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Der Rebell schichtet sich um, verliert seine Gesundheit, entdeckt heisse Quellen. Jedes Denkmal ist ein Fürst. Die deutsche Einheit bläst sich auf, die Flaggen fliegen als Matratzen luftgekühlt. O, Tramonto dell'Occidente! Der Sinn des Verweilens bestehe aus neuen Ideen, sagte Pius II., früher ein Piccolomini, der zu Kreuzzügen gegen Mehmet II. riet, die ersten Türken, o gürültülü, gürültülü. Autorin: Dieses Gedicht (aus "Ein Loch in der Landschaft") erscheint wie ein pars pro toto des poetologischen Welttheaters, auf dessen Bühne Günter Herburger seit über sechs Jahrzehnten seine Gedichte, Geschichten und Romane, Hörspiele, Laufbücher und Photonovellen entstehen läßt: Assoziative Gedankenverkettungen, Gedankensprünge und Querverbindungen auf gedankliche Ab- und Nebenwege, Digressionen; Andeutungen, Analogismen, Phantasmagorien und ein enormes enzyklopädisches Wissen prägen Herburgers Werk. Geheimstes verbindet sich mit Offiziellem, Persönliches mit Politischem, Erhabenes mit Gemeinem. Seine Gedichte erscheinen unter der überquellenden Fülle gelegentlich hermetisch, und manche erschliessen sich erst nach mehrmaligem Lesen. Take 1 oder Zitator (Strophe 1 ) Autorin: Inhaltlich und chronologisch ist das Gedicht klar zu verorten. Die "Trauermaske" beim "Abschied aus dem Stall" hatte der Dichter vor langer Zeit abgesetzt. Als Jugendlicher verließ er - wütend aufbegehrend gegen die provinzielle Enge und Verklemmtheit der einheimischen Bevölkerung - die idyllische Mittelgebirgslandschaft des Allgäu, wo er 1932 in Isny geboren wurde und den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit verbrachte. Nach Jahren der Wanderschaft - Ibiza, Madrid, Oran, Paris, Berlin - kehrte er vorübergehend nach Isny zurück. 1973 liess er sich in München nieder. Vor drei Jahren ist er mit seiner Familie nach Berlin gezogen. Take 1 oder Zitator (Strophe 4) Autorin: Der ehemalige "Rebell" entdeckt die Stadt neu und registriert mit spitzbübischer Gelassenheit die Folgen der deutschen Einheit, den "Sonnenuntergang des Okzidents". Hier, in Berlin wird es ihm nicht schwer fallen, Ideen zu entwickeln, denn darin bestehe der Sinn des Verweilens, wie er mit einem Schwenk in die Kirchengeschichte Papst Pius II. zitiert. Erwartungsvoll sieht er den Begegnungen mit den türkischen Mitbürgern entgegen, die das gesellschaftliche Klima Berlins mitbestimmen, nicht nur durch ihre Neigung zu lauten Feiern und Festen. Gürültülü ist das türkische Wort für Lärm, Krach. Take 1 oder Zitator (Strophe 5) Autorin: Der Landstrich seiner Herkunft, das Allgäu, mit seinen gesellschaftlichen und strukturellen Wandlungen taucht in Herburgers Werk immer wieder auf. In dem Gedicht "Eine Insel" schlägt er einen Bogen über die "Klüfte der Gezeiten", vom Erz-Tageabbau, der bis ins 19. Jahrhundert den Lebensunterhalt vieler Bewohner der Region sicherte, über die aus vorchristlicher Zeit stammenden Höhlenberge zu einem poetischen Bild der Landschaft, in dem Vergangenheit und Gegenwart friedvoll miteinander verschmelzen. Zitator: Eine Insel In der neuen, grünen Landschaft des Allgäus ein kilometerlanger Zug voll Eisenerz, davor gelbe Dieselloks. Was für ein Glück, dazu Ölsardinen aus Büchsen und Heerscharen von Heuschrecken am Himmel, viel Eiweiß fliegt dort. In den Höhlenbergen der Kelten und Römer hängen Flughunde. Sie besänftigen mit ihren Zungen Die Klüfte der Gezeiten, als würden, bewachsen von Flachs, die Hügel wieder blau erblühen. Autorin: Er wünsche sich Gedichte wie voll gestopfte Schubladen, die klemmen, hat Herburger einmal gesagt. Die Geschichten, die er in ihnen erzählt, zeugen von Empfindsamkeit und einer kindlichen "Weltaneignung", die auf keine der einst versprochenen Verheißungen zu verzichten bereit ist und gegen die Austreibung der Wünsche revoltiert. Ein Totalitätsanspruch, der die Gedanken frei schweifen lässt und den Dichter manchmal selbst überrascht. Es kann bei einer Lesung geschehen, dass Herburger zwischen zwei Gedichten leise, für die Zuhörer kaum vernehmbar, in sich hineinmurmelt, "manchmal frage ich mich, was ich da gemacht habe". Da spricht ein Dichter, der keine andere Wahl hat, als die Qual und die Lust des Dichterseins auf sich zu nehmen und zum medialen Sprachrohr seiner gegen die Stummheit und den epochalen Stumpfsinn gerichteten Dichtung zu werden. Die unermessliche Entdeckungslust und Mitteilungswut, die in der Wort-, Motiv- und Stofffülle ihren adäquaten Ausdruck findet, hilft ihm, die beängstigende Kluft zwischen Hoffnung und Entsetzen zu überbrücken. Chaos in die Ordnung zu bringen ist nach Theodor W. Adorno die Aufgabe des Dichter. Ein Chaos, das Günter Herburger lebenswerter und erstrebenswerter erscheint als eine von unreflektierten Konventionen und Normen beherrschte Ordnung. Oder, wie er es in der Erzählung "Die Eroberung der Zitadelle" formuliert: "Schreibend versuchen wir immer wieder, eine bessere Ordnung oder deren verzweifeltes Spiegelbild herzustellen." Seine ersten Schreiberfahrungen fallen in die Zeit, als der nouveau roman, anknüpfend an die Bewegung der écriture automatique der 20er und 30er Jahre, von Frankreich aus in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen starken Einfluss auf die europäische Literatur ausübte. Take 2 (Herburger): Im Grunde hat mein (realistisches) Schreiben begonnen mit'm nouveau roman, das genaue kalte Beobachten zu beschreiben, sehr genau, ohne irgendwelche Urteile zu fällen. Also Nathalie Sarraute, die Superverdage, also das Geschwätz unter dem Geschwätz, was ja sehr klein ist, aber überaus steuerbar, oder das war Robbe-Grillet, "La Jalousie", so dass man sich vorstellt - ist ja fast filmgeeignet - die Jalousie ist nicht nur die Eifersucht, sondern auch ne Jalousie, durch die man blickt, hinaus und etwas auf der Strasse beobachtet, aus dem dann Eifersucht keimt, aus irgend welcher Konstellation. Die kann so sein. Die kann aber auch nur eingebildet sein. Sicher komm ich daher, es hat uns damals alle sehr bewegt. Autorin: Das genaue, kalte, wertfreie Beobachten und Konstatieren ist für Herburger die Keimzelle des Schreibens. Psychologische oder soziologische Erklärungsmuster, Belehrungen oder eine literarisch verbrämte Botschaft sind ihm eher suspekt. Der Leser hat sich aus den dargestellten Fakten seine eigene Meinung zu bilden. So löst der Protagonist in der Erzählung "Eine gleichmäßige Landschaft", Vertreter einer Bausparkasse, durchaus ambivalente Reaktionen aus. Einerseits kann man seine verächtliche Haltung gegenüber dem Muff und der Spießigkeit der Kleinbürgerwelt seiner Kunden nachvollziehen. Andererseits sind sein Ausflug mit einem Schulmädchen, dem er schon seit einiger Zeit nachstellt, ausgerechnet in die Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslagers, und die damit einhergehenden, erotisch motivierten Gewaltphantasien so instinktlos und provozierend, dass man zwischen anfänglichem Verständnis und wachsender Verachtung gegenüber dem Protagonisten hin- und hergerissen wird. Die verstörende, irritierende Wirkung dieser mit akribischer, fein ziselierter Genauigkeit erzählten Geschichte wird durch die durchgängig affirmative Haltung des Erzählers verstärkt. Die Erzählung, mit der Herburger schlagartig bekannt und auf Vermittlung von Dieter Wellershoff im September 1964 zum Treffen der Gruppe 47 ins schwedische Sigtuna eingeladen wurde, setzt auf blanken Realismus, der, wie Herburger sagt, ihm helfe, die Wirklichkeit "zu wälzen". Take 3 (Herburger): Also Realismus ist quasi der Kompost, der Fundus, aus dem wir alle zehren. Man kann sich im Grunde weniger Phantasie erlauben, wenn man sich nicht auskennt in der Realität. Es muss schon irgendwie stimmen, ob Sie nun über Chemie, Zahlenmystik oder über neueste Rhythmusmöglichkeiten schreiben innerhalb eines Romans, in dem sehr viel Platz hat, wie in der Thuja-Trilogie. Sie müssen wissen, über was Sie schreiben, und dann erst können Sie anfangen, wie meine Frau immer sagt, zu spinnen. Zitator: Wer entdecken will, muss erfinden lernen. Einsamkeit und Leere sind die Voraussetzungen für dieses neblige Geschäft. Rechercheure erschlagen die Phantasie wie mit Pflastersteinen, Autorin: schreibt Herburger in "Das Flackern des Feuers im Land". Der Realismus ist der eine Grundpfeiler seiner Prosa, der andere, vielleicht bedeutendere ist eine sich in utopische Höhen aufschwingende Phantasie. Vision und Wirklichkeit gehen eine Synthese ein, die zu einer Welt aus Bildern und Einfällen führt, in der Innen und Aussen, Ich und Welt, die Sehnsucht und die Realität ineinander fließen. Aber Herburger ist zu sehr Realist, Materialist und niemals Illusionist - auch wenn er manchmal behauptet, ein später Nachfahre der Romantiker zu sein -, als dass er nicht wüsste, dass es sich bei diesen Vorstellungen um reine Utopie handelt. Die Phantasie ist sein utopisches Potential. Mit Blick auf die "Thuja-Trilogie", in der er ein "versinnlichtes sozialistisches Weltbild" entwirft, nennt Christoph Wackernagel Günter Herburger einen "utopischen Materialisten". Take 4 (Herburger): Das ist ein sehr schöner Ausdruck. Da steckt was drin. Utopisch, also wenn ich über Utopien schreibe, und ich hab deren mehrere, also ich bin ein sog. Jetzt-Schreiber oder Zukunfts-Schreiber, nicht wie die meisten, die Vergangenheitsschriftsteller sind und sich erinnern. Das Erinnern hat zwar auch Platz bei mir, ach, bis zu den Ahnen, bis zu den wirklich alten Ahnen zurück. Das ist aber das gemeinsame Gewirr und die Möglichkeit, daraus neue Gedanken und eben Phantasien für eine Zukunft zu bilden, die - ich sags mal ganz kurz - das Leben leichter und lebenswerter macht. Das sind immer Utopien, in denen ich gern leben möchte. Autorin: Die Thuja-Trilogie, Herburgers Hauptwerk, an dem er siebzehn Jahre gearbeitet hat, fokussiert eine solch bessere Ordnung, die das Leben leichter und lebenswerter zu machen verspricht. "Flug ins Herz", der erste Teil, erschien in zwei Bänden 1977, "Die Augen der Kämpfer" Anfang der achtziger Jahre und der Abschlußband "Thuja" 1991. Das fünfbändige Werk - ein Entwicklungs-, man könnte auch sagen, ein Schelmenroman - ist einerseits ein Panorama über deutsche Befindlichkeiten in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, über Hoffnungen und Enttäuschungen, Motivationen und Erschütterungen einer Generation. Andererseits ist es eine Odyssee auf der Suche nach einer gesellschaftlich und ökologisch idealen Welt, die nach dem Prinzip der "Mischkultur" gestaltet ist. Auf gesellschaftlicher Ebene ist damit die Vermischung sozialer und ethnischer Gruppierungen gemeint, auf ökologischer Ebene die Bewahrung alter Traditionen und natürlich gewachsener Landschaften, die "Verkrautung", bei gleichzeitiger Entwicklung höchsten technischen Fortschritts. Der Kämpfer aus "Flug ins Herz" hat zwar die Büchse im Anschlag, am Horizont aber scheint eine arkadische Landschaft auf, die Phantasmagorie eines locus amoenus. Zitator: Gebückt bewegt sich der Kämpfer durchs Gehölz, die Büchse im Anschlag, und gibt nicht auf. Das Lied, das er im Herzen trägt, weist ihm über alle Hindernisse den Weg. Am Morgen öffnet er die Läden, als sei nichts geschehen, erfrischt sich am Brunnentrog und reckt sich, bereit zu neuen Taten. In der Sonne steht das friedliche Vieh und wendet sich nach ihm um. Es herrscht Einverständnis auf der Höhe. Wer einmal in solch dichtem Gras gelegen hat, weiß, wie die Welt aussehen könnte: Fehlerlos gefügt und methodisch freundlich in der Abhängigkeit des einen vom andern, damit wieder Neues gedieh. Mäuse nagen sich unter den Wurzeln ihre Gänge, Füchse sind nach ihnen auf der Jagd. Vögel sperren im Flug die Schnäbel auf und lassen sich die Nahrung hineintreiben. Die Kühe fressen zentnerweise Frisches, legen sich nieder, käuen wieder, und wo ihre grüne Scheiße hinfällt, wächst es auf diesen Inseln schneller wieder nach. Autorin: Johann Jakob Weberbeck, Protagonist der ersten beiden Teile der Thuja- Trilogie, ein Gelegenheitsarbeiter, ist als Chronist und Kurier zwischen den Lagern Handelnder und Berichtender zugleich. Er erzählt von zwei Paaren, die sich einem humangenetischen Experiment unterziehen, an dem eine milieutheoretische These von der Dominanz gesellschaftlicher Armut bewiesen werden soll. Mit den Lagern sind auch die sich feindlich gegenüber stehenden Systeme Ost- und Westdeutschlands angesprochen und Weberbeck ist unzweifelhaft das Alter Ego des Autors. Ausgangsort der Handlung ist Morgenthau, ein fiktives, ca. zehntausend Quadratmeter grosses Gebiet zwischen Wuppertal, Paderborn und Minden, eine "freie anachronistisch gewaltlose Anarchie". Der bildhafte Name ist eine Anspielung auf den Plan jenes amerikanischen Finanzministers, der aus Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ein reines Agrarland machen wollte. Take 5 (Herburger): Der wollte alle Industrie ausrotten und verkaufen, der wollte dieses Deutschland, das hochgerüstete Deutschland und jetzt verwüstete, zu einer Art Schafsidylle machen. Und das kann nun ausgesponnen werden, wie wäre das gewesen, ohne dass man auf die avancierteste Serviceindustrie, vor allem die Computerindustrie, verzichtet hätte. Also etwas, was sehr weit vorausschaut, was es heute noch als Mischkultur gibt, im arabischen Osten oder in Afrika, im Tschad, im Niger, im Jemen, es gibt überall Mischkulturen, die haben dort Flachbildschirme und die besten Rechner in Lehmhütten und sind angeschlossen ans CBS-System. Es ist alles möglich. Sie können die Tradition der Ahnen mitnehmen hinein in eine neue Kultur, für mich ein Ideal. Autorin: Im ersten Band von "Die Augen der Kämpfer", befindet sich Weberbeck in einem Hochsicherheitsgefängnis. Er hat sich als Mitglied einer revolutionären Gruppe an der Entführung eines hohen Industriellen beteiligt und wurde festgenommen. Den Gefängnisalltag beschreibt Herburger in realistischer Manier mit bedrückender Anschaulichkeit. Zitator: Die Beamten rissen mich von Axmann weg, schlugen und traten gleichzeitig nach ihm, jedoch nicht heftig genug, denn sie wollten mich nicht loslassen, so dass Axmann, der eine Drehung vollführte, sich über mich werfen und, mich umklammernd, zu Boden drücken konnte, seinen Mund auf meinen gepresst. Ich spürte eine kleine Kugel im Mund. In einer Kammer, festgeschnallt auf einem Gestell, das vielleicht Ärzte verwandten, wenn sie Frauen untersuchten, wollte ein Schlauch nicht durch meine Nase gehen, trieb sich irgendwo in der Stirn fest, und als ich schrie, klemmte sich ein Keil bis zum Gaumen, so dass ich, um nicht zu ersticken, nachgab, was ein Fehler war, denn der Schlauch schob sich an der Sperre vorbei und immer tiefer, die ganze Speiseröhre füllend, ein knirschender Strang im Hals, schliesslich flüssiges Eisen, das in den Magen tropfte, die Lungen anfraß und durch das Brustbein zu bohren schien. Die Marter zerlegte mich in lauter einzelnen Teile. Autorin: Es gelingt Weberbeck zu entkommen und sich in die DDR abzusetzen. Er findet Unterschlupf bei der Familie Dumsdalek, arbeitet in einem Chemiekonzern, dann im Schloß Kochberg, wo er einen Kinderbuchautor trifft, für den er bei guter Bezahlung Vogelgedichte schreiben soll. Als er schliesslich nach Morgenthau zurückkehrt, erscheint ihm der fleissige Staat, der zu einem mächtigen Industriegebilde geworden ist, als eine "völlig vereiste Welt". Ohne ideologisch zu argumentieren, erscheint in der Gegenüberstellung der beiden Deutschlands die DDR als relativ weich gezeichnet. Zudem war Herburger 1973 in die DKP eingetreten, der er bis 1985 angehörte. Im Westen wurde ihm das verübelt und hatte zur Folge, dass er aus dem literarischen Leben mehr und mehr ausgeschlossen wurde. Er hielt sich in diesen Jahren häufig in der DDR auf und unternahm Reisen in die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten. Take 6 (Herburger): Im Osten galten wir als Anarchisten, die sehr bewacht werden mussten. Die Westkommunisten waren die Allerschlimmsten. Trotzdem gelang es uns dadurch, in den Osten zu kommen und eben Sachen zu entdecken, die wir sonst nicht entdeckt hätten, ob das nun in der DDR war oder, noch utopischer und noch realitätsbezogener auch in der Sowjetunion. Das hat mich sehr interessiert und ich hab mich immer als Doppelspion bezeichnet. Ich spionier beide Lager aus und erhalte dadurch den Frieden, ich erhalte das Gleichgewicht. Der Doppelspion ist ein Friedensbote, könnte man hellsichtig sagen. (leises Gemurmel der Interviewerin) Das ist gewagt, ja, aber er kriegt von allen Seiten Geld und Möglichkeiten und dadurch gleicht er Missverständnisse aus, wenn er will. Autorin: Der abschliessende Teil der Thuja-Trilogie wurde als ein "Ereignis, das höchste Aufmerksamkeit verdient" angekündigt und auch entsprechend aufgenommen. Ein Jahr später erhielt sein Autor den Peter Huchel-Preis. Im Zentrum steht das aus dem Paarungsexperiment im ersten Teil hervorgegangene Geschwisterpaar Angela und David. Sie leben in einem Turm, dem sogenannten Kolosseum ihrer Lehrerin; ihre Schule sind die Unordentlichen Werkstätten. Sie sind behindert und gehen mit großer Andacht und Neugier durchs Leben. Ihr kindliches Zeitempfinden, in dem Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verwischen, befähigt sie, sich unabhängig von den realen Zeitläufen Jahrhunderte zurück zu versetzen. Wer wäre also prädestinierter, die seelenlose, entemotionalisierte Welt zu retten, als die beiden behinderten Kinder Angela und David, die unvoreingenommen und spontan sehen und empfinden können? Die utopische Vision eines Lebens, in dem Innen und Aussen, Ich und Welt versöhnt sind, findet ihren Höhepunkt in der Schlussapotheose des Romans, die, wie die Anfangszene der Trilogie, auf einem Friedhof spielt, dem bevorzugten Pflanzort der Lebensbäume, lat. Thuja: Buddhistische Mönche, islamische Sufis, ägyptische Kopten, kanadische Hutterer, alle Figuren des Romans sowie lebende und gestorbene Bewohner der Gegend besetzen den Friedhof und bilden ein kurioses Panoptikum, das in seiner chaotischen Abstrusität an ein Gemälde von Hieronymus Bosch erinnert. Ein Bild, das nicht als Flucht vor der Realität zu verstehen ist, sondern als Plädoyer für ein verantwortungsbewusstes Leben, das sich nur unter Einbeziehung der Toten und der Vergangenheit vollziehen kann. Take 7 (Herburger): Im Grunde ein Hoffnungsbild voller Trauer, alle, die mal wichtig waren oder die zugekommen sind, vereinigen sich auf einem Friedhof der Stadt. Der Friedhof ist der Versammlungsort, wie er früher war, wo also gepaart wurde, wo geschlachtet wurde, wo die Händler auch waren. Die Toten und die Lebenden sind früher, vor 400, 500 Jahren immer vereint gewesen. Sind sie heute noch in Südamerika. Es gibt extra Feste, da bleibt man tagelang auf dem Friedhof. Da wird fiktives Geld mitgegeben, fiktive Nahrung. Es gibt auch Friedhöfe, da wird tatsächlich gespeist, dass die Ahnen, die Gestorbenen mitmachen. Man muss sie gut ausstatten, sonst kommen sie mit Geheul und ihren Schrecken wieder über uns. Autorin: Herburgers Entdecker und langjähriger Lektor Dieter Wellershoff meinte einmal, nur ein Langstreckenläufer und Überlebenskünstler wie Günter Herburger konnte sich solch ein weiträumiges Romanprojekt wie den Thuja-Roman vornehmen und auch zu Ende bringen. Zitator: Marathon Du musst, nachdem du lang geübt hast, gelehrt und schlau werden, lauernd hinterher bei Nah- und Fernsicht auf quellenden Straßen, wo Krokodile sich vermehren. Es gibt nur noch Gegenwart, die mutige Leere. Eine Sünde wäre, sich anfangs In Schnelligkeit zu werfen, aber das Duzen, hätte Cocteau gesagt, sei noch schlimmer gewesen. Autorin: Seit 1983 nimmt Herburger an Marathon- und Langstreckenläufen teil, die ihn in unterschiedliche Städte, Landschaften und Klimazonen geführt haben: Nach Cornwall, Palermo, Riga, Cinque Terre, Paris und Sinai, auf den Kleinen Atlas und nach Lands End. In Laufbüchern und Photonovellen haben diese aufreibenden Exkursionen ihren literarischen Niederschlag gefunden: Fluchten aus der Enge des Schreibtischdaseins auf der Suche nach einer Verschmelzung von Körper und Geist, die ihn oft an die Grenze seiner körperlichen Möglichkeiten gebracht haben. Take 8 (Herburger): Also wenn man läuft, nicht nur Marathon, sondern vor allem dann Extremläufe, im Eis, oder im Gebirge, oder für mich war's dann die Sahara, wo ich sehr gern lief, 100 Kilometer, 200 Kilometer, einmal über 300 Kilometer, in Steinöden. Für mich sind das auch Spionageläufe. Ich habe immer eine kleine Kamera dabei und photographiere, laufe auch zurück, wenn ich etwas gesehen habe und denke, oh, das ist etwas Geheimnisvolles. Ich esse auch Kräuter, die am Weg stehen, und manchmal, wenn ich Wolfsmilch verstaubt im Mund hab, muss ich sie sofort ausspucken, sonst falle ich tot um. Es gibt da sehr viele extreme Sachen. Neugierde muss dabei sein und es ist auch ein permanentes Spiel.... Autorin: "Der Flucht aus der Sprache und wieder in sie zurück, diesem Paradoxon ist nicht zu entkommen", schreibt der Autor Gerd Holzheimer über Herburgers Exerzitien, "es sei denn auf sehr unkonventionelle Weise: submarin und in Tiere verwandelt". So konnte es geschehen, Take 9 (Herburger): ... dass ich z.B: zu Hause bei einer Bienenkönigin bin, mich also so verkleinert habe, so völlig irre wurde vor Mühe, dass ich mich zu einem Knecht einer Bienenkönigin machte und nicht mehr aus dem Bau herausfand, also nicht mehr aus mir selber herausfand. Das alles gibt es. Jenseits grosser Mühe fängt man wirklich an zu spinnen. Zitator: Düfte, die ich noch nie gerochen hatte, strömten vorüber, ließen an entzündetes Fleisch, gespickt mit Vanille und Zimt, denken oder an erhitztes Graphit, das in Tropfenform überging und Reste von Pollen und Blüten, seit Jahrtausenden eingeschlossen, freigab. Die Königin lockte. Es waren Augenblicke kindlicher Sinnlichkeit, zugleich müheloser Omnipotenz, jeder Aufgabe mächtig in Raum und Zeit. Im Brut- und Kuppelsaal des Bienenstocks fielen Herkunft und Ziel ineinander und verschmolzen zu fortdauernder Gegenwart, ein Zustand, den ich von langen Strecken her kannte. Körperliche Arbeit und Suchbilder der Gedanken erzeugen ähnliche Schwingungen heiteren Wohlbefindens. Autorin: "Schlaf und Strecke" heißt der Band, in dem sich die phantasmagorische Mutation des Läufers in eine Biene während eines Laufs im Englischen Garten ereignet, "Lauf und Wahn" ein anderer. In den Laufbüchern überlagern sich die Begegnungen mit Orten und Landschaften mit historischen Berichten, lyrischen Passagen, physiologischen und medizinischen Betrachtungen und Beschreibungen der eigenen körperlichen Befindlichkeit. Nahtlose Übergänge von realistischen Bildern in phantastische Visionen auch hier. Gleichzeitig kommt in den ruhiger dahin fließenden Texten eine verspielte Heiterkeit zum Ausdruck, die als Beleg der heilsamen Wirkung dieser bewusstseinserweiternden Exerzitien auf den Probanten, sprich den Dichter, verstanden werden kann. Auch die Photonovellen lassen ahnen, wie die Bewegung des Körpers die Sinne schärft und Denkprozesse anregt. Die von ihm selbst aufgenommenen Photos fungieren als Auslöser für Kürzestgeschichten, deren Intensität das flüchtig festgehaltene Bild erneut in Bewegung setzt und in erweiterte Sinnzusammenhänge - persönliche, politische oder naturwissenschaftliche - stellt. Unter einer Photographie des Atlas-Gebirges steht zu lesen: Zitator: Die junge Besitzerin des Cafés de la Jeunesse verirrte sich im Gebirge, aber irgendwann gelangte sie nach Rabat und von dort zur Küste, wo sie ohne Paß, was viele taten, ans nahe liegende Festland übersetzte, der Zunge Europas, den Felsen von Gibraltar. Autorin: Zu einem eher unspektakulären Landschaftsphoto aus dem Allgäu wird erzählt: Zitator: Der südlichste Zipfel Deutschlands, das Allgäu, ist undramatisch und begrast. Von den 37 Blumen, die früher wuchsen, erringen kaum mehr welche Luft; zu viel Gülle, Odel, Jauche. Aus dem Dunst ragen österreichische und Schweizer Berge, die wir, vor allem mein Großvater, einziger Mann, dem ich je vertraute, erstiegen. Allerdings waren nach dem letzten Krieg bessere Stiefel knapp. Autorin: Lakonisch, mit leisem Humor und enzyklopädischem Wissen entlockt Herburger den von ihm aufgenommenen Photomotiven - Dingen, Tieren oder Landschaften - ihre vermeintlich innewohnenden Geheimnisse. Der assoziativen Phantasie sind auch hier keine Grenzen gesetzt. "Mikroromane" nennt er diese kleinen Bild-Text-Geschichten, in denen, wie in den Gedichten, Alltägliches dargestellt und magisch erhoben, in einen Schwebezustand gebracht wird. Paradiesische Zustände sind ohne stinkende Jauche nicht zu haben und auch in der Beschaulichkeit eines vermeintlich friedlichen Landlebens lauert die Gefahr des nächsten Krieges. Zitator: Im Paradies Der Garten bebt Beim Tanz der Weberknechte, zwischen den Bäumen steht eine Wanne, die Tropfenfalle. Sie umarmen sich, werden zu Familienaas, ausstülpend hellblaue Fruchtkugeln, Diamanten. Geschleudert auf einen Parkplatz, wo sie verenden sollen, hüpften sie zurück in die feuchte Wildnis, die wir ihnen bereitet haben. Vor allem die langen Leoparden vermögen noch den Deckel einer Abfalltonne zu heben. Eine junge Bäuerin sagt, wer für Jauche sei, müsse köpfen lernen, während Düsenjäger sich überschlagen, kämpfend gegen Westwind. Autorin: Im Vorwort des Gedichtbandes "Orchidee", den Günter Herburger seiner behinderten Tochter Kathrine gewidmet hat, mit der ihn ein lebenslanger, inniger Pakt verbindet, schreibt er: Zitator: In der Sprache von Hoffnung und Entsetzen sind die Welt, meine Tochter und ich eins, wobei der riesige Erdball sich weiterhin gleichmütig um seine schief geneigte Achse dreht, was uns mitunter schwindlig macht oder auch für Augenblicke in den Raum hinausschleudert. Da wir nur noch in Versen miteinander reden, glauben wir auch, einzelne Tiere und Pflanzen zu verstehen, die uns ermuntern, Gedichte ruhig als Luftschiffe zu benützen, denn wer nicht zu fliegen wage, verzichte auf Übersicht und Mut. 20