COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 4. Februar 2012, 19.30 Uhr "Hier geblieben. Ältere Migranten in Deutschland" Von Ulrike Köppchen Theaterstück: Lied "Das Knie, die Hand und auch die Hüfte, alles geht kaputt..." kurz frei, dann unter die gesamte Passage legen (Anne Kratz) Tja, was macht man für ein Musical mit älteren Darstellern? Und so hat sich das ergeben, und ich denke mal, das sind oft unsere Probleme, die Hand, das Knie, überall zwickt es schon mal, das hat jeder und das kennt jeder. Sprecherin: Deutschlands ältestes Seniorentheater bei der Probe. Etwa 30 ältere Menschen in bunten Kostümen stehen im Halbkreis auf der Bühne, singen und stellen Gebrechen des Alters pantomimisch dar: die steifen Gelenke, der krumme Rücken, steife Hüften. Seit mehr als 30 Jahren thematisieren die Laienschauspielerinnen und -schauspieler des "Theaters der Erfahrungen" in Berlin-Schöneberg das Leben im Alter. In ihrem wohl bekanntesten Stück, dem Musical "Altes Eisen" geht es außerdem sehr interkulturell zu: (Durmus Cakmak) Dieses Stück, die alte Eisen, ich bin der Bäcker, Opa Hikmet, kommt von Kasantep, bester Bäcker, aber leider ich nicht mehr krankenversichert, ich mach Unfall, aber liebe Nachbarn alle für mich, Geld sammeln, Banküberfall und alles Mögliche. Sprecherin: Ein bisschen zu schön, um wahr zu sein, und im wirklichen Leben ist Hauptdarsteller Durmus Cakmak auch kein Bäcker, sondern Schlosser. 1970 kam er als "Gastarbeiter" der ersten Generation nach Berlin: (Durmus Cakmak) Ich bin 1970 Berlin gekommen. Ich hab meine Pläne, nur zwei Jahre Arbeit, zwei Jahre später, dann gehen Militärübungen machen in Türkei, und dann bleib ich Türkei. Aber zwei Jahre geht Zeit schneller und dann hab ich zwischendurch hier Freundschaft gehabt, wir haben Arbeiter der Türkei, Arbeitsverein gebaut, dann meinen Plan zwischendurch geändert. Meine Deutschland-Pläne ist eigentlich nur zwei Jahre, aber jetzt 42 Jahre deutsch. Sprecher vom Dienst: Hier geblieben. Ältere Migranten in Deutschland Eine Sendung von Ulrike Köppchen Auf Gleis 14 fährt ein der Sonderzug für türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik aus Istanbul. Planmäßige Ankunft 5 Uhr. Sprecherin: Durmus Cakmak ist einer von 9,5 Millionen "Gastarbeitern" bzw. deren Familienangehörigen, die zwischen 1955 und 1973 nach Deutschland kamen. Ursprünglich erhielten sie nur Arbeitsverträge für ein oder zwei Jahre und sollten dann durch neue Gastarbeiter ersetzt werden. Aber es war weder im Sinne der deutschen Industrie, ständig neue Arbeitskräfte anzulernen, noch wollten die Zuwanderer so schnell wieder zurück. Insofern gab man das Rotationsprinzip bald wieder auf. Ein großer Teil der angeworbenen Arbeitskräfte blieb dauerhaft in Deutschland und erreicht jetzt allmählich das Rentenalter oder hat es bereits erreicht. Bereits heute leben knapp 1,5 Millionen Über-65-Jährige mit Migrationshintergrund in Deutschland, und ihre Zahl soll sich in den nächsten 20 Jahren mehr als verdoppeln. Die mit weitem Abstand größte Gruppe sind Türkeistämmige, die fast ein Drittel der älteren Zuwanderer ausmachen. Theaterstück, Szene mit Atiye: Geh doch dahin, wo du hergekommen bist... - Wo soll ich hin? Nach Neukölln? (Atiye Altül) Ich bin hergekommen auch 1970, ich war 23 Jahre alt. Und jetzt 2013 ich bin 66 Jahre alt. Ich war in der Türkei 23 Jahre lang, und ich bin in Deutschland 43 Jahre, fast so doppelt. Wie kann sein fremd? Das gehöre ich hier einfach. Sprecherin: Vielen älteren Migranten ist über die Zeit in Deutschland die alte Heimat fremd geworden. So geht es auch Durmus Cakmak, dem Bäckermeister Hikmet aus dem Musical "Altes Eisen" - im Theaterstück wie im wirklichen Leben: Theater: Szene Durmus In Türkei soll ich gehen? Türkei fremdes Land (Durmus Cakmak) Wir sind über 40 Jahre hier, dann viele nur Verwandte ist bisschen übrig geblieben, Freundschaft natürlich alles hier und dann natürlich Türkei ehrlich fremde Land. Teilweise. Wir gehen wie Touristen und so weiter. Sprecherin: ... und müssen feststellen, dass sie sich mit den in der Türkei lebenden Verwandten eigentlich nicht mehr viel zu sagen haben: (Durmus Catmak) Wenn ich meine Bruder guten Tag sage, dann sagt er herzlich willkommen und dann: wie geht's? Was macht die Kinder? Alles ok? Viel Glück für euch, und Thema ist erledigt. Sprecherin: Über die Jahre der Migration sind die Gesprächsthemen verloren gegangen, nicht zuletzt, weil man wenig gemeinsame Erinnerungen und Erlebnisse hat, die man miteinander teilen kann. (Durmus Cakmak) Beispiel: wenn in Deutschland irgendwo was passiert - keine Katastrophe, aber wenn in Winterzeit keine Schnee: Mann, damals 1974, 78: 60 Zentimeter Schnee! Alle Autos steht und so weiter. Dann: Ja, die Zeit kenn ich auch. Meine Auto so ... Aber wenn ich mit Bruder... 74 was da passiert, ich war nicht da. Dann ich nur hören oder keine Interesse mehr. Sprecherin: Atiye Altül hat sich ihrem alten Leben inzwischen sogar so weit entfremdet, dass sie sich mit ihren Verwandten nicht mehr gut versteht: (Atiye Altül) Wenn ich Sommer da bin, ich habe auch immer Meinungsverschiedenheiten mit den Verwandten sogar. Dass fühle ich dort auch fremd, das ist noch bitterer, als hier fremd zu fühlen. Ich denke, wenn wir nach Türkei zurückgehen, muss man irgendwie einen Platz finden. Die zurückkehrenden Deutschländer sollten dort ein Dorf bauen, vielleicht verstehen uns besser. Sprecherin: Deutschländer, "Almanci", nennt man Menschen wie Atiye Altül in der Türkei - eine Wortschöpfung aus "alman": deutsch und "yabanci": Ausländer, und die Bezeichnung ist keineswegs freundlich gemeint: Viel zu verdeutscht kommen vielen Türken ihre ausgewanderten Landsleute vor. Doch auch hier fühlen sich viele, gerade ältere "Almanci", nicht richtig zu Hause (Atiye Altül) Ich fühle mich hier immer halbes Mensch. Weil ich verstehe nicht 100 Prozent und ich könnte mich auch nicht 100 Prozent eröffnen. Das bedeutet für mich ein halber Mensch. Ich sag auch immer: wenn jemand einmal Migranten worden, die werden, wenn wir Wohnung wie ein Land denken: Ich lebe weder Schlafzimmer oder Wohnzimmer, ich lebe im Korridor. Sprecherin: Viele Angehörige der ersten Zuwanderergeneration sprechen bis heute nur schlecht Deutsch und haben kaum Kontakt zur deutschen Gesellschaft. Als sie nach Deutschland kamen, gab es keine Sprachkurse, auch sonst hat man von deutscher Seite so gut wie nichts für ihre Integration getan. Viele Zuwanderer bemühten sich ihrerseits ebenfalls nicht sonderlich um Eingliederung in die deutsche Gesellschaft - wozu auch? Schließlich pflegten beide Seiten die Illusion, der Aufenthalt der Gastarbeiter sei ohnehin nur von kurzer Dauer. Und selbst als diese dann immer länger blieben, hielten beide Seiten an der sogenannten "Rückkehrillusion" fest, spätestens mit der Verrentung würden sie dann doch wieder in ihre Heimatländer ziehen. (Atiye Altül) Vor zehn Jahren vielleicht, ich hab gedacht: nach Türkei zurück. Aber jetzt glaube ich, hier bleibe ich. Auch Zufall, das weiß man auch nicht genau, was morgen bringt. Sprecherin: Dem Dilemma "Gehen oder Bleiben?" begegnen viele ältere Migranten dadurch, dass sie einen Teil des Jahres in Deutschland verbringen und einen Teil im Herkunftsland. (Durmus Cakmak) Ich hab mein Dorf, hab ich auch jedes Jahr gehen und hab meine Dorfleute auch, schöne Zeit gehabt. Aber 14 Tage, drei Wochen höchstens, dann suchen meine Wohnung, meine Familie... Ich hab drei Kinder, lebt hier, und meine vier Enkel, natürlich ich Sehnsucht: ach, wo ist mein Familie? Familie lebt hier. Dann ich gehört auch dazu hierhin. Gerne hier leben. Sprecherin: Auf einen Lebensabend in Deutschland vorbereitet haben sich allerdings die Wenigsten. Helen Baykara-Krumme von der TU Chemnitz: (Helen Baykara-Krumme) Sicherlich spielt in der ersten Generation eine ganz zentrale Rolle, dass diese Rückkehrabsicht immer vorhanden war und dass vor allen Dingen auch im Herkunftsland investiert wurde, wir sehen das heute auch noch daran, dass Wohneigentum seltener ist in der ersten Generation.. Sprecherin: In ein Altersheim wollen sie jedenfalls nicht - für viele ältere Migranten geradezu eine Horrorvorstellung. Die Sozialwissenschaftlerin Meltem Baskaya vom Kompetenzzentrum interkulturelle Öffnung der Altenhilfe, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind: (Meltem Baskaya) Meine Eltern haben mir schon zigmal angedroht, mich zu enterben, wenn ich sie in irgendeine Einrichtung geben würde und meine Eltern wohnen direkt um die Ecke des ehemaligen türkischen Pflegewohnheims, das es so jetzt nicht mehr gibt, aber vor einigen Jahren als Konzept ja in Berlin gab. Für die war das schrecklich, das kam für die gar nicht in Frage, aber mittlerweile setzen sie sich anders mit der Thematik auseinander, weil sie sehen, sie haben drei Kinder, alle sind berufstätig und dass keines der Kinder natürlich jetzt im Falle einer Pflege jetzt komplett den Beruf aufgeben wird und so sind wir immer ständig im Aushandeln, was wäre die Möglichkeit, wenn es ist, wie versorgen wir die Eltern? Holen wir uns die Hilfe von außen? Langsam, langsam tasten wir uns an das Thema heran, aber wenn man meine Eltern fragt - mein Vater ist 70, meine Mutter 63: nein, nein, es ist noch gar kein Thema und das wird auch erstmal sie gar nicht betreffen. Sprecherin: Viele Migranten sind im Alter auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Häufig kamen sie als ungelernte Arbeiter nach Deutschland und hatten entsprechend schlecht bezahlte, körperlich anstrengende Jobs. Und wenn Personal abgebaut wurde, waren sie oft die ersten, die gehen mussten. (Peter Zeman) Diese sogenannten prekären Erwerbsverläufe und die brüchigen Rentenbiografien auch, die schlagen sich natürlich dann im Alterseinkommen nieder, und man kann sagen, es ist ein wesentlich höherer Anteil von älteren Migranten ist arm, wird als arm bezeichnet oder ist von Armut bedroht als bei den gleichaltrigen deutschstämmigen Menschen. Sprecherin: Peter Zeman vom Deutschen Zentrum für Altersfragen. So liegt beispielsweise das Armutsrisiko älterer ehemaliger Gastarbeiter aus der Türkei und aus Jugoslawien bei 60 Prozent. Doch da man nicht erwartet und auch nicht gewollt hatte, dass sie hier wirklich ihr Alter verbringen, war das Sozialsystem schlecht auf diese spezielle Klientel vorbereitet. (Peter Zeman) Sie haben natürlich das volle Zugangsrecht zu sämtlichen Errungenschaften des deutschen Wohlfahrtsstaates. Sie sind anspruchsberechtigt in jeder Hinsicht, aber das heißt ja noch lange nicht, dass man das dann auch nutzt und dass man dann auch wirklich mit offenen Armen aufgenommen wird und Menschen, die sich oft genug diskriminiert fühlten, gerade auch durch Behörden und Institutionen hatten da sicher auch gewisse Ressentiments. Dann kam hinzu, und das ist weniger ein ethnisches als ein soziales Problem vielleicht, dass viele von ihnen einen Bildungsstatus hatten, der es ihnen nicht gerade erleichtert hat, sich Informationen über die vorhandenen Angebote zu suchen, sie entsprechend auszuwählen und sozusagen ihre ihnen eigentlich zustehende Konsumentensouveränität auch wirklich nutzen zu können. (Meltem Baskaya) Als wir vor über zehn Jahren die Thematik aufgegriffen haben, war das noch ein belächelts Themenfeld, wo man gesagt hat: Ältere Migranten sind nicht in Deutschland, ältere Migranten werden im Fall einer Pflege auch in der Familie versorgt, überhaupt pendeln sie ja, wenn werden sie Heimat alt, aber die Zahlen haben uns viel schneller eingeholt, als wir das Thema aufgegriffen haben... Sprecherin: Meltem Baskaya vom Kompetenzzentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe in Berlin. Nachdem ältere Migranten lange Zeit weder in Politik noch Sozialarbeit ein Thema waren, stellten verschiedene Akteure der Wohlfahrtspflege im Juni 2002 ein "Memorandum für ein kultursensible Altenhilfe" vor, dessen Ziel es war, Zugangsbarrieren zu überwinden und den Zuwanderern die Nutzung der Institutionen der Altenhilfe zu erleichtern. Ausgangspunkt für diesen Versuch einer interkulturellen Öffnung war, dass den Migrationssozialarbeitern in den Wohlfahrtsverbänden auffiel, dass ihre Klientel plötzlich mit neuen Anliegen auftauchte. Zum Beispiel Derya Dietrich-Wrobel vom Sozialverband VdK:: (Derya Dietrich-Wrobel) Ich hab die älteren Migranten beraten, damals geht es um die allgemeine Beratung. In der Zeit ich hab gemerkt, ich habe ganz viel früh demenzerkrankte Migranten vor mir. //Man hat immer davon ausgegangen, der sogenannten ErstGeneration, die sind noch jung, die können noch nicht demenzerkrankt sein, Demenz ist eine "Hochaltrigkeiterkrankung", hat man gesagt, und Hochaltrigkeit beginnt mit 80 und so weit sind sie nicht. Aber in der Beratungspraxis war die Wahrheit anders. Ich hatte ganz viele sogenannte junge alten Migranten um die 50, 60 Jahre alt sind und die hatten sehr gravierende demenzielle Merkmale, ohne Demenzdiagnose, ohne Pflegestufe, ohne das zu wissen oder merken, aber ich hab das viel mitgekriegt und ich dachte, in diesem Gebiet sollte man was machen. Sprecherin: Derya Dietrich-Wrobel, die selbst als Schauspielstudentin aus der Türkei Deutschland kam und hier blieb, richtete beim VdK ein Informationszentrum für an Demenz erkrankte Migranten ein. Dass Zuwanderer der ersten Generation häufig vorzeitig an Demenz erkranken, liegt daran, dass die körperlichen und seelischen Belastungen durch die Migration sie schneller haben altern lassen, sagt Derya Dietrich-Wrobel. Wahrhaben wollten das viele Betroffene und ihre Angehörige jedoch nicht, denn Demenz ist bei vielen Migranten nach wie vor ein Tabu: (Derya Dietrich-Wrobel) Demenz wird ja auch übersetzt in den arabischen, türkischen Sprachen: bunak. In arabisch hab ich mir sagen lassen, ist genauso ein Wort, das bezeichnet wird als Demenz im Volksmund, und das ist eine sehr, sehr erniedrigende Wort, das kann man vergleichen wie - Entschuldigung - Vollidiot, wie bekloppt. Man geht immer davon aus, der Mensch ist nicht mehr in Ordnung im Kopf, aber das wird nicht gut Aufklärung gefunden, und dadurch man denkt, es ist was Schlimmes. In europäischen Kulturen das ist ein Stück weiter. Man hat sich mit Demenz noch besser beschäftigt. ... also wenn wir jetzt in das Verkehr Fehler machen, keiner macht das Fenster auf und sagt uns: du Demenz. Aber das passiert in arabischen Ländern, in türkischen Ländern oft. Das ist wie ein Schimpfwort, und das macht die Situation natürlich schwieriger. Sprecherin: Treten Demenzsymptome auf, versuchen Betroffene und Angehörige, das Problem so lange zu ignorieren, wie es geht, und gegenüber dem Umfeld zu verbergen. (Derya Dietrich-Wrobel) Dann isolieren sich ganze Familie. Dann wird dann weniger Besuch empfangen, nach außen wird das richtig verleugnet und auch nicht gezeigt. Aber natürlich man kann diese Erkrankung nicht lange verstecken. Wir haben verwirrte Leute, die gehen auf die Straße, verlieren die Adresse, können nicht mehr zurück, gibt's auch viele Weglauftendenzen, und das fällt natürlich auf. Aber man spricht das auch nicht so direkt: pass mal auf, ich hab deinen Vater gesehen auf der Straße, das war nicht so ganz normal. Man sagt darüber nichts, so lange die Familie das nicht thematisiert. Sprecherin: In Derya Dietrich-Wrobels Büro liegen Faltblätter auf Polnisch, Arabisch oder Türkisch, die über Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten informieren. Doch einfach nur in der Beratungsstelle sitzen und auf Klienten warten, bringt nichts, hat sie schnell festgestellt. Sondern man muss dahin gehen, wo die Menschen sind: (Derya Dietrich-Wrobel) Ich habe am Anfang vor den Supermärkten Flyer verteilt muttersprachlich. Ganz einfache Texte: Kostenlos. Beratung. Helfen. Ganz einfache Wörter. Und immer wieder gesagt, uns gibt es. Wenn Sie Probleme haben, kommen Sie zu uns. Aber allererst habe ich gemerkt, Zugangsbarriere kann man überwinden, wenn man sagt: da gibt es Hilfsmöglichkeiten, finanziell und auch andere Hilfsmöglichkeiten, aber erst brauchen wir Diagnose. Wenn das dann klar wird, dann kommen die Leute gerne. Und natürlich Mundpropaganda ist auch sehr wichtig. Migranten untereinander kommunizieren sehr gerne über solche Themen, ich war da in der Beratungsstelle, kann man hingehen und geben weiter. Sprecherin: Dass es oft mangelnde Sprachkenntnisse sowie Angst und Misstrauen gegenüber Behörden sind, die gerade älteren Zuwanderern den Zugang zum offiziellen Hilfesystem versperren, hat auch In-Sun Kim bei ihrer Arbeit festgestellt. Sie leitet den ersten interkulturellen Hospizdienst für Migranten aus dem ostasiatischen Raum. (In-Sun Kim) Deutsche Bürokratie ... Deswegen die sagen, wir machen nicht, von Anfang an. Sprecherin: Die Krankenschwester und Theologin In-Sun Kim kam 1972 aus Korea nach Deutschland und gründete 2005 mit einigen anderen Frauen den Hospizverein "Dongheng", der jedes Jahr etwa 40 Sterbende begleitet. (In-Sun Kim) Sie sind gewöhnt von Kindheit an, von Familie gepflegt zu werden, und hier gibt es ja keine Familien, die sie vorher hatten, die Großfamilie, und wenn die Kinder da sind, leben die auch irgendwo anders. Deswegen sie sind allein. Und es ist für sie ganz gut, wenn sie von ihren Landsleuten gepflegt werden, damit dass sie auch quasi Ersatzfamilie haben. Dann verstehen die untereinander ganz gut, sie essen gleiche Essen, sprechen gleiche Sprache und können eventuell gleich Religion haben, beten und vorbereiten, und dafür ist sehr sinnvoll. Sprecherin: Ungefähr 50.000 Migranten aus dem ostasiatischen Raum leben allein in Berlin, davon 20.000 Vietnamesen, viele von ihnen ehemalige DDR-Vertragsarbeiter. Doch kaum jemand spricht über diese Minderheit, weil sie so gut wie gar nicht in Erscheinung tritt. Vielleicht deshalb werden Vietnamesen mitunter als Musterbeispiel gelungener Integration herangezogen. Doch das gilt allenfalls für die junge Generation, die mit beachtlichen Bildungserfolgen aufwarten kann. Die Älteren dagegen leben abgeschottet in ihren eigenen Vierteln in den Berliner Bezirken Lichtenberg und Marzahn. Inzwischen ist jeder dritte Vietnamese in Berlin über 60 Jahre alt, und vielen geht es nicht gut, sagt In-Sun Kim: (In-Sun Kim) Die als Gastarbeiter hier gekommen sind oder Heiratsmigranten auch, die sind hierhergekommen, weil sie in ihrer Heimat nicht klarkamen. Sehr arme Verhältnisse, und deshalb wollen sie was Besseres und Geld verdienen, um ihre Familie zu unterstützen, von daher Ausgangsposition war schon schlecht. Und hier können sie nicht heimatliches Essen essen, und dann arbeiten auch sehr viel hier. Und das ist irgendwie auch ständig mit neue Kultur, neue Sprache klarzukommen, deswegen die Migrantinnen, die aus Arbeitsgründen herkommen, sterben 10 - 15 Jahre früher als Deutschen. Das haben die statistisch festgestellt, und das sehe ich auch, dass sie sehr früh sterben. Sprecherin: Bei den schlecht integrierten und isoliert lebenden älteren Migranten aus Ostasien sind es überdies nicht nur sprachliche Probleme, sondern auch kulturelle Hürden, die ihnen erschweren, Hilfe zu bekommen: (In-Sun Kim) Ambulante Einrichtungen kommen mit Migranten nicht klar, weil sie immer im Hinterkopf haben: wenn Sie was brauchen, können Sie mich anrufen. Und das tun die nicht. Insgesamt durchweg sie sind sehr zurückhaltend. Sie haben nie gelernt, ihr Problem nach außen zu tragen. Zum Beispiel wenn ich mit einem deutschen Kollegen treffe oder deutsche Patientin, dann frage ich: was möchten Sie? Was kann ich für Sie tun? Was haben Sie denn für Vorstellungen? So kann ich mit Thailänderin nicht sprechen. Ich muss erst mal lächeln, Tee trinken, allmählich warm werden. Wenn ich sie vielleicht zehnmal getroffen habe, dann erzählen sie. Theaterstück: Bäckermeister Hikmet tanzt und stürzt Sprecherin: Als der Bäcker Hikmet aus dem Musical "Altes Eisen" voller Stolz auf seine gelungenen Mozartkugeln, Baklava und Erdbeertorten in einen spontanen Tanz ausbricht und dabei prompt stürzt, hat er ein Problem: Die Hüfte ist kaputt, und er hat keine Krankenversicherung. Doch die guten Nachbarinnen sammeln für ihn Geld, planen sogar einen Banküberfall. Im wirklichen Leben müsste man wohl kaum zu solch drastischen Maßnahmen greifen. Gerade in Gebieten mit hohem Migrantenanteil hat sich inzwischen ein beachtliches Spektrum an kulturspezifischen Beratungs- und Informationsangeboten entwickelt: Private arabische und türkische Pflegedienste, die ihre Klienten in deren Muttersprache und gemäß deren kulturellen und religiösen Gewohnheiten betreuen. Multikulturelle Seniorenheime, Gärten der Kulturen, Nachbarschaftsprojekte und vieles mehr. Also alles auf dem richtigen Weg? Die Soziologin Helen Baykara-Krumme sieht die Entwicklung aber nicht nur positiv: (Helen Baykara-Krumme) Das Problem ist weiterhin, dass Aktivitäten vor allen Dingen in Modellprojekten stattfinden, und das ist ganz wichtig, um auszuprobieren, wie man am besten mit dieser neuen Vielfalt im Alter umgeht und wie man den Bedürfnissen der Menschen am besten gerecht wird, aber eigentlich müssten wir inzwischen an dem Punkt angelangt sein, wo wir aus all diesen Modellprojekten der vergangenen Jahrzehnte resümierend unsere Lehren ziehen und diese Erfahrungen dann in die Regelangebote der verschiedenen Institutionen übernehmen. Und daran hapert es nach wie vor. Sprecherin: Es fehle an der politischen Wahrnehmung des Problems, sagt Helen Baykara- Krumme. Die Sozialarbeiterin Derya Dietrich-Wrobel vom VdK sieht sogar eine Verschlechterung der Situation: Mit der Einführung der Pflegestützpunkte 2008 als örtliche Anlauf-, Beratungs- und Koordinierungsstellen sei das Ziel einer interkulturellen Öffnung der Altenhilfe wieder in den Hintergrund getreten. (Derya Dietrich-Wrobel) Wir haben mehr als 30 Pflegestützpunkte. Gucken Sie doch mal, wie viele Mitarbeiter mit Migrationshintergrund werden Sie da finden? Sie finden kaum einen. Ich wünsche mir persönlich, dass sich diese sogenannten Pflegestützpunkte noch mehr mit dem Thema interkulturelle Pflegeangebote beschäftigen. Es sollte ja auch eine gemeinsame Arbeit sein. Also, Migranten sollten nicht Migranten beraten und Deutsche die Deutschen, wir haben das schon diskutiert, und das liegt schon mehr als zehn Jahre zurück, und warum sollen wir jetzt wieder von vorne anfangen? Sprecherin: Wenn die Regel-Institutionen der Altenhilfe sich nicht um die Belange der Migranten kümmern, droht der Aufbau von Parallelstrukturen, warnt Derya Dietrich-Wrobel. Und wenn soziale Fragen, zum Beispiel wie man den Menschen den Zugang zu den Hilfesystemen erleichtert, ethnisch getrennt bearbeitet, ist das der Integration älterer Migranten unter Umständen wenig förderlich. So sollte "kultursensible" Altenhilfe jedenfalls nicht verstanden werden, betont Meltem Baskaya vom Kompetenzzentrum interkulturelle Öffnung der Altenhilfe: (Meltem Baskaya) Kultursensibel heißt ja nicht ne Ethnisierung, sondern genau das, was wir in der Altenhilfe immer postulieren: biographieorientiert. Wir müssen einfach sagen, dass Regeleinrichtungen bei der Gruppe nicht biographieorientiert arbeiten wollten, konnten, durften, je nachdem, und dass dementsprechend sich andere Angebote draus herauskristallisiert haben. Es ist nicht unser Ziel, dass wir sagen, wir bauen jetzt eine Einrichtung nur für Türken, wir haben ja schon an einem Beispiel gesehen, dass das nicht funktioniert, vielmehr geht es darum, dass die Menschen, die in ihrem Einzugsgebiet bleiben wollen und die Einrichtungen im Sinne ihres Auftrags der Daseinsfürsorge da auch drauf reagieren müssen. Sprecherin: Entsprechend bemüht sich das Kompetenzzentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe zum einen um eine Sensibilisierung der Mitarbeiter in den Kommunen und zum anderen darum, gemeinsame Angebote für Migranten und Einheimische zu schaffen: (Meltem Baskaya) Unsere Aufgabe ist es, Projekte oder Initiativen anzustoßen und zum Beispiel: wie können wir ältere Zuwanderer mit älteren Einheimischen in einer Seniorenfreizeitstätte als ein neues Projekt initiieren? Es gibt viele Initiativen von den älteren Zuwanderern selbst - wie können wir das in diese Regeleinrichtungen mit hineinbauen? Es geht viel um das Thema Tandem: voneinander, miteinander lernen. Sprecherin: Das gestaltet sich aber oft schwierig, weil es auf beiden Seiten Vorurteile und Berührungsängste gibt und angesichts klammer öffentlicher Kassen auch Verteilungskonflikte drohen, meint Peter Zeman vom Deutschen Zentrum für Altersfragen. Insofern sei es sozialpolitisch unklug, die Gruppen der einheimischen und der Senioren mit Migrationshintergrund scharf gegeneinander abzugrenzen. (Peter Zeman) Es sind ja häufig auch nicht ethnische Probleme, sondern es sind soziale Probleme, um die es geht. Aber sicher gibt es auch viele Sprachbarrieren, die müssen auch überwunden werden. Also man darf bei solchen Versuchen, Gemeinsamkeit herzustellen, nicht zu sehr auf die Sprache setzen. Man muss auf andere Sachen setzen, was weiß ich, Musik, Tanzen, Kochen, einen Garten anlegen, einen Ausflug zusammen machen, aber nicht so sehr kognitiv-sprachlich... Sprecherin: Vielfalt zulassen und tolerieren - ja, meint der Altersforscher, aber gleichzeitig kulturelle Unterschiede zwischen Deutschen und Zugewanderten nicht über die Maßen betonen. Denn im Grunde ähnelten sich beide Gruppen im Alter doch sehr: (Peter Zeman) Also wenn ich mir Untersuchungen anschaue über ältere Migranten, dann frage ich mich manchmal: wo ist denn eigentlich das Besondere? Da gibt es Variationen, da gibt es graduelle Unterschiede, aber viele Bedürfnisse sind vom Grund her wesentlich gemeinsam, und das ist einfach der Wunsch nach einer gewissen materiellen Sicherheit, der Wunsch nach zufrieden stellenden sozialen Kontakten, der Wunsch nach Gesundheit, sinnstiftende Aktivitäten ausüben zu können... Sprecherin: .. und manches, was in der öffentlichen Wahrnehmung als kulturell unterschiedlich erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Mythos. Zum Beispiel die Vorstellung von der harmonischen Gastarbeiter-Großfamilie, die jeden kranken Angehörigen zu Hause betreut, aber auch das Bild vom einsamen deutschen Rentner, der in einem Pflegeheim vor sich hin vegetiert. Helen Baykara-Krumme: (Helen Baykara-Krumme) Was wir aber feststellen gerade in Bezug auf die Familie ist, dass in vielen Migrantengruppen - und jetzt kann ich wieder am besten über die Türkeistämmigen sprechen - die Familienorientierung sehr stark ist, die Erwartungen an Familienmitglieder, dann im Alter auch die Pflege zu übernehmen, dass das sehr viel stärker ausgeprägt ist als in der einheimischen Bevölkerung. Aber ansonsten in dem faktischen Unterstützungsverhalten, die Unterschiede dann doch gar nicht so groß sind in den Generationenbeziehungen. Wir wissen, auch in einheimischen deutschen Familien findet Pflege überwiegend im Familienkontext statt, und dies ist eben auch in Migrantenfamilien so. Theaterstück: türkisches Lied Sprecher vom Dienst: "Hier geblieben. Ältere Migranten in Deutschland" Es sprach: Viola Sauer Ton: Bernd Friebel Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 Nächste Woche hören Sie an dieser Stelle: "Die Kunst des großen Bauens. Warum Bauzeiten und Budgets in Deutschland oft nicht eingehalten werden". Die Zeitfragen können Sie nachhören und nachlesen unter: www.dradio.de 2