KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit: 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung: Egils Erben. Zur Aktualität der mittelalterlichen "Isländersagas" AutorIn: Walter Bohnacker Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 04.10.2011 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Sprecher (Kommentar) /Zitator (Zitate und OV)/Zitatorin (Zitate und OV) O-Töne und Atmos auf CD Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio MUSIK Jóhan Jóhansson | Englabörn | CD2/Titel 1 Start aufblenden, wegblenden nach 15" O-TON Egils Saga (Altnordisch) | 18" | CD1/Titel 1 Ganz spielen | 15" ZITATOR Kveld-Úlf* und Skalla-Grím* sprachen oft darüber, was sie jetzt tun sollten. Und sie wurden gänzlich eines Sinnes und sagten, dass sie nicht hier im Lande bleiben könnten. ATMO Brandung | CD1/Titel 2 Wegblenden nach 8" SPRECHER Zwei Wikinger rüsten zur Fahrt: Kveld-Úlf* und Skalla-Grím*, "Abendwolf" und "Glatzen-Grím", Vater und Sohn. Sie haben Streit mit ihrem König, der in Norwegen jeden Winkel beherrscht und wollen weg - auf eine Insel, von der alle schwärmen. O-TON Egils Saga (Altnordisch) | 26" | CD1/Titel 3 Wegblenden nach 14" ZITATOR Es schien ihnen verlockend, nach Island zu fahren, denn es wurde Günstiges über die Eigen- schaften des Landes berichtet. Es waren dorthin schon ihre Freunde und Bekannte gekommen, Ingolf Arnarson und seine Gefährten, und hatten auf Island Ländereien und Wohnstätten in Besitz genommen. SPRECHER Es ist das Jahr 890. Das "Eisland" im Nordatlantik, so viel hat sich herumgesprochen, ist besser als sein Ruf. Es zieht scharenweise Pioniere an: Siedler von den Färöern, aus Irland und aus Skandinavien. Die Vulkaninsel ist keine terra nova mehr und ganz sicher kein Paradies, und doch lockt sie als nordi- sches Utopia - mit glänzenden Perspektiven für die junge Generation. ATMO Brandung | CD1/Titel 4 Wegblenden nach 9" SPRECHER Für den alten Kveld-Úlf bleibt die Insel ein Traum, er stirbt auf See in Sichtweite der isländischen Küste. Skalla-Grím segelt weiter und legt im Westen an, in der Region Borgarfjord. Dort macht er's wie die anderen vor ihm: er nimmt sich Land und wird sein eigener Herr. MUSIK Jóhan Jóhansson | Englabörn | CD2/Titel 2 Abblenden nach 11" und unterlegen SPRECHER Die Vorgeschichte der Emigration, der Neuanfang der Siedler in Island und ihr Aufstieg zur Elite der Großgrundbesitzer: all das erzählt - weit ausholend - eine der bekanntesten der Isländersagas: Die Saga von Egil Skalla-Grímsson.* MUSIK Jóhan Jóhansson | Englabörn | CD2/Titel 2 Auf- und wegblenden SPRECHER Dieser Egil*, Sohn des Glatzen-Grím, ist historisch verbürgt. Er lebte von 910 bis 990 und war kein sympathischer, strahlender Held. Im Gegenteil, er ist einer der großen Finsterlinge der Literatur, von denen es in den Sagas nur so wimmelt. Er wird geschildert als aufbrausender, unberechen- barer Kraftprotz und Dickschädel. Er hat etwas Ani- malisches und Dämonisch-Düsteres, das ihn biswei- len zum Berserker werden lässt. Und dennoch ist dieser Egil kein Unmensch. Für seine Familie tut er alles, er ist zu Mitgefühl und tiefer Freundschaft fähig - und er neigt zur Schwermut. Egils größtes Plus liegt dort, wo er sich von seiner besten Seite zeigt: in seiner Melancholie und in seinem Talent als begnadeter Sprachkünstler und Dichter. Sein Genie zeigt sich schon sehr früh. ZITATOR Als er heranwuchs, konnte man es ihm bald ansehen, dass er sehr hässlich werden würde und schwarzhaarig wie sein Vater. Und als er drei Jahre alt war, war er groß und stark wie andere Jungen, die sechs oder sieben Jahre waren; er konnte schon früh sprechen und war wortge- wandt. SPRECHER "Wortgewandt" - das ist stark untertrieben für ein Wunderkind, das schon als Knirps komplizierte Verse schmiedet wie die Skalden, diese legendären Sänger des nordeuropäischen Mittelalters. Zwei Gedichte machen Egil später selber zur Legende: "Die Haup- teslösung" und "Der Söhne Verlust". Sie markieren Höhepunkte der altnordischen Lyrik und sichern ihm seinen Platz in der Weltliteratur. Einen festen Platz hat der Mann auch im kollektiven Gedächtnis seiner Nation. Viele Isländer können ihren Stammbaum bis zu ihm zurückverfolgen - und sind nicht unbedingt stolz darauf. Kaum einer mag den Kerl, aber seine Story kennen alle. Fast Wort für Wort kennt sie der Schauspieler Benedikt Erlingsson. Er hat die Saga von Egil für das Theater bearbeitet und stand in seinem Solostück Mister Skallagrímsson* jahrelang als "wortgewandter" Wikinger auf der Bühne. O-TON Benedikt Erlingsson (Altisl.) | 23" | CD1/Titel 5 Ganz spielen SPRECHER Das Faszinierende an dieser Gestalt, meint Erlings- son, sei ihre Doppelnatur und extreme Ambivalenz. O-TON B. Erlingsson (Englisch) | 21" | CD1/Titel 6 Abblenden und unterlegen ["The fascination is also this brutal character that is also a poet, that we really come in contact, through his suffering and his poetry, we can touch and feel the heart of the poet and the human being. But at the same time, we read or we hear about the action of this poem, you know, and what a brutal, you know, Viking and a psychopath he is."] ZITATOR "Er hat zwei Seelen in seiner Brust: die eines Rabauken und die eines Dichters. In Egils Gedichten spüren wir den leidenden Menschen, und doch vergessen wir nie, wer da dichtet: ein brutaler Wikinger und Psychopath." O-TON B. Erlingsson (Englisch) | 21" | CD1/Titel 6 Aufblenden und spielen bis Ende MUSIK Jón Leifs | Complete Piano Music | CD2/Titel 3 Wegblenden nach 7" SPRECHER Die Saga von Egil Skalla-Grímsson gilt als die älteste der Isländersagas. Die Gattung umfasst rund vierzig Familiengeschichten aus der Zeit der Land- nahme und Besiedelung der Insel. Schriftlich fixiert wurden diese Erzählungen allesamt anonym ab Mitte des 13. Jahrhunderts; die in ihnen geschilderten Ereignisse fanden jedoch lange vorher statt, während der sogenannten "Sagazeit" von 930 bis 1030. Zwischen dem Berichtszeitraum und der Aufzeich- nung liegen also gut und gern dreihundert Jahre der vermutlich rein mündlichen Überlieferung. Urtexte der Sagas sind nicht erhalten, es existieren lediglich Kopien und deren Varianten. Natürlich wurden diese Geschichten über die Generationen hinweg fortlaufend bearbeitet. Da wurde getilgt und redigiert und je nach Fantasie der Autoren auch fleißig hinzugedichtet. Was zählte, waren die literarische Intention der Verfasser und die künstlerische Gestaltung der Themen und Stoffe. Dazu die Frankfurter Skandinavistin Julia Zernack. O-TON Julia Zernack | 32" | CD1/Titel 7 ["Man muss sich klarmachen, dass die retrospektiv erzählen. Das heißt, sie imaginieren diese Ereig- nisse. Die Verfasser der Isländersagas, die imaginie- ren das, die machen daraus wieder einen Zusammen- hang, sie erzählen einen kohärenten Text über Ereig- nisse, deren Augenzeugen sie nicht waren. Das heißt, da ist natürlich ganz viel Fiktion dabei. Es ist auch mit Sicherheit sehr viel Erfahrungshintergrund aus der eigenen Zeit der Verfasser dabei, also aus dem 13., 14.Jahrhundert. Der wird aber direkt nicht angesprochen. Es ist Imagination des 13., 14. Jahr- hunderts."] SPRECHER Was die Sagaautoren zu Pergament brachten - und das nicht etwa in Latein, sondern in der Prosa der Volkssprache und in einer Mischung aus Dich-tung und Wahrheit - ist, wenn man so will, literari-sierte Zeitzeugenschaft. Die Kolonisierung der Insel, die Entwicklung eines Gemeinwesens mit relativ flachen Hierarchien, der Aufbau eines zivilen Rechtssystems, die Stellung des Individuums in der neuen Gesellschaft und die Kon- flikte in ihr: dies sind die übergreifenden Themen der Isländersagas. Dass dabei herausragende Einzelpersönlichkeiten die Hauptrollen spielen wie in einem Drama und in der Regel - wie Egil - als exzellente Rhetoriker auftreten, ist kein Zufall. Die Handlungen der Sagas sind in der Tat bühnenreif. O-TON Julia Zernack | 37" | CD1/Titel 8 ["Es gibt aber Sagas, die vollkommen andere Themen haben. Es gibt Rittersagas, das ist Über- setzung höfischer Literatur, das sind zunächst norwegische Übersetzungen französischer, anglo- normannischer höfischer Romane, die werden dann weitervermittelt nach Island. Die beschäftigen sich überhaupt nicht mit isländischen Stoffen. Es gibt Königssagas, das ist die mittelalterliche isländische Geschichtsschreibung. Es gibt Sagas über die zeit- genössische mittelalterliche Geschichte Islands. Es gibt die 'Heilagra manna sögur', das ist die Hagiografie, sind Heiligenviten in isländischer Sprache. Meistens wenn man von Sagas spricht, meint man die Isländersagas."] SPRECHER Von den Anfängen und dem Entstehen einer Gesellschaft erzählen, die sich erst in der Literatur als tragfähiges Gemeinwesen konstituiert: So interpretiert der isländische Philologe Vésteinn Ólason* die Sagas. Er liest sie als einen über die Kluft der Epochen hinweg geführten Dialog ihrer Autoren mit dem Zeitalter der Wikinger. O-TON V. Ólason (Englisch) | 24" | CD1/Titel 9 Abblenden und unterlegen ["My idea is that they were testing their own time with stories about their forefathers to see how the ideals and methods of solving conflicts, for instance, could teach them something, or tell them something about themselves. In that sense, they were asking their forefathers: 'What should we do in our situat- ion?' And the answer was in the stories that they themselves told about their forefathers."] ZITATOR "Ich denke, in dem, was über ihre Vorfahren berichtet wurde, sahen die Isländer des Mittel- alters Versuchsanleitungen für das Handeln in der Gegenwart. Die Antworten auf Fragen wie: 'Was sollen wir jetzt tun?' und 'Welche Arten der Konfliktlösung bieten sich an?' ergaben sich aus der Fortschreibung dieser Geschichten." O-TON V. Ólason (Englisch) | 24" | CD1/Titel 9 Aufblenden bis Ende SPRECHER Auf die anhaltende Stabilität - von der Landnahme im neunten Jahrhundert über die Christianisierung der Insel im Jahr 1000 bis Ende des zwölften Jahrhunderts - folgte eine längere Periode, die von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen und innerem Zerfall geprägt war. Sie führte 1262 zum Verlust der freistaatlichen Eigenständigkeit Islands und in die Abhängigkeit zuerst von der norwegischen, später der dänischen Krone. Vor diesem Hintergrund thematisieren die Sagas auch den Verlust eines bestimmten Weltbil- des. O-TON V. Ólason (Englisch) | 31" | CD1/Titel 10 Abblenden und unterlegen ["I think they were looking for models of behaviour in these sagas but they are not all alike. That's one good thing about them. Some of the sagas are, you could say, naively admiring or presenting their heroes as models but there are others that see it with a certain nostalgic point of view, admiring these old times, but at the same time realizing that it is not possible anymore to live as people lived three hundred years ago."] ZITATOR "Man suchte nach Leitbildern für das eigene Verhalten. Das Schöne an den Sagas ist aber: sie sind nicht alle gleich. Manche Autoren präsentie- ren ihre Helden fast naiv als große Vorbilder, andere erzählen nostalgisch und voller Bewunder- ung von den guten alten Zeiten und wissen doch, dass man dreihundert Jahre später so nicht mehr leben kann." O-TON V. Ólason (Englisch) | 31" | CD1/Titel 10 Aufblenden SPRECHER Nahezu identisch sind die Anlässe, die in den Sagas das Geschehen in Gang bringen. Meist geht es um Streitigkeiten und Fehden, um Verstöße gegen geltendes Recht, um Liebschaften, Macht und Geldgier, um Ehre und Ehrverletzung, um Mord und Totschlag, Rache, Buße, Versöhnung und Wiedergutmachung. Federführend sind die local heroes und deren Widersacher: Familienoberhäupter, Häuptlinge und streitbare Nachbarn; starke, eigenwillige Frauen, die ihre Männer anstacheln; Geächtete, Gesetzlose, Verfemte und Außenseiter jeder Couleur: allesamt komplexe Gestalten, die in keine Schablone passen, weil sie irgendwie aus der Art schlagen, so oder so. Sie heißen Njáll* und Gunnar, Bergthora und Hallger- ður, Gisli und Grettir, Gunnlaug*, Kormak, Hühner- Thorir - oder Egill. MUSIK Jón Leifs | Saga Symphony | CD2/Titel 4 Spielen ab 4'50" und nach 12" wegblenden SPRECHER "Bauern, die sich prügeln": Auf diesen berühmten Nenner brachte im 18. Jahrhundert der isländische Historiker Árni Magnússon im großen und ganzen den Inhalt der Sagas. Als Mitglied einer dänischen Regierungskommission sammelte er auf Gutshöfen in Island alte Pergamenthandschriften. Einige hundert vermachte er der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Als die Stadt 1728 in Flammen aufging, wurde ein Großteil der Manuskripte vernichtet, die wichtigsten jedoch konn-ten gerettet werden. ATMO A.M.-Institut/Kollegengespräch | 22"| CD1/T11 Abblenden nach 8" und unterlegen SPRECHER Rund zweitausend dieser Fundstücke lagern heute im Árni Magnússon-Handschrifteninstitut der Universität Island in Reykjavík. ATMO A.M.-Institut/Kollegengespräch | 22"|CD1/T11 Auf- und wegblenden SPRECHER Verwahrt werden die Manuskripte im Untergeschoss des Archivs hinter massiven Tre-sortüren. Hüterin der Pretiosen ist Institutsleiterin Gudrun Nordal. ATMO A.M.-Institut/Schließgeräusch |10" | CD1/T12 Schnell wegblenden nach 7" ATMO Gudrun Nordal (Umblättern) | 14" | CD1/Titel 13 Wegblenden nach 10" SPRECHER Dafür, dass die Kalbshäute auf den Gehöften permanent dem Rauch offener Kamine ausgesetzt waren, sind die Folianten mit den Pergamentblättern erstaunlich gut erhalten, auch wenn sie über die Jahrhunderte stark nachgedunkelt sind. O-TON Gudrun Nordal (Englisch) | 28" | CD1/Titel 14 Abblenden nach 8" und unterlegen ["Our collection is...has manuscripts from the twelfth century into the, we could say nineteenth century. Different types of manuscripts, parchment manuscripts, vellum manuscripts that were made in Iceland in the Middle Ages. And then paper manuscripts after that. The different types of texts that we have: sagas, poetry, law books, religious works. So, it's a great variety of material that is then preserved in the manuscripts."] ZITATORIN "Die ältesten Handschriften in unserer Samm- lung datieren aus dem 12. Jahrhundert. Die Reihe geht durch bis zu den Papierhandschriften des 19. Jahrhunderts, wobei an Textsorten so ziemlich alles vertreten ist: Sagas, Gedichte, Gesetzes- bücher und religiöse Literatur." O-TON Gudrun Nordal (Englisch) | 28" | CD1/Titel 14 Aufblenden und spielen bis Ende SPRECHER Nordals kostbarstes Stück ist ein kleines, recht un- scheinbares Buch, im Format 19 mal 13 Zentimeter, geschrieben in Island um 1270. O-TON Gudrun Nordal (Englisch) | 30" | CD1/Titel 15 Abblenden nach 9" und unterlegen ["The Poetic Edda, the 13th century book of Eddic poetry. Because it preserves poems that are only preserved in that one volume, not preserved anywhere else. So, it's quite... quite important, not only for Iceland but for Nordic mythology, Germanic mythology and Indo-European traditions. So, it's a very important book of texts. We have, of course, other manuscripts that are important in many other ways, but this is a unique book."] ZITATORIN "Die Poetische Edda, eine Sammlung eddischer Gedichte, die nur in diesem einen Buch erhalten sind. Sie ist von zentraler Bedeutung, nicht nur für Island, sondern für die gesamte nordische, germanische Mythologie. Dieses eine Bändchen ist unser Prunkstück, absolut einmalig." O-TON Gudrun Nordal (Englisch) | 30" | CD1/Titel 15 Aufblenden und spielen bis Ende ATMO A.M.-Institut/Schließgeräusch | 10" | CD1/T16 Schnell wegblenden nach 7" SPRECHER Die "Poetische" oder - wie sie auch genannt wird - "Ältere" oder "Lieder-Edda" enthält auf 45 Blättern elf mythologische Gedichte aus heidnischer Vorzeit, dazu achtzehn Heldenlieder aus dem Umfeld der Nibelungensage. Ab 1643 lag das Bändchen mit der Bezeichnung Codex Regius drei Jahrhunderte lang in Kopenha- gen. Parallel zu den Verhandlungen über die Un- abhängigkeit Islands - sie kam 1944 - liefen die Gespräche mit Dänemark über die Rückgabe der Pergamenthandschriften, und die zogen sich hin - jahrzehntelang. Erst am 19. April 1971 war es so weit: Ein Kriegs- schiff der dänischen Marine legte im Hafen von Reykjavík an. Mit an Bord hatte es die erste Liefe- rung des isländischen Staatsschatzes: den Codex Regius und die Flateyjarbók*, eine Sammelhand- schrift mit Königssagas. 15.000 Hauptstädter stan- den damals am Straßenrand und feierten die Rück- kehr der alten Handschriften wie einen zweiten Nationalfeiertag. MUSIK Jón Leifs | Complete Piano Music | CD2/Titel 5 Spielen ab Start, nach 12" abbl. und unterlegen SPRECHER Zweifel am Wahrheitsgehalt der Isländersagas hatte einer ihrer größten Bewunderer, Nobelpreis-träger Halldór Laxness. Er hielt die Geschichten für pure Fiktion, und gerade deswegen schätzte er sie: als Meisterwerke der Erzählkunst und Vorläufer des modernen Romans. Mit Romanen wie Sein eigener Herr oder Die Island- glocke wurde Laxness zum bis heute bedeutendsten Epigonen und Erneuerer der mittelalterlichen isländi- schen Erzähltradition. Hier der Schriftsteller in einer Aufnahme aus dem Jahr 1976. MUSIK Jón Leifs | Complete Piano Music | CD2/Titel 5 Auf-/abblenden und unterlegen O-TON Halldór Laxness (Deutsch) | 7" | CD1/Titel 17 ["Das ist eine sehr gelehrte Literatur, aber die ist für einfache, intelligente Leute geschrieben."] MUSIK Jón Leifs | Complete Piano Music | CD2/ Titel 5 Auf-/abblenden und unterlegen O-TON Halldór Laxness (Deutsch) | 14" | CD1/Titel 18 ["Die isländischen Bauern haben diese Sagen immer verstanden, weil sie so klar und in einer so einfachen aber schönen Sprache geschrieben worden sind."] MUSIK Jón Leifs | Complete Piano Music | CD2/Titel 5 Auf- und wegblenden O-TON H. Guðmundsson (Deutsch) | 9" |CD1/Titel 19 ["Es war, glaube ich, ja vielleicht das einzige Vor- bild, das er hatte, dass es isländische Weltliteratur gibt oder Weltliteratur auf Isländisch. Daher waren sie wichtig für ihn."] SPRECHER Der Schriftsteller und Laxness-Biograf Halldór Guðmundsson. O-TON H. Guðmundsson (Deutsch) | 46" | CD1/Titel 20 ["Als junger Mann hat er sie nicht gemocht und sehr kritisiert und sagte auch einfach: 'Die Isländersagas sind total uninteressant, das ist ja alles ganz veral- tet. Und sonst sind es nur . Dann hat er sich in den dreißiger Jahren mehr mit ihnen befasst und besonders in den vierziger Jahren im Krieg, als er gezwungenermaßen in Island ist, nicht mehr so viel unterwegs, und über die isländische Geschichte schreibt - mit der Island- glocke - dann hat er sich sehr eingehend mit ihnen beschäftigt. Er hat ein paar von ihnen herausgege- ben. Er hat versucht sie an den allgemeinen Leser zu bringen, indem er sie mit moderner Orthografie her- ausgab, das gab es damals gar nicht. Und sie wur- den für ihn plötzlich zu einem wichtigen stilistischen Einfluss auch."] SPRECHER An den Sagas faszinierte Laxness vor allem die hervorragende Lesbarkeit der Texte, mit anderen Worten: ihre erstaunliche Modernität. Ein Ergebnis der erzähltechnischen Versiertheit der Autoren. So werden die Figuren allein durch ihr Handeln und Sprechen charakterisiert, und der Erzähler präsentiert lediglich sein Material, verschwindet selbst ganz hinter der Handlung. So schrieb man im Mittelalter tatsächlich nur in Island. MUSIK Jóhan Jóhansson | Englabörn | CD2/Titel 6 Spielen ab Start und wegblenden nach 11" SPRECHER Die Sagaliteratur steht im Mittelpunkt des Auftritts Islands als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Das Hauptaugenmerk gilt dabei der soeben bei S. Fischer erschienenen neuen, vier- bändigen kommentierten deutschen Ausgabe der Isländersagas. Eine aktualisierte deutschsprachige Gesamtaus- gabe sei längst fällig gewesen, findet Hans Jürgen Balmes, bei Fischer Cheflektor für internationale Literatur. O-TON Hans Jürgen Balmes | 17" | CD1/Titel 21 ["Wir haben da irgendwie den Eindruck - und das ist, was die Isländer und wir uns gemeinsam zum Ziel gesetzt haben -,dass wir die Sagas aus der Nische, in der sie im Moment sind, es sind ja nur einzelne Titel lieferbar, dass wir diesen Korpus wieder richtig ins Bewusstsein der Leser bringen."] SPRECHER Raus aus der Nische hole diese leserfreundliche Edition die Texte auch in punkto Übersetzung. O-TON Hans Jürgen Balmes | 27" | CD1/Titel 22 ["Wichtig war für uns, dass wir eigentlich die erste Riege literarischer Übersetzer unter den Skandina- visten hier zur Arbeit gebracht haben, weil wir dach- ten, es soll jetzt auch in eine Sprache übertragen werden, die jetzt nicht die eines emeritierten Profes- sors ist, sondern diese Texte sollen dann nachher auch im Ohr des Lesers konkurrieren können mit gegenwärtiger Literatur aus Island, aber auch mit gegenwärtiger europäischer Literatur."] SPRECHER Eine erste größere Auswahl altisländischer Literatur bot im deutschsprachigen Raum die von 1911 bis 1930 erschienene 24-bändige Sammlung Thule: Alt- nordische Dichtung und Prosa. Sie entstand unter Mitwirkung der damals führenden Sagaexperten, die als Übersetzer sehr freies Spiel hatten. Vor dem Hintergrund des aufkommenden National- sozialismus war das große Defizit der Thule-Ausgabe ihr ideologischer Ansatz. Sie wollte den Leser hinführen zu den vermeintlichen germanischen Ursprüngen der deutschen Literatur. Deren Quellen, so glaubte man, sprudelten nirgends so klar wie in Island. Die Sagaübersetzungen damals standen ganz im Zeichen eines "verdeutschenden Nordentums". So nannte es in den 1920er-Jahren einer der Grandseigneurs des Faches, der Baseler Altgerma- nist und Thule-Mitarbeiter Andreas Heusler. Dazu Julia Zernack, sie ist Mitherausgeberin der neuen Frankfurter Sagaausgabe. O-TON Julia Zernack | 34" | CD1/Titel 23 ["Die Sammlung Thule muss man sehen vor dem Hintergrund eines ganz bestimmten Germanenbil- des, das sie bedient. Es steckt die Vorstellung dahinter, dass diese Literatur, die isländische Mittel- alterliteratur, gemeingermanischer Kulturbesitz war und so also gewissermaßen auch für die deutsche Literatur reklamiert werden könnte als frühes Phäno- men der deutschen Literatur. Und das versucht man dann, also mit so einem leicht pädagogischen Impe- tus auch zu vermitteln, daran könnte also die Gegen- wart so manche Krise überwinden am Beispiel dieser Geschichten, die da erzählt werden."] ===================================================== KÜRZUNGSVORSCHLAG (3 ABSÄTZE) SPRECHER Als Band drei der Sammlung Thule erschien 1923 Die Geschichte vom Skalden Egil. Der Klappentext bewarb sie so: ZITATOR "Die Egilsaga ist die großartigste Zusammen- fassung alles dessen, was wir uns unter Wikinger- tum vorstellen: unbändige Kampflust, Lebenskraft und eine nach Abenteuern hungrige Unruhe, Verschlagenheit und Grausamkeit." SPRECHER Von hier war es dann nicht mehr weit zum sprach- und takräftigen wilden Mann im Tornister. 1942 erschien Egill: Kämpfer und Skalde - als Feldpost- ausgabe der Wehrmacht! ===================================================== SPRECHER Was bei so viel Germanomanie auch verloren ging, war der berühmte originäre "Sagastil". Er wurde so weit eingedeutscht, bis alles spezifisch Isländische fast völlig auf der Strecke blieb. Da rücke die Neu- übertragung jetzt vieles wieder ins rechte Licht, betont die Islandistin und Übersetzerin Betty Wahl. O-TON Betty Wahl | 27" | CD1/Titel 24 ["Wir übersetzen nicht mehr jeden Ortsnamen, auch nicht mehr jeden Beinamen, sondern wir möchten schon den isländischen Lokalkolorit auch erhalten, wir möchten auch, dass ein Ortsname auf einer Karte wiedergefunden werden kann. Ich schreibe nicht , sondern ich schreibe wie der Fluss in Island wirklich heißt, <Öxará>, weil ich möchte, dass die Leser wissen, das spielt in Island und es ist nun- mal ein isländischer Text, und es wäre schade, das aufzugeben."] SPRECHER Der typische Sagastil: dazu gehören die unverblümte Ausdrucksweise der Charaktere; der häufige unver- mittelte Übergang von direkter zu indirekter Rede; ein ständiger Zeitenwechsel, ein ausgeprägtes Gespür für Groteskes und das aphoristisch zugespitzte Understatement, das dann nicht selten als geflügeltes Wort überlebt hat. Wenn vom Töten die Rede ist, heißt es da zum Beispiel... ZITATOR "...Nur kurze Zeit freut sich eine Hand über ihren Schlag." SPRECHER ...oder der von zwei Speeren tödlich Getroffene selbst macht sich unsterblich mit den lakonischen letzten Worten... ZITATOR "...Jetzt sind wohl die breiten Speere in Mode." SPRECHER Betty Wahl hat für die Fischer-Edition die Gruppe der Skaldensagas ins Deutsche gebracht, darunter Die Saga von Gunnlaug* Schlangenzunge. O-TON Betty Wahl | 27" | CD1/Titel 25 ["Wenn ich eine deutsche Stimme versuchen will zu finden, muss ich mich entscheiden. Ich habe den Sagastil, ich soll eine Saga als Saga auf Deutsch wiedergeben. Ich möchte sie aber zugänglich für heutige Leser machen, ich möchte eine gewisse Zeitlosigkeit erreichen, die das Original für mich hat, die aber eine ältere Übersetzung nicht hat. Eine Übersetzung veraltet, aber ein...ein Original ist gewissermaßen zeitlos."] ZITATOR Dann fragt der Jarl Gunnlaug*, wer er sei, und Gunnlaug nennt ihm seinen Namen und seine Herkunft. Nun sprach der Jarl: "Was ist mit dei- em Fuß, Isländer?" - "Da habe ich ein Geschwür, Herr", sagt er. - "Und du hinkst nicht?" Gunnlaug entgegnet: "Man sollte nicht hinken, so lange beide Beine gleich lang sind." Da sprach der Gefolgsmann des Jarls, der Þórir* hieß: "Er spielt sich ziemlich auf, dieser Isländer. Es könnte nicht schaden, ihn etwas auf die Probe zu stellen." ATMO Straßencafé mit Glocke | 22" | CD1/Titel 26 Wegblenden nach 8" SPRECHER Mittsommer 2011. Mit seiner wilden Natur und den Schauplätzen der Sagas ist Island immer noch ein nordischer Traum, zumal für Touristen. Wie sagte Halldór Laxness: ZITATOR "Man bewegt sich im Sagaraum, das ganze Land bebt von der literarischen Überlieferung." SPRECHER Stärker als das Beben der Literatur erschütterte die Insel vor Jahren der hausgemachte Kollaps des Bankensektors. Seither steht Island für "Krisland", für Kreditklemme und Staatsbankrott und, in der Folge, für die radikale Absage an das politische Estab-lishment. MUSIK Nationalhymne | 47" | CD2/Titel 7 Spielen ab Start, nach 12" abbl. und unterlegen SPRECHER Nicht das Nieselwetter drückt am Nationalfeiertag am 17. Juni auf dem Platz vor dem Parlament in Reykjavík die Stimmung, nein es sind die letzten vier von, wie es in der Landeshymne heißt, "Islands tausend Jahren". Sie waren schlimm genug. MUSIK Nationalhymne (47") | CD2/Titel 7 Auf- und wegblenden SPRECHER Von vollen und von leeren Kassen verstand auch Egil Skalla-Grímsson eine ganze Menge, geizig und habsüchtig wie er war. Verse machen und möglichst viel Geld, das ging bei ihm Hand in Hand. Am Ende sitzt der alte Kerl auf einem stattlichen Vermögen - und lässt es verschwinden!!! Kurz vor seinem Tod versteckt er seinen Silber- schatz. Wo, verrät er niemandem. So rächt er sich an seiner Sippschaft, die für den Tattergreis nur noch Hohn und Spott übrig hat. Diese Leute sollen ihn beerben? Lieber nimmt er sein Geheimnis mit ins Grab! Egils Silber ist bis heute verschollen, geblieben ist nur....sein "Wort-Schatz". Halldór Guðmundsson leitet das für den Frankfurter Messeauftritt zuständige Projektbüro "Sagenhaftes Island". Der Bankencrash 2008, meint er, war wie das "Sterben des reichen Mannes" Egil: das tragiko- mische Ende des Wikingerkapitalismus - und ein Signal zum Umdenken in der Gesellschaft, nicht nur in Island. O-TON H. Guðmundsson (Deutsch) | 24" | CD1/Titel 27 ["Dass das zu Ende ging, das kann kein Mensch bereuen. Und dann hat die Literatur und vielleicht auch die Kunst allgemein wieder eine sinnstiftende Funktion. Das heißt, sie muss wieder sich mit dieser neuen auch mentalen Wirklichkeit beschäftigen. Es gibt wieder diese Fragen: Was ist jetzt wichtig für uns? Was spielt überhaupt eine Rolle? Wo gehen wir hin, wenn das jetzt alles ein falscher Weg war?"] SPRECHER Die Verskunst und das Geschichtenerzählen: In Island sind sie das Leitmedium einer Kultur, die sich seit ihren Anfängen über die Literatur und Sprache definiert. Kein Wunder also, dass die Sagas auch heute auf die junge Autoren und Künstler des Landes so faszinierend und inspirierend wirken wie auf die Menschen im Mittelalter. Zur Buchmesse zeigt die Isländerin Gabríela Fríðriksdóttir* in der Frankfurter Kunsthalle Schirn Arbeiten, für die sie sich von den Handschriften der Isländersagas inspirieren ließ. "Seelengefäße" nennt die Künstlerin die Sagas. MUSIK Jóhan Jóhansson | Englabörn | CD2/Titel 6 Spielen ab 1'08", abblenden und unterlegen O-TON G. Fríðriksdóttir (Isl.) | 28" | CD1/Titel 28 Wegblenden nach 6" ZITATORIN "Je mehr Seelen sie aufsaugen können, desto lebhafter werden sie und beginnen zu vibrieren. Wenn sie erstmal in alle Sprachen übersetzt sind, vielleicht explodieren sie dann sogar." MUSIK Jóhan Jóhansson | Englabörn | CD2/Titel 6 Auf- und wegblenden ======================== E N D E ======================= AUSSPRACHE ISLÄNDISCH DEUTSCH Egill Éhgil Flateyjarbók Fláht-eyar-bóhk Gabríela Fríðriksdóttir Friedriksdóchtir Gunnlaug Günnläug Kveld-Úlf Kvelt-Ulf Njáll Njaul Skalla-Grím Skátla-Grim Skalla-Grímsson Skátla-Grimson Þórir Thóhrir Vésteinn Ólason Vjested Óhlason 29