COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage vom 04.04.2010 Der lange Abschied - Das Los Angeles von Raymond Chandler Von Kerstin Zilm Regie: Atmo: Straßenbahn/belebte Straße 20er/30er-Jahre USA (muss leider aus dem Archiv kommen oder von einem Film. Falls nicht vorhanden, Musik der 20er- Jahre, Boogie oder Swing) Regie: SPRECHER: ZITAT AUS CHANDLER - Der lange Abschied Ein Tag im Leben eines Privatdetektivs. Was einen dazu bringt, bei so einem Job zu bleiben, weiß kein Mensch. Man wird nicht reich dabei, und viel Spaß macht er einem auch nicht oft. Manchmal wird man zusammengeschlagen, oder es wird nach einem geschossen, und manchmal landet man im Knast. Jeden zweiten Monat fasst man den Entschluss, den Kram hinzuschmeißen und sich einen vernünftigen Beruf zu suchen. Regie: SPRECHERIN: Literarische Plätze: 'Der lange Abschied' das Los Angeles von Raymond Chandler, eine Reportage von Kerstin Zilm Regie: Atmo noch mal hoch und unter Text Autorin: Auf Hochglanz polierte Gangsterlimousinen schieben sich auf vierspurigen Strassen zwischen zwölf- bis fünfzehnstöckigen Büro-, Geschäfts- und Bankgebäuden vorbei an tuckernden schwarzen Ford Modell Ts und ratternden Straßenbahnen. Über die Gehwege, vorbei an Bars, Buchläden und Zeitungsständen drängeln sich arbeitsuchende Tagelöhner, Bankangestellte und Ölspekulanten neben flanierenden jungen Frauen in Stöckelschuhen und engen Röcken. Zeitungsjungen rufen die neusten Nachrichten von Filmpremieren, rätselhaften Morden und Verstößen gegen die Prohibition in die von Abgasen geschwängerte Luft. Los Angeles in den 30er- Jahren - die am schnellsten wachsende Stadt der Welt ist im Übergang: von den rauschenden Festen der stürmischen Zwanzigerjahre zum nackten - und oft gewaltsamen - Kampf ums Überleben nach dem Börsenkrach im Oktober 1929. Privatdetektiv Philip Marlowe beobachtet all das aus seinem schmucklosen Büro im sechsten Stockwerk eines Mehrzweckgebäudes auf dem Hollywood Boulevard. Mit einer Zigarette in der Hand und einer Flasche Whiskey in der obersten Schublade seines Schreibtisches. Regie: SPRECHER ZITAT CHANDLER Ich öffnete weit die Fenster, damit der Geruch von Staub und Schäbigkeit abzog, der sich in der Nacht immer ansammelte und in der stillen Luft hing, in den Zimmerecken, in den Stäben der venezianischen Jalousien. Eine tote Motte lag wie ein protziger Wappenadler auf einer Ecke des Tisches. Ich wusste, das würde heute einer von diesen ganz verrückten Tagen, wo kein Mensch reingestolpert kommt außer den üblichen Pechvögeln, den Tölpeln, denen mal wieder jemand das Hirn geklaut hat, den Seelenklempnern, denen ihre Bekloppten entwischt sind, den Mechanikern, die immer ein Teil übrig haben. Regie: Atmo Hollywood Boulevard, Anpreisen von Führungen etc. Wo Privatdetektiv Philip Marlowe in den späten Zwanziger Jahren in seinem Büro auf Kundschaft wartet, preisen heute Marktschreier Touren mit dem Doppeldeckerbus zu Villen der Prominenten in den Hügeln von Hollywood an. Touristen lassen sich vor rosa Marmorsternen auf dem berühmtesten Bürgersteig der Welt, dem 'Walk of Fame', fotografieren und bestaunen in Beton gegossene Hand- und Fußabdrücke von Stars vor Grauman's Chinese Theater. Schauspieler mit der Hoffnung auf den großen Durchbruch in der Traumfabrik posieren verkleidet als Charlie Chaplin, Superman, Marilyn Monroe, Darth Vader, Elmo aus der Sesamstraße und andere Berühmtheiten für ein Trinkgeld mit den Besuchern aus aller Welt. Abseits vom Rummel versperrt ein schmiedeeisernes Tor den Aufgang zu einem unscheinbaren Haus. Die Treppe ist eingezwängt zwischen einem Souvenirshop voller Oscar- Nachahmungen aus Plastik, Schwarz-weiß Postkarten von Stars, T-Shirts und Plakaten sowie einem nur schwach beleuchteten Tätowierungssalon mit rot blinkender Neonreklame auf der anderen Seite. Die Klingeln neben der Treppe haben keine Namensschilder. Besucher müssen einen Code kennen, um sich bei den Bewohnern anzumelden. Regie: Atmo Klingeln "Archer Investigation .. I will be right there to get you" Regie: Atmo Treppe hochgehen zum Büro Autorin: Eine drahtige, kleine Blondine Ende vierzig in Jeans und weißem Herrenhemd, das kurze, dicke lockige Haar hinter die Ohren gesteckt, öffnet lächelnd das Eisentor, geht voraus die Treppe hinauf und einen langen mit grünem Teppich ausgelegten Flur entlang zu ihrem Büro. Kein Hinweis darauf, dass sich hinter der weißen Tür der Arbeitsplatz einer Privatdetektivin verbirgt Regie: Atmo im Büro Autorin: Die weiß gestrichenen Wände sind abgesehen von kleinen, mit Reißzwecken festgehaltenen ungerahmten Urlaubs- und Familienfotos schmucklos. An der Tür klebt eine bunte Straßenkarte von Hollywood. Dicke schwarze Sterne markieren Mord-Tatorte in der Wohngegend der Stars. Neben der Tür steht ein halb leeres Regal aus hellem Holz. Gegenüber neben dem Fenster schmückt ein Miniatur-Zen- Garten eine niedrige Kommode. Privatdetektivin Cheryl Bombaugh lässt sich in einen schwarzen Lederdrehstuhl hinter ihrem Holzschreibtisch mit Lederauflage fallen. Für Kunden stehen vor dem Tisch zwei Designer-Metallstühle. Den größten Teil ihrer Arbeitszeit verbringt Privatdetektivin Cheryl Bombaugh am Computer. Sie übernimmt vor allem Routineüberprüfungen für Unternehmer, die neue Mitarbeiter einstellen, für Eltern, die mehr über Bewerberinnen um einen Babysitter-Posten wissen wollen oder für Anwälte, die entlastende Informationen für ihre Klienten und belastendes Material über den Gegner brauchen. Regie: 1. O-Ton Cheryl Bombaugh/SPRECHERIN "It's a nice thing about ... via the computer and the phone." Das gute daran, heutzutage Privatdetektivin zu sein ist, dass man wirklich von überall arbeiten kann. Ich könnte an einem Strand in Australien sitzen und an einem Fall arbeiten. Die meisten werden über Computer und Telefon gelöst. Autorin: In ihrem Regal hat Bombaugh neben Fachbüchern auch ein paar Romane und Krimis stehen. Moderne Geschichten mit weiblichen Helden liest sie lieber als Chandler Romane über das Los Angeles der 20er und 30er-Jahre mit Privatdetektiv Philip Marlowe. Sie würde gerne mal wie Marlowe in einer Bar einen Whiskey bestellen, aber sie mag außer Bier und Wein keinen Alkohol. Anders als der Held der Raymond Chandler Krimis geht sie Gewalt aus dem Weg und gibt gefährliche Aufträge lieber an Kollegen weiter. Sie denkt, sie hat es einfacher als Männer, in scheinbar beiläufigen Gesprächen Informationen aus Personen herauszulocken. Bombaugh hat eine Pistole in der Schublade, die sie bei der Arbeit hinten im Hosenbund trägt und eine Mini-Kamera versteckt in einem Lippenstift. Wie Marlowe macht sich die Privatdetektivin gerne allein auf Spurensuche und misstraut der Polizei. Manchmal erlebt sie in diesem Büro sogar Momente, die aus einem Chandler-Krimi sein könnten: Regie: 2. O-Ton Cheryl Bombaugh/SPRECHERIN "I had a woman ... he wasn't cheating.' Einmal kam eine Frau in mein Büro und gab mir zehn tausend Dollar bar auf die Hand. Eine schöne Blondine, die dachte, dass ihr Mann eine Affäre hat. Ich hab ein Photo gemacht mit mir und dem Geld, weil ich soviel noch nie vor mir hatte. Ihr Mann war professioneller Baseballspieler. Ich flog zwei meiner Jungs nach Texas zu seinem nächsten Spiel. Sie fanden heraus: er hat sie nicht betrogen. Regie: SPRECHER ZITAT CHANDLER: Der lange Abschied Es gibt solche Blondinen und solche. Alle Blondinen haben ihre Mucken, mit Ausnahme vielleicht nur der wasserstoffblonden, die jenseits der Chemie so blond sind wie ein Zulu und von Gemüt so glatt wie ein Bürgersteig. Da gibt es das kleine süße Blondchen, das piepst und zwitschert, und die große statuenhafte Blondine, die nur einen einzigen ihrer eisblauen Blicke braucht, um einen auf Distanz zu halten. Da gibt es die sanfte und willige Blondine mit dem Hang zum Alkohol und die kleine kesse Blondine, die für sich selbst zahlen will. Und schließlich die Superblondine, das Prachtstück zum Vorzeigen, das drei Klassegangster hinter sich bringt und dann ein paar Millionäre heiratet und am Ende eine hellrosa Villa am Cap d'Antibes hat, einen Alfa Romeo der Luxusserie, komplett mit Fahrer und Beifahrer und einen Stall voll abgelebter Aristokraten, die sie alle mit der liebenswürdigen Geistesabwesenheit eines bejahrten Herzogs behandelt, der seinem Butler gute Nacht sagt. Regie: Musik: Swing 'On with the dance' Autorin: Im Downtown Los Angeles der späten zwanziger Jahre schallt einige Häuserblocks süd-östlich vom Hollywood Boulevard Grammophon-Musik aus fensterlosen, verrauchten Bars und Kneipen, in denen unter der Theke verbotener Alkohol lagert: die neusten Hits aus Filmen mit Fred Astaire und aus Revuen mit leicht bekleideten Damen, die erfolgreich am Broadway und in Hollywood laufen. Hier genehmigt sich der damals stellvertretende Geschäftsführer eines Ölunternehmens, Raymond Chandler, regelmäßig ein paar Drinks nach Feierabend. Im legendären Los Angeles Athletic Club, einem luxuriösen Fitnessclub mit angeschlossenem Hotel, Bar und Restaurant spielt Chandler Jahre lang montags bis freitags von elf bis dreizehn Uhr Bridge. Menschen, die er hier trifft werden Vorbilder für Helden seiner Philip-Marlowe-Krimis. Chandler beginnt Gangsterromane zu schreiben, nachdem er entlassen ist aus dem Ölgeschäft - wegen Aufmüpfigkeit und Trunkenheit. Regie: Atmo: hoch gehen auf Dach Athletic Club, dann Atmo auf dem Dach Autorin: Achtzig Jahre später steigt Richard Schave auf das Dach des Los Angeles Athletic Club. Der knapp Vierzigjährige mit schulterlangem, dunkelblondem Haar, brauner Weste über zerknittertem weißem Hemd schleppt eine halb geöffnete Riesenledertasche, aus der Papiere, Bücher und ein Laptop quellen. Er leitet Führungen durch Los Angeles auf den Spuren des Krimiautors Raymond Chandler. Schave zeigt auf die Straße zehn Stockwerke weiter unten. Er stellt die Tasche ab und deutet auf eine Straßenecke: siebte Strasse und Broadway. An genau dieser Kreuzung zwischen Bars und Bordellen hört Chandler zum ersten Mal dem Mann zu, der Pate stehen wird für den Charakter des unbestechlichen Privatdetektivs Philip Marlowe. Es ist ein Polizist, der keine Angst hat für Entdeckung und Verteidigung der Wahrheit Prügel einzustecken, der Korruption auf die Spur kommt und beim Namen nennt. Dieser Mann patrouilliert genau hier, auf den Straßen vor dem Los Angeles Athletic Club. Regie: 3. O-Ton: Richard Schave/SPRECHER "He was a police investigator ... and he quit after that." Er war bei der internen Ermittlung und sie haben ihn zurückgestuft. Es gibt Artikel über ihn in den Zeitungen von 1928. Er war berühmt an der Ecke 7te Strasse und Broadway, weil er sich immer beschwerte, wie korrupt der Bürgermeister ist. Philip Marlowe wurde aus seinem Job beim Bezirks- Staatsanwalt entlassen weil er zu effizient war. Dieser Polizist wurde zurückgestuft, weil er tatsächlich Fälle löste. Danach hat er gekündigt. Autorin: Beim Blick hinunter auf die belebte fünfspurige Straße und auf die Gehwege, auf der sich Geschäftsleute in Eile vorbeidrängen an Latinos, die Wagen voll Süßigkeiten, Mais und Obst vor sich herschieben, an bettelnden Obdachlosen, neugierigen Touristen und an Geschäftsbesitzern, die ihre Ware anpreisen, kann man sich gut vorstellen, wie Chandler hier Vorbilder auch für die anderen Hauptpersonen seines Romans 'Der lange Abschied' findet: da ist zum einen der mysteriöse Kriegsveteran Terry Lennox mit vernarbtem Gesicht und Hang zum Alkohol. Er steht unter dem Verdacht des Mordes an seiner Frau und bittet Marlowe, ihn über die Grenze nach Mexiko zu bringen. Außerdem gibt es den Bestseller-Autoren mit Schreibblockade. Roger Wade wohnt mit seiner Frau, der rätselhaften Blondine Eileen, in den vom Smog verschonten Hügeln abseits der Stadt in einer Villa am See. Bis heute flüchten Millionäre vor Paparazzi und Doppeldeckerbussen mit Touristen in diese Hügel. Sie geben in klarer Luft Cocktailparties für die anderen Reichen und Schönen und bleiben am liebsten unter sich. Sie nehmen Beruhigungsmittel, Aufputsch- und Schlaftabletten wie die Hauptfiguren der Chandler Romane. Und manche sterben an einer tödlichen Mischung. Privatdetektiv Philip Marlowe zieht es vor, in der Stadt zu leben. Seine Kunden führen ihn zu Abstechern in diese Enklaven. Raymond Chandler beobachtet diese Welt durch die Augen seines Helden Marlowe mit distanzierter, beißender Ironie und voller Misstrauen: Regie: Atmo draussen, Grillenzirpen, müsste bitte aus dem Archiv kommen Regie: SPRECHER ZITAT CHANDLER Der lange Abschied Ich ging hinaus und ließ die Tür offen. Ich durchquerte das Wohnzimmer, trat auf den Patio, zog mir einen der Liegestühle in den Schatten des Vordaches und streckte mich darauf aus. Über dem See, vor den Bergen, lag blauer Dunst. Die Meeresbrise hatte begonnen, über die niedrigen Hügel nach Westen durchzudringen. Sie wischte die Luft sauber und die schlimmste Hitze weg. Idle Valley bekam den vollkommenen Sommer. Das war extra so eingerichtet. Paradies GmbH, striktes Sperrgebiet. Nur die nettesten Leute zugelassen. Keine Zentraleuropäer. Bloß die Creme, die Leute aus der obersten Schublade, die ganz, ganz feinen Leute. Das pure Gold. Regie: Atmo Dach Athletic Club Autorin: Über Los Angeles hängt an heißen Sommertagen blau- gelber schwerer Dunst. Brennt es mal wieder in den ausgetrockneten Bergen rund um die Stadt, mischen sich unter Abgase aus Auspuffrohren Aschepartikel und beißender schwarzer Rauch. An klaren Tagen ein Blick: von den Hochhäusern der Innenstadt bis zum Pazifik im Westen und zu schneebedeckten Bergen der Sierra Nevada im Osten. Chandler-Tour-Führer Richard Schave dreht sich auf dem Dach des Athletic Club einmal um sich selbst und macht dabei eine weite Handbewegung zum Horizont im Nordosten. Er zeigt auf ein Hotel, die Polizeizentrale, das Verlagshaus der Los Angeles Times und das leuchtend weiß gestrichene Rathaus. Zu Zeiten Raymond Chandlers liegt zwischen diesen Gebäuden das Zentrum des Verbrecherkartells von Los Angeles. Ein paar Männer - bekannt als die sogenannte 'Combination' - kontrollieren die Unterwelt der jungen Metropole an der Westküste, deren Einwohnerzahl zwischen 1920 und 1930 sich von knapp 580 tausend mehr als verdoppelt. Die Gruppe arbeitet Hand in Hand mit Rathaus und Polizei. Die bekämpft das organisierte Verbrechen nicht. Sie steuert es. Unverzichtbar für den Erhalt dieses kriminellen Machtkartells sind die Medien. Der mächtigste Zeitungsverleger der Zeit ist der Prototyp jedes einflussreichen Strippenziehers, gegen den Raymond Chandler in seinen Romanen den Held Philip Marlowe kämpfen lässt. Regie: 4. O-Ton Richard Schave/SPRECHER "For Chandler power was ... public policy for 35/40 years." Für Chandler war Macht gleichbedeutend mit Korruption. Denn wer Macht hat, ist empfänglich für Bestechung, nimmt Schmiergeld und gibt denen, die ihn bestechen das, was sie wollen. Das ist nicht unbedingt im Interesse der Öffentlichkeit. Ich glaube keiner hat das für Raymond Chandler so symbolisiert wie Harry Chandler, der Herausgeber der Los Angeles Times. Er war der Inbegriff der sogenannten Regime-Politik, einer kleinen Gruppe reicher Männer, die aus dem Herzen der Stadt 30, 40 Jahre lang die Politik lenkten. Regie: SPRECHER ZITAT CHANDLER Der lange Abschied Wer Zeitungen besitzt und verlegt, ist ein reicher Mann. Reiche Männer aber gehören alle zum selben Klub. Sicher, es gibt schon Konkurrenz - harten, zähen Wettkampf um Auflagen, Sensationsnachrichten, Exklusivberichte. Aber bloß so lange, wie dergleichen nicht dem Prestige, den Privilegien und der Position der Besitzer gefährlich wird. Kommt's mal so weit, plumps, fällt die Klappe. Ich weiß nicht, wie man sich fühlt, wenn man hundert Millionen schwer ist, aber er sah nicht aus, als wüsste er dem Leben noch sonderlich viele lustige Seiten abzugewinnen. Er war der Große Mann, der gewonnen und alles unter Kontrolle hatte. "Vielleicht kann ich Ihnen in nächster Zeit mal ein paar Aufträge zuschanzen", sagte er. "Und gehen Sie nicht mit dem Gedanken von hier weg, dass ich mir Politiker oder Justizbeamte kaufe. Das habe ich nicht nötig." Regie: Atmo Roulettetische etc. auf Schiffen Autorin: Während Philip Marlowe in 'Der lange Abschied' langsam aber sicher die Rätsel um das Narbengesicht Terry Lennox, die rätselhafte Blondine Eileen Wade und ihren selbstzerstörerischen Schriftstellergatten löst, läuft in Los Angeles der letzte Akt der stürmischen zwanziger Jahre. Auf Schiffen vor der Stadt haben Glücksspiele Hochkonjunktur. Der Handel mit verbotenem Alkohol ist profitabel wie nie zuvor. Das mit Bestechungsgeld geölte Machtkartell aus Polizei, Politik und Medien bestimmt die Schlagzeilen, entscheidet, wo Bomben explodieren, wer vom Geschäft mit der verbotenen Ware profitiert, wer ein paar Schläge in die Magengrube bekommt, wer hinter Gittern landet und wer an der Macht. Chandler-Experte Richard Schave erzählt mit einer mitreissenden Mischung aus Begeisterung und Abscheu vom Los Angeles der 20er und 30er-Jahren. Seine Handbewegungen werden mit ausladender, seine Augen glänzen, sein Hemd ist ihm aus der Hose gerutscht Regie: 5. O-Ton Richard Schave/SPRECHER "Raymond Chandler saw ... was in charge of organized crime." Raymond Chandler hat viel gesehen. Downtown Los Angeles war sündhaft verdorben. Prohibition, Drogen, Prostitution, alles gelenkt aus dem Büro des Bürgermeisters. Anders als Chicago, New York, Philadelphia und Bosten hatte Los Angeles lange kein Verbrechersyndikat. Es hatte Bürgermeister. Die leiteten das organisierte Verbrechen. Regie: Atmo Dach mit Hubschrauber Autorin: Schave holt einen Laptop aus seiner Ledertasche, streicht sich die Haare aus dem Gesicht, schaut kurz zum Polizeihubschrauber, der über den Dächern der Wolkenkratzer kreist und geht in die Hocke. Er öffnet den Computer auf seinen Knien und klickt auf dem Bildschirm ein Lautsprechersymbol an. Regie: Atmo BBC-Aufnahme Chandler Interview, kurz stehen lassen, dann Text drüber Autorin: Aus dem Computer klingt verzerrt und rauschend ein BBC- Interview mit Raymond Chandler, aufgezeichnet 1958, ein Jahr vor dem Tod des Schriftstellers. Das Interview führt der britische Autor Ian Fleming, der berühmt ist vor allem für den von ihm geschaffenen Charakter James Bond. Raymond Chandlers Zunge ist vom Alkohol schwer. Nur bei genauem Hinhören ist er zu verstehen. Regie: 6. O-Ton Raymond Chandler/SPRECHER "Well, I lived many years ... He is like me." Ich habe viele Jahre in Los Angeles gelebt und zu meiner Zeit hatte noch niemand realistisch über Los Angeles geschrieben. Ein Privatdetektiv ist ein Katalysator, der Situationen klärt. Er existiert nicht, außer man kann ihn realistisch erscheinen lassen. - Marlowe scheint realistisch, ich kann ihn mir gut vorstellen - weil ich ihn so lange kenne. Er ist immer verwirrt. Er ist wie ich. Autorin: Privatdetektiv Marlowe ist nicht nur verwirrt. Er ist desillusioniert, zynisch und gleichzeitig gesteuert von dem Willen, das moralisch Richtige zu tun. Im "langen Abschied" bedeutet das, zu denen zu stehen, die vom Rest der Gesellschaft schon abgeschrieben sind. Regie: SPRECHER ZITAT CHANDLER Der lange Abschied Ein Teil von mir wollte ihn seinem Suff überlassen. Der andere Teil wollte abhauen, aber das war der Teil, auf den ich nie gehört habe. Denn wenn ich das je hätte, dann wäre ich in der Kleinstadt geblieben, in der ich geboren bin, hätte in der Eisenwarenhandlung gearbeitet und die Tochter des Chefs geheiratet, hätte fünf Kinder gehabt und ihnen am Sonntagmorgen aus dem Witzblatt vorgelesen. Die Frau mit gusseisernen Dauerwellen und ich mit einem Gehirn wie ein Sack Zement. Sicher, Sie würden da zugreifen, Freund. Ich wähle die dreckige, widerliche, vergaunerte Großstadt. Regie: Atmo belebte Straße Autorin: Noch immer sind viele Straßen von Downtown Los Angeles dreckig. Pläne, die Innenstadt der Metropole aufzupolieren sind angesichts leerer Kassen auf Eis gelegt. Vorzeigeprojekte - wie die blendenden Stahlsegel der von Stararchitekt Frank Gehry entworfenen Philharmonie, das mehr als 50stöckige Marriott Hotel sowie Neonschilder vor restaurierten Kinos und neu eröffneten Bars, die auf Kunden aus renovierten Wohnungen im Loft-Stil hoffen - strahlen hervor zwischen riesigen Parkplätzen, leerstehenden Lagerhallen und zerfallenden Art-Deco- Gebäuden: die blendenden Stahlsegel der von Stararchitekt Frank Gehry entworfenen Philharmonie, leuchtende Werbeplakate von Oper und Museen,. Nachts stellen Obdachlose auf den Bürgersteigen vor Hallen und Parkplätzen Zelte auf, legen sich auf Pappkartons, trinken Dosenbier und billigen Wein, löffeln kalte Suppe aus der Dose und warten auf einen besseren Tag. Das Viertel zieht die selben Menschen an, wie vor neunzig Jahren. Richard Schave zeigt auf schwarz-weiss-Photos aus der Zeit, in der Privatdetektiv Philip Marlowe mit seinem Oldsmobil über den Broadway fuhr. Abgesehen von den Automodellen und der Mode hat sich nicht wirklich viel verändert Regie: 6. O-Ton Richard Schave/SPRECHER "very tough neighbourhood ... that the depression produced." Es war eine sehr raue Gegend. Ein Kommen und Gehen von Männern, die per Anhalter oder schwarz mit der Bahn in die Stadt kamen, in Obst- und Gemüsehallen beim Abladen der Fracht halfen, sich betranken, in Stundenhotels ihren Rausch ausschliefen - es war eine Welt von Männern, die die Depression produzierte. Regie: Atmo Autofahrt Autorin: Von der rauen Gegend zwischen den Hochhäusern in Downtown Los Angeles führt inzwischen eine Stadtautobahn in wenigen Minuten nach Hollywood. Im Vorbeifahren sieht man unter den Brücken des Freeways improvisierte Schlafstädten - meist gebaut von jungendlichen Obdachlosen, deren Traum vom Durchbruch in Hollywood scheitert. Die Abfahrt 'Hollywood Boulevard' führt zum Walk of Fame, zu Doppeldeckerbussen, Imitatoren der Stars, die mit Touristen posieren und dem versteckten Büro von Cheryl Bombaugh. Regie Atmo Büro mit Computertippen Autorin: Die Privatdetektivin arbeitet zufrieden lächelnd an ihrem Computer. Sie hat gerade einen Fall erfolgreich gelöst. Ein Porsche, den dessen Besitzer verliehen und danach Jahre lang nicht mehr gesehen hat, ist gefunden. Regie: O-Ton/SPRECHERIN "This Porsche guy who was ... that was a really wild case." Dieser Porsche-Typ wollte das Auto verkaufen, hat eine Anzeige in die Zeitung gesetzt und dieser Typ sagt, er will eine Testfahrt machen. Er gibt ihm einen Ausweis und zwei-, dreitausend Dollar als Sicherheit. Er hat ihn nie wieder gesehen. Das Seltsame ist, dass er vier Jahre lang nicht versucht hat, das Auto zurückzukriegen. Das war ein verrückter Fall. Autorin: Um ihn zu lösen, muss die Privatdetektivin ihr Büro nur verlassen, um sich bei Gebrauchtwarenhändlern nach dem metallicblauen Auto umzuhören. Die Spur, die sie schließlich zum Porsche führt, findet sie aber im Internet. Auch die Recherche für den neusten Auftrag beginnt Cheryl Bombaugh am Computer. Es geht um verschwundene Photos. Die wurden von einer digitalen Kamera gemacht. Also bringt es nichts, in einem Labor nachzufragen, ob dort vor kurzem Bilder von einer Hochzeit in Hollywood zum Entwickeln abgegeben wurden. Die Privatdetektivin wird gebraucht, weil sie weiß, in welchen Datenbanken welche nützlichen Informationen zu finden sind. Ein paar Fakten hat sie schon gesammelt. Regie: O-Ton Cheryl Bombaugh/SPRECHERIN "Somebody hired me ... to two or three other couples." Meine Auftraggeber haben einem Photographen Tausende Dollars gegeben, damit er Hochzeitsphotos macht. Sie haben die Photos nie bekommen. Erstens ist der wichtigste Tag ihres Lebens nicht dokumentiert, sie haben außerdem zehntausend Dollar gezahlt und nichts dafür bekommen. Er ist verschwunden. Seine Webseite steht noch, er hat noch ein paar Sachen laufen. Und er hat dasselbe mit zwei, drei anderen Paaren gemacht. Regie: Atmo Hollywood Boulevard Markstschreier Autorin: Schwer vorstellbar, dass Philip Marlowe an Detektivarbeit am Computer viel Gefallen findet. Sowenig wie das Los Angeles von heute: die Metropole am Pazifik ohne rätselhafte Blondinen, verrauchte Kneipen, Buchläden und Zeitungsstände - nichts für Marlowe. Laurel Canyon, der Stadtbezirk, in dem Marlowe in einer billigen Wohnung lebt, verwandelt sich in eine teure Gegend verwandelt, in die sich Künstler und Aussteiger zurückziehen. Die Stadt, auf die sie von dort aus hinabschauen hat sich jedoch im Wesentlichen kaum verändert. Regie: Atmo: Stadt mit Sirenen aus der Ferne (vermutlich am besten aus dem Archiv. Ich hab allerdings Sirenen und Strassengeräusche, falls notwendig) Regie: SPRECHER ZITAT CHANDLER Der lange Abschied Als ich heimkam, mixte ich mir einen Steifen und trat damit ans Wohnzimmerfenster und lauschte der Grunddünung des Verkehrs auf dem Laurel Canyon Boulevard und betrachtete die Lichter der großen, bösen Stadt, die sich an den Hängen der Hügel hinzog. In der Ferne stieg und fiel das geisterhafte Klagen der Polizei- oder Feuerwehrsirenen, nie war es lange still. Vierundzwanzig Stunden am Tag läuft jemand davon, vierundzwanzig Stunden am Tag läuft jemand hinter ihm her, um ihn zu fangen. Da draußen in der Nacht der tausend Verbrechen starben Menschen, wurden verstümmelt, zusammengeschlagen, ausgeraubt, gewürgt, vergewaltigt und ermordet. Menschen waren hungrig, krank, gelangweilt, verzweifelt vor Einsamkeit oder Reue oder Angst, waren zornig, grausam, fiebernd erregt, von Schluchzen geschüttelt. Eine Stadt, nicht schlimmer als andere, eine Stadt , reich und kraftvoll und stolz, eine Stadt, verloren und verlassen und voller Leere. 1