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Und auch auf den limitierten Abschnitten nimmt sich der freie Bürger seine freie Fahrt. Atmo im Polizeifahrzeug, Piepsen des Gerätes ... O-Ton im Polizeiwagen So jetzt sind wir auf Kilometer 83 in Richtung Nürnberg und kommen in den Bereich der Geschwindigkeitsbegrenzung ab Kilometer 85,5. Da beginnt das erste Mal die Geschwindigkeitsbegrenzung 120. Autor Auf der A9 Berlin-Nürnberg, Routinefahrt für die Autobahnpolizisten Buschmann und Jung. Geschwindigkeitskontrolle im zivilen Verfolgungsfahrzeug. O-Ton im Polizeiwagen Wir haben Front- und Heckkamera. Die Heckkamera nimmt man meistens, um zu beobachten, ob jemand sich von hinten schnell nähert. Wenn man in einen Bereich kommt, wo die Geschwindigkeit begrenzt ist, so dass wir uns vorbereiten können, um das Fahrzeug zu verfolgen. Gemessen wird immer mit der Frontkamera. Autor Das Stück A9 bei Dessau macht Probleme. Der Beton hält den Belastungen nicht stand, der Straßenbelag bildet Blasen und Beulen. O-Ton im Polizeiwagen Jetzt zu sehen beidseitig gut angebracht für die Kraftfahrer. Fahren Geschwindig- keitsbegrenzung in Richtung Nürnberg 120 Km/h beidseitig gut lesbar angeordnet. Hier noch einmal die Hinweisschilder bzw. die Gefahrenschilder Achtung Bodenwel- len. So dass die Kraftfahrer wissen, warum die Geschwindigkeit runtergesetzt wurde. Jetzt sind wir am Kilometer 86,5 - 86,6 geht die Piste los. Man merkt jetzt, die wird schon unruhig, das hört man an den Abrollgeräuschen der Reifen. Verlieren - bei ho- her Geschwindigkeit würde die praktisch die Haftung verlieren. Autor 160, 170 sind keine Seltenheit in dem 120er Bereich. An diesem Morgen trifft es einen Geschäftsmann, 5er BMW - Fahrerlaubnisentzug. Dann eine Frau im Merce- des Cabriolet - drei Punkte in Flensburg. Die dritte Überführte ist bereit, ins Mikrofon zu sprechen. Eine Opelfahrerin, Mitte 20, sie fuhr mit 139 im 100er-Abschnitt, mit 95 im sechziger. O-Ton Opel-Fahrerin Ich habe es im Rückspiegel gesehen und dachte mir, ja, scheiße hier, schöner BMW Chemnitzer Kennzeichen, da kommt ja kein Mensch drauf, dass die bei uns in der Region rumfahren. Ja, scheiße, es wird immer viel erzählt, dass so Zivilfahrzeuge unterwegs sind mit fremdem Kennzeichen, aber mir selber ist es noch nicht passiert. Ich wurde sonst immer mit Standblitzern geblitzt. (Lachen) Ja, verdammt. Ärgert mich gerade. Autor Erst auf den zweiten Blick befremdet etwas. Diese Selbstverständlichkeit, das stän- dige Fahren an oder über den Limits, die nicht mehr als solche wahrgenommen wer- den: O-Ton Opel-Fahrerin Also am Wochenende war dieser schwere Unfall auf der A19 - diese Massenkaram- bolage und man sitzt vor dem Fernseher und denkt sich, man sollte vielleicht doch mal langsamer fahren, wenn die Autos so ineinander scheppern, aber wenn man es eilig hat und selber hinter dem Steuer sitzt, vertraut man ja seinen Fahrkünsten. Und weiß eigentlich, dass es nicht schief gehen kann. Aber ja, verdammt, es ärgert mich. (Lachen) Autor Der Kampf um Tempolimits, sagt Ulrich Wengenroth, sei so alt wie die Motorisierung. Wengenroth lehrt an der TU München Technikgeschichte. Den Anfang machte der locomotive act im England der industriellen Revolution, vom Volksmund "Gesetz der roten Fahne" genannt, red flag act: O-Ton Ulrich Wengenroth Der stammt aus der Mitte des 19 Jahrhunderts und der galt damals für Dampfma- schinen, die über die Straßen fuhren. Lokomobile waren das, meistens in der Land- wirtschaft genutzt als Zugmaschine, und das Ding war einfach gefährlich. Und da musste in geschlossenen Ortschaften jemand vorweg und mit einer roten Fahne warnen, dass dieses Gefährt kommt. Das Gesetz galt für alle diese selbstfahrenden Geräte und damit auch für die ersten Autos und es hat die Verbreitung des PKW in England zunächst mal ein bisschen aufgehalten. Autor Auch in Deutschland reguliert man bald nach der Erfindung des Automobils seine Geschwindigkeit. Den Anfang macht Mannheim, die Heimatstadt von Carl Benz. 1885 war Benz erstmals mit der von ihm entwickelten Motorkutsche durch die Stadt gerumpelt, neun Jahre später lassen die Behörden dort Autos generell zu, beschrän- ken aber ihre zulässige Geschwindigkeit auf 12 Kilometer je Stunde außerorts und sechs Kilometer je Stunde innerorts. 1901 verfügt die Stadt Berlin: Zitator "Die Geschwindigkeit der Fahrt darf bei Dunkelheit oder städtisch angebauten Stra- ßen das Zeitmaß eines im gestreckten Trab befindlichen Pferdes nicht überschreiten, außerhalb der Bebauungsgrenze darf sie, wenn gerade und übersichtliche Wege be- fahren werden, angemessen erhöht werden." O-Ton Ulrich Wengenroth Zunächst war relativ Ruhe, weil ein Auto sichtbar weniger Dreck macht als ein Pferd. Die Städte um 1900 müssen Sie sich vorstellen: knöcheltief Exkremente auf den Hauptstraßen wegen der Pferde, ganz viele Unfälle wegen der Pferde. Ein Auto tritt nicht aus, ein Auto beißt nicht - das sind alles so Sachen, die Autos nicht machen. Deswegen waren die zunächst mal beliebt. Aber dann kommen diese Herrenfahrer und brettern schnell durch die Straßen und dann gab es sehr schnell einen richtigen Hass auf diese Autos, vor allem da, wo es viele gab, in den USA. Farmer haben sich einen Spaß draus gemacht, aus dem Hinterhalt auf Autoreifen zu schießen, um den Verkehr um ihr Vieh herum zu beruhigen. Es gab Steinigungen, das heißt die Volks- meute hat Steine aufgerafft und die Autos gezielt beworfen, mit einem Steinhagel - da sind einige Autofahrer ums Leben gekommen bei dieser Geschichte. Da braucht man Frieden auf der Straße. Und um diesen Frieden zu bekommen, wurden die Ge- schwindigkeitsbeschränkungen erlassen. Autor Aber wer hält sich an Geschwindigkeitsbeschränkungen, wenn sie nicht kontrolliert werden? Im Jahr 1909 verfasst der umtriebige italienische Schriftsteller Filippo To- masso Marinetti sein futuristisches Manifest: Zitator Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothra- ke. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt. Autor Im selben Jahr 1909 wird die Automobil-Verkehrs-und Übungsstraße projektiert, ab- gekürzt AVUS. Ein Projekt für Projektile, die erste Rennstrecke Deutschlands. Eine schnurgerade Trasse im vornehmen Berliner Westen, die später zur ersten Autobahn werden soll. Als nach kriegsbedingt verzögerter Bauzeit auf der AVUS in den 1920er Jahren die ersten Rennen stattfinden, ist der Futurist Marinetti Kulturminister unter Mussolini. Das erste Dekret der italienischen Faschisten zum Thema Straße greift das "Monopol der Eisenbahn" an, schafft jede Verkehrssteuer auf Kraftfahrzeuge ab und jede Art von Geschwindigkeitsbegrenzung. Sofort schnellt die Zahl der Verkehrstoten in die Höhe. Zeitgleich wird in der Weimarer Republik das Tempolimit moderat gelockert. Innerorts von Pferdetrab auf 25 Kilometer je Stunde. Außerorts bleibt es bei der Formulierung der "Angemessenheit". Noch ist Autobesitz in Deutschland keine Massenerschei- nung. In den Städten haben die Straßenbahnen Vorfahrt, das Land durchzieht ein gut ausgebautes Streckennetz der Reichsbahn. Vor allem aber können sich durch Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise nur sehr wenige Deutsche das teure Luxusgut Auto leisten. Dok-Ton Adolf Hitler Internationale Autoausstellung Ich empfehle einmal der Kraftverkehrswirtschaft, sich einmal von diesem Gesichts- punkt aus ein Bild über das Einkommensverhältnis der vier oder fünf Millionen best- gestellten Deutschen zu verschaffen und sie werden dann verstehen, warum ich mit rücksichtsloser Entschlossenheit die Vorarbeiten für die Schaffung des deutschen Volkswagens durchführen lasse und zum Abschluss bringen will und zwar, meine Herren, zum erfolgreichen Abschluss (Beifall). Autor Schon vor der Propagierung des Volkswagens - hier auf der Internationalen Auto- ausstellung 1936 - setzt die NSDAP auf die schnelle Motorisierung des Landes. In der neuen Reichs-Straßenverkehrsordnung von 1934 heißt es: Zitator Die Förderung des Kraftfahrzeuges ist das vom Reichskanzler und Führer gewiesene Ziel, dem auch diese Ordnung dienen soll. Autor Wirtschaftsinteressen und Massenpsychologie, Technikbegeisterung und Kriegstrei- berei - eine Melange von sich gegenseitig verstärkenden Konzepten führt 1934 zur Aufhebung aller Geschwindigkeitsvorgaben auf den deutschen Straßen. Wer ein Auto hat, kann rasen, so schnell er will. Innerorts, auf den Landstraßen und erst recht auf den neuen Autobahnen. 1938 gibt es fast 5.000 Verkehrstote, und fast immer ist hohe Geschwindigkeit am Unfallhergang beteiligt. O-Ton Winfried Wolf Ich glaube, dass es in starkem Maße eine ideologische Angelegenheit ist oder auch eine Sache der Entfremdung und eine Frage des Ersatzes von direkten kulturellen und demokratischen Bedürfnissen. Autor Winfried Wolf hat ein Standardwerk der Automobilkritik verfasst: "Verkehr Klima Um- welt - Die Globalisierung des Tempowahns" Er zeigt die Geschichte der Automotori- sierung als Geschichte der von der Öl- und Autoindustrie forcierten Beschleunigung. O-Ton Winfried Wolf Wir sehen das bei Henry Ford, wo Autorennen eine Rolle spielten bei der Präsenta- tion des T-Mobils 1907, was dann sehr stark von Mussolini aufgegriffen wurde An- fang der 20er Jahre, bei den Nazis auch, die zur Befriedigung der Volksgenossen jede Tempolimits aufgehoben haben, auch in Städten, und den Leuten vorgegaukelt haben, man kann sich verwirklichen durch rasen. Zitator (Viktor Klemperer, LTI) Eine Zeitlang sind die Sieger in internationalen Autorennen, hinter dem Lenkrad ihres Kampfwagens oder an ihn gelehnt oder auch unter ihm begraben, die meistphotogra- fierten Tageshelden. Autor Viktor Klemperer in seinem Buch LTI - Sprache des Dritten Reiches: Zitator (Viktor Klemperer, LTI) Wenn der junge Mensch sein Heldenbild nicht von den muskelbeladenen nackten oder auch in SA-Uniform steckenden Kriegergestalten der Plakate und Denkmünzen dieser Tage abnimmt, dann gewiß von den Rennfahrern; gemeinsam ist beiden Hel- denverkörperungen der starre Blick, in dem sich vorwärtsgerichtete harte Entschlos- senheit und Eroberungswille ausdrückt. O-Ton Winfried Wolf Das ist ein Element des Faschismus, wo der Mensch von jeder Demokratie abge- schnitten wird, ihm aber gesagt wird, du kriegst ne Blechkiste für deine Freiheit und du kannst frei rasen. Autor Wehrwirtschaftliche Erwägungen, so heißt es im Amtsdeutsch, führen 1939 zu rigi- den Geschwindigkeitsbeschränkungen. Tempo 40 innerorts, Tempo 80 außerhalb, auch auf den Autobahnen. Die Nazis wollen Kraftstoff sparen und Buna-Reifen. Das Volkswagen-Werk wird zur Waffenschmiede, die Männer sterben in den Schlachten des Zweiten Weltkrieges, nicht mehr bei Unfällen auf den "Straßen des Führers". O-Ton Karl Otto Schallaböck Der Historiker Radkau hat darauf hingewiesen, dass die Massenmotorisierung Deutschlands in den 50ern und Anfang der 60er Jahre maßgeblich motiviert war durch den Versuch der als Soldatengeneration moralisch und machtmäßig zurückge- drängten klassischen Macho-Männer, sich wiederum in die angestammten Positio- nen zu begeben. Autor Karl Otto Schallaböck, Philosoph am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Ener- gie. Seit den 80er Jahren beschäftigt mit Fragen der Zukunftsenergie und der Mobili- tätsstrukturen. O-Ton Karl Otto Schallaböck Es ist so, wie in den Vereinigten Staaten die Freiheit der Waffen - des Waffenbesit- zes - ist in Deutschland die Freiheit der Geschwindigkeitswahl eine absolute Beson- derheit. Es ist sozusagen eine spezifische Art von Jagdschein, die also hier freige- stellt wird, die also dagegen spricht, dass wir so aufgeklärt sind, wie wir es gerne wä- ren. Autor Zunächst gelten die Tempolimits der Kriegszeit auch im besetzten Deutschland. 1953 gibt die Regierung Adenauer das Tempo in Westdeutschland frei - und argumentiert mit einer bemerkenswerten Logik, wie Ulrich Wengenroth von der TU München erin- nert: O-Ton Ulrich Wengenroth Nach dem Zweiten Weltkrieg hat aber eine Autofahrerlobby Stimmung gemacht, gegen das Nazigesetz - die haben gesagt, das ist ein Nazigesetz gewesen, eine Na- zibevormundung, und deswegen wurde es abgeschafft. Autor Hinter der Aufhebung jeglicher Tempolimits stecken handfeste Interessen. Für den VW-Käfer wirbt Volkswagen 1951 mit dem Slogan "schnell und wendig auf den Stra- ßen und Märkten der Welt", ein Jahr später mit " begehrt in aller Welt". Es geht der deutschen Wirtschaft schon damals um mehr als um den deutschen Markt, es geht um das Exportgut Auto. O-Ton Ulrich Wengenroth Und zur Glaubwürdigkeit dieser Autos gehört, dass es in ihrem Heimatland kein Tempolimit gibt, so dass Leute, die in den USA einen Porsche kaufen, und da kaufen viel mehr Leute einen Porsche, als hier oder die in China einen BMW kaufen, dass die Glaubwürdigkeit dieses Produktes dadurch steigt, dass man sagen kann, es kommt aus einem Land, da fahren die tatsächlich immer über 200, was natürlich nicht stimmt. Autor Auch wenn VW-Käfer, BMW Isetta oder Opel Kapitän in den 50er Jahren noch nicht Tempo 200 erreichen - ihre von keinem Gesetz begrenzte Beschleunigung hat ka- tastrophale Folgen. Dok-Ton "Die Sicht der Chirurgie" "Das Experiment Nummero eins war die Aufhebung der Geschwindigkeitsbegren- zung im Jahr 1953. Ruckartig ging die Zahl der Toten um 2.254 im ersten Jahr in die Höhe und blieb in den folgenden Jahren auf dem erhöhten Niveau, dabei noch lang- sam ansteigend, entsprechend dem stetigen Anstieg der Kraftfahrzeuge." Autor Ein Radiovortrag des Heidelberger Chirurgen Professor Karl Heinrich Bauer. Allein in seiner Klinik wurden tausende Unfallverletzte behandelt, viele von ihnen konnten nicht gerettet werden und mehr noch hatten ein Leben lang mit den Unfallfolgen zu kämpfen. Für 1953 zählt die Statistik 12.000 Unfalltote in der Bundesrepublik. Die meisten sterben nicht auf den Autobahnen, sondern auf den Landstraßen oder in Ortschaften. Und oft sind dort die schwächsten Verkehrsteilnehmer betroffen: Rad- fahrer, Fußgänger, Alte und Kinder. Mitte der 50er Jahre setzen sich einige Bundespolitiker für Tempolimits ein. Doch ihnen weht ein scharfer Wind entgegen: Zitator Wir halten es für unbedingt erforderlich, dass nicht nur die Mitglieder des Verkehrs- ausschusses, sondern alle Abgeordneten des Bundestages je für sich in unserem Sinn beeinflusst werden. Autor Aus einem Schreiben der Daimler-Benz AG an den Allgemeinen Deutschen Automo- bilclub 1956. Zitator Angesichts der Gefahr, die für eine freie Entfaltung des Kraftfahrwesens droht, halten wir jede Anstrengung für notwendig, um Unheil abzuwenden." Autor Planmäßige Lobbyarbeit propagiert die Freiheit der Straße. Der ADAC interpretiert Statistiken in seinem Sinn, argumentiert mit einer "Belastung der Verkehrswege durch Drosselung der Geschwindigkeit" und mit Sätzen wie diesem: Zitator Soll man das Schwimmen verbieten, weil jährlich Hunderte von Menschen dabei ums Leben kommen? Autor Tatsächlich scheitert der Gesetzesvorstoß von 1956 - generelle Tempolimits lassen sich im Wirtschaftswunderland nicht durchsetzen. Nur innerorts gilt ab September 1957 Tempo 50. Dok-Ton "Die Sicht der Chirurgie" "Während die Zahl der Toten 1953 ruckartig um 2.254 in die Höhe ging, ging 1957/58 mit der Wiedereinführung der Geschwindigkeitsbegrenzung die Zahl der Verkehrstoten, trotz der zehnprozentigen Zunahme der Kraftfahrzeuge, ruckartig, zum ersten Male wieder, um 2.440 Tote zurück. Lassen Sie sich bitte weder von Propaganda noch durch Vernebelungspolitik abdrängen von der wahrhaft naturwis- senschaftlichen Beweiskraft der eben genannten Zahlen. Autor Bilanz und Empfehlung des Chirurgieprofessors Karl Heinrich Bauer. Die Zahl der Toten steigt indes weiter, um 1970 sind es 20.000. 1972 wird schließlich Tempo 100 auf Landstraßen eingeführt. All die Debatten um die Verkehrssicherheit haben vor allem eine Folge: den Ausbau jener Verkehrswege, auf denen weiterhin freie Fahrt erlaubt ist. Georg Leber, erster sozialdemokratischer Verkehrsminister, propagiert, niemand solle mehr als 25 Kilo- meter bis zur nächsten Autobahnauffahrt fahren müssen. Das Angebot der Straßen schafft Nachfrage für das Automobil. Der Kraftfahrzeugbestand wächst und wächst - und mit ihm der Verbrauch von Rohstoffen und Fläche sowie der Schadstoffausstoß. Neu ist in den 70er Jahren das Phänomen Stau. Er wird zur Alltagserscheinung, un- abwendbare Folge des massenhaften Wunsches nach schneller automobiler Fortbe- wegung. Der Politologe Winfried Wolf nennt das in Anlehnung an Paul Virilio, (den Philosophen der Geschwindigkeit) eine der Paradoxien des Tempowahns. Der Ra- sende Stillstand. Und noch etwas beobachtet Wolf: Die Räume, die das schnelle Verkehrsmittel überwindet - sie verschwinden. Nicht nur im "Tunnelblick" des Fah- rers aus der Wahrnehmung, sondern ganz buchstäblich. O-Ton Winfried Wolf Beispielsweise in meiner Heimatstadt Ravensburg sind alle Gebiete, in denen ich als kleiner Junge gespielt habe, wo meine Mutter sagen konnte, nach der Schule: "geht zum Rahnenhof" oder "geht raus ins Wäldle und spielt und wenn die Kirchenglocken klingeln, dann kommt ihr zurück", das gibt es heute nicht mehr, weil der Rahnenhof ist heute irgendwie Betonwüste, wo eine B 30 neu die Stadt Ravensburg umkreist; oder das Wäldle ist heute ein großes Warenlager, das heißt, die Leute müssen mit dem Auto rausgefahren zu werden, irgendwo auf die grüne Wiese, um da wiederum Freizeitmöglichkeiten zu haben, was wiederum neuen Druck erzeugt, neue Ge- schwindigkeit zu produzieren und so weiter und so weiter. Autor Tagesschau am 9. November 1973 Dok-Ton Tagesschau Meine Damen und Herren, Bundestag und Bundesrat haben heute das Energiesiche- rungsgesetz gebilligt. Damit hat die Regierung jetzt die Handhabe, einer drohenden Ölverknappung nicht nur mit Ermahnungen, sondern auch mit Verboten und Ver- brauchseinschränkungen zu begegnen, die auch den kleinen Mann, den Endver- braucher, direkt betreffen. (Beitrag:) Die Zeiten sind vorbei, Zeiten, in denen man mit Vollgas fahren konnte... Autor Im Nahen Osten herrscht Krieg. Ägypten und Syrien wollen die von Israel besetzten Gebiete zurückerobern. Und die ölfördernden arabischen Staaten unterstützen den Kampf. Sie wollen ihr Öl zur Waffe machen und drohen dem Westen mit Boykott. Das löst Preissteigerungen aus und Panik im Autoland Deutschland. Die soziallibera- le Bundesregierung von Willi Brandt verfügt Sonntagsfahrverbote und ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf den Autobanen: Etwa fünf Prozent Rohöl sollen so eingespart werden: Dok-Ton Willy Brandt Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger. Zum ersten Mal seit dem Ende des Krie- ges wird sich morgen und an den folgenden Sonntagen vor Weihnachten unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln. Die Energiekrise kann auch zu einer Chance werden. Wir lernen in diesen Wochen, was in Vergessenheit zu geraten drohte - dass Egoismus nicht einmal den Egoisten hilft. Autor Für vier Sonntage in der Adventszeit 1973 ist es so still in Deutschland wie danach nie wieder. Doch schon im Frühjahr 1974 sträubt sich der Bundesrat gegen die Ver- längerung des Tempolimits auf Autobahnen. Der ADAC hatte eine Kampagne gestar- tet. Götz Weich, lange Jahre Leiter der Hauptabteilung Verkehr beim ADAC, erinnert sich in einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks von 2008: O-Ton Goetz_Weich "Freie Bürger fordern freie Fahrt" - das war so ein Aufkleber, den haben wir nachträg- lich wieder einkassiert. Aber der Spruch an sich war draußen und der war dann nicht mehr aufzuhalten und er muss wohl auch irgendwie besonders gut gewesen sein, denn sonst würde sich heute niemand mehr daran erinnern. Die Leute tun das und der ADAC wird damit identifiziert und ich habe auch in den letzten Jahren gemerkt, dass die Anerkennung für die Prägnanz dieses Spruches eigentlich immer größer geworden ist. Autor Nach 111 Tagen wird Tempo 100 auf Autobahnen wieder abgeschafft. Das Rasen geht weiter - allerdings führen technische Verbesserungen zu immer mehr Sicher- heit. Die Gurtpflicht, das eingebaute Antiblockiersystem und vor allem der Ausbau des Rettungswesens führen im Lauf der Jahre zu immer weniger Verkehrstoten - trotz wachsender Fahrzeugflotte. O-Ton Karl Otto Schallaböck Wir haben natürlich durchaus auch einen technischen Fortschritt. Das heißt, wir kön- nen mit besseren Konstruktionen, mit hoch entwickelten Motoren, mit sehr viel weni- ger Treibstoff dieselbe Leistung erbringen. Nur eben - dieser technische Fortschritt ist nicht in die Verbrauchsreduktion so stark gegangen, sondern stärker in die Leis- tungs- und Größenaufwertung. Autor Karl Otto Schallaböck vom Wuppertal-Institut arbeitet in der Forschungsgruppe "Zu- künftige Energie und Mobilitätsstrukturen". Er weiß: Hatte das Standardfahrzeug der 60er Jahre noch eine Leistung von etwa 30 Pferdestärken, so liegt der Durchschnitt bei den verkauften Neuwagen heute bei 130 PS. Entsprechend steigt die Geschwin- digkeit. Die letzte amtliche Zahl dazu hat das Bundesamt für Straßenwesen 1992 veröffentlicht. Damals fuhr man auf deutschen Autobahnen im Schnitt zwischen 120 und 130 Kilometer je Stunde - wenn man denn fuhr und nicht im Stau stand. O-Ton Karl Otto Schallaböck Das ist die große Schwierigkeit. Also dass diese interessanten Sachverhalte eben nicht mehr publiziert werden. Wir haben an sich einen linearen Trend, so weit wir das beobachten können. Jedes Jahr wird die gesamte Automobilflotte, zunächst einmal die Neuzulassungen, aber dann in der Folge der Bestand um 1 km/h schneller. Und eben auch die Geschwindigkeiten auf den freien Strecken der Bundesautobahnen sind, so weit wir es wissen, eben jedes Jahr um einen Kilometer pro Stunde in der Geschwindigkeit angestiegen. D.h., wir müssten jetzt dann eher so bei 150 liegen. Autor Je höher die Geschwindigkeit, umso höher der Energieverbrauch, umso höher der Schadstoffausstoß. Die Kurve steigt exponential. Beispiel: Tempo 100 - Verbrauch 8 Liter, Tempo 200 - Verbrauch 30 Liter. Deutschland inszeniert sich als Vorreiter des Klimaschutzes. Aber generelle Tempolimits zu fordern, gilt nach wie vor als Angriff auf die bürgerliche Freiheit. O-Ton Winfried Wolf24:00 Das ging so weit, dass auf dem Parteitag im Oktober 2007 in Hamburg der SPD ein Antrag der Parteibasis durchkam, damals war die SPD noch Regierungspartei im Rahmen der großen Koalition, ein Antrag der Basis durchkam auf Tempolimit 130, gegen den gesamten Vorstand. Der gesamte SPD-Vorstand war dagegen gewesen. Und wurde angenommen. Die SPD forderte ein Tempolimit von 130. Und am glei- chen Abend haben SPD-Linke wie Frau Nahles oder der damalige Fraktionschef Pe- ter Struck, gesagt, man kann das nicht durchsetzen und gemeint war nicht, man kann das nicht in der Bevölkerung durchsetzten, sondern, man kann das nicht gegen die Autoindustrie durchsetzen. Autor Es ist schwierig, den Einfluss der Industrie auf die Politik tatsächlich nachzuweisen. 1984 fand ein "Großversuch Tempolimit" statt. Anlässlich der Diskussion um das Waldsterben. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte ein Tempolimit - dann wurden die Ergebnisse des Versuches von der Industrie so geschickt interpretiert, dass Tempo 100 verhindert wurde. Stattdessen kam damals der Katalysator - eine technische Lösung also, an der sich verdienen ließ. Der verpflichtende Einbau von Tempomaten wäre auch eine Option gewesen, an der die Industrie hätte verdienen können. O-Ton Karl Otto Schallaböck Unter dem Gesichtspunkt knapper Ressourcen ist natürlich die Entwicklung schlicht katastrophal. Dieses Verkehrssystem, was wir gegenwärtig haben, ist nicht auf Dauer angelegt. Wir werden energetisch Schwierigkeiten kriegen, wir werden von den Kos- ten Schwierigkeiten kriegen, wir werden auch von den Umweltkosten Schwierigkeiten kriegen. Autor Sagt Otto Schallaböck vom Wuppertal Institut. O-Ton Ulrich Franck (Atmo Autobahn) Jetzt überqueren wir die Autobahn und messen höhere Werte, bisschen höhere, viel- leicht liegt das sogar daran, dass der Feinstaub, der auf der Autobahn aufgewirbelt wird, zu uns gewehrt wird. Autor Wieder auf der A 9, in der Nähe von Leipzig. Ulrich Frank misst die Feinstaubbelas- tung. Und zwar die, die im Auto herrscht. O-Ton Ulrich Franck Also, neben dem Effekt, dass ich dann weniger Schadstoffe freisetze, ist es sicher sinnvoll, nicht auf der Autobahn zu rasen aus zwei Gründen, zum einen mal, ich set- ze viel mehr Schadstoffe frei, sowohl aus dem Auspuff, Motorabgase, weil der Ver- brauch höher ist als auch durch Abriebwirkung, gleichzeitig führt eine hohe Ge- schwindigkeit auch dazu, dass viele Geschwindigkeitswechsel dabei sind, es sei denn, die Autobahn ist ganz leer, und diese Geschwindigkeitswechsel bedeuten bremsen und beschleunigen und auch erhöhte Feinstaubfreisetzungen. Autor Die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass bereits 10 Mikrogramm Fein- staub pro Kubikmeter Luft eine Verkürzung der Lebenserwartung der gesamten Be- völkerung um ein halbes Jahr bewirken. Feinstäube sind inzwischen zu einer der größten Gesundheitsgefahren geworden, sagt Ulrich Franck vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig. Die "freie Fahrt für freie Bürger" ihren Preis. Wir leben halt in einem besonders libera- len Staat, könnte man meinen, wenn trotz allem die Tempofreiheit weiterhin gilt. Doch ganz so respektvoll geht unser Staat auch im Straßenwesen nicht mit dem Freiheitsdrang seiner Bürger um. Wechseln wir die Perspektive: vom Auto zum Fuß- gänger, dann sieht die Welt ganz anders aus. Fußgänger haben sich Vorschriften und Regeln zu unterwerfen, selbst wenn sie sinnlos sind. Beispiel Fußgängerampel: Steht sie auf Rot, ist es egal, ob die Straße leer ist oder nicht - man hat zu warten. Die Ampel, die eigentlich die Fußgänger vor Autos schützen sollte, wird zum Diszipli- nierungsinstrument. In England dürfen Fußgänger auch bei Rot gehen, wenn die Straße frei ist: Die Ampel dient dort dem Schutz vor Autofahrern. Aber so viel Libera- lität und Eigenverantwortung mag der deutsche Staat seinem Fußvolk nicht gewäh- ren. Im Grunde ist es erstaunlich, dass dieses Missverhältnis die Bürgerinnen und Bürger so wenig erzürnt. Schließlich gehören wir alle zum Fußvolk, sobald wir unser Gefährt verlassen. 1