Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 1. November 2010, 19.30 Uhr Was wäre wenn ... ? Ungeschehene Geschichte und nicht gelebte Leben Eine Sendung von Heiner Kiesel Geräusch: Wabern aus Raining Oil, Jarhead, Thomas Newman Alexander Demandt: Geschichte soll ja nicht nur Dinge feststellen, die der Fall waren, sondern soll die Leute auch zum Nachdenken anregen. Tobias Rosefeldt: Ich verstehe besser, warum die Kugel wegrollt, wenn ich weiß, dass sie nicht weggerollt wäre, wenn die andere Kugel sie angestoßen hätte. Gerd Gigerenzer: Das sind so Fragen, die sich jeder stellt und die auch wichtig sind zu stellen, dass man versteht, dass man sehr viele Leben hätte leben können. Hermann Nicolai: Jeden Moment dieser Interpretation zufolge, spaltet sich unsere Welt auf in immer neue Welten, in denen alle Möglichkeiten realisiert sind. Geräusch Fade Spr. vom Dienst Was wäre wenn ... ? Ungeschehene Geschichte und nicht gelebte Leben Eine Sendung von Heiner Kiesel Geräusch: Senderwechsel/Rauschen Musik: Einige Takte von "Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wär´" Ben Berlin, Tanzorchester Geräusch: Senderwechsel/Rauschen Einspielung: Vorspann Aktuelle Kamera (DDR) Übersetzerin (leichter Ost-Akzent!) Guten Abend meine Damen und Herren zur Aktuellen Kamera. Die Themen im Überblick. Neuer gesellschaftlicher 40-Jahres-Plan der SED. Lage der Obdachlosen auf Haiti immer dramatischer. Energiekooperation mit Norwegen. Bestnoten für Polytechnische Oberschule in internationalen Vergleichstests. Geräusch: Papierrascheln, Seite ablegen Übersetzerin 20 Jahre nach dem historischen Wendeparteitag der SED hat die Parteiführung ein neues Konzept für die Weiterentwicklung der Gesellschaft beschlossen. Es sieht weitreichende Schritte zur Aufarbeitung der Ereignisse im November 1989 und die Neuausrichtung des Wirtschaftssystems vor. Weiter erklärte die Vorsitzende des Planungsstabes, Angela Merkel: Angela Merkel Was wir mit dem Konzept, das wir entwickelt haben, machen - und das für eine lange Zeit, wir haben das Jahr 2050 im Blick, das ist nicht weniger als eine Revolution. Und das ist eine Revolution, die planbar wird und damit auch eine wesentliche qualitative Veränderung in wenigen Jahrzehnten mit sich bringen wird. Geräusch: Senderwechsel/Rauschen Alexander Demandt Geschichte soll ja nicht nur Dinge feststellen, die der Fall waren, sondern soll die Leute auch zum Nachdenken anregen über das, was möglich ist und das was wünschbar ist und das, was hätte vermieden werden können. Autor Alexander Demandt, emeritierter Professor für Geschichte an der Freien Universität von Berlin. Alexander Demandt Man hat sich ja überlegt, wie die DDR im Jahre 2000 ausgesehen hätte, wenn sie noch mal einen Kredit bekommen hätte. Ich glaube, selbst wenn es damals ein Gemetzel gegeben hätte, das hätte an der politischen Gesamtsituation nicht viel geändert. Die DDR war einfach nicht zu retten. Das Sterben hätte sich ja nur verlängert. Autor Der Historiker versucht die faktische Geschichte besser zu verstehen, indem er ihr eine kontrafaktische gegenüberstellt. Ein Waswärewenn-Zustand, der bei der DDR für Demandt immer wieder im Zusammenbruch endet. Es ist ein erdachter Hintergrund, vor dem er die Prozesse und Entscheidungen bei der tatsächlichen Staatsauflösung einordnet und bewertet. Seine Methode verspricht wissenschaftliche Erkenntnis durch imaginäre Beweise. Den Fachkollegen, die darüber den Kopf schütteln, begegnet Demandt selbstbewusst. Alexander Demandt Weil der Historiker, der kontrafaktische Geschichte betreibt, nicht einfach erzählt, nicht einfach phantasiert, sondern argumentiert aus dem Arsenal der Fakten, aus dem Arsenal der bestehenden Entwicklungen, der nachweisbaren Tendenzen und spinnt die einfach fort. Sozusagen das Schachbrett der Geschichte übernimmt er, die Spielregeln übernimmt er, die Figuren übernimmt er auch. Er erfindet keine neue Figuren und Spielregeln, sondern er spielt nur ein anderes Spiel. Autor Für die Skeptiker unter den Historikern hat Demandt in einem ausführlichen Traktat Regeln und Anforderungen für die kontrafaktische Partie niedergelegt. Startposition ist stets ein Schlüsselereignis der Vergangenheit. Eines, das auch ganz anders hätte sein können. Geräusch: Zurückspulen Geräusch: Wabern aus Raining Oil, Jarhead, Thomas Newman Collage Günther Schabowski: Also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsbesuchen beantragt werden. Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. (Geräusch Sirene) George W. Bush: Terrors attacks can shake the foundations of our biggest buildings, but they can not touch the foundations of America. Adolf Hitler: Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Capitán 23 F Staatsstreich: Al suelo (Schüsse) Nachrichtensprecher: Three shots were fired at President Kennedy´s motorcab today, Downtown Dallas. Angela Merkel: Es ist heute schlicht und ergreifend so, dass Sie heute nicht gewonnen haben und Rot-grün nicht gewonnen hat, das ist die Realität. Nachrichtensprecher: The future occupant of the White House is hanging in the balance tonight and it could still be several days until we know who will be our next president. Geräusch: Atombombe - langer Fade, darüber Autor Dann wird die Schlüsselsituation verändert. Damit entsteht der gedankliche Raum für eine ungeschehene Vergangenheit. Das "Was" nach einem nicht realen "Wenn". Eine schnörkellose Variante dafür hat der Autor Ralph Giordano für sein Buch "Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte" gewählt. Ralph Giordano Nachdem ich wider Erwarten überlebt hatte, ist das natürlich überhaupt etwas gewesen, was im Mittelpunkt meines Forschungsdranges gestanden hat. Was wäre gewesen, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Geräusch Marschkolonne, im Hintergrund, darüber Autor Giordano hat eine akribische Aufzeichnung der Pläne der Nazis verfasst. Von der stufenweisen Eroberung der Welt, dem breit angelegten Völkermord und der Versklavung Osteuropas bis hin zu den größenwahnsinnigen Bauprojekten für die Welthauptstadt Germania. Ralph Giordano Diese SS-Führung, auf die das ganze hinausgelaufen wäre, für die wären die Deutschen selber, für diese braune Führerkaste, diese braune Nomenklatura, wären die Deutschen nichts als Heloten gewesen, Sklaven! Autor Giordanos Beschreibung des Ungeschehenen bleibt statisch bei der Vorstellung, die Nazis hätten ihre Pläne eins zu eins umgesetzt. Giordano lässt keinen Raum für Wechselwirkungen. Nichtsdestotrotz ist dieses "Was wäre wenn?" aufschlussreich in seiner Klarheit. Ralph Giordano Es gibt keine Vollcharakteristik des Nationalsozialismus, ohne dass man diese Pläne kennt - das sage ich grundsätzlich und prinzipiell -, ohne dass man weiß, welche Pläne sie hatten und was für eine großartige, humane Leistung es war, diese Pläne unschädlich zu machen, was für eine ungeheure Leistung die Anti-Hitler-Koalition des 2. Weltkrieges gewesen ist. Und die hat´s verhindert. Autor Der kontrafaktisch untersuchende Historiker wählt einen dynamischen Ansatz. Er versucht, möglichst alle Faktoren und Wechselwirkungen zu berücksichtigen, die für den irrealen Fortgang der Geschichte wichtig sind. Denn: Auch im Irrealen ist es wichtig, dass die Kette aus den vielen Wenn und Dann, dass die Kausalkette belastbar bleibt. Bei diesem komplexen Gedankenspiel kann eine Welt entstehen, die zwar nicht real, aber doch sehr wahrscheinlich ist. Hier lässt sich erforschen, ob ein Präsident Al Gore einen besseren Job gemacht hätte als George Bush, und lässt sich die Dynamik einer Welt abschätzen, in der Alexander der Große an Altersschwäche gestorben wäre... ...oder Pontius Pilatus Jesus begnadigt hätte. Geräusch Trichter Alexander Demandt Dann hätte es kein Kreuz, keine Auferstehung, keine Erlösung gegeben und auch keinen Paulus. Pilatus hätte aber auch die Apostel umbringen können, dann hätte es auch kein Christentum gegeben, denn niemand hätte das verkünden können. Aber auf der anderen Seite ist es so, dass in der Zeit Jesu´ eine ganze Reihe von Messiasfiguren aufgetreten sind, die zeigen, dass man damals das Gefühl hatte, dass eine neue Zeit anbricht, wir brauchen einen Erlöser, wir brauchen einen Erretter. Übersetzer Hinter dem Gedankenexperiment der Alternativgeschichte steht die grundlegende Frage nach den Kräften, die unsere Geschicke bewegen. Wie hängen charismatische Führerpersönlichkeiten und übergeordnete Strukturen zusammen? Es geht um die Bedeutung einer Einzelentscheidung angesichts von Innovationen, Demographie und Ökonomie. Was war vermeidbar, was unausweichlich? Geräusch Billardkugeln Autor Es sind Fragen, die in den Naturwissenschaften durch Beobachtung geklärt werden. Das ist ein Standard, der in allen Wissenschaften bevorzugt wird. Entsprechend sind die Vorbehalte unter den Historikern. Gavriel Rosenfeld Alternate history or counter-factional history ... of thing historians will talk about when they´re drunk on a cocktailparty. darauf Übersetzer Alternativweltgeschichte oder kontrafaktische Geschichte ist immer als Small-talk verhöhnt worden. Das ist der berühmte Ausspruch des britischen Historikers Edward Hallet Carr. Es ist so das, über das Historiker sprechen, wenn sie betrunken sind. Autor Der US-Historiker Gavriel David Rosenfeld. Er beobachtet ein Umdenken unter seinen Kollegen. Gavriel Rosenfeld You might be familiar with the historian Niall Fergusson ... that´s a very recent phenomenon of the last 15 or 20 years I think. darauf Übersetzer Sie kennen vielleicht den Historiker Niall Fergusson. Der hat 1996 die erste große Essaysammlung, Virtuelle Geschichte, herausgebracht, mit Texten von namhaften Historikern darüber, wie wir objektiv über das Waswärewenn der Geschichte nachdenken können. Also, die Historiker selbst behandeln es ernsthafter. Das ist eine recht frische Erscheinung der letzten 15 oder 20 Jahre. Autor Es ist Fachliteratur, die es in die Bestsellerlisten schafft. Sicher ist auch das ein Motiv für die zunehmende Beschäftigung renommierter Wissenschaftler mit der plausiblen, aber irrealen Geschichte. Dennoch, die späte Hinwendung überrascht, denn diese Zugangsweise hat eine lange Tradition. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Catherine Gallagher lehrt in Berkley/Kalifornien. Sie erforscht das Kontrafaktische als kulturelles Phänomen. Catherine Gallagher It was a common rhetorical exercise for roman schoolboys ... , he has several decades worth of critical military histories to use. darauf Übersetzerin Es war eine übliche Rhetorikübung für römische Schüler, aufzuschreiben, was passiert wäre, wenn Alexander der Große Rom angegriffen hätte. Schließlich haben Militärhistoriker angefangen es ganz ernsthaft als Methode im späten 18. Jahrhundert einzusetzen. Und es setzt sich besonders in der deutschen Militärgeschichte durch. Als Clausewitz über den Krieg schreibt, steht ihm schon die Vorarbeit mehrerer Jahrzehnte zur Verfügung. Autor Catherine Gallagher hat bei den Militärstrategen eine weitere Spielart des Waswärewenn ausgemacht: Sie vervollkommnen ihre Strategien, indem sie Erfahrungen aus verschiedenen parallelen Verläufen bündeln. Sie akkumulieren, statt jede Alternative für sich stehen zu lassen. Jenseits der Schlachtenforschung bleibt das Waswärewenn vor allem auf eine Randnotiz beschränkt. Es dauert bis ins 19. Jahrhundert, bis jemand wirklich ausführlich über eine entgangene Vergangenheit schreibt. Enttäuscht über Napoleons Scheitern, greift Louis Napoléon Geoffroy-Château zur Feder. Catherine Gallagher He writes a book how Napoleon instead of lingering in the ashes of Moscow ... in the time of Marcus Aurelius and is the long history of successful republicanism. darauf Übersetzerin Er schreibt ein Buch über Napoleon, der statt in den Trümmern Moskaus auszuharren nach Sankt Petersburg marschiert und dort überwintert und danach die Welt erobert. Dann gibt es noch was aus den frühen 50ern, nach dem Scheitern der 48er Revolution. Der Philosoph Charles Renouvier, ein Franzose, der enttäuscht war über das Scheitern der Republik schreibt eine sehr lange und kompliziere Alternativgeschichte, die zur Zeit des Marc Aurelius beginnt. Es ist die lange Geschichte des erfolgreichen Republikanismus. Autor Es ist die Suche nach einer Utopie in der Vergangenheit - der Uchronie, so der von Charles Renouvier geprägte Begriff. Ernsthafte Forscher wenden sich ab. Schneidend ist das Diktum Johann Gottfried Herders: Übersetzer Geschichte ist die Wissenschaft dessen, was da ist, nicht dessen, was nach geheimen Absichten des Schicksals etwa wo[h]l sein könnte. Autor Die Uchronie wird zum Genre der Unterhaltungsliteratur. Catherine Gallagher I have been always interested in the relationship ... about tenfold after the second world war. darauf Übersetzerin Ich habe mich schon immer für die Beziehung zwischen den verschiedenen Erzählformen interessiert, die es in einer Gesellschaft gibt. Und mein Interesse am Kontrafaktischen stieg ungemein, als ich gemerkt habe, dass sich Zahl der Alternativweltgeschichten verzehnfacht hat, nach dem 2. Weltkrieg. Musik Apocalyptica Coma erste ´30 Autor Ein großer Teil der Waswärewenns beschäftigt sich seither mit Hitler und den Nazis und bildet die anhaltende öffentliche Debatte darüber ab. Das Dritte Reich ist wie prädestiniert für Alternativweltgeschichten: reich an Schlüsselereignissen, erscheint es selbst wie eine unglaubliche Verzerrung der Werte und der Menschlichkeit. Die Erzählung des Ungeschehenen vermag das zu entzerren und klarzustellen. Und sie erlaubt, gerade zu rücken, was nicht wieder gut zu machen ist. Kurz Einspielung Collage Stiefel, Rufe, Demagoge, Fade, darüber Musik im Hintergrund: Rheingold 2./3. Szene, Verwandlungsmusik; Herbert von Karajan Autor Dazu kommt die bizarre Anziehungskraft des Hitlerregimes: das schiere Ausmaß des Bösen, der durchgestylte Führerstaat. Aufzählung Autor/Sprecher vom Dienst im Wechsel Berlin feiert den 70. Geburtstag Adolf Hitlers Robert Harris - Vaterland Ein anderer wird zum Führer und alles wird viel schlimmer Stephen Fry - Geschichte machen Japan besetzt die USA Philip K. Dick - Der Alte vom Berge SS und Scotland Yard ermitteln gemeinsam im besetzten Großbritannien Len Deighton - SS-GB Gavriel David Rosenfeld Among the people who have written alternate histories on the subject of WW II ... the germans have become more comfortable with the nazi legacy. darauf Übersetzer Unter denen, die Alternativweltgeschichten über den 2. Weltkrieg und das Dritte Reich geschrieben haben, sind etwa achtzig Prozent britisch und amerikanisch und vielleicht 15 Prozent deutsch. Bis in die 70er-Jahre sieht man kaum deutsche Beiträge. Die meisten davon gibt es erst seit den 80er-Jahren, zu einer Zeit, als das Phänomen der Normalisierung verbreiteter war und wir sagen können, die Deutschen kommen mit dem Nazierbe besser aus. Autor Gavriel Rosenfeld untersucht in seinem Buch "The world Hitler never made" wie sich die Haltung der Gesellschaft zu Faschismus, Judenvernichtung und Krieg in den Naziparallelwelten niederschlägt. Das erzählte Ungeschehene dient den Autoren als Projektionsfläche ihrer Einstellungen. Rosenfeld macht eine Entwicklung aus, die er "Normalisierung" nennt. Waren Hitler und die Nazis zuvor noch der Inbegriff des Bösen in den Alternativwelten, erscheinen sie zunehmend menschlicher. Am Ende werden daraus mitunter groteske, ja lächerliche Figuren, wie in Dany Levys Film "Mein Führer" oder "Adolf, die Nazi-Sau" von Walter Moers. Musik: Walter Moers "Ich sitz in meinem Bunker" frei, dann darüber Gavriel David Rosenfeld You see that over time most of the trends go towards a less moralistic ... - treating an exceptional period of history like any other period. darauf Übersetzer Man sieht, dass die Trends meist dahin gehen, die Naziperiode mit der Zeit immer weniger unter einem moralistischen Blickwinkel zu sehen. Mehr dazu, die Naziperiode wie jede andere Zeit zu sehen. Das ist eigentlich das Wesen der Normalisierung: Eine außergewöhnliche Periode zu behandeln, wie jede andere auch. Autor Der Schrecken und die Faszination des Dritten Reiches hätten sich jedoch kaum so breit in Alternativweltgeschichten niedergeschlagen, wenn die Rahmenbedingungen dafür Mitte des letzten Jahrhunderts nicht so günstig gewesen wären. Die Zeit war reif. Astronomen und Physiker diskutieren über Parallelwelten, Philosophen und Ökonomen arbeiten Arbeitsmethoden aus, bei denen das Waswärewenn? eine zentrale Rolle spielt. Imaginäre Zustände werden als relevant anerkannt, um Erkenntnisse zu gewinnen. Der Einstellungswandel bezüglich des Kontrafaktischen erweist sich als eine durchaus vernünftige Entscheidung. Denn: es ist praktisch unmöglich, nicht von dem zu sprechen, was nicht ist. Geräusch Billardkugeln ´06 Tobias Rosefeldt Wenn ich sage, das Rollen der einen Kugel - um das Hume-Beispiel zu nennen, verursacht irgendwie das Wegrollen der anderen Kugel auf einem Billardtisch, dann sage ich, die zweite Kugel wäre nicht weggerollt, wenn die erste nicht hingerollt wäre. Autor Tobias Rosefeldt ist Professor für allgemeine Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er bezieht sich auf David Hume, einen britischen Denker des 18. Jahrhunderts. Tobias Rosefeldt Hume hat darauf aufmerksam gemacht, dass es alles andere als trivial ist, so eine Behauptung zu machen, sie scheint uns völlig normal zu sein und naheliegend zu sein, aber wir behaupten damit eben schon sehr viel mehr als das, was wir sinnlich wahrnehmen können. Autor Hume hat am Alltagsverstand des Menschen gerüttelt: Eine Kugel rollt weg, wenn die andere dagegenstößt. Jedes Mal. Aber Hume hat bezweifelt, dass man aus dieser wiederholten Beobachtung ableiten darf, dass der Zusammenstoß der Grund für das Wegrollen ist. Andererseits ist der menschliche Verstand darauf angewiesen, solche Schlüsse zu ziehen: damit die Welt Sinn macht, damit sie nicht in einem unverständlichen Aufeinanderfolgen von Ereignissen zerfasert. Tobias Rosefeldt Ich verstehe besser, warum die Kugel wegrollt, wenn ich weiß, dass sie nicht weggerollt wäre, wenn die andere Kugel sie nicht angestoßen hätte und ich verstehe besser, warum die Weimarer Republik gescheitert ist, wenn ich berechtigt bin zu der Annahme, dass sie nicht gescheitert wäre, wenn die und die demokratischen Strukturen anders gewesen wären. Also ich denke, dass die Relevanz solcher kontrafaktischen Aussagen in einer sehr engen Beziehung steht, zum Verstehen von Sachverhalten. Geräusch Zurückspulen/Klick Einspielung Passanten (Mann) Ich hab damals Mathematik studiert und hab´s aufgehört und hab´ im Tonstudio angefangen und dann fragt man sich schon, naja hätte man das damals gewusst wie sich das damals entwickelt und ich hätte weiter Mathematik studiert ich wäre jetzt in einem anderen Beruf. Das könnte ich mir auch gut vorstellen. (Frau) Worüber ich dann nachdenke? Naja, über Situationen, in denen ich Entscheidungen treffen musste, zum Beispiel - gehe ich nach Amerika und übernehme dort eine Geschäftsführung oder bleibe ich hier; wenn man sich vom Freund nach zehn Jahren getrennt hat oder all solche Sachen. (Mann) Was wäre, wenn ich noch im Bundestag wäre? (Frau) Eigentlich frage ich mich das nur in dem einen Punkt: Ich hatte mal einen Freund und ich frage mich doch, was wäre, wenn ich noch mit dem zusammen wär´. (Frau) Nicht indem ich bezweifle, was ich hätte anders machen müssen, sondern ich denke schon darüber nach - was wäre, wenn die Wende nicht gewesen wäre? (Mann) Ich stelle mir diese Frage schon, aber ohne Bitterkeit! Im Laufe der Zeit arbeitet man das auf und sagt: "Mei, das war eine verpasste Gelegenheit, du hast es nicht ergriffen und jetzt geht es auch ohne dem." Autor Was wäre wenn? - das ist eine der immer wiederkehrenden Fragen im Leben eines jeden Einzelnen. Nicht selten verdrängt als fruchtloses Zurückdenken, vergebliches Nachdenken über das, was sich ja nicht mehr verändern lässt. Aber auch hier lässt sich Erkenntnis gewinnen, sagt Gerd Gigerenzer. Der Kognitionswissenschaftler leitet das Max-Planck- Institut für Bildungsforschung in Berlin. Gerd Gigerenzer Das sind so Fragen, die sich jeder stellt und die auch wichtig sind zu stellen. Dass man versteht, dass man sehr viele Leben hätte leben können. Autor Statt Grübeln also Neugierde. Dann zeigt der Blick in die Vergangenheit Möglichkeiten, und hilft - ähnlich wie bei den Strategiespielen des Militärs - künftige Handlungsmuster zu optimieren. Aber: Ist nicht alles eigentlich so, wie es kommen musste? Musik My Way, Instrumental ab 4´07, Schlusssequenz letztes Aufklingen des Refrains, darüber Autor Steht der Einzelne nicht zu genau dort wo er ist, weil er so ist, wie er ist? In der Rückschau zeigt sich fast immer ein Ich, das sich treu geblieben ist. Einspielung Passanten B (Mann) Alle Unarten von damals habe ich noch, aber sie sind milder geworden. (Frau) Ich glaube ich war zwischendrin mal ein bisschen niedergelassener aber inzwischen merke ich, dass es in mir wieder grollt und ich denke mir, ich bin doch noch die Alte. (Frau) Im großen und ganzen - und das bestätigen meine Freunde, bin ich mir selber immer treu geblieben; einfach nur ein bisschen älter (lacht). (Mann) Alles im Leben verändert sich. (Frau) Meine Freundinnen sagen mir immer wieder, ich habe mich nicht verändert. (Mann) Ich denke also, dass man viele - ich bin 44 - Sachen beibehält und die bleiben auch so. Musik Ende Gerd Gigerenzer Ich glaube, man denkt zu sehr, dass das Verhalten der Menschen durch den Charakter determiniert ist. Also der Charakter, so ist die allgemeine Theorie, bestimmt mein Verhalten. Das übersieht aber die wesentlichen Ergebnisse der Sozialpsychologie, dass man viele Menschen zu fast allen Verhaltensweisen bringen kann. Autor Beim jedem Erinnern wird das Gedächtnis umgeformt - immer so, dass die Vergangenheit zum aktuellen Ich passt. Der jeweilige Lebensweg erscheint dadurch konsequent. Bei der Konstruktion ungelebter persönlicher Vergangenheiten wirkt dieser Prozess ausgleichend. Musik The Verve Bitter Sweet Symphony (erste ´40 Instrumental) darüber. Geräusch belebte Straßen Autor Doch die Dynamik des Soziallebens erschafft eine unaufhörliche Folge von Zufällen. die dafür sorgen, dass es viel mehr plausible ungelebte Leben gibt, als man sich gemeinhin eingesteht: Ein verpasster Bus und man hätte die Liebe seines Lebens nicht getroffen, würde weit weg wohnen und keine Lust haben, Radio zu hören. Völlig unwahrscheinlich? Selbst dann lohnt es sich darüber nachzudenken, sagt Bildungsforscher Gigerenzer. Gerd Gigerenzer Wie wären wir, wenn wir zu einem anderen Zeitpunkt, auch historisch, oder aber heute in einem anderen Platz der Welt aufgewachsen wären. Wie würden wir denken, wie würden wir fühlen, vor was hätten wir Angst, vor was hätten wir keine Angst? Das würde etwas zur Bildung der Menschen, auch zur Herzensbildung beitragen. Autor Aber was wäre wenn all diese ungelebten Leben, die ungeschehenen Vergangenheiten und Geschichtsverläufe Wirklichkeit wären? Oder vielmehr - Wirklichkeit sind? Musik: Star Trek Original Serie Main Theme ´05 frei, dann darüber Autor Es gibt einigen Grund zur Annahme, dass gerade das keine Spekulation ist. Dass es eine Realität gibt, in der man morgens neben einem anderen Partner aufwacht, Al Gore Präsident war und eine Welt, in der Hitler nie gelebt hat. Autor Irgendwo da draußen... Musik Ende/Kreuzblende Geräusch tiefes Blubbern, kurz frei, dann im Hintergrund, darüber Autor Herman Nicolai, Direktor des Albert-Einstein-Instituts in Potsdam. Musik Ende Hermann Nicolai Das Universum ist circa 14 Milliarden Jahre hat und wir könnten so weit sehen, wie das Licht in dieser Zeit laufen kann und es ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass sich dahinter noch etwas anderes befindet und dass das Universum, das wir sehen vielleicht nur ein ganz kleiner, winziger Teil von etwas viel größerem ist. Autor Aber egal, ob es dahinter immer weiter geht oder ob das Universum wie eine Blase aus dem Nichts auftaucht und wieder verschwindet. Wenn die Naturgesetze die gleichen bleiben und die Materie aus den gleichen Bausteinen gebildet wird, dann kommt es zwangsläufig zu Wiederholungen unserer Welt. So wie sich aus einer Schachtel Bauklötze nur eine endliche Zahl von verschiedenen Türmen bauen lässt. Eine Parallelwelt da draußen ist möglich. Hermann Nicolai Aber es gibt noch eine viel ältere Interpretation dieser Vielweltentheorie. Die kam nämlich auf im Zusammenhang mit der Frage, wie man die Quantenmechanik interpretiert. Autor Die Quantenmechanik ist ein sehr erfolgreicher Ansatz, um zu beschreiben, was bei den kleinsten Teilchen passiert. Damit lässt sich hervorragend erklären, warum wir Farben sehen und wie eine Registrierkasse funktioniert, sagt Physiker Nicolai. Sie setzt aber voraus, dass die Teilchen sich in Zuständen befinden können, die wir aus dem Alltag ganz und gar nicht kennen. Erwin Schrödinger hat das in einem Gedankenexperiment beschrieben. Einem der bekanntesten Waswärewenns der Physik. Sprecher Schrödinger schließt seine imaginäre Katze in eine Kiste ein mit einem atomar gesteuerten Tötungsmechanismus, der das Tier mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent nach 22 Minuten umbringt. Musik Atmospheres Kubrick 2001 Autor Statistisch lässt sich für diesen Zeitpunkt vorhersagen, dass die Katze zu 50 Prozent tot, zu 50 lebendig ist. Eine schwer vorstellbare Überlagerung zweier Zustände. Natürlich, wenn die Kiste geöffnet wird, ist das Tier tot oder am Leben. Aber was war im Augenblick vor der Überprüfung? Bei Atomen, die man sich in einem Doppelzustand vorstellt, will man zudem wissen, was aus dem Zustand geworden ist, der bei der Messung nicht vorgelegen hat. Musik Atmospheres Kubrick 2001 (3.15 -3.30) hohes sich auflösendes Säuseln Hermann Nicolai Ich habe hier diesen Schwebezustand mit der halb toten, halb lebendigen Katze und im Moment der Messung spaltet sich die Welt gewissermaßen auf in zwei Welten. In der einen lebt die Katze, in der anderen ist die Katze tot. Und ständig finden solche Messungen statt. Man kann dann sagen, jeden Moment, dieser Interpretation zufolge, spaltet sich unsere Welt auf in immer neue Welten, in denen alle Möglichkeiten realisiert sind. Musik/langsame Kreuzblende im Hintergrund Bitter Sweet Symphonie, The Verve Autor Die Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik ist hoch umstritten, seit sie in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts formuliert wurde. Aber sie taucht immer wieder auf, verteidigt von einer ganzen Reihe namhafter Physiker. Für sie ist unser Universum nur eines von vielen in einem Multiversum, das sich immer weiter verzweigt. Es ist eine Theorie, die auch außerhalb der Physik die Phantasie über die vielen Waswärewenns der Geschichte und des persönlichen Lebens beflügelt. Eines eint jedoch die beiden Bereiche - es gibt keine greifbaren Beweise. Hermann Nicolai Es ist ja so, bei dieser Aufspaltung dieser Welten, wir sind immer nur in der Welt in der wir uns befinden. Ob es da draußen noch eine hypothetische Welt gibt, die anders gelaufen wäre, das können wir nicht entscheiden, das können wir nicht beobachten. Musik bleibt stehen, darüber Tobias Rosefeldt: Wenn es bei meinen Eltern anders gewesen wäre, und man sich vorstellt, was wäre wenn, was so leicht hätte sein können und dann hätte man gar nicht existiert. Gerd Gigerenzer: Ich habe meine eigene Frau in einem Workshop über die Rolle des Zufalls in den Gesellschaften durch Zufall kennengelernt. Catherine Gallagher: I think I was probably more headed toward law-school one time in my life. I´m certainly very happy, that I did not go in that direction. Hermann Nicolai: Man kann diese Dinge dann reduzieren auf quantenmechanische Entscheidungen, die so gefallen sind, wie sie sind, das beunruhigt mich nicht, das ist halt so. Spr. vom Dienst Was wäre wenn ... ? Ungeschehene Geschichte und nicht gelebte Leben Eine Sendung von Heiner Kiesel Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff, Thomas Holländer und der Autor Ton: Bernd Friebel Regie: Gabi Brennecke Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 20 20