede nicht an Deutlichkeit. Anders als Benn, der von einem dem Dämon dienenden Schrecken spricht, fragt Celan danach, ob es gelingen kann, eine Sprache für Auschwitz zu finden. So folgt er einer Spur, an deren Anfang Büchners "Lenz"-Novelle steht, und er dringt, ausgehend von diesem literarischen Ereignis, ins Feld der Dichtung vor: 5. O-Ton Paul Celan, 5:40-6:10 "Gibt es nicht - so muß ich jetzt fragen -, gibt es nicht bei Georg Büchner, bei dem Dichter der Kreatur, eine vielleicht nur halblaute, vielleicht nur halbbewußte, aber darum nicht minder radikale - oder gerade deshalb im eigentlichsten Sinne radikale In-Frage-Stellung der Kunst, eine In-Frage-Stellung aus dieser Richtung? Eine In-Frage-Stellung, zu der alle heutige Dichtung zurück muß, wenn sie weiterfragen will?" (Celan, Der Meridian, S. 5.) Musik: VIII. Erzähler: Anders als Paul Celan, der in seiner Rede Büchners literarische Bedeutung herausstellt, weiß der Büchner-Preisträger von 1983, Wolfdietrich Schnurre, nicht so recht, warum er an Büchner erinnern soll, da man viele andere vergessen hat. Schurre hält die respektloseste Büchner-Preisrede, die je in Darmstadt zu hören ist. Konsequent spricht er Büchner mit seinem akademischen Titel an und hält ihn so auf Distanz. Näher bringt er den Zuhörern in Darmstadt hingegen das Schicksal seiner drei Jugendfreunde, von denen einer als Jude mit neunzehn Selbstmord begeht. Der andere stirbt als Zigeuner in Auschwitz und den Dritten zerfetzt in der Ukraine eine Tretmine. 6. O-Ton Wolfdietrich Schurre, 48:38-49:32 "Warum sage ich Ihnen das? Weil diese drei, als sie starben, noch sehr viel jünger waren als Sie. Weil diese drei kein Werk hinterließen, das ihr Andenken aufbewahrt hätte. Weil diese drei ausgetilgt wären, hätte ich nicht ihre Stimmen im Herzen behalten. Weil ich es als ungerecht empfinde, daß tote Schriftsteller leben, Getötete aber, die nicht zu schreiben verstanden, noch einen zweiten Tod sterben, den des Vergessens. Weil jene drei für tausende stehen. Und weil wir nicht, mit vergleichsweiser Anteilnahme, jener hunderttausend von gestern, sondern jenes einen von 1837, nämlich Ihrer, Doktor, gedenken. Und: weil ich hier gern Tacheles reden möchte mit Ihnen." (Reclam 1972-1983, 214) IX. Erzähler: Wolfdietrich Schnurres eigentliches Thema ist der Tod. Das hat der ehemalige Soldat, der sechseinhalb Jahre in der deutschen Wehrmacht dient, bevor er desertiert, mit dem Juden Paul Celan gemeinsam. Beide schreiben sich auf ihr zentrales Thema zu, aber sie kommen aus entgegengesetzten Richtungen. Als Überlebende aber geben sie in ihrer Dichtung denen eine Stimme, die nicht mehr sprechen können. Fasst verächtlich äußert sich Schnurre über Büchner, doch der provokante Ton täuscht, denn er schätzt ihn: 7. O-Ton Wolfdietrich Schurre, 57:14-58:08 "Doktor, Sie wissen, was ich meine. Denn Sie haben noch Mitleid mit Woyzeck. Und Ihre geleugnete Anteilnahme an Lenz, sie spiegelt sich in den verräterisch schönen Naturbildern wider. Sie schlucken noch, wenn Sie schreiben. Sie bringen es noch fertig, mit sich und Ihrer Literatur in Einklang zu leben. Sie haben sie noch nicht als gesellschaftsfeindlich empfunden, wenn Sie sie schreiben. Sie sind noch nicht vereinsamt am Schreibtisch. Sie können noch unvereist aufstehen. [...] Sie sind noch in der Lage, zu kommunizieren; obwohl doch Ihre Stoffe Sie eigentlich überwältigt haben müßten." (Reclam 1972-1983, 218) Musik X. Erzähler: Nach Ingeborg Bachmann, der Büchner-Preisträgerin von 1964, geht der Büchner-Preis 1980 an Christa Wolf. In der Geschichte des Büchner-Preises ist sie erst die dritte Autorin, die mit dem Preis ausgezeichnet wird. Und erstmals verleiht die Darmstädter Akademie den Preis an eine in der DDR lebende Autorin. Doch wer erwartet hat, dass Christa Wolf die Gelegenheit nutzen würde, um in ihrer Dankrede mit der DDR ins Gericht zu gehen, sieht sich enttäuscht. Christa Wolf lässt sich vor keinen ideologischen Karren spannen. Sie appelliert an Deutschland und verprellt damit die Mächtigen in Ost und West gleichermaßen. Ihr Thema ist der möglich gewordene "Overkill". 8. O-Ton Christa Wolf, 12:23-12:37 "Büchner wieder lesen heißt, die eigne Lage schärfer sehn. Ich gewöhnte mein Auge an Blut, aber ich bin kein Guillotinemesser. ... (Reclam 1972-1983, 141) Geräusch vom Heruntersausen einer Guillotine! 9. O-Ton Christa Wolf, 12:37-13:03 ... Der Gang der Deutschen durch die Geschichte, ein mühsamer, häufig verlegter, oft schleppender, gewaltsamer, manchmal wüster Gang, ließe sich mit den Worten ihrer Dichter pflastern und ausstaffieren. Aus Sätzen Büchners wollte ich eine Rede halten, die klingen sollte, als wäre sie heute geschrieben. Doch was zu seiner Zeit unerledigt blieb, ist nicht nachzuholen." (Reclam 1972-1983, 141f.) XI. Erzähler: Christa Wolf interessiert an Büchner die "Verflechtung" von Schreiben und Leben, wobei sie einen Satz Büchners ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt: 10. O-Ton Christa Wolf, 17:27-17:31 "'Es wurde ein Fehler gemacht, als wir geschaffen wurden.'" (Reclam 1972- 1983, 143) XII. Erzähler: In ihrer Rede greift Christa Wolf auf einzelne Sätze Büchners zurück, sodass sie in Kontakt mit dem schreibenden Kollegen bleibt. Zugleich kommt sie so auch auf das historisch Unerledigte zu sprechen. In Büchners Welt war die Goethe'sche Maxime: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" zur Sprachhülse verkommen. Sie funktionierte auf der Grundlage einer anderen Mechanik. 11. O-Ton Christa Wolf, 18:41-19:17 "Der Zustand der Welt ist verkehrt, sagen wir probeweise, und merken: es stimmt. Den Satz könnten wir vertreten. Schön ist das Wort nicht, bloß richtig, und so ist es eine Erholung für unser vom Geschrei der großen Worte zerrissenes Gehör, eine kleine Entlastung auch für unser von zu vielen falschen, falsch gebrauchten Wörtern gestörtes Gewissen. Könnte es vielleicht ein erstes Wort einer anderen, zutreffenden Sprache sein, die wir im Ohr, noch nicht auf der Zunge haben?" (Reclam 1972-1983, 144) XIII. Erzähler: Für die Literatur leitet sich aus diesem Befund ein Auftrag ab: Es muss eine Sprache gefunden werden, die es erlaubt, in der Dichtung über den Zustand der Welt zu sprechen. Bei der Suche nach dieser Sprache begibt sich Christa Wolf auf die Spuren Büchners, wobei sie sich besonders für die Frauenfiguren in dessen Werk interessiert. Sie stellt die weiblichen Figuren in Büchners Werk gleichberechtigt neben Lenz, Woyzeck und Danton. Rosetta und Lena aus Büchners Lustspiel "Leonce und Lena", Marie aus dem "Woyzeck" und Julie, Lucile und Marion aus Büchners "Dantons Tod", sie sind ebenso chancenlos bei der Verwirklichung ihrer Träume wie die Männer. Doch als Frauen scheitern sie auch in einer von Männern dominierten Welt. 12. O-Ton Christa Wolf, 21:32-22:26 "Wo bleiben Rosetta, Marie, Marion, Lena, Julie, Lucile? Außerhalb der Zitadelle, selbstverständlich. Ungeschützt im Vorfeld. Kein Denk- Gebäude nimmt sie auf. Man macht sie glauben: anders als auf diese Art - verschanzt! - könne kein Mensch vernünftig denken; dazu geht die Ausbildung, aber auch die rechte Lust ihnen ab. Von unten, von außen blicken sie auf die angestrengte Geistestätigkeit des Mannes, die, je länger, je mehr darauf gerichtet ist, seine Festung durch Messungen, Berechnungen, ausgeklügelte Zahlen- und Plansysteme abzusichern. Die sich in der eisigsten Abstraktion wohlfühlt und deren letzte Wahrheit die Formel wird." (Reclam 1972-1983, 145) XIV. Erzähler: Heiner Müller schockiert 1985 mit seiner Dankrede das anwesende Publikum im Darmstädter Theater. Denn Müller trägt einen literarischen Text vor, der erklärungsbedürftig ist. Der aus nur sechzehn Sätzen bestehende Text - ebenso kurz wie Thomas Bernhards Dankrede 1970 - bezieht sich auf Büchner, den Müller im Koordinatensystem seines Schreibens verortet. Doch er erinnert, ausgehend von Büchner, auch an jene, deren Hoffen über das historisch Mögliche hinausgegangen ist. 13. O-Ton Heiner Müller, 035, Track 5, 0:24-1:19 "Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann, ißt die verordneten Erbsen, quält mit der Dumpfheit seiner Liebe seine Marie, staatgeworden seine Bevölkerung, umstellt von Gespenstern: Der Jäger Runge ist sein blutiger Bruder, proletarisches Werkzeug der Mörder von Rosa Luxemburg; sein Gefängnis heißt Stalingrad, wo die Ermordete ihm in der Maske der Kriemhild entgegen tritt; ihr Denkmal steht auf dem Mamaihügel, ihr deutsches Monument, die Mauer, in Berlin, der Panzerzug der Revolution, zu Politik geronnen." (Reclam 1984-1994, 42) XV. Erzähler: Woyzeck stellt in Müllers Parforceritt durch die Geschichte den zentralen Bezugspunkt dar. Für ihn ist er Täter und Opfer, Wunde und Messer zugleich. Ein Mörder, der Schuld auf sich geladen hat und als Mörder Opfer, an dem die Gesellschaft schuldig geworden ist. Müllers hermetisch klingender Text, der voller Anspielungen und Verweisungen ist - nicht alles lässt sich beim ersten Hören verstehen -, findet durch den stets beibehaltenen Woyzeck Bezug dennoch zu einer klaren Aussage: Als reale Kraft verkörpert Woyzeck Hoffnung und Schrecken zugleich. 14. O-Ton Heiner Müller, 5:25-6:13 "WOYZECK ist die offene Wunde. Woyzeck lebt, wo der Hund begraben liegt, der Hund heißt Woyzeck. Auf seine Auferstehung warten wir mit Furcht und/oder Hoffnung, daß der Hund als Wolf wiederkehrt. Der Wolf kommt aus dem Süden. Wenn die Sonne im Zenith steht, ist er eins mit unserm Schatten, beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte. (Reclam 1984-1994, 44) XVI. Erzähler: Als Durs Grünbein 1995 den Büchner-Preis entgegen nimmt, ist es Heiner Müller, der als Grünbeins Mentor die Laudatio hält. Der 1962 in Dresden geborene Durs Grünbein gehört zusammen mit Hans Magnus Enzensberger - Preisträger von 1963 - und Peter Handke - er erhielt den Preis 1973 - zu der kleinen Gruppe von Dichtern, die den bedeutendsten deutschen Literaturpreis zugesprochen bekommen, als sie Anfang dreißig sind und noch am Beginn ihrer literarischen Karriere stehen. Entscheidende Anregungen für seine Dankrede findet Grünbein in Büchners naturwissenschaftlicher Abhandlung "Über den Schädelnerv". Grünbein verweist auf den Kontext, in dem Büchners literarische Texte entstanden sind. Auf dem Schreibtisch des Vormärzdichters sieht er neben Instrumenten, mit denen Büchner Flussbarben seziert, um deren Schädelnerven freizulegen, auch Manuskriptseiten liegen, auf denen er die ersten Entwürfe seiner "Lenz"-Novelle notiert. Der Naturwissenschaftler und der Dichter Georg Büchner, sie sind für Grünbein nur als eine Person zu begreifen. Ihn interessiert, an welcher Grenze beide zueinander finden. 15. O-Ton Durs Grünbein, 26:22-26:51 "Was haben die Schädelnerven der Wirbeltiere mit Dichtung zu tun? Was sucht die vergleichende Anatomie im Monolog des dramatischen Helden? Welcher Weg führt von der Kiemenhöhle der Fische zur menschlichen Komödie, von rhythmisierter Prosa zur Ausstülpung des Gehirns in den Gesichtsnerv? Seltsame Fragen, sie allein zeigen an, wohin es führen mußte, wenn Literatur sich auf das Reale einließ..." (Den Körper zerbrechen. In: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maaßen hängen, 75) XVII. Erzähler In Büchners Probevorlesung "Über den Schädelnerv" steht die Flussbarbe am Anfang einer Entwicklungslinie, die bis zum Menschen gezogen werden kann. Beide Baupläne - so schlussfolgert Büchner - weisen Parallelen auf. Wenn diese These stimmt, dann wäre der Mensch nur ein Tier unter Tieren. Doch welcher Nerv zuckt, wenn der Mensch vom Leben mehr fordert, wenn er nicht wie ein Tier leben will? In dieser Fragestellung verschränken sich für Grünbein die wissenschaftlichen Überlegungen Büchners mit seinen literarischen Texten. Büchner bricht den Körper auf, er dringt bis ins Körperinnere vor, um einen einzelnen Nerv zu lokalisieren. Dort, im Innern, stösst er auf den Grundriss der Kreatur. 16. O-Ton Durs Grünbein, 37:04-37:42 "Unter der Schrift arbeitet der Nerv, hinter dem Mienenspiel walten die Affekte, und nur dort, im Körper der umhergestoßenen, andere umherstoßenden Protagonisten, lassen sich die Antriebskräfte lokalisieren, nach denen Geschichte und Geschichten plausibel erscheinen. Büchner hat die Risse, die durch den einzelnen gingen, früh und keineswegs kalt registriert. Er hat dieses lügende, stehlende, mordende Individuum als erster mit diagnostischen Interessen betrachtet." (Den Körper zerbrechen. In: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maaßen hängen, 81) XVIII. Erzähler: Büchner erkundet das menschliche Schmerzzentrum, wenn er danach fragt, wie viel Schmerz den Körpern zugemutet werden kann, wie viel Last sie tragen können. Revolutionen, so schlussfolgert Grünbein, wird man daran messen müssen, welche Antworten sie auf diese Fragen finden. 17. O-Ton Durs Grünbein, 41:48-42:22 "Daß sie tief einschneiden ins Fleisch, daß sie die Leiber zermalmt am Wegrand zurücklassen, das ist es, was Geschichte und Revolution so weit von jeder Erlösung entfernt. Und deshalb ist jeder Gesellschaftsentwurf wertlos, wenn er nicht auch das Bewußtsein von der Zerbrechlichkeit dieser traurigen Körper einschließt. Mag sein, daß die Utopien mit der Seele gesucht werden, ausgetragen werden sie auf den Knochen zerschundener Körper, bezahlt mit den Biographien derer, die mitgeschleift werden ins jeweils nächste häßliche Paradies." (Den Körper zerbrechen. In: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maaßen hängen, 83) Musik: XIX. Erzähler: Während Durs Grünbein zu den jüngsten Preisträgern gehört, ist Friederike Mayröcker bereits 77 Jahre alt, als sie die begehrte Auszeichnung in Empfang nimmt. Durs Grünbein ist von einer wissenschaftlichen Abhandlung Büchners ausgegangen und hat sich ans Konkrete gehalten. Friedericke Mayröcker nennt ihre mit "Phantasie über Lenz" überschriebene Rede im Untertitel eine "Gedächtnisrevolution". Sie lässt Lenz mit seinem Zeitgenossen, dem Schriftsteller Lavater, sprechen. Zu diesen beiden gesellt sie sich als dritte. Im Juni 2000 hatte Friedericke Mayröcker ihren Lebensmenschen Ernst Jandl verloren. Der Tod wird in ihrer Rede zum Auslöser einer Gedankenrevolution. Es ist der Tod, der die alte Ordnung zusammenbrechen lässt, der die Verhältnisse, darin mit einer Revolution vergleichbar, grundlegend erschüttert. 18. O-Ton Friedericke Mayröcker, 1:06:31-1:08:14 "Dieser ganze Telegraph zwischen uns, schreibt LENZ an Lavater, dieser ganze Telegraph zwischen Friedericke und mir, Anmerkungen einer Trauer, Erscheinungsblässe, alles abbildern meine Augen wollen alles abbildern, Mirakel und Nelkenfeld, Feld von Azur, 1 nie vollendete Liebesszene, tausend Gefühle und deren Gegenteil, die Eintracht der Laube schmeckend, Landschweifungen: Landabschweifungen, das Blinken in den Kronen der Bäume, usw. Ach die Rehe murmelten ihre Wege, das Unwiderrufliche nahm seinen Lauf, nämlich in der Tautropfenform meines Herzens war alles versammelt. " (Mayröcker, Phantasie über Lenz, http: //www.deutscheakademie.de/druckversion/buechner_2001.html) XX. Erzähler: Friedericke Mayröckers Dankrede wird zum Schauplatz eines selbst erfahrenen Gedankenumbruchs. Sie überträgt diesen Umbruch in eine Prosaminiatur und beschreibt erzählend eine Bewegung, die das Denken im Zustand der Trauer vollführt. Sie bespricht diesen Vorgang, indem sie eine fiktive Gesprächssituation herstellt. Auch sie findet wie Büchners Lenz keine Ruhe. Auch sie kann ihre Gedanken nicht ordnen. Sie gehen ihre eigenen Wege und gehorchen keinem vernünftigen Befehl - sie widersetzen sich der Kontrolle. Es herrscht Chaos im Kopf - revolutionäres Chaos. Darüber denkt Mayröcker nach, indem sie den Dialog mit Büchners Lenz sucht. 19. O-Ton Friedericke Mayröcker, 57:45-58:28 "... ich wünschte ich könnte noch 1 x 1 Buch schreiben, ohne das Thema der Selbstzerstörung, ach die Weltprovinz, alles auf Abruf, alles verbeult, die verknäulten Prinzipien. Ich hänge ja ganz heraus aus der Zeit, aus dem Tag, auch bin ich nur imstande, aus 1 Kopf Verzweiflung heraus zu schreiben, auf unsäglichem Teppich 1 Bäumchen im Fensterwinkel, will mich nicht umbringen, will nur Ruhe und Trost, usw." (Mayröcker, Phantasie über Lenz, http: //www.deutscheakademie.de/druckversion/buechner_2001.html) XXI. Erzähler: Durch die Verleihung des Büchner-Preises wird jede Dichter-Vita geadelt. Im Frühling eines jeden Jahres gibt die Darmstädter Akademie bekannt, wer den Preis erhält. Dankreden anlässlich von Preisverleihungen sind die Regel, aber wer nach Darmstadt zur Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises fährt, der befindet sich im Zentrum einer Traditionslinie, die zu Büchner und von Büchner zu den Autoren führt, die in den Jahren zuvor mit dem Preis geehrt wurden. Im Kreise dieser großen Namen der deutschsprachigen Literatur - und im Gedenken an Büchner, hat man sich mit seiner Dankrede zu behaupten. Der Büchner-Preis ist ein Literaturpreis, aber er ist kein Preis unter vielen. 5 1