COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur "Wie wir sterben" Reihe: Forschung und Gesellschaft Autor: Gerhard Richter Redaktion: Kim Kindermann O-Ton 1 Ruth Lütkepohl: Hier auf der Station ist es so, wenn Patienten verstorben sind, dann machen wir das schon so, dass wir eine Kerze anzünden und das Fenster aufmachen. Das sind so zwei Dinge, die haben sich so (ich sag mal so) eingespielt, wenn wir den Patienten auch versorgt haben, das machen wir auch, also wenn er verstorben ist, ihn nochmal schön frisch machen und je nachdem, ob die Angehörigen oder der Patient irgendwelche Wünsche geäußert hat, ihm auch was Schönes anzuziehen, ihn schön zu lagern und dann eben eine Kerze anzuzünden. Regie: Musik Sprecher: Die Haut des Toten ist fast unnatürlich weiß, elfenbeinfarben. Schon nach kurzer Zeit fühlt er sich kühl an. Das Blut hört auf zu zirkulieren. Es sammelt sich an den Auflagestellen am Rücken. Die spärlichen weißen Haare - sorgfältig gekämmt. Die Wangen sind eingefallen, die Augen geschlossen. Der Gesichtsausdruck ist noch angespannt. Erst in den nächsten Stunden wird er sich entspannen. Darm und Blase entleeren sich ein letztes Mal. Ein Mensch ist gestorben. Das passiert täglich, überall in Deutschland, sekündlich und doch es jedes Mal etwas Besonderes O-Ton 2 Ruth Lütkepohl: Und das wird auch genug Zeit gegeben, den Angehörigen Abschied zu nehmen und falls noch andere Leute von weiter her kommen, die können dann auch, solange wird dann noch gewartet. Der Patient kann dann solange hier bleiben, bis die alle gekommen sind und Abschied genommen haben. Sprecherin: Schwester Ruth Lütkepohl in ihrem blütenweißen Baumwollkittel bewegt sich ganz selbstverständlich zwischen den trauernden Angehörigen. Die meisten hat sie bereits kennengelernt, während der Patient auf ihrer Station lag, noch atmete, sprach und gepflegt wurde. Hier auf der Palliativstation im vierten Stock des Ernst-von Bergmann-Klinikums in Potsdam. Der Tod eines Patienten ist für alle, die hier arbeiten, etwas Natürliches. Ein Gefühl, das sich auch auf die Angehörigen überträgt. O-Ton 3 Ruth Lütkepohl: Da wird nicht immer nur geschwiegen, es wird auch manchmal gelacht, also das ist sehr unterschiedlich. Also wenn das so eine Begleitung über eine längere Zeit ist und der Tod ja auch absehbar war, dann kann das auch eine Erleichterung sein und eine Freude. Manchmal wird auch angestoßen, das ist wirklich ganz verschieden. Wir hatten auch schon, dass jemand sein Lieblingslied gespielt haben wollte, dann wird das eben angestellt, und dann wird hinterher das nochmal gehört und nochmal gehört. Aber manchmal ist es natürlich ganz, ganz traurig und mit vielen Tränen. Ja, das ist wirklich auch sehr, sehr individuell. Sprecher: Wer so stirbt hat Glück. Die meisten Menschen sterben auf den normalen Stationen, wenn nicht sogar auf der Intensivstation. Da bleibt oft keine Zeit für Rituale. Das sowieso schon unterbesetzte Personal muss mit der Versorgung der lebendenden Patienten weiter machen. Es gilt das Pensum abzuarbeiten. Termindruck. Ein Toter stört da nur. Dazu kommen die Unfähigkeit und der Unwille vieler Menschen, mit dem Tod umzugehen. Das gilt auch für Ärzte und Pfleger: Krankenhäuser sind schließlich dazu da, gesund zu machen, zu heilen, Schmerz zu lindern. Der Tod hat da keinen Platz. Mehr noch: Der Tod wird oft als ärztliches Scheitern begriffen, auch deshalb findet er im Verborgenen statt. Anders auf einer Palliativstation. Oberarzt Helmut Reichardt. O-Ton 4 Helmut Reichardt: Wir können auch mit unseren Diagnostik und Therapie und unserem Medizinapparat uns auch ein bisschen zurücknehmen, um einfach auch Raum lassen, und diese wertvolle Zeit, das wir die nicht okkupieren. Atmo Palliativstation Sprecherin: Die Palliativstation im Potsdamer Ernst-von Bergmann Klinikum ist klein, wirkt aber geräumig. Es gibt drei Doppelzimmer und zwei Einzelzimmer. Dazu ein geräumiges Bad mit Grünpflanzen und einen Wohnbereich mit einem weißen Sofa. Die Wände sind rot gestrichen, die Stühle ebenso rot gepolstert. An der Wand ein Fernseher, daneben im Regal eine kleine Bibliothek. Und - aus hellem Holz- ein Klavier. Hierher kommen Menschen mit unheilbaren Erkrankungen, Patienten mit einer begrenzten Lebenszeit und starken Schmerzen oder anderen quälenden Symptomen. Aber nicht jeder, der hierher verlegt wird, stirbt auch hier. Das bezeugen die bunten Gemälde an den Wänden, die von einem Patienten stammen, der wieder draußen lebt. Vielen Patienten, sagt Oberarzt Helmut Reichardt, kann hier tatsächlich noch effektiv geholfen werden. O-Ton 5 Helmut Reichardt: Manchmal sieht es so aus, als ob ein Moment in der Krankheit erreicht ist, wo es nur noch schlechter wird, und manchmal kann man mit einer guten Symptomkontrolle dann doch noch mal was machen, was dem Patienten wirklich hilft und was ihm auch nochmal eine gute zusätzliche Zeit verschafft. Also, da unterscheiden wir uns vom Hospiz. Palliativstation ist eigentlich eine Station, wo etwas sortiert wird, wo wir gucken, was ist noch möglich, was kann noch gemacht werden, welchen Bedarf hat der Patient, welche Ressourcen hat der Patient und die Gruppe, die ihn unterstützt und wo ist er nach der Palliativstation am besten aufgehoben. Also wir sehen uns nicht als Endstation, sondern als Durchgangsstation. Sprecher: Palliativstationen gibt es noch nicht sehr lange. Die erste wird 1983 in der Kölner Universitätsklinik eröffnet, gefördert und finanziert von der deutschen Krebshilfe. Mittlerweile - nach 30 Jahren - gibt es 230 solcher Stationen in Deutschland, die alle nach dem Selbstbild der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin arbeiten: Sprecherin: Die Palliativmedizin widmet sich unheilbar kranken Menschen mit fortgeschrittenem Leiden unabhängig von der Diagnose. Sie trägt dazu bei, dem Schwerkranken ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Sie unterstützt auch die Angehörigen der Schwerstkranken. Dies erfordert eine möglichst ganzheitliche, individuelle Behandlung, Pflege und Begleitung zur Linderung der körperlichen Beschwerden und Unterstützung auf psychischer, spiritueller und sozialer Ebene. Musikimpuls O-Ton 6 Dominik Groß Also wir sind eigentlich mit der These an unserer Forschung rangegangen, dass Sterben und Tod in der Bevölkerung tabuisiert werden. Und dass es von daher weitgehend ausgeblendet wird, und es relativ wenig Bekenntnis zum Sterben und Reflektion über das Sterben gibt. Das hat sich aber als unrichtig herausgestellt. Sprecherin: Professor Dominik Groß ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Aachen. Als einer der ersten beschäftigt er sich mit Thanatologie, der Erforschung des Todes und des Sterbens. Eine sehr junge wissenschaftliche Disziplin. O-Ton 7 Dominik Groß: Mich interessiert diese Forschungsrichtung, weil sie ganz viel über die Gesellschaft verrät. Also nach dem Motto, sage mir wie du stirbst und ich sage dir wer du bist, oder wie die Gesellschaft tickt, wie sie funktioniert. Das hat mich persönlich daran interessiert. Tatsächlich beschäftigen sich die Thanatologen mit der Individualisierung des Sterbens und des Todes, und ich denke dieser Trend wird sich auch weiter fortsetzen, da sind wir noch längst nicht am Ende angelangt. Sprecherin: Eine erste Erkenntnis der Thanatologie sagt, dass man sehr wohl unterscheiden muss, über welchen Tod und über welches Sterben man spricht. O-Ton 8 Dominik Groß: Sterben in der ersten und zweiten Person, das ist mein eigenes Sterben oder das meiner nahen Angehörigen oder emotional Verwandten, das wird teilweise ausgeblendet und tabuisiert. Aber das Sterben in der dritten Person, also das Sterben der anderen, wird sehr neugierig beäugt und auch sehr breit diskutiert und ist zugänglicher denn je. Sprecherin: Tatsächlich wird das Sterben von Prominenten in Zeitschriften und Zeitungen in allen Details breitgewalzt. Die Freitode von Gunter Sachs oder Torwart Robert Enke, das lange öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul dem II, oder die offenherzige Beschreibung seines Krebsleidens von Regisseur Christoph Schlingensief stoßen auf großes öffentliches Interesse. Mit dem eigenen Tod, stellt Dominik Groß fest, wollen sich aber nur wenige Menschen beschäftigen. O-Ton 9 Dominik Groß: Das hat sicher damit zu tun, dass die eigenen Endlichkeit eine schmerzhafte Erfahrung ist, oder etwas, was die Grenzen des Menschseins ganz deutlich werden lässt, also das ist sozusagen die Hürde, die ein Mensch nicht überspringen kann. Die eigene Sterblichkeit kann man nicht überwinden. Und da die Verlockung einer Wiederauferstehung am jüngsten Tag für viele Leute nicht mehr greift, weil sie eben nicht mehr gläubig sind, ist das etwas, was man sich nicht so gerne bewusst macht. Sprecherin: Deutlich wahrnehmbar ist aber auch eine Trendumkehr, sagt Dominik Groß. Sterben, auch das eigene Sterben kehrt zunehmend wieder zurück in die Wahrnehmung der Gesellschaft. Nicht zuletzt die Diskussion um die Patientenverfügung regt viele Menschen dazu an, das eigene Leben am Lebensende noch einmal zu spiegeln. O-Ton 10 Dominik Groß Das ist im Grunde die Tendenz, die wir greifen können. In der Hospizbewegung und in der Palliativmedizinischen Bewegung, das sind ganz bewusste Akzente, die diese beiden Bewegungen setzen, die darauf abzielen, dem letzten Stück Leben eine besondere Bedeutung einzuschreiben und sozusagen das Sterben ganz bewusst und intensiv erlebbar zu machen. Musik Sprecher: Fragt man die Menschen, wo sie sterben möchten, sagen etwa 66 Prozent, sie würden gern zuhause sterben, in vertrauter Umgebung. Elf Prozent möchten im Hospiz sterben, vier Prozent auf einer Palliativstation und nur drei Prozent im Krankenhaus. Die Realität sieht aber anders aus. Von den rund 850.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland sterben, erleben nur 30 Prozent ihr Ende zuhause innerhalb der eigenen vier Wände. 24 Prozent sterben in einem Pflegeheim. Die meisten Menschen, 43 Prozent, also rund 370.000, sterben aber im Krankenhaus. Und je jünger der Patient, sagt Palliativmediziner Ralf Jox, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er auf der Intensivstation stirbt. O-Ton 11 Ralf Jox: Es gibt natürlich bei jungen, vor allem aber auch bei älteren Menschen sehr häufig die nachvollziehbaren Wunsch, natürlich das Leben zu retten. Gerade auch bei Menschen, die jetzt nicht an einer chronischen Krankheit leiden. Wo es ganz plötzlich, ganz unerwartet zu einer Krise kommt. Und da ist es eben manchmal sehr schwer, zu entscheiden, macht es jetzt Sinn, das Leben noch zu retten und alles auf Heilung und Rettung zu setzen, oder ist der Zeitpunkt schon gekommen, wo man den Tod zulassen sollte. Sprecher: Die Chancen, im hektischen Klinikalltag genügend Raum für Rückschau, Versöhnung und Trauer zu finden, sind deshalb gering. "Viel zu oft setzen sich Ärzte über den Willen ihrer Patienten hinweg und versuchen alles, was medizinisch und technisch möglich ist. Damit tragen sie aber eher zu einer mitunter qualvollen Verzögerung des Sterbens bei, als zu einer sinnvollen Lebensverlängerung." (Quelle: Michael de Ridder, Wie wollen wir sterben? DVA, 2010) O-Ton 12 Helmut Reichardt: Häufig ist das Gesundheitswesen hier nochmal sehr, sehr präsent bis in die allerletzte Phase hinein und dann ist einfach keine Zeit dafür. Dann ist noch der Monitor und dann ist noch der Alarm und dann ist noch hektisches Hin- und Hergespringe und ich kenn das zur Genüge, also ich hab das oft genug erlebt und auch mitgestaltet. Und dieser Medizinapparate hat seine ihre innere Logik, aber es nimmt den Menschen häufig auch den Raum, in der letzten Lebensphase, wo Reflektion, Begegnung nochmal möglich ist. Sprecher: Das ist der traurige Alltag in vielen deutschen Krankenhäusern. Da wird einem Sterbenden noch Blut abgenommen. Fast schon zwanghaft, obwohl der Blutdruck wegsackt . Ein Tropf wird gelegt. Puls- und Blutdruckmessegräte werden angeschlossen. Man will helfen, etwas tun. Meist ist das Klinikpersonal mit einem ganzheitlich erlebten Sterbeprozess überfordert. Sterbende Patienten werden deshalb lieber abgeschoben. Angehörige, die mehr Raum brauchen, oder ihn gar einfordern, als störend empfunden. Solche Abschiede hinterlassen eher einen Schock, als ein Gefühl des Friedens. Atmo Krankenhaus Sprecherin: Helmut Reichardt, der Leiter der Potsdamer Palliativstation, hat deshalb einen Konsiliardienst übernommen. Das heißt: Die Kollegen aus allen Abteilungen des 1000-Betten-Krankenhauses können ihn zu den Patientinnen und Patienten rufen, bei denen sie den Rat des Palliativmediziners für nützlich halten. Täglich geht Helmut Reichardt also in Begleitung von Schwester Ruth Lütkepohl zu Menschen auf andere Stationen, lässt sich deren Krankenakte geben, redet mit den behandelnden Ärzten, Schwestern und Pflegern und versucht eine Lösung zu finden. Dabei geht es nicht nur um medizinische Probleme. Oft gibt es ganz andere Fragen, die eher die psychische, die soziale oder spirituelle Situation der Kranken betreffen. Bei einem dieser Konsiliargänge lernt er Claudia Reimann kennen O-Ton 13 Claudia Reimann: Also ich leide seit Jahren schon an Darmkrebs, den ich aber gut umrundet habe, aber leider gesellte sich zu dem Darmkrebs eine ganz schwere COPD, diese chronisch obstruktive Lungengeschichte. Sprecherin: Eine COPD äußert sich durch Husten, Auswurf und vor allem Atemnot. Claudia Reimann - der Name wurde auf Wunsch geändert - ist 69 Jahre alt. Sie ist eine zierliche, energische Frau, die allein zu Hause gewohnt hat bis die Atemnot-Attacken zu heftig wurden. O-Ton 14 Claudia Reimann: Sie kommen aus dieser Erregung überhaupt nicht raus, steigern sich da immer mehr rein, kriegen vielleicht gar keine Luft mehr. So dass dann am 24. Januar, der Notarzt mich mitgenommen hat ins Krankenhaus. Dort wurde sofort diagnostiziert, eine doppelseitige hochgradige Lungenentzündung. Nun wollte man versuchen, mich zu stabilisieren, oder andere Möglichkeiten einen Beatmung in der Nacht und was weiß ich alles. So was will ich alles nicht, ich will eigentlich auch nicht von Apparaten leben. Sprecherin: Nach neun Wochen intensiver Behandlung in zwei Krankenhäusern ist Claudia Reimann geschwächt, entnervt und verzweifelt. So will sie nicht mehr weiterleben und äußert das auch gegenüber ihren behandelnden Ärzten. Ein klar ausgesprochener Suizidwunsch. O-Ton 15 Claudia Reimann: Ich habe ganz eindeutig gesagt: Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr, wenn ich nur noch von diesen Attacken leben muss. Ich habe nie geschlafen. Also es war einfach nicht zu ertragen. Musik Sprecher: Nach einer Studie der Bundesärztekammer sehen sich Ärzte viel öfter dem Wunsch eines schwerkranken Patienten nach dem sanften Tod gegenüber, als man denkt. Mindestens jeder dritte Arzt wurde schon mal gebeten, beim Sterben zu helfen, und noch mehr Hausärzte werden mit solchen Wünschen konfrontiert. Fast die Hälfte aller Ärzte, die mit unheilbar Kranken zu tun haben, gab in der Umfrage an, dies passiere "häufiger". Die Bundesärztekammer - die höchste Standesvertretung deutscher Ärzte - formulierte in ihren Grundätzen dazu aber eindeutig: "Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe." O-Ton 16 Ralf Jox: Und ganz klar, sozusagen strafbar ist in Deutschland die ganz absichtliche Tötung eines Menschen, auch auf dessen Wunsch hin. Also so wie es in den Niederlanden und Belgien, Luxemburg möglich ist - die Tötung auf Verlangen - die so genannte Euthanasie. Sprecherin: Ralf Jox ist Leiter des Arbeitsbereiches "Klinische Ethik" an der Münchner Ludwig- Maximilians Universität. Der Facharzt für Neurologie ist Palliativmediziner und machte seinen Doktor in Medizinethik. In seinem Buch "Sterben lassen" analysiert er Situationen am Lebensende. Viele Entscheidungen, die zwischen Leben und Tod getroffen werden müssen, sagt er, würden trotz klarer Rechtslage von Angst und Unwissenheit überschattet. In einer Befragung von Ärzten gaben drei Viertel fälschlicherweise an, es mache rechtliche Unterschiede, ob eine lebenserhaltende Behandlung abgebrochen oder gar nicht erst begonnen wurde. 63 Prozent ordneten die Beendigung einer künstlichen Beatmung gemäß dem Willen des Patienten fälschlicherweise als aktive Sterbehilfe ein. An die 60 Prozent der Ärzte sagten, dass sie Angst vor rechtlichen Konsequenzen haben, wenn sie lebensverlängernde Therapien abbrechen. O-Ton 17 Ralf Jox Es gibt kaum Angehörige oder Ärzte, die Angst haben, zu viel zu tun, also im Sinne von Lebenserhaltung. Viele haben Angst, zu wenig zu tun, dass sie dann angeklagt werden - der unterlassenen Hilfeleistung. Und die zweite Angst ist natürlich, ob man nicht den Tod jetzt beschleunigt, ob man nicht das Leben abkürzt. Und die Grenze vom Recht ist ja ganz klar gezogen. Man darf lebenserhaltende lebensverlängernde Maßnahmen beenden, muss es sogar, wenn es entweder medizinisch nicht sinnvoll, nicht indiziert ist, nicht wirksam ist, oder wenn der Patientenwille dem entgegensteht. Sprecherin: Auch Claudia Reimann sehnt sich aus Angst vor weiteren Erstickungsanfällen nach einem sanften Tod, nach Sterbehilfe. Aber niemand im Krankenhaus kann und darf ihr diesen Wunsch erfüllen. O-Ton 18 Claudia Reimann: Nun steht einfach fest, dass wir natürlich als Deutschland, was all diese Dinge angeht, eben auch eine Vergangenheit haben. Das versteh ich alles, aber man versteht es dann nicht mehr ganz richtig, wenn es einen selber angeht. Also ich könnte ihnen jetzt auf den Schlag vier Ärzte nennen, wenn die mich in solchen Attacken erlebt haben, gesagt haben, als Mensch kann ich sie verstehen, aber medizinisch ist eben nicht erlaubt, wir haben ja keine Sterbehilfe. Sprecherin: In diesem Zustand wird der Palliativmediziner Helmut Reichardt zu ihr gerufen. Er untersucht sie und lässt sie auf seine Station verlegen. O-Ton 19 Helmut Reichardt: Dann haben wir die Medikation ein bisschen geändert und haben sehr deutlich gehört, dass diese Luftnot und diese Schlaflosigkeit und die Angst, das war das, was sie zur Verzweiflung gebracht hatte. Und als wir das damit mit Medikamenten gegengewirkt haben, nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit Zuwendung und mit Einreibungen und Begleitung und sie dann die erste Nacht richtig schlafen konnte, nach Wochen, da sah dann das Ganze schon wieder anders aus. Sprecherin: Nach der Behandlung auf der Palliativstation erholt sich Claudia Reimann. Sie fasst wieder neuen Lebensmut. Mittlerweile lebt die 69jährige in einer betreuten Wohngemeinschaft. Über einen dünnen Plastikschlauch atmet sie Sauerstoff durch die Nase, eine ständige Morphingabe verhindert neue Erstickungsanfälle. Claudia Riemann will ihre restliche Zeit nutzen, um zu schreiben- auch über ihre Erlebnisse auf der Palliativstation. O-Ton 20 Claudia Reimann: Und den Eindruck hatte ich sehr, dass dort der Mensch, als Individuum, als Ganzheit gesehen wird, und nicht nach dem Herzen geguckt wird, weil ich auf der kardiologischen bin, und nicht nur nach der Lunge geguckt wird, weil ich im Lungenzentrum bin, sondern da wird der Mensch als Einheit erfasst. Sprecher: Auf einer Palliativstation besteht das Team immer aus Schwestern, Pflegern, Seelsorgern, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Ernährungsberatern, Fachärzten und Psychologen. Sie arbeiten gleichberechtigt miteinander, tauschen sich aus. Dabei geht es hauptsächlich darum, herauszufinden, was der Patient will. Will er nach Hause, übernehmen sogenannte SAPV-Teams die Versorgung - das ist ein Team aus Palliativ-Ärzten, geschulten Pflegern und Psychologen, die eine Rund-um- die-Uhr-Versorgung absichern. Sprecherin: Ein wichtiger Aspekt der Palliativmedizin ist auch die Frage nach den Angehörigen. Wie geht es ihnen? Welche Hilfe brauchen sie? Darum kümmert sich auch Katharina Kautzsch. Die Psychologin erzählt von ihren letzten Fällen: O-Ton 21 Katarina Kautzsch Es ging also ein bisschen darum, Menschen im Gespräch dazu zu verführen, diese Angst zu überwinden, vor diesem Thema und zu gucken, was da an innerfamiliärer Bewegung möglich wird. Darum ging´s ja auch. Also es ging ja auch darum, diese Prozesse zu begleiten also was, wo Versöhnung drin liegt. Und Frieden finden. Letztlich ist ja Sterben auch Frieden finden. Sprecher: Hospize, Palliativstationen und SAPV-Versorgung sind auch heute noch mehr Ausnahme als Regel. Und selbst da, wo es sie gibt, wissen die Angehörigen Todkranker entweder wenig von diesem Angebot oder aber die Plätze sind rar. Sterben in Deutschland ist deshalb oft weit entfernt von einem würdevollen Abschied. Großen Aufklärungsbedarf gibt es auch in Pflegeheimen. O-Ton 22 Heike Borchard: Gestern wieder so eine Altenpflegeklasse Sprecherin: Heike Borchert vom ambulanten Hospiz- Und Palliativdienst in Potsdam . O-Ton 23 Heike Borchardt: Hab denen erzählt, was ein ambulanter Hospizdienst macht und was SAPV ist und wie das in die Pflegeheime auch integriert werden könnte, die Hospizidee. Und dann ernte ich ein müdes Lächeln. Von den Praktikern. Weil einfach die Bedingungen vom Personal das nicht so hergeben. Und ich versuche dann immer auch zu sagen, Sterbebegleitung ist eine Haltung. Und auch mit wenig Personal ist es einfach auch möglich, dass man anders pflegt, dass man Menschen auch zugesteht, dass sie sich auf den Weg machen. Und ich denke: Es ist ganz, ganz viel zu tun in der Bildung der Mitarbeiter und auch der Angehörigen. Dass man alte Menschen auch gehen lässt, und dass sie den Punkt selber bestimmen. Und das wird in Zukunft eine große und größere Aufgabe werden, als wir das jetzt so ahnen können. Atmo Büro Borchardt Sprecherin: Bei Heike Borchardt melden sich regelmäßig Männer und Frauen, die ehrenamtlich Sterbende begleiten wollen. An einem Freitagvormittag treffen sich 15 Frauen und zwei Männer zur Ausbildung zur Sterbebegleiterin, zum Sterbebegleiter. Sie sitzen auf Stühlen im Kreis, in der Mitte Blumen, eine Kerze, ein Stein. Heute lernen die künftigen Sterbebegleiterinnen und -begleiter Kommunikationstheorie und aktives Zuhören. Atmo Heike Borchardt zitiert dazu aus dem Buch MoMo unterlegen unter den Sprecherin-Text ... : O-Ton 24 Momo saß nur da und hörte einfach zu. Mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. ... So gut konnte Momo zuhören. Sprecherin: Auch Andrea Scherer ist hier. Die Arbeits- und Sozialrichterin hat schon mehrere Sterbeprozesse erlebt. Ihre erste Tochter starb bei der Geburt, vor vier Jahren ihre Mutter, und erst kürzlich hat sie ihre Lieblingstante beim Sterben begleitet. Intensive Momente der Begegnung. O-Ton 25 Andrea Scherer: Ich hab nichts sagen können, was sie wirklich getröstet hätte und als ich ihre Hoffnung auf Leben, auf Leben hier und jetzt sah, und ich andrerseits wusste, dass es so schlecht steht, ich hab einfach geweint. Und zum Abschied wusste ich gar nicht, was ich ihr sagen soll. Und sie sagte: Wir bleiben in Verbindung. Und ich hab sie dann spontan in den Arm genommen und gesagt: Wenn du drüben bist, nimm meine Tochter in den Arm und küss sie von mir. Sie hat ja gesagt. Es war ein sehr, sehr bewegender Abschied. Und sie ist dann einen Tag später, im Beisein ihres Mannes, ihres Sohnes und meines Vaters ganz ruhig eingeschlafen. Sprecherin: Ganz intuitiv hat Andrea Scherer die letzten Tage mit ihrer Tante gemeinsam und bewusst erlebt. Als ehrenamtliche Sterbebegleiterin bei fremden Menschen will sich Andrea Scherer dieser Aufgabe weiter widmen. O-Ton 26 Andrea Scherer: Also der Tod ist ein Teil unseres Lebens und solange wie er weit weg ist und mich und meine näheren Angehörigen nicht betrifft, ja versuche ich dem vielleicht aus dem Weg zu gehen, aber wenn ich dann so eine Erfahrung gemacht haben, dass es nicht nur so ein mieses Stück Leben ist, was man da irgendwie gar nicht vermeiden kann, sondern dass da auch trotzdem Fülle drin ist. Und ganz viel Begegnung und ganz viel Offenheit, dann ist es eine Motivation, sich dem zu nähern. Sprecher: Die fünf Phasen des Sterbens, die laut der Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross alle Menschen am Lebensende durchlaufen. Sprecherin: 1. Das Nichtwahrhabenwollen Sprecher: Der Kranke glaubt noch an einen Irrtum oder eine Fehldiagnose. Sprecherin: 2. Zorn Sprecher: Der Kranke ist neidisch auf die Gesunden, die weiterleben dürfen. Er neigt - je nach naturell - zu Wutausbrüchen. Sprecherin: 3. Verhandeln Sprecher: Der Sterbende will sich Zeit erkaufen, von Gott, von der Kirche oder anderen Instanzen. Diese Phase ist oft kurz und die Abkommen werden gern geheim gehalten. Sprecherin: 4. Die Depression Sprecher: Der Kranke trauert um sich selbst. Er realisiert, was er mit seinem Leben verliert. Sprecherin: 5. Akzeptanz Sprecher: Der Sterbende zieht sich zurück, schläft viel und entgleitet in seine eigene innere Welt. Musik O-Ton 27 Katharina Kautzsch: Was ich sehr beeindruckend fand, war, dass Leute zunehmend erzählt haben, dass sie Kontakt aufgenommen haben, mit ihren schon verstorbenen Angehörigen und dass sie sich gerufen fühlten. Und dass sie dann sozusagen in so einen Bereich gegangen sind, wo sie zwischen den Welten standen. Da waren die, die schon gegangen waren und die gesagt haben, wir warten auf dich, komm! Und auch eine große Sehnsucht danach da war. Und anderseits dieses Loslassen zu den Angehörigen, die noch da sind und für die man auch Verantwortung gefühlt hat. Und die man nicht alleine lassen wollte. Das war auch sehr faszinierend so für mich, dieser Prozess des "Zwischen-den-Welten-stehen". Atmo Musik Sprecher: Ein Sterbeprozess dauert zwischen wenigen Stunden und einer Woche. In der letzten Phase werden die Nierenfunktion, Herzschlag, Atmung und Stoffwechsel schwächer. Eine Art Rasselatmung setzt ein. Oft vergehen zwischen jedem Atemzug Minuten, qualvoll langsam wie es scheint. Angehörige stehen diesen Symptomen oft hilflos oder ängstlich gegenüber. Sterben ist auch auf Seiten von Ärzten ein belastendes Thema. Unwissen und Ängste steuern oft ihr Handeln. Da wäre das Beispiel Schmerzbehandlung. Die Angst der Ärzte vor Morphin sei immer noch weit verbreitet, weiß der Palliativmediziner Ralf Jox. O-Ton 28 Ralf Jox Da gibt es zum Glück seit vielen, vielen Jahren gute Studien. Was man eigentlich aus der Erfahrung schon sagen kann, dass Morphin und ähnliche Medikamente sehr sicher sind. Und man kann relativ hohe Dosen geben solange man sich eben immer an den Symptomen orientiert, dem Schmerz, der Atemnot, ohne dass dann zu einer Beschleunigung des Todes kommt. Sprecherin: Dank Hospizbewegung und Palliativmedizin kehrt das Thema Sterben ins Leben zurück. Und das Leben von seinem Ende her zu begreifen ist ein Glücksfall für jeden und heilsam für die ganze Gesellschaft. Sprecher: Acht Lehrstühle für Palliativmedizin gibt es derzeit. Vier davon sind allerdings den Fachbereichen Onkologie oder Anästhesie zugeordnet. Kritiker befürchten, dass der Schwerpunkt so wieder mehr auf der medizinischen Versorgung liegt, als auf der Psychosozialen und spirituellen Begleitung der Sterbenden. Gerade sie aber sind in den letzten Stunden so wichtig. O-Ton 29 Ruth Lütkepohl: Dass eben mehr Zeit da ist und mehr Raum da ist, dann kann auch - ich will nicht sagen beglückendes - aber jedenfalls etwa sein, was einen bereichert und ja, ja bereichert ist vielleicht auch das richtige. ENDE