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Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.“ Joseph von Eichendorff Musik 1 Mondscheinsonate hoch / bleibt nach einem Takt/Akkord mit Hall stehen, geht über in Kennmelodie Sprecher vom Dienst: „Wenn die Nacht den Takt vorgibt - Durch Deutschland im Dunkeln“ Eine Deutschlandrundfahrt von Susanne von Schenck und Ralf Bei der Kellen. Kennmelodie Atmo stehender LKW Autor: Eigentlich wollten wir uns auf einer Autobahnraststätte treffen. Aber auf dem Weg dorthin ist Tim im Stau steckengeblieben. Tim ist LKW-Fahrer. Nach 13 Stunden Schichtzeit verlangt der digitale Tacho in seinem Laster eine elfstündige Pause – egal, wo er gerade ist. Und da ein freier Platz auf einem Autobahnparkplatz oder gar an einer Raststätte mittlerweile einem Sechser im Lotto gleichkommt, hat Tim sich zum Übernachten einen Platz in einem Osnabrücker Industriegebiet gesucht. Atmo: Geräuschkulisse Industriegebiet Autor: Gleich auf der Ecke eine Großbäckerei, dahinter ein großer Zulieferbetrieb für die Autoindustrie. Die mitternächtliche Kulisse wirkt surreal – überall erleuchtete Hallen, man hört Maschinen arbeiten, aber – kein Mensch ist zu sehen. Produktivität ohne Leben. Atmo: Schritte zum LKW, klopfen Autor: Die Kabine des LKW wirkt einladend: diffuses Licht, die Standheizung läuft auf vollen Touren, im Minikühlschrank das kalte Bier. Aber das einsame Herumstehen in verlassenen Industriegebieten ist selbst für einige der scheinbar so hartgesottenen LKW-Fahrer zu viel. O-T 10 Tim: (Standheizung läuft schneller): „Viele stehen lieber auf beleuchteten Parkplätzen, weil sie sagen: Nachts in dunklen Gewerbegebieten haben sie halt Angst. Vor Überfällen oder vor Dieselklau. Aber ich muss sagen: Ich hab da bis jetzt noch keine schlechten Erfahrungen gemacht und werde das auch weiterhin so machen.“ (0’14) Autor: Einen normalen Biorhythmus kann sich ein LKW-Fahrer kaum noch leisten. Mal fährt er tagsüber, mal nachts. Und da gibt es große Unterschiede. OT 11 Tim: Ja, nachts, da denkste dann irgendwelche Sachen, von wegen, ach, irgendwie vielleicht auch mal letztes Wochenende nen bisschen (lacht) Blödsinn gemacht, hätte das denn wieder sein müssen und.. äh, ne? So, in der letzten Beziehung, war das alles wirklich in Ordnung oder hätt das vielleicht anders laufen sollen? Tagsüber denkste da nicht dran, aber wenn Du nachts wirklich so lange alleine bist und fährst so durch die Nacht, denkst Du wirklich anders wie tagsüber. Musikakzent: Blood On the Saddle – Lonesome Highway Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label O-T 12 Tim: „Das Bett ist immer das gleiche nachts, aber Du hast jede Nacht neue Nachbarn (lacht) und Du stehst immer aufm andern Parkplatz und… ja, wenn Du morgens wach wirst, wirklich überlegen: Wo bist Du jetzt eigentlich?“ (0’18) Autor: Die Nacht verändert den Blickwinkel. Wir sitzen lange schweigend in der Fahrerkabine, trinken unser Bier und blicken durch die Windschutzscheibe, die jetzt zu einem Breitbildfernseher geworden ist. Um ein Uhr ist jede Bewegung etwas Besonderes. Und auch immer irgendwie verdächtig. Da fährt ein Auto zweimal denselben Weg. Ein Pizzaservice, der seinen Kunden sucht? Oder ein Einbrecher, der sein Objekt auskundschaftet? Ein Drogenkurier auf der Suche nach dem Übergabeplatz? Was tagsüber niemandem auffallen würde, bekommt nachts eine ganz andere Bedeutung. O-T 13 Tim: „So… wenn du jetzt nachts hier so drinsitzt… Dich sieht ja keiner von draußen. Aber Du kannst ja draußen alles gut sehen – vor allem, wenn de schon länger so stehst, und Deine Augen sich daran gewöhnt haben, an die Dunkelheit. Dann finde ich immer, das ist quasi so wie so’n Fernsehkrimi – aber live. Du sitzt hier im Warmen, trinkst Deine Flasche Bier, und guckst Dir das alles so live mit an. Ich find das immer noch spannend nach den ganzen Jahren, weil – Du siehst ja auch jeden Abend, jede Nacht auch was anderes, was Neues wieder, und – überall sieht’s anders aus (lacht) auch nachts, nicht nur tagsüber.“ Atmo: Industriegebiet O-T 14Tim: „Also… was man schon mal hat, es gibt so einschlägige Parkplätze, wo sich, ja, Schwule rumtreiben. Also, die klopfen auch schon nachts wohl mal. Und das ist auch das Problem: Wenn man dann nachts mal wirklich raus muss zum Austreten, dann… bist du nicht mehr alleine.“ (0’19) Atmo: Industriegebiet OT 15Tim „Ja, viele haben Angst in der Nacht…“ (Stimme oben) (0’02) Autor: Angst hat Tim nicht, aber er spricht immer wieder von seinem Respekt gegenüber der Nacht. Nur wenige Fahrer seien in der Lage, eine Nacht einfach so durchzufahren. Da ist er manchmal ganz froh, wenn er schlafen muss. Und: eigentlich macht er es – trotz der Belastung – noch immer ganz gerne. O-T 16Tim: „(lacht) Ich find’ das immer noch gut, ne? Ich bin ja meistens den nächsten Tag wieder zu Hause, aber so eine Nacht im LKW schlafen, auch mal mehrere Nächte hintereinander, wenn’s sein muss, ich empfinde das nicht als Bedrückung oder so, das ist ’n Teil des Jobs, ne? Und das ist irgendwo immer noch ’n bisschen, ja, wie man früher wahrscheinlich als Jugendlicher gezeltet hat, so’ n bisschen Abenteuer ist immer noch dabei. Nur hier ist es irgendwie in einer angenehmeren Umgebung. Heizung, Fernseher, alles da.“ (0’31) Autor: Mittlerweile ist es zwei Uhr morgens. Tim muss schlafen – und ich noch den Rückweg hinter mich bringen, bevor mir auch die Augen zufallen. Musik: Das Weeth Experience – Blue Highway Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label darüber: O-T 17 Tim: „Also bei vielen denkt man sich nachts auch: Wieso schlafen die einfach nicht? Warum gehen die nicht nach Hause? Müsst ihr hier sein oder – wollt ihr hier sein?“ (0’09) Musik: Das Weeth Experience – Blue Highway Musik: Das Weeth Experience – Blue Highway Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Atmo Zugrattern Zitat (schon gelesen von einer Französin) „Gregorius hätte alles darum gegeben, einschlafen zu können, doch das monotone Klopfen der Räder, das sich aufs Bett übertrug, half nicht. Er richtete sich auf und presste die Stirn gegen das Fenster. Verlassene kleine Bahnhöfe glitten vorbei, milchige, diffuse Lichtkugeln, pfeilschnell vorbeihuschend, unlesbare Ortsnamen, abgestellt Gepäckwagen, ein Kopf mit einer Mütze in einem Bahnwärterhäuschen, ein herrenloser Hund, ein Rucksack an einem Pfeiler, darüber ein blonder Haarschopf. ...“ „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier Atmo Zugrattern OT 2 Atmo Zug fährt ein am HBF 1.12 Auf Gleis ? ist eingefahren der Nachtzug zur Weiterfahrt nach Paris Nord und Zürich Hauptbahnhof. Fahrplanmäßige Abfahrt 21.39 Uhr. Bitte beachten Sie den Hinweis in den Abschnitten A bis B verkehrt dieser Zug nach Paris, in den Abschnitten C bis E nach Zürich. Autorin Berlin, Hauptbahnhof. Menschen steigen in den Zug ein, der Bahnsteig leert sich, der Zug fährt ab. Reisende suchen ihr Abteil, wuchten ihr Gepäck auf die Ablagen, richten sich ein. Bordsteward Stefan ist einem Ehepaar behilflich. OT 3 Martin steigt ein 0.25 Wir nehmen die Koffer mit – attends chéri, il faut mettre ca – ich richte Ihnen erstmal ihr Bett, dann haben Sie mehr Platz. Sie müssen… einmal, zweimal. So. Autorin Das Ehepaar mit Hund reist lieber im komfortablen Schlafwagenabteil des Nachtzugs als mit dem Flugzeug nach Paris. 3 b Durchsage 0.30 „Herzlich willkommen an Bord von Zug 479. Die Damen und Herren in den Liege- und Schlafwagen werden gebeten, sich an den Plätzen zu gedulden bis der für ihren Wagen zuständige Stewart die Fahrscheine und Reisedokumente abgeholt hat. Nun hoffen wir, dass Sie eine angenehme Reise an Bord unseres Zuges verbringen werden und wünschen eine angenehme Fahrt und gute Nacht. Atmo Zugrattern OT 4 Martin mag Züge 0.23 Ich mag den Zug. Überall in der Welt, wenn ich die Möglichkeit habe, mit dem Zug zu fahren, mache ich das gerne. Dieser Nachtzug ist mir besonders angenehm und bequem. Wenn man nicht schlafen will, kann man lesen, arbeiten, plaudern, ist alles sehr angenehm, finde ich. Autorin Im Nachbarabteil hat sich ebenfalls ein Franzose eingerichtet. Er hat ein verlängertes Wochenende in Berlin verbracht und fährt jetzt zurück nach Paris. Sprecher für voice over OT 5 Pierre Liegewagen synchronisieren 0.34 „Als ich jünger war und wenig Geld hatte, nahm ich den einfachen Liegewagen. Aber ich genieße doch die Unterschiede. Hier im Schlafwagen kann man sich in Ruhe umziehen und ist ungestört. Hinzu kommt auch die Sicherheit. Manche haben nachts Angst. Hier haben wir einen Magnetchip, mit dem wir unser Abteil verschließen können. Und wenn wir in den Speisewagen gehen wollen, schließen wir einfach ab.“ Evt. Blende Musik unterlegen Oscar Peterson Night Train Autorin Der Zug fährt durch die Nacht in Richtung Hannover. Die Landschaft ist flach, Bäume ragen wie gespenstische Arme in die Nacht und werfen ihre Schatten. Ab und zu die Lichter einer Stadt, schemenhafte Häuser, dann kleine Bahnhöfe mit meist leeren Bahnsteigen. Bordsteward Stefan hat die Fahrkarten eingesammelt, nach den Frühstückswünschen gefragt und sitzt nun in seinem Abteil. OT 6 Stef. Schläft nicht 0.15 „Nein, schlafen nicht. Ich bin ja hier schließlich auf der Arbeit und nicht zum Schlafen. Wenn ein Gast noch einen Wunsch hat, bringe ich ihm das. Der Gast kann mich über einen Knopf rufen, wenn er noch einen Getränkewunsch hat oder wenn er noch ne Kleinigkeit essen möchte.“ Autorin Das kommt aber selten vor. Die meisten Reisenden schlafen nachts, und Bordsteward Stefan ist erst zum Frühstück wieder gefragt. Jetzt hat er Zeit, sich um den Papierkram zu kümmern. Atmo Zugrattern Autorin Seine Kollegin Susanne schaut vorbei. Eigentlich arbeitet sie auch als Bordstewardess im Nachtzug. Aber nun hat sie Urlaub und fährt nach Frankreich. Früher war sie Kellnerin, dann Buchhalterin – bis sie die Arbeit im Nachtzug fand. OT 7 Sus. Vorteile 0.17 Nachts durch die Gegend juckeln und Europa touren, das macht schon mehr Spaß, das hat was. Man lernt viele Leute kennen, kommt rum, lernt viel, sieht viel. Ich habe meine Sprachkenntnisse unheimlich aufgebessert im Lauf der Jahre, das macht sich schon bemerkbar. Autorin Sie beginnt zu erzählen: von blinden Passagieren, die sich im Gepäcknetz versteckt haben, von Schulklassen, die in Socken ohne Koffer auf dem Bahnsteig standen, von meckernden Gästen und sonderbaren Reisenden. OT 8 Sus blind Pass. 0.36 Ja, dann hatte ich mal ne Frau, die habe ich ne halbe Stunde vor Paris geweckt und die war völlig neben sich, die wusste überhaupt nicht, was Phase ist. Aber die gehörte da nicht hin, wo ich sie geweckt habe. Dann wollte ich ihr Ticket sehen, Ticket hatte sie nicht. Dann sagte sie zu mir: naja, ist ja nicht so schlimm, wir sind ja sowieso gleich in Stuttgart. Ich sage: wie bitte, wo sind wir? Na wir sind doch gleich in Stuttgart. Ich sage: Meine Dame, wir sind in 20 Minuten in Paris. Paris, ach Paris, mein Herz hat mich nach Paris getragen. Da musste ich mich rumdrehen und gehen, es ging nicht mehr. (lacht) Autorin Seit es die Billigflieger gibt, ist die Zahl der Menschen, die im Nachtzug fahren, zurückgegangen. Aber das Reisen mit dem Zug ist etwas Besonderes geblieben. Die Menschen dort sind eine bunt zusammengewürfelte Reisegesellschaft, bei der man spannende Begegnungen haben kann. Manchmal kommt man sich dabei näher als einem lieb ist, wie diese junge Frau erzählt. Sie hatte mal einen Liegewagenplatz in einem Sechserabteil reserviert. Atmo Zug unterlegen OT 9 Reisende Anmache 1.09 Das Abteil, das ich gebucht hatte, war übergebucht, und in dem Abteil befand sich eine fünfköpfige Familie und ein seriöser Geschäftsmann und ich. Der Schaffner war sehr nett und hat uns angeboten, das er ein Abteil für uns öffnet, damit die Familie ungestört in ihrem Abteil sein kann, und ich hatte mich länger mit dem Geschäftsmann unterhalten, der machte einen sehr seriösen Eindruck und deshalb hatte ich keinerlei Bedenken, das Angebot von dem Schaffner zu akzeptieren. Und wir haben uns jeder in sein Bett gebettet und uns weiter nett und seriös unterhalten. Und auf einmal fing er an, von sexuellen Träumen und Wünschen zu erzählen und schweifte sehr aus. Er hat mir dann ein konkretes Angebot gemacht, ob ich schon mal Sex im Zug hatte und das nicht mal ausprobieren wollte. Ich konnte das diplomatisch und geschickt abwenden, so dass nichts passiert ist. Atmo Zug hoch Autorin Unaufhaltsam rattert der Zug durch die Nacht in Richtung Paris. Die Reisenden schlafen oder dösen, und Steward Stefan hat noch Zeit, bis er das Frühstück zubereitet. Die meisten werden halbwegs ausgeruht in Paris ankommen und gleich ihren Tag beginnen. Sie sind dann im Schlaf an ihr Ziel gekommen. Musik: Elvis Presley Mystery train Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Sprecherin? (auch schon von einer Teilnehmerin gelesen) evt. Mondscheinsonate unterlegen? Manche Nacht 0.33 Wenn die Felder sich verdunkeln, fühl' ich, wird mein Auge heller, schon versucht ein Stern zu funkeln und die Grillen klingen schneller, jeder Laut wird bilderreicher, das Gewohnte sonderbarer, hinterm Wald der Himmel bleicher, jeder Wipfel hebt sich klarer, und du merkst es nicht im Schreiten, wie das Licht verhundertfältigt sich entringt den Dunkelheiten, plötzlich stehst du überwältigt. Richard Dehmel Atmo Dunkelheit OT 21 Jord. Gäste 0.18 „Vor allem aus Berlin, auch aus Osnabrück ganz viele, aus Rostock waren welche da, aus Holland hatten wir Gäste. Naja, die meisten kommen jetzt hierher, weil sie photographieren möchten, die haben bestimmte Ziele, irgendwelche Galaxien oder Sternenhaufen.“ Autorin Denn in Gülpe ist es so dunkel, dass in klaren Nächten die Milchstraße in ihrer ganzen Pracht funkelt – so deutlich, wie nur an wenigen Orten dieser Welt. Es ist Deutschlands dunkelster Ort. Gülpe liegt mitten im Naturpark Westhavelland, und mitten in dem 150-Seelendorf liegt die „Kreativoase“. Jordis Hammer und ihr Mann Ingolf haben die alte Schmiede vor vier Jahren gekauft und dort ein Malatelier und fünf Gästezimmer eingerichtet. OT 19 Ham weniger Licht am Haus 0.04 „Hier draußen sehen Sie schon, dass wir unsere Beleuchtung schon geändert haben. Autorin Ingolf Hammer möchte nicht, dass die Nacht vor lauter Licht nicht mehr wahrgenommen wird. OT 20 Ham weniger Licht am Haus ff 0.24 Es soll ja so sein, dass der Gast unversehrt zu seinem Zimmer kommt, haben aber die Beleuchtung auf ein oranges Licht geändert mit einer Wattzahl von 15 Watt pro Außenlampe, wo normalerweise ne 60er Standard ist und wenn Sie aber bei uns übers Grundstück laufen, gehen überall nur 15 Watt im orangen Ton an. Sie werden feststellen, es reicht, Sie stolpern nicht, Sie laufen nirgendwo gegen.“ Autorin Dass die Hammers so auf eine dezente Beleuchtung achten, freut Kordula Isermann. Sie ist die Leiterin des Naturparks Westhavelland. Und kümmert sich nicht nur um gefährdete Kröten oder nistende Vögel, sondern - seit der Naturpark zum ersten Sternenpark Deutschlands wurde - auch um den Himmel. Damit er in seiner ganzen Pracht zu sehen ist, sollten alle bewusster mit Licht umgehen. O-T 23 Iser Leuchten 0.23 „Es gibt tatsächlich Straßenbeleuchtung, die aber schon relativ gut abgeschirmt ist und nicht blendet. Das heißt, man hat eine gewisse Beleuchtung für die Sicherheit, aber sie ist so vernünftig, dass nicht viel abstrahlt. Zukünftig müssen wir aber noch bessere Leuchten installieren, wenn die Umrüstung von den alten Leuchten ansteht.“ Autorin Die Kommunen sind zwar guten Willens, haben aber kein Geld übrig, um die Straßenbeleuchtungen zu ändern – oder wollen eben gerne ihre Kirche und andere Sehenswürdigkeiten „ins rechte Licht rücken“. Und: weniger Licht, das ist doch unheimlich, finden einige Bewohner. Denn die Dunkelheit hat keinen guten Ruf O-T 24 Iser Ängste 0.32 „Es gibt sehr viel Positives, was mit Licht verbunden ist, und was mit Dunkelheit assoziiert wird, ist negativ. Wenn Sie die unterschiedliche Beleuchtung genau betrachten, dann werden Sie diese Angst nicht mehr haben. Denn die gut abgeschirmte Beleuchtung, die weiterhin hier völlig in Ordnung ist und die wir nicht irgendwie regeln, die gibt hinreichend Licht, um nicht zu stolpern. Die Ängste sind da, dass durch eine veränderte Beleuchtung eine größere Dunkelheit herrschen wird, da, wo man gerne sehen möchte. Diese Ängste kann ich aber nehmen.“ Atmo Nacht Autorin Begonnen hatte alles vor vier Jahren mit Andreas Hänel, hier zu hören in einer früheren Reportage. OT 22 Hänel aus Reportage von Gerhard Richter 0.14 „So jetzt machen wir mal eine Messung der Himmelshelligkeit und es zeigt mir jetzt einen Wert an: Größenklassen pro Quadratbogensekunde, das ist die astronomische Flächenhelligkeit des Himmels, und das wird mit diesem Gerät gemessen.“ Atmo Nacht Autorin Damals packte der Leiter der Osnabrücker Sternwarte, ein kleines Gerät im Naturpark Westhavelland aus. Er traute seinen Augen nicht, als es den für Laien kryptischen Wert anzeigte: 21,78 Größenklassen pro Quadratbogensekunde. Null ist dabei der hellste Wert, 21,8 steht für absolute Dunkelheit – und davon ist der Gülper Himmel also nur minimal entfernt. Das hier ist der perfekte Himmel, sagte der Astronom – und empfahl dem Naturpark Westhavelland, sich als erster Sternenpark Deutschlands zu bewerben. Den Titel verleiht die „International Dark Sky Association“, eine Nichtregierungsorganisation aus den USA, die sich dem Schutz der Nacht verschrieben hat. Nach eingehenden Prüfungen befand sie den Naturpark für dunkel genug. Seitdem ist Gülpe in den Schlagzeilen. Hobbyastronomen stellen hier ihre Teleskope auf und blicken in den Brandenburgischen Nachthimmel. Auch Gudrun Birkholz ist wegen des Himmels über Gülpe aus Berlin angereist. OT 23 Gud. Milchstraße 0.23 „Zum Neumond ist es am dunkelsten vom Nachthimmel und dann sieht man die Milchstraße. Das war mein großer Traum, mal die Milchstraße zu sehen. Ich wohne zwar im Süden von Berlin, wo es noch etwas Sterne zu sehen gibt, aber so wie hier war es dann doch nicht und war gestern total beglückt, als ich die Milchstraße und den Orion gesehen habe, und, und, und – es war einfach traumhaft.“ Atmo Morgenstimmung geht über in Atmo Alexanderplatz: Stimmen, Straßensänger Autor: Berlin Alexanderplatz: bevölkert und beleuchtet – ob um zehn Uhr morgens, oder wie jetzt, um zweiundzwanzig Uhr. An der Weltzeituhr wartet der Ökologe Franz Hölker. Wir setzen uns an den Fuß des Fernsehturms – und sehen in den Himmel: O-T 24 Hölker: „Also, wir sehen natürlich ne typische Stadtkulisse, das ist der Alexanderplatz, einer der hellsten Plätze in Berlin. Und wenn wir jetzt mal nach oben schauen, sehen wir also kaum Sterne… also, jetzt, zu dieser Jahreszeit bei einem fast klaren Himmel müssten wir eigentlich den Orion sehen könne, mir fällt das jetzt schwer, zu erkennen, wo der überhaupt sein könnte… insofern haben wir also eine sehr, sehr durch menschgemachte Einflussnahme überformte Gegend hier.“ (0’28) Autor Franz Hölker erforscht Ökosysteme – und fand heraus, dass Flora und Fauna auf dem Land einen anderen Lebensrhythmus haben als die in der Nähe von Städten. Und er vermutet, dass das etwas mit dem Licht zu tun haben könnte. Eine großflächige Beleuchtung der Städte gibt es erst seit etwa 130 Jahren. Weil es seitdem überall immer heller wurde, spricht man inzwischen schon von „Lichtverschmutzung“. O-T 26 Hölker: „[Also] die ersten, die eigentlich darauf aufmerksam gemacht haben, waren die Astronomen, weil die als erste keine professionelle Sternbeobachtung mehr durchführen konnten, zum Beispiel in Berlin verließen die Astronomen um 1913 Berlin und gingen dann nach Potsdam, um dort wieder anständige Sternbeobachtung durchzuführen. Das geht mittlerweile auch dort nicht mehr, die weichen jetzt aus auf die Kanaren oder gleich ins Weltall… viele Hobby-Astronomen oder Sternenfreunde, die müssen natürlich sehr viel weiter fahren, um solche Beobachtungen noch machen zu können.“ (0’32) Autor: Seit 2009 ist Franz Hölker Projektleiter der interdisziplinären Forschungsgruppe „Verlust der Nacht“. [Astronomen, Schlafforscher, Ökologen und Sozialwissenschaftler arbeiten dort zusammen.] Dass „Verlust der Nacht“ kein übertriebener Titel ist, wird hier auf dem Alexanderplatz deutlich. Menschen schlendern an der Weltzeituhr vorbei als wäre es Tag, sitzen in Cafés und auf Stufen, trinken, rauchen plaudern. Und trotz klarer Nacht sehen wir nur einen einzigen Stern am Himmel. Atmo Alex O-T 27 Hölker: „40 Prozent der unter 30jährigen haben noch nie in ihrem Leben die Milchstraße gesehen, das ist natürlich ein kultureller Verlust, und wenn man das mal erlebt hat – stadtfern, in einer ländlichen Umgebung, vielleicht in einer Wüste oder ganz weit weg, dann sind viele Leute wirklich überrascht, wenn sie die Milchstraße zum ersten Mal sehen. Und wenn man sich dann vorstellt: Das sind alles Sonnen, da kreisen Planeten drum herum, da gibt es vielleicht Leben, wer weiß? Aber man erfährt sich sozusagen als kleines Licht im Universum, diese Verortung, das ist, meine ich, ein kultureller Verlust, den man [sozusagen] in diesen städtischen Bereichen erfährt. Und wenn das schon 40% der unter 30jährigen nie erfahren haben, dann ist das natürlich wirklich ein gesellschaftlicher Verlust, denn – das, was man noch nie gesehen und erfahren hat, das vermisst man auch nicht.“ (0’42) Atmo gehen auf Feldweg zwei Personen (Archiv) OT 28 Miethke 0.03 „Es ist dunkel, es ist wirklich dunkel.“ Autorin In der Dunkelheit lebt Martin Miethke auf. Der Natur- und Landschaftsführer erklärt nicht nur tagsüber Flora und Fauna im Naturpark Westhavelland, sondern besonders gern nachts den Sternenhimmel über Gülpe. Es ist 23 Uhr – das ist, so Martin Miethke, die astronomische Dämmerung. Die Dämmerungsstufen bemessen sich nach der Gradzahl, die die Sonne unter dem Horizont steht. Bis sechs Grad heißt sie bürgerliche Dämmerung – da kann man noch lesen. Bei zwölf Grad folgt die nautische oder mittlere Dämmerung, bei der die ersten Sternenbilder sichtbar werden. Und: OT 29 Miethke, astronomisch 0.15 „Dann gibt es noch die astronomische Dämmerung, das ist dann die Phase, wo es vollständig dunkel ist. Das sind dann 18 Grad, dass die Sonne vollständig unter Horizont ist, da ist es vollständig dunkel und der letzte Rest, der dann noch an Sonnenlicht über die Atmosphäre reingestrahlt wird, ist dann weg.“ Autorin Aber richtig tiefdunkel ist es hier nicht, an einem Seitenarm der unteren Havel. Im Osten ein heller Schein – das ist das achtzig Kilometer entfernte Berlin. Und rundherum sind in allen Himmelsrichtungen immer wieder ein paar Lichter in der Ferne zu sehen. Atmo Draußen Evt. Atmo Gänse Autorin Martin Miethke hat einen Laserpointer ausgepackt und leuchtet hinauf ins Firmament zum Orion und dem Großen Wagen. Inzwischen ist auch die Milchstraße klar zu sehen. O-T 20 Miethke Milchstraße 0.23 „Was wir als Milchstraße sehen, sind ja Abermillionen von Sternen, und das ist ein kleiner Teil der Galaxie, des Spiralnebels, zu dem unser Sonnensystem gehört. Wir sind ja mittendrin in dieser Galaxie und gucken halt auf einen von diesen Spiralarmen von innen heraus und der ist nicht überall gleich. Und jetzt im März ist die Milchstraße nicht so hell wie zum Beispiel im Herbst.“ Evt. Atmo Gänse Autorin Vor uns die Havel, in der sich ein paar Sterne spiegeln, Schilfgräser ragen in den Nachthimmel. Der Feldweg, auf dem wir stehen, ist von Bäumen gesäumt - in der Dunkelheit wirken sie bedrohlich groß. Hinter uns das Wehr der Havel und ganz weit hinten schimmern Lichter eines Dorfes. Angesichts der funkelnden Sterne über uns herrscht bald Schweigen. Der Anblick dieses Nachthimmels relativiert vieles – den Menschen, den Alltag, das Wehr der Havel und auch die vorbeifliegenden schnatternden Enten. O-T 31 Miethke Gänse 0.18 Quak, quak, das waren Stockenten, die fliegen jetzt gerade hier vorbei…. Und das sind jetzt wieder Blässgänse. Es ist ein ganzer Trupp, der jetzt hier vorbeifliegt. Und natürlich nichts zu sehen, es ist zu dunkel.“ Autorin Die Nacht hüllt uns ein, in der Nacht geht jeder in seine eigene Welt, in seine eigene Dunkelheit. Die Nacht schärft auch die Sinne. Jetzt übernehmen die Ohren die Führung. Was war das für ein Knacken? Da raschelt doch etwas am Ufer? Und klingt der Flügelschlag der Blässgänse nicht viel lauter als am Tag, wenn die Tiere auch zu sehen sind? Um ausgeglichen zu sein, braucht der Mensch beides, Tag und Nacht. Etwas mehr dunkle Nacht wäre schön. Auch für die Tiere. Atmo Käuzchen geht über in Atmo Alexanderplatz Autor: Für Franz Hölker ist der Wunsch nach etwas mehr Nacht bereits zu einer dringlichen Notwendigkeit geworden – die sich vor der Kulisse des hell erleuchteten Alexanderplatzes auch dem Nicht-Wissenschaftler ganz unmittelbar erschließt. O-T 25 Hölker: „Wir sind dabei, die Nacht zu verlieren. Es ist so, dass der Anstieg an künstlicher Beleuchtung so um 3 bis 6 Prozent pro Jahr weltweit zunimmt. Es gibt noch nicht sehr viele Schätzungen, das sind sehr grobe Schätzungen. darüber hinaus dann zu den Erhöhungen der Lichtwerte sehen wir auch ein anderes Phänomen, dass nämlich die beleuchteten Nachtlandschaften sich eben weiter und weiter ausbreiten. Wir folgen auch immer mehr und mehr einer 24-Stunden-Gesellschaft, wo es eben erforderlich ist, Tag und Nacht aktiv zu sein – und das heißt bei uns visuellen Tieren, bei uns visuellen oder tagaktiven Primaten, die vor allem eben auf die Augen angewiesen sind, dass wir das dann auch eben sehr gerne ausleuchten, wo wir aktiv sind.“ (0’59) Autor: Die Übergänge zwischen Tag und Nacht verschwimmen zusehends. Es ist immer hell. Man postet die Ereignisse des Tages auf Facebook oder gibt per WhatsApp bekannt, wann man schlafen geht. Der Mensch, der früher nachts „nur“ schlief, ist heute immer erreichbar. Ständig Licht, ständig offene Kommunikationskanäle: „irgendwie“ ist immer Tag. Die dunkle Nacht – ist sie für den Menschen des 21. Jahrhunderts ein wildes Tier, das er mit Hilfe des Lichts zähmen muss? O-T 26 Hölker: „Ich denke… „zähmen“ ist vielleicht der falsche Begriff, es ist so, dass er [der Mensch] von sich aus die Motivation hat, alles auszuleuchten, damit er sich besser orientieren kann. Das Auge ist das stärkste Sinnesorgan, und wir sind tagaktive Primaten, insofern steckt tief in uns drin dieser Wunsch, auch die Nacht zum Tage zu machen.“ (0’22) Musik Big Star - Nighttime Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Atmo Telefonklingeln O-T 37 am Telefon 0.21 „Einen schönen guten Abend. The Madison, Abdullah Yilmaz. - Ja der Herr vermisst irgendwie schwarze Unterwäsche. Zimmer 312. – Ja, okay. Gut, dann werde ich das morgen früh mal weiterleiten.“ Atmo Hotel unterlegen Autorin Abdullah Yilmaz hat vor einer Stunde, um 23 Uhr, seinen Dienst begonnen – im Madison, einem schicken vier Sterne-Hotel in der Nähe der Hamburger Landungsbrücken. Der zierliche Mann ist 32 Jahre alt und seit drei Jahren Nachtportier bei der Hamburger Zeitarbeitsfirma Bellcaptain. Abdullah Yilmaz ist Quereinsteiger in der Hotellerie. O-T 28 Abu Lebenslauf 0.38 „Ich bin ein Entdecker, ich bin ein Sucher, ich möchte immer wieder neue Herausforderungen haben. Das war auch der Grund, warum ich sehr sprunghaft war. Ich hab damals bei McDonalds gejobbt, hab ne Ausbildung bei Mediamarkt gemacht, bin dann rübergegangen zur DHL, dann war ich sechs Jahre in der Gastronomie selbständig, und jetzt bin ich in der Hotellerie, und es ist einfach – man kann es nicht erklären – es ist sehr, sehr schön.“ Atmo Telefonklingeln O-T 39 Anruf englisch Autorin Aus dem Restaurant kommen die Kellnerinnen mit den Abrechnungen. Abdullah Yilmaz muss sie überprüfen und anschließend die Kasse wieder auf null stellen. Um ein Uhr schließt dann die Bar. Aber in der Empfangshalle kehrt keine Ruhe ein. Eine Frau zahlt jetzt bereits ihr Zimmer, weil sie ganz früh abreisen muss, zwei andere sind gerade aus dem Aufzug gekommen und möchten sich amüsieren. O-T 30 Abu Disco engl. 0.59 Autorin Das Madison ist ein 160-Betten-Hotel in Privatbesitz. Abdullah Yilmaz war hier in seiner Anfangszeit fast neun Monate im Einsatz und kennt sich bestens aus. Inzwischen betreut er mehrere Hotels von der Jugendherberge bis zum fünf Sterne-Hotel – ausschließlich nachts. Sein Dienst beginnt immer um 23 Uhr, und vor 10 Uhr am nächsten Tag kommt er nicht zum Schlafen. Abdullah Yilmaz ist eine Nachteule. O-T 31 Abu Chef 0.17 „Ich schlafe am Tag, damit ich nachts ein Held sein kann. Ja, man ist Herr über die Nacht, man ist Herr übers Hotel. Obwohl ich ein Mitarbeiter einer Fremdfirma bin, haben die ganzen Mitarbeiter, die hier sind, auf mich zu hören, weil man gleichzeitig auch den Direktor spielen darf.“ Musikakzent zum Unterlegen Michael Wollny Nacht Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Autorin Arbeiten, wenn andere schlafen, kann nicht jeder. Das hat Tim Albermann, Gründer des Hamburger Unternehmens „Bellcaptain“, erfahren müssen, als er Nachtportiers in Kursen auf ihre Arbeit vorbereitet hat. Tim nicht jeder kann‘s 0.26 „Ich weiß, es kann nicht jeder, und das haben wir schon gehabt, Leute, die Feuer und Flamme waren, dann nach einer Woche gemerkt haben, dass sie es nicht können. Aber es gibt wirklich Menschen, die in der Nacht viel, viel besser funktionieren und die von acht Uhr morgens bis 13 Uhr mittags nicht ansprechbar sind, und genauso gibt’s solche, die nur in der Nacht funktionieren. Da sind wir alle vielfältig. Wir haben die gefunden, und die haben uns gefunden, die für die Nacht gemacht sind.“ Autorin Abdullah Yilmaz hat sich auf den Rhythmus eingestellt – die Nachtarbeit bereitet ihm bisher keine Probleme. Im Gegenteil – für ihn hat sie viele Vorteile. Abu Vorteile 0.28 „Man hat nachts auch seine Ruhe. Morgens, wenn man Feierabend hat, ist man der erste, der bei den Behörden als erstes drankommt. Man hat auch keine Rushhour, wenn man Feierabend hat, Feiermorgen. Nachteile hat es im Sommer, wenn es warm sein sollte, wo alle um 20, 21 Uhr dann im Biergarten sitzen und etwas trinken, und man sagt: Möchtest du gern mitkommen. Dann sagt man ok, ich komme mit, trinke aber leider keinen Alkohol, weil man dann um 23 Uhr wieder den Dienst antreten darf.“ Autorin Der Beruf des Nachtportiers oder Nightauditors, wie es neudeutsch heißt, ist anstrengend. Hinterm Empfangstresen ein Buch zu lesen oder einen Film zu sehen – das gibt es nur noch selten. Die Aufgaben sind vielfältig: Telefon, Gäste an der Rezeption, Abrechnungen, Zimmerservice, Besprechungen. Die Verantwortung ist groß. Es ist schon vorgekommen, dass wegen eines Feueralarms der Nachtportier das ganze Hotel evakuieren musste. Manche werden von betrunkenen Gästen bedroht, müssen Streit schlichten und für alle unvorhergesehenen Fälle gewappnet sein. O-T 32 Abu Brand 0.39 „Ich habe mitbekommen, dass ein Gast in trunkenem Zustand versucht hat, sich was zu essen zu machen und dabei eingeschlafen ist. In manchen Hotels ist es ja so, dass da auch immer gleichzeitig ne Küchenzeile ist. Der Herd war auf Maximum gestellt, das Fleisch hat dann angefangen zu brennen. Wäre der Kollege nur eine Minute später gekommen, wäre der Gast nicht mehr am Leben.“ Autorin Auch mit Gästen, die zu tief ins Glas geschaut haben, muss sich Abdullah Yilmaz immer wieder auseinandersetzen. O-T 33 Abu Nackt 0.34 „Es gibt sehr viele Gäste, die sich ausgesperrt haben, splitterfasernackt dann davorstehen. An der Rezeption hatte ich auch leider das Vergnügen. Wir dürfen ja laut der Hotellerie, weil das eine gewisse Ordnung ist, dürfen wir keine Zimmernummern durchgeben, solange wir keinen Personalausweis haben. Wie sagt man so schön: einem nackten Mann kann man ja nicht in die Tasche greifen, da muss man leider Gottes mitgehen. Es ist unangenehm, aber auch sehr witzig.“ [Atmo Telefon mit Hotelatmo Autorin Ein Gast ruft an: die Minibar ist leer. Die Hotelbar, die sonst den Nachschub liefert, hat längst geschlossen. O-T 34 Abu Aufzug „Wir fahren jetzt ins Getränkelager, holen ne Weißweinflasche für den Gast, der gerne noch eine Flasche haben möchte.“ Atmo schließt Lager auf Autorin Weiter geht es zum Zimmer, einem geräumigen Appartement mit einer Küchenzeile – denn manche Gäste wohnen wochenlang im Hotel. Vorab Klingel (Archiv) O-T 35 Abu Zimmerservice 0.30 Atmo Klingeln, dann Szene auf Englisch] Autorin Bisher hat es für den Nachtportier noch keine ruhige Minute gegeben. Jetzt, gegen drei Uhr morgens, ist endlich Zeit für eine Zigarette Atmo Zigarette (Archiv) Atmo Hafen unterlegen Autorin Abdullah Yilmaz hat sich auf eine Bank vor dem Madison Hotel gesetzt und blickt in die Nacht. Geräusche vom Hamburger Hafen dringen leise herauf. Bis er die Croissants für die ersten Frühstücksgäste bereitstellen muss, hat er noch etwas Zeit. Atmo Hafen unterlegen Abu Gedicht 0.33 „Nächtliches Bild aus einem abgelegenen Hafenwinkel Es war eine kühle und ziemlich helle Nacht. Seinem Hemd, über dem Bauch, war ein Knopf abgekracht. Da klaffte es etwas auf, paar Haare kamen draus vor. Ein Stück getrocknetes Ohrschmalz fiel ihm aus dem Ohr. … Es war so eine Nacht für Bilanzen und Reminiszenzen. Einer begann mit seinem letzten Capri-Urlaub rumzustenzen. Ich hatte das Gefühl, wieder mal mehr und genauer zu sehn Als sonst. Ich blieb und sah uns an der Kaimauer stehn.“ Peter Salomon Musik Suzanne Vega Night Vision Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Atmo: Ansage S-Bahn / Einfahrt S-Bahn Autor: Donnerstagnacht, 23 Uhr 20: Es ist die letzte S-Bahn, die in den Berliner Bezirk Pankow fährt. Nur vier Menschen stehen auf dem Bahnsteig, die Bahn ist fast leer. Unwillkürlich taucht die Frage auf: Was machen die hier so spät noch? Schichtarbeiter oder – hedonistische Nachtschwärmer? Atmo: Einfahrt S-Bahn / [Frage an Passanten: Wo ist die Hadlichstraße?] Autor: Ich bin unterwegs zur Polizeiwache Pankow, Abschnitt 13, um dort die Nachtschicht einer Zivilstreife zu begleiten. O-T 37 Jens: „Also, ich sach mal, wir machen zu 90% nur Nachtdienste aufgrund der… weil die Delikte meistens in der Nacht stattfinden. Ja, und… schauen und gucken, dass wir verdächtige Personen feststellen, Fahrzeuge, an denen wir dann dran bleiben und dann versuchen [wir dann] live zu beobachten und nachher beweissicher festzunehmen. Größtenteils sind das hier bei uns, in unserem Bereich Polen, Litauer, Weißrussen, Ukrainer, die wir halt haben, Tätergruppierungen, die sich halt größtenteils nur um Kfz-Delikte kümmern (sic!). jaa, das ist so das bei uns hier, was wir so tagtäglich machen.“ Autor: Jens ist 37, Polizeioberkommissar und Teamleiter, Steffi, 39, ist Polizeikommissarin. Seit zehn Jahren fahren sie im PKW Streife, legen jede Nacht um die 220 km in ihrem 40 Quadratkilometer großen Abschnitt zurück. Muss man für so einen Job eigentlich eine Nachteule sein? Steffi (MONO): „Definitiv ja. (lacht) Man muss ’n Nachtmensch sein. Auf alle Fälle. Also: ick hab’ so meine Schwierigkeiten mit dem Tagesdienst, mit dem Frühaufstehen. Morgens um sechs Uhr Dienstbeginn? Nee, is nich so mein Ding, ich bin dann lieber nachts unterwegs… und schlaf am Tage manchmal… (0’18) Musikakzent: The Clash - Police and Thieves Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Sprecherin: Die Nacht Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen. Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen. An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen, Und sanfte Autodroschken fallen zu den Sternen. Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder, Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen. Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen ... Wehleidge Kater schreien schmerzhaft helle Lieder. Alfred Lichtenstein Nochmal Musikakzent + Atmo Straße nachts Autor: Wir beobachten das eine oder andere Auto mit polnischem Kennzeichen, den einen oder andern Radfahrer oder Fußgänger. O-Ton: Steffi: [Uns is auch aufgefallen…] Nachts sieht das völlig anders aus hier… also, wenn wir wirklich mal am Tage da sind, dann sieht man mal, wie Pankow wirklich aussieht (lacht)… da fährt man öfter durch die Straßen und denkt: Oh, haste dit Haus schon mal jesehn? [Jens: Hier war ick noch nie…] Kenn ick ja nich, hier war ick ja noch NIE! (0’28) Autor: Tagsüber erscheint Pankow wie ein Dorf, das sich die Großstadt einverleibt hat: Straßen, auf der einen Seite vom Wald begrenzt, auf der anderen mit kleinen Reihenhäusern garniert. Dann wieder Straßenzüge mit den Berlin-typischen Mietskasernen. Dazwischen schicke Neubauten. Nachts sieht man nur wenig davon; es ist, als ob man durch einen Tunnel führe. Atmo Auto Autor: Es ist 2 Uhr 30. Ich werde langsam müde. Steffi und Jens kennen das… Steffi: Ja. Man hat schon nachts n toten Punkt… (isst einen Apfel) also, nicht in jeder Nacht, aber man merkt so, dass man so ab ca. 1 Uhr abbaut, dann sieht man springende Bäume (lacht, Polizeifunk im Hintergrund), dann sieht man plötzlich Dinge, die nich da sind… (Polizeifunk…, Schlosspark…) … und gerade als Beifahrer, als Fahrer hat man immer was zu tun, wenn man stundenlang stur aus der Scheibe guckt hier, ausm Fenster guckt (Polizeifunk, laut) dann is man irgendwann tot. (0’42) Autor: Aber dann kommt gegen halb vier morgens doch noch ein Funkspruch: die Kollegen haben zwei dubiose Gestalten ausgemacht. O-Ton: Jens: Slawi, Thorsten: Pasteur-Hans-Otto, Steffi kommt gleich über Funk, hier, Dingsbums… was is’n da? Schnell oder was? Steffi: Ja, die loofen zween hinterher Jens (gibt Gas): Pasteur-Hans-Otto, Pasteur-Hans-Otto, die geht von der Prenzlauer Allee ab, wa? Steffi: Slawi, Thorsten, also der 16er hat angerufen, die ham Pasteur- Ecke Hans-Otto-Straße zwei Personen, ein Kollege läuft hinterher, irgendwie hat der gesagt, da is in letzter Zeit viel weggekommen, die sehen irgendwie verdächtig aus und bitten um Hilfe. [sic] (0’30) Autor: Mit hoher Geschwindigkeit lenkt Jens den Kombi sicher von Pankow nach Prenzlauer Berg, den Nachbar-Kiez. Die Häuser werden höher, mehr Menschen sind auf den Straßen – hier ist Berlin Großstadt. Das Adrenalin ist da, plötzlich sind alle hellwach. O-Ton: Also, hier vorne auf der Parkbank sitzt einer, blaue Hose, schwarze Jacke. (Polizeifunk (unverständlich) Genau, der is det.) Jens: OK, dann lass ich Dich raus. Steffi: Na, denn lauf ick gegenüber mal runter und such’ mir’n Platz.“ (Atmo aussteigen) (0’20) Autor: Während Steffi den Verdächtigen zu Fuß observiert, parkt Jens das Auto auf dem Seitenstreifen. Zwischen den beiden Fahrstreifen fährt die Straßenbahn. Circa 200 Meter von uns entfernt – gegenüber einer Tankstelle – ist eine beleuchtete Haltestelle. Schräg gegenüber: der Volkspark Friedrichshain. Jetzt, in der Nacht, wirkt er wie ein dunkles Loch inmitten der betriebsamen Stadt. Jens (im stehenden Auto): Das kann jetzt irgendwas sein, das können jetzt einfach zwei Nachteulen sein, die da jetzt noch im Park sitzen und ein Bier trinken, oder aber – und hört es sich ja erstmal an – dass die da irgendwas vorhaben, die Jungs. Und was, das werden wir vielleicht nachher noch sehen.“ (0’17) Autor: Eine seltsame Situation: wir sind ganz wach und müssen uns trotzdem ganz ruhig verhalten. Jens beobachtet einen der beiden Verdächtigen mit einem Fernglas. O-Ton Jens (im stehenden Auto): „Jetzt is ja auch die Müdigkeit wieder weg (und so). Also, das ist dann ja halt so. Dieser…ne, das ist dann unser Kick. Das man dann sacht: Jetzt könnte halt was passieren, und jetzt is uffregend. Dafür macht man das dann ja auch…“ (0’14) [Polizeifunk: „Na, die trennen sich. Eener geht rechts hier runter, mit der Mütze, und der andere geht links runter.“ (0’07) Jens: „Ja, genau, der is hier hochgekommen und läuft Mittelstreifen jetzt höhe Tankstelle, Richtung SEZ.“ (0’06)] Atmo Auto: Autor: Dann geht alles ganz schnell: Der junge Mann steigt in eine ankommende Straßenbahn, die Polizisten laufen zu den Autos, wir verfolgen die Straßenbahn, überholen sie, stellen uns an die nächste Haltstelle. Die Bahn kommt an, zwei Polizisten informieren den Fahrer, die anderen gehen in die Bahn und holen den jungen Mann heraus. Bei der Feststellung der Personalien zeigt sich: Der 22jährige Litauer ist ein alter Bekannter. Diebesgut hat er allerdings nicht bei sich. Atmo: Auto Jens: Sonne Situation jetzt… is natürlich schon’n bisserl frustrierend. Dan hat man sonne Chance in der Nacht, den haste ein oder zwei Chancen – und das war jetzt … ne gute Chance. ….Schade. (0’17) Atmo Auto Autor: Wir fahren wieder durch das friedliche Pankow, und Steffi und Jens kommen ins Erzählen – über Begegnungen der besonderen Art: O-Ton: Steffi: Man trifft ne Menge Bekloppter in Berlin, auch. Nachts. Lustige Menschen. Die verwirrt sind. Jens: (leise) Wir hatten hier mal einen, der is immer die ganze Nacht durch die Gegend gelaufen, und hat immer hier die ganzen Dinger von den Ampeln abgekratzt. Steffi: Ach, der hat die Ampeln gesäubert, genau. Jens: Der hat die Ampeln gesäubert – und [wir] dachten immer: Was macht denn der? Wir ham erst gedacht, der klebt da selbst was drauf. [Die Spuckis und so was, ne? (…)] In ganz Pankow hat der dann mit nem Schaber die Ampeln befreit, von diesen „Ich suche“ „Ich verkaufe“ Ich vermisse meine Katze“, weiß der Geier, was da alles so dranklebt an diesen Dingern… Auf die Frage, warum er dass denn macht – er macht das aus Liebeskummer, weil er kann nicht pennen, er hat Liebeskummer, weil seine Freundin, Frau, wie auch immer ihn verlassen hat, da konnte er sich nachts nicht beschäftigen, deshalb läuft er hier die ganze Nacht und reinigt seinen Bezirk Pankow. (0’58) Autor: Als es dämmert, bringen Steffi und Jens mich zur S-Bahn. Im heraufziehenden Tageslicht sieht alles ganz anders aus: Die Menschen in der Bahn, die im Dunklen noch Einzelgänger mit verschiedensten Motiven waren, gehen jetzt in der Masse – und im Licht – unter. Für die einen geht der Tag zu Ende, für die anderen fängt er gerade an. Musikakzent: Mary Roos – morgens um fünf (ca. 1 Min) Interpret Titel Komponist LC-Nr. Label Kennmelodie Sprecher vom Dienst: „Wenn die Nacht den Takt vorgibt - Durch Deutschland im Dunkeln“ Sie hörten Eine Deutschlandrundfahrt von Susanne von Schenck und Ralf Bei der Kellen. Es sprachen: die Autoren Und Brigitte Abraham Ton: Andreas Krause Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014 Manuskript und das Audio der Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 1