COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : "Terror, Trauma, Trauer" Der 11. September im Spiegel der Literatur Autor/in : Claudia Kramatschek Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 11.09.2011 Besetzung : Erzählerin (Kommentar) Sprecherin (Overvoice,Zitate) Sprecher 1 (Overvoice) Sprecher 2 (Zitate) Regie : Christine Nagel Produktion : O-Töne, Musik REGIE: ((CNN live coverage - ca. 20 sec)) ((siehe youtube: http://www.youtube.com/watch?v=vfYQAPhjwzA This is just ... we are looking at an obviously very disturbing life shot there. That is the World Trade Center and we have unconfirmed reports this morning that a plane has crashed into one of the towers of the World Trade Center. CNN is just beginning to work on that story ... ((Quelle: CNN - Cable News Network, 11.09.2001)) SPRECHER 2: ((Regie: überblenden in die deutsche Fassung)) Am Morgen des 11. September 2001 - der Himmel über der Ostküste ist blau und wolkenlos - hebt um 7.59 Uhr Ortszeit Flug American Airline 11 vom Bostoner Flughafen ab ... und wird Amerikas Geschichte für immer verändern. REGIE: O-Ton New York Feuerwehr-Aufnahmen REGIE: "Out of Egypt: Confusion" --- in den Song einsteigen ab 0.45min: As you wake up today ... ca. 15 Sekunden stehen lassen - bis 'contusion ... Sprecherin 1 damit unterlegen - gerne immer wieder hochziehen (?) ERZÄHLERIN: Als am 11. September 2001 die beiden Türme des World Trade Center einstürzen, hält die Welt den Atem an. Niemand kann glauben, was da zu sehen ist. Und zugleich sieht es die ganze Welt, die spätestens mit dem Einschlag des zweiten Flugzeugs life zugeschaltet ist. Doch jede Geschichte, so der amerikanische Kulturwissenschaftler Tom Mitchell, besteht aus zwei Geschichten: Die eine Geschichte handelt davon, was geschehen ist. Die andere davon, wie das, was geschehen ist, wahrgenommen wird. REGIE: O-Ton Mitchell 1a To begin with it was an attack on an image, an architectural icon, which symbolized American hegemony, the global capitalism, a global marketplace. So it was a symbol of secular modernity to certain fundamentalist sections in the Islamic world. And it was the obvious target. So in that sense it is one of the oldest aspects of war that you attack the sacred images of your enemy: destroy them, disfigure them - as a way of humiliating them, bringing down the symbol of their power. SPRECHER 1: ((overvoice Mitchell)) Der Angriff galt zunächst einer architektonischen Ikone, die Amerikas Hegemonie, den globalen Kapitalismus versinnbildlicht. Für die Islamisten waren die Türme ein Symbol der säkularen Moderne - und insofern ein nahe liegendes Ziel. Es ist seit jeher ein Aspekt des Krieges, die heiligen Bilder des Feindes zu zerstören und den Feind zu erniedrigen, indem man ihn der Symbole seiner Macht beraubt. ERZÄHLERIN: Rasch werden die Bilder der einstürzenden Türme zum visuellen Inbegriff für diesen Tag. Nicht zuletzt deshalb nennt Mitchell, seit 1977 Professor für Englisch und Kunstgeschichte an der Universität von Chicago, die Ereignisse des 11. September einen 'pictorial turn', eine Wende im Hinblick auf die Eigenschaft von Bildern. REGIE: O-Ton Mitchell 1b It was not only the destruction of an image, but the production of that image of destruction. SPRECHER 1: ((dt. Mitchell)) Ein Bild, eine Ikone wurde zerstört - und zugleich ein unvergessliches Bild der Zerstörung geschaffen. SPRECHER 2: ((akustisch verfremdet - wie aus weiter Ferne kommend)) Das Spektakel des Terrorismus zwingt uns den Terrorismus des Spektakels auf. - Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus ((Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Übersetzung: Markus Sedlaczek, Michaela Ott, Peter Engelmann. Passagen Verlag. S. 31)) ERZÄHLERIN: Amerika gibt sich vom ersten Tag an als Sieger, nicht als Verlierer: Die Opfer sind nicht mehr nur Opfer. Sie werden zu Helden und zu Märtyrern stilisiert. REGIE: Musik: September Song/Dave Brubeck ((Erzählerin damit unterlegen)) ERZÄHLERIN: Im Dezember 2001 veröffentlicht der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo einen Essay über den 11. September. Sein Titel: "In the Ruins of the Future" - "In den Ruinen der Zukunft". DeLillo, 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in New York geboren, beschreibt, wie die Anschläge das amerikanische Selbstvertrauen grundsätzlich zerstört und eine existentielle Verletzlichkeit offen gelegt haben. Vor allem aber befürchtet der in New York beheimatete Autor, dass von nun an die Terroristen diktieren könnten, wie die Welt zu verstehen sei. Terroristen, die - so DeLillos Empfinden - Amerika und seine Demokratie in eine mittelalterliche Vergangenheit zurück bomben wollen. SPRECHER 1: When the second tower fell, my heart fell with it... ((Don DeLillo: In the ruins of the future. Aus: Harpers Magazine, Dezember 2001)) ERZÄHLERIN: Sechs Jahre braucht DeLillo - ein literarischer Meister in punkto Terror und Paranoia -, bis er das Lärmen dieses Tages in Literatur verwandeln kann. REGIE: ((Musik: Dave Brubeck: September Song - wie ein Leitmotiv wieder die ersten 14 Sekunden am Anfang spielen - Zitat 1 damit unterlegen, dann runterziehen?)) SPRECHER 2: ((Zitat 1/Falling Man)) Es war keine Straße mehr. Sondern eine Welt, Zeit und Raum aus fallender Asche und nahezu Nacht. Er ging durch Trümmer und Schlamm, und Menschen rannten an ihm vorbei, hielten sich Handtücher ans Gesicht oder Jacken über den Kopf. Sie hatten Taschentücher auf den Mund gepresst. Sie hatten Schuhe in den Händen, eine Frau mit einem Schuh in jeder Hand, rannten an ihm vorbei. ((DeLillo: Falling Man. Übersetzung: Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2007. S. 7)) ERZÄHLERIN: "Falling Man", so der Titel des Romans, erscheint 2007. Es ist bis heute der dunkelste Roman über den 11. September, getrübt von einer allumfassenden Melancholie. SPRECHER 2: ((Zitat 2/Falling Man)) Sie rannten und fielen, einige von ihnen, verwirrt und unbeholfen, überall kamen Trümmerbrocken herunter, und Menschen suchten unter Autos Schutz. Das Röhren hing immer noch in der Luft, das Bersten und Rumpeln des Einsturzes. Das war die Welt jetzt. ((DeLillo: a.a.O, S. 7)) ERZÄHLERIN: In einer Art Kammerspiel zeigt DeLillo, dass es für die Traumatisierten kein Entrinnen aus dem Entsetzen dieses Tages gibt. Einer dieser Beschädigten ist Keith Neudecker: Eine Aktentasche in der Hand, mit Asche und Glassplittern übersät, ist er dem Nordturm kurz vor dessen Einsturz entkommen. In einem Interview mit dem amerikanischen Radiosender NPR im Jahr 2007 beschreibt DeLillo das verstörende Bild, das ihn zum Schreiben bewog: REGIE: ((O-Ton 1/DeLillo)) A man walking through a storm of dust and ash, ... that was the image that compelled me eventually to sit down and start writing. I didn't know who the man was at first. But what I did know was the fact that the briefcase he was carrying was not his. And that seemed to suggest a mystery that needed to be solved. ((National Public Radio - NPR, All Things Considered, 20.06.2007, www.npr.org)) SPRECHER 1: ((overvoice DeLillo)) Ein Mann, der durch Staub und Asche läuft - dieses Bild brachte mich dazu, mit dem Schreiben zu beginnen. Ich wusste nicht, wer der Mann ist. Aber ich wusste: Die Aktentasche, die er trägt, ist nicht seine. Und dieses Rätsel galt es zu lösen. REGIE: ((Musik: Dave Brubeck: immer wieder die Anfangstakte erklingen lassen ... )) ERZÄHLERIN: Keith Neudecker geht zunächst zur Wohnung seiner Frau und seinem Kind. Lange schon lebt er von ihnen getrennt. Nun kehrt er zurück - und wird doch wie ein Fremder unter ihnen weilen, unfähig, sich ihnen wirklich mitzuteilen. An das, was im Turm geschehen ist, kann er sich kaum erinnern. Die Bilder, die ihn sporadisch und bruchstückhaft heimsuchen, kann er nicht einordnen. SPRECHER 2: ((Zitat 3/Falling Man)) Seine Verletzung war leicht, aber bei seinen Bemühungen ging es nicht um die gerissenen Knorpel. Sondern um das Chaos, die sich lösenden Decken und Böden, die im Qualm erstickenden Stimmen. ((DeLillo, a.a.O., S. 45)) ERZÄHLERIN: Keith' Frau leitet Schreibseminare für Betroffene - in der vergeblichen Hoffnung, so den eigenen Schock zu kanalisieren. Der gemeinsame Sohn sucht mit einem Fernglas den Himmel nach Flugzeugen ab, spricht von einem geheimnisvollen Fremden namens 'Bill Lawden' und will nicht glauben, dass die Türme eingestürzt sind. Höchst kunstvoll zeigt DeLillo in solch geschliffenen szenischen Splittern, wie sich das Politische gewaltsam in das Private drängt. REGIE: ((O-Ton 2/DeLillo)) It's curious to think about what a fiction writer can do as opposed to a journalist or a historian. They say that journalism is the first draft of history. And maybe in a curious way, fiction is the final draft, not because it's more truthful or more permanent than the work of historians, but because it can enter unknown territory. That is, a writer can work his way into the impact of history on interior lives. ((National Public Radio, a.a.O)) SPRECHER 1: ((overvoice DeLillo)) Was unterscheidet den Romanautor von einem Journalisten oder einem Historiker? Oft gilt die Berichterstattung als erste Fassung der Geschichte. Doch vielleicht verleiht ja erst die Fiktion der Geschichte ihre endgültige Fassung. Nicht, weil sie mehr Wahrheit enthält oder langlebiger ist. Sondern weil man als Autor unbekanntes Terrain betreten kann, indem man sich auf die Auswirkungen der Ereignisse auf das Innenleben konzentriert. ERZÄHLERIN: DeLillo spürt solchen Auswirkungen sprachlich nach: Nicht nur die Struktur des Romans wirkt wie in einzelne Stücke zerbrochen. Auch die Sprache seiner Figuren wirkt wie zerhackt. Es ist eine 'Grammatik der Trauer' an der Grenze zur semiotischen Verständlichkeit. SPRECHER 2: ((Zitat 4/Falling Man)) 'Als es geschah, liefen alle über die Brücke nach Brooklyn, und ich mit. Ich lief über die Brücke, weil sie über die Brücke liefen.' Es klang nach einer Sprachbehinderung, die Wörter waren erstickt und verwischt. ((DeLillo, a.a.O., S. 29)) ERZÄHLERIN: Es ist, als wäre mit den Türmen auch das Bedeutungsgerüst der Sprache in sich zusammengestürzt. Doch das Trauma, so die übergreifende Diagnose des Romans, lähmt nicht allein Keith und seine Familie. Ganz Amerika scheint bei DeLillo von Melancholie befallen, von einer melancholia americana. Daher auch der mehrdeutige Titel: Zum einen ist Keith ein "Falling Man", ein fallender Mann. Gemeint ist aber auch der Untergang der menschlichen Spezies. Und nicht zuletzt taucht im Roman ein Performance-Künstler auf namens Falling Man. SPRECHER 2: ((Zitat 5/Falling Man)) Dort baumelte ein Mann über der Straße, kopfüber. Er trug einen Businessanzug, hielt ein Bein gebeugt, die Arme an den Seiten. Ein Sicherungsgeschirr war kaum zu erkennen. ... Natürlich brachte er alles zurück, diese krassen Augenblicke in den brennenden Türmen, als Menschen sich hinunterstürzten oder zum Springen gezwungen waren. ((DeLillo, a.a.O., S. 37)) ERZÄHLERIN: Kurz nach 9/11 spielt der Performancekünstler Kerry Skarbakka in New York City tatsächlich solche fallenden Männer nach. Doch Skarbakkas Performances sind zugleich die Reaktion auf ein verstörendes Foto, das der Fotograf Richard Drew am 11. September aufgenommen hat: Ein Mann fällt kopfüber mit angewinkeltem Bein aus den Türmen. Nur einen Tag kursiert es in den Medien. Dann verschwindet es. Zu sehr widerspricht es dem öffentlichen Bild der Opfer als Helden und Märtyrer. Auch eine Figur wie Keith Neudecker ist ein Affront für die öffentliche Aufarbeitung von 9/11. Und auch Keith verschwindet: in den anonymen Pokerhallen von Las Vegas, unfähig, ein normales Leben zu führen. SPRECHER 2: ((Zitat 6/Falling Man)) Er sah sich Pocket Tens an und wartete auf die Turn-Karte. Das waren die Momente, wenn es draußen nichts gab, kein Aufblitzen von Geschichte oder Erinnerung, das er unwissentlich beim routinemäßigen Fallen der Karten hätte heraufbeschwören können. ((DeLillo, a.a.O., S. 242. 5 Zeilen)) ERZÄHLERIN: Keith spielt nicht um Geld. Er spielt um des Spieles willen - weil er erstarrt ist in der Endlos-Schleife seines unaussprechbaren Traumas. Es ist eine Art rasender Stillstand, den DeLillo auch formal in einem furiosen Finale einfängt: Auf den letzten Seiten des Romans berühren sich die Leben von Opfer und Attentäter für einen kurzen Moment. In der Mitte eines einzigen Satzes springt DeLillo von der Perspektive des Piloten, der das Flugzeug in den Nordturm lenkt, zu Keith, der von der Druckwelle aus dem Stuhl gerissen wird. Erst jetzt, am Ende des Romans, erfahren wir den Anfang von Keiths' Geschichte. Einen Ausweg aus dieser melancholia americana sucht man bei Don DeLillo jedoch vergebens. REGIE: Musik: Raz Mesinai: track 1: Gates of Chaos SRECHERIN 1: 2 Millionen Tonnen Stahl gehen in 12 Sekunden mit knapp 200 Stundenkilometern zu Boden. Herab schießende Papierblätter schlitzen Autoreifen auf, bleiben in Betonwänden stecken. REGIE: O-Ton 1/Art Spiegelman My visual feeling was one of the world is ending and the sky is falling. ERZÄHLERIN: Unter den vielen Menschen, die den Einsturz der Türme mit eigenen Augen erleben, ist auch der Cartoonist Art Spiegelman. Am Morgen des 11. September verlässt Spiegelman gemeinsam mit seiner Frau Francoise Mouly, Art Direktorin der Wochenzeitschrift The New Yorker, schon früh die gemeinsame Wohnung in SoHo, downtown Manhattan. Denn an diesem Morgen finden in New York die Vorwahlen der Demokraten statt - so erzählt Spiegelman ketterauchend am wackeligen Holztisch in der Küche seines Ateliers, dessen Wände von oben bis unten mit seinen Zeichnungen bedeckt sind. REGIE: O-Ton 2/Art Spiegelman As we were walking toward the polling station, we just heard a loud noise and I saw a woman looking with horror to a place in South, as we were walking north. At first just both of us we just assumed that the woman walking south was just a tourist and didn't understand New York noise. But the look of horror stayed frozen so we turned around and saw the first plane that had just hit the tower. SPRECHER 1: ((overvoice Spiegelman)) Wir waren unterwegs zum Wahllokal, als wir plötzlich ein lautes Geräusch hörten. Eine Frau schaute völlig entsetzt Richtung Südmanhattan - wir liefen Richtung Norden. Zuerst dachten wir, die Frau ist eine Touristin, die keine Ahnung vom New Yorker Lärm hat. Doch sie war wie vor Entsetzen gefroren. Also drehten wir uns um - und sahen das erste Flugzeug, das soeben in den Turm eingeschlagen war. ERZÄHLERIN: Für Spiegelman - den 1948 in Stockholm geborenen Sohn von polnischen Holocaustüberlebenden - kollidiert in diesem Moment seine persönliche Geschichte mit der Weltgeschichte. REGIE: O-Ton 3/Art Spiegelman Evidentially the first rational thing I said - I don't remember, but my wife tells me - it was: Now I understand why the Jews didn't leave Berlin after 'Kristallnacht'. SPRECHER 1: ((overvoice Spiegelman)) Nun verstehe ich, warum die Juden nach der Reichskristallnacht Berlin nicht verlassen haben. Das waren - nach Auskunft meiner Frau - meine ersten klaren Worte. ERZÄHLERIN: Spiegelman - 1992 berühmt geworden mit der Graphic Novel MAUS, in der er anhand von Katzen und Mäusen den Holocaust und das Schicksal seiner Eltern festhält - kündigt nach den Anschlägen kurzerhand seinen einträglichen Job beim "New Yorker". Wenig später beauftragt ihn die Wochenzeitung "DIE ZEIT" mit einer Comic-Serie über die dramatischen Ereignisse. SPRECHER 2: ((Zitat 1/Spiegelmann -- wie aus einem alten Radio stammend)) Zusammenfassung: In unserer letzten Folge, wie Sie sich vielleicht erinnern, endete die Welt ... ((Art Spiegelman: IM SCHATTEN KEINER TÜRME. Übersetzung: Christine Brinck. Atrium Verlag 2011. Tafel 1)) ERZÄHLERIN: Zehn großformatige, auf Hochglanzkarton gedruckte Seiten entstehen, gestaltet im Zeitungslayout - eine grelle und unruhige Collage aus mal schreiend bunten, mal beunruhigend dunklen Bildern und Szenen. Spiegelman verzichtet bewusst auf eine durchgängige Story, sondern kombiniert auf ein und derselben Seite unterschiedliche Themen und Bilder, Stile und Textsorten miteinander. Der Titel dieses Albums: IN THE SHADOW OF NO TOWERS - IM SCHATTEN KEINER TÜRME. REGIE: Musik: Raz Mesinai/Jihad Remix ((Sprecher 2 damit unterlegen?)) SPRECHER 2: ((Zitat 2/Spiegelman)) Seine Todesangst damals im September 2001 macht ihn langsam nostalgisch... Nichts lässt die Leute so zusammenrücken wie ein Weltuntergang. Aber warum mussten aus der Asche von 9/11 diese provinziellen US-Flaggen sprießen? ((Spiegelman, a.a.O. Tafel 7. Ü: Jürgen von Rutenberg)) REGIE: O-Ton 4 Spiegelman I didn't know that I was moving toward a political cartooning. That was never my goal. But I could function s a slow motion diarist, able to record the pulse of what was going on in my head and around me, in my part of the city. SPRECHER 1: ((overvoice Spiegelman)) Ich hatte nicht vor, einen politischen Cartoon schreiben. Ich sah mich als einen Tagebuchschreiber, der wie in Zeitlupe festhält, was in seinem Kopf und um ihn herum in seiner Stadt passiert. ERZÄHLERIN: IM SCHATTEN KEINER TÜRME - die deutsche Ausgabe liegt nun endlich auch pünktlich zum zehnten Jahrestag des Geschehens vor - ist weniger ein Dokument des Terrors und Horrors. Spiegelman agiert vielmehr als schwarzhumoriger Chronist: Einerseits zeigt er eine Stadt und ihre Bewohner im Ausnahmezustand von Verunsicherung und Panik, Wut und Paranoia. Zugleich verknüpft er die persönliche Erfahrung mit den verheerenden politischen Verwerfungen, die folgen - wie etwa die Instrumentalisierung des 11. September durch die Bush-Regierung. SPRECHER 2: ((Zitat 3/Spiegelman)) Unser Held ist gefangen in seinen Erinnerungen an den 11. September. Von ihm unbemerkt, wurden diese tragischen Ereignisse inzwischen von kriegsfiebernden Banditen gekidnappt. ((Spiegelman, a.a.O. Tafel 4. Ü: Jürgen von Rutenberg)) REGIE: Musik: Raz Mesinai: Jihad Remix ERZÄHLERIN: Schon rasch nach den Anschlägen inszeniert George W. Bush sich als Beschützer der Nation, indem er sich zum Kriegspräsidenten stilisiert. Am 20. September 2001 ruft Bush den 'Krieg gegen den Terror' aus - eine Metapher, die Realität werden wird. Fortan teilt sich die Welt in gut und böse. Ein Kreuzzug setzt ein, ganz nach der alten Wildwest-Manier: Wanted - dead or alive! SPRECHER 2: ((Zitat 4/Spiegelman)) Als Zazou, unsere 17 Jahre alte Katze, starb, haben wir diesen kleinen Kerl hier adoptiert, der sieht ihr etwas ähnlich ... eine harmlose Form der 'Verschiebung'. Eine finstere Variante davon ist Amerikas letzter Schrei. Wisst Ihr noch, wie wir statt der Al-Qaida den IRAK demoliert haben? ((Spiegelman, a.a.O. Tafel 9. Ü: Jürgen von Rutenberg)) REGIE: CD 'Out of Egypt'/track 11: War in your mind ((kurz stehen lassen, dann darauf Erzählerin blenden)) ERZÄHLERIN: Spiegelman - obwohl geprägt von den elterlichen Schrecken des Holocaust - erzählt den 11. September gerade nicht als neuestes Ereignis im Rahmen seiner eigenen traumatischen Geschichte. Geschichte ist für ihn generell eine Abfolge nicht endender, nicht verheilter historischer Wunden. IM SCHATTEN KEINER TÜRME wird daher auch gerahmt vom Titelblatt der New Yorker Zeitung "The World" allerdings mit dem Datum vom 11. September 1901: SPRECHER 2: ((Zitat 5/Spiegelman)) 'President's Wound reopened' - Wunde des Präsidenten erneut geöffnet! ((Spiegelman, a.a.O. Cover. Ü: Claudia Kramatschek)) ERZÄHLERIN: So lautet die Schlagzeile dieses Tages, die auf ein anderes nationales Trauma der USA anspielt: Wenige Tage zuvor, am 6. September, war der 25. Präsident der USA angeschossen worden, seine Wunde musste jedoch noch einmal geöffnet und gereinigt werden. Auch Tom Mitchell analysiert in seinem aktuellen Buch "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11" den 11. September als eine Wiederkehr des Unheimlichen innerhalb der amerikanischen Geschichte: REGIE: O-Ton Mitchell 2 It was a moment of the uncanny which is the return of the repressed, the return of that which is familiar but you have forgotten and than it comes back to haunt you, like the return of the ghosts, the return of the dead. In the case of 9/11 people began to ask me: What happen here? What is the explanation? Where did this come from? And of course, in the minute it was attributed to a group called Al Qaida, an Islamic terrorist group and highly fundamentalist, religious fanatics, people began to ask: Where did they come from? And the answer is: They were begotten by the US in Afghanistan during the occupation of Afghanistan by the Soviet Union. They were a relic of the so called Cold War. So the appropriate and deepest literary framework for this is the uncanny. SPRECHER 1: ((overvoice Mitchell)) Das Unheimliche ist die Wiederkehr des Verdrängten; die Wiederkehr all dessen, was wir kennen, aber vergessen haben. Und wie ein Geist kehrt es zurück, um uns zu verfolgen. Nach 9/11 fragten mich die Leute: Wie konnte das geschehen? Als die Anschläge dann Al-Qaida zugeschrieben wurden, fragten sie: Wer sind diese Leute? Woher kommen sie? Die Antwort lautet: Amerika hat sie selbst in die Welt gesetzt, zu jener Zeit, als Afghanistan von den Russen besetzt war. Sie sind ein Relikt des Kalten Krieges. Deshalb eignet sich der Begriff des Unheimlichen am besten, um 9/11 zu erklären. ERZÄHLERIN: Der in New York beheimatete US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer ist gerade erst von einem längeren Auslandsaufenthalt zurück gekehrt, als ihn am Morgen des 11. September der Telefonanruf eines Freundes weckt, um ihm zu sagen, er solle den Fernseher einschalten. Auch Foer - Jahrgang 1977 - ordnet das Trauma des 11. September in ein größeres historisches Panorama ein. Der Feuersturm von Dresden und der Atombombenabwurf über Hiroshima bilden die geschichtlichen Kontrapunkte in seinem 2005 erschienenen Roman "Extrem laut und unglaublich nah". REGIE: Musik: Beatles: I want to tell you, my head is filled with things to say.... dann abblenden SPRECHER 2: ((Zitat 1/Foer)) Wie wäre es mit unterirdischen Wolkenkratzern für die Toten? Sie befänden sich unter den Wolkenkratzern der Lebenden, die auf der Oberfläche stehen. Man könnte die Menschen hundert Stockwerke tief in der Erde begraben, und unter der Welt der Lebenden gäbe es eine Welt der Toten. ((Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2007. Übersetzung: Henning Ahrens. S. 14)) ERZÄHLERIN: Es ist ein so todtrauriger wie zugleich urkomischer Roman über den 11. September 2001. Denn Foer blickt auf diesen Tag aus der Sicht eines kleinen, ungewöhnlichen Jungen namens Oskar Schell. SPRECHER 2: ((Zitat 2/Foer)) Ich fände es auch krass, wenn der Fahrstuhl am Platz bleiben und stattdessen der Wolkenkratzer auf und ab fahren würde. Um ins 95. Stockwerk zu gelangen, müsste man einfach die Taste mit der Fünfundneunzig drücken, und dann würde das Stockwerk zu einem kommen. Das könnte unter Umständen ziemlich hilfreich sein, denn wenn man sich im fünfundneunzigsten Stockwerk befindet und unter einem ein Flugzeug einschlägt, könnte einen das Gebäude ins Erdgeschoss fahren, und dann wären alle in Sicherheit. ((Foer, a.a.O, S. 14)) ERZÄHLERIN: Oskar Schell ist neun Jahre alt, ein so vorwitziges wie altkluges Kind. Nicht zuletzt ist er Erfinder, Origamist, Pazifist, Perkussionist - laut seiner Visitenkarte, die der Neunjährige stolz mit sich herum trägt ((sic!)). Er liebt, wie sein Vater, die Beatles. Und er spielt liebend gerne Tamburin. Oskar Schell ist daher ein unverkennbarer Wiedergänger des kleinen Oskar Matzerath aus dem Roman 'Die Blechtrommel' von Günter Grass. Wie Oskar Matzerath, stemmt auch er sich mit kindlicher Macht gegen eine Welt, die aus den Fugen ist. SPRECHER 2: ((Zitat 3/Foer)) Nachricht eins: Dienstag 8.52 Uhr. Ist jemand zu Hause? Hallo? Hier ist Dad. Wenn ihr da seid, nehmt bitte ab. Ich habe es gerade im Büro versucht, aber niemand hat abgenommen. Hört zu, hier ist irgendwas passiert. Mir geht es gut. Wir sollen bleiben, wo wir sind, und auf die Feuerwehr warten. Wird schon gut gehen, bestimmt. Ich rufe noch mal an, wenn ich genau weiß, was los ist. ((Foer, a.a.O., S. 30)) ERZÄHLERIN: Am Morgen des 11. September kommt Oskar Schell - es ist kurz vor halb zehn - früher als gewohnt aus der Schule nach Hause. Seine Mutter ist nicht da. Auf dem Anrufbeantworter findet er mehrere Nachrichten seines Vaters vor. Denn sein Vater befindet sich in einem der beiden Türme und hat schon mehrmals verzweifelt aber gefasst versucht, die Seinen zu erreichen. SPRECHER 2: ((Zitat 4/Foer)) Dad hatte noch viermal angerufen: Um 9.12 Uhr, um 9.31 Uhr, um 9.46 Uhr und um 10.04 Uhr ... Ich hörte mir alle Nachrichten an, und ich hörte sie mir ein zweites Mal an, und noch bevor ich wusste, was ich tun oder denken sollte, klingelte das Telefon. Es war 10.26.47 Uhr. Ich schaute auf die Nummer des Anrufers und sah, dass er es war. ((Foer, a.a.O., S. 30)) ERZÄHLERIN: Oskar aber ist wie versteinert und kann den Hörer nicht abnehmen. Monate später findet er eine letzte Nachricht seines Vaters in dessen Kleiderschrank: In einem Umschlag, beschriftet mit dem Namen BLACK, stößt er auf einen rätselhaften Schlüssel. SPRECHER 2: ((Zitat 5/Foer)) Was zum? Was zum? Der Schlüssel sah krass aus, offenbar war er für etwas extrem Wichtiges, denn er war kürzer und gedrungener als ein normaler Schlüssel. Ich stand vor einem Rätsel. ((Foer, a.a.O., S. 56)) ERZÄHLERIN: Eine so märchenhafte wie symbolisch aufgeladene Suche beginnt. Denn Oskar - der sich vornimmt, alle 472 in New York wohnhaften Blacks zu treffen - begegnet Menschen, die so einsam und versehrt sind wie er selbst. REGIE: ((Musik Beatles: einblenden Anfang von 'Eleanor Rigby' - nur bis '... look at all the lonely people", dann wieder abblenden)) ERZÄHLERIN: Da ist etwa der hoch betagte Kriegsberichterstatter, der die Gewaltgräuel des 20. Jahrhunderts mit eigenen Augen gesehen hat. In seiner Freizeit hat er für jeden Menschen, der für ihn und die Welt historisch bedeutsam war, eigenwillige Karteikarten angelegt: Auf ihnen ist die Biografie der jeweiligen Person auf ein entscheidendes Schlagwort zusammengeschrumpft: SPRECHER 2: ((Zitat 6/Foer)) HENRY KISSINGER: KRIEG CHE GUEVARA: KRIEG ... MOHAMMED ATTA: KRIEG ((Foer, a.a.O, S.210)) ERZÄHLERIN: Bewusst erinnert Foer seine Leser daran, dass 'Krieg' bereits die Quintessenz der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts war: Zwei historische Traumata - einerseits die Dresdener Feuernacht, andererseits der Atombombenabwurf in Hiroshima - bilden daher eine Art Gegengeschichte zum 11. September 2001. Und niemand im Roman repräsentiert die Schrecken des 20. Jahrhunderts so wie Oskars deutsche, in New York lebende Großeltern: Sowohl sein Großvater als auch seine Großmutter sind Überlebende der Dresdener Feuernacht. Beide sind - wie Oskar - hoch traumatisiert. Wie DeLillo erzählt Foer nicht von Terror, sondern von menschlichem Verlust. Vor allem aber untersucht er das schwierige Verhältnis zwischen Trauma und Sprache. Oskars Großvater etwa hat die Feuernacht von Dresden sprichwörtlich die Sprache verschlagen: SPRECHER 2: ((Zitat 7/Foer)) Als ich eines Nachmittags mit den Hunden im Park war, ging mir 'komm' verloren, 'gut' ging mir verloren, als mir der Friseur nach dem Schneiden den Spiegel hinhielt, 'heulen' ging mir verloren - Verb und Substantiv, beides zugleich, es war zum Heulen. Ich verlor 'tragen', ich verlor die Dinge, die ich bei mir trug - 'Tagebuch', 'Wechselgeld', 'Brieftasche' -, ich verlor sogar 'Verlust'. ((Foer, Extrem laut und unglaublich nah, a.a.O., S. 32)) ERZÄHLERIN: Diese sprachliche Leere, die solch ein Trauma hinterlässt, fängt Foer paradoxerweise mit den sprachlichen Mitteln der Literatur ein: Wie ein postmoderner Taschenspieler überschreitet er dafür die Grenzen der Schrift und fügt seinem Roman visuelle Ausdrucksmittel hinzu: Fotomontagen, leere Seiten, enger und enger bedruckte Seiten, die nach und nach zu einem unleserlichen schwarzen Block werden, Zahlenkolonnen, die sich nach einem Code in Worte aufschlüsseln lassen. SPRECHER 2: ((Zitat 8/Foer - unterlegen unter Erzählerin vorher und nachher)) 6, 9, 6, 2, 6, 3, 4, 7, 3, 5, 4, 3, 2, 2, 6, 3, 4, 5, 8, 7, 8, 2, 7, 7, 4, 8, 3, 3, 2, 8, 8, 4, 3, 2, 4, 7, 7, 6, 7, 6, 3, 3, 3, 8, 6, 3, 4, 6, 3... ((Foer, a.a.O., S. 357)) ERZÄHLERIN: "Extrem laut und unglaublich nah" ist manchmal burlesk und kitschig. Doch genau darin liegt die Kraft des Romans. Denn den formelhaften Hasstiraden jener Tage der Bush-Regierung setzt er eine spielerische Magie der Sprache entgegen, die sich jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei enthält. Und wo DeLillos Amerika in einer beklemmenden Melancholie verharrt, wird hier das Trauma durch Trauer bearbeitet. Auf den letzten Seiten sieht man wie in einem Daumenkino einen Mann, der aus den brennenden Türmen springt. Doch er fällt nicht nach unten, sondern schwebt nach oben. REGIE: MUSIK: Bumblefoot: 9/11 ((erst stehen lassen, dann Erzählerin damit unterlegen)) ERZÄHLERIN: Aufnahmen der zerstörten Türme, auf denen die Stahlskelette einsam aus den rauchenden Trümmern ragen, erinnern tatsächlich an die Aufnahmen der zerklüfteten, qualmenden Stadtsilhouette des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Dresden. Oder, wie Art Spiegelman sagt: REGIE: O-Ton 6/Spiegelman It sounded as this is World War III or something ERZÄHLERIN: 21.000 menschliche Überreste werden auf Ground Zero, so der Name für das zerstörte Areal, in neun Monaten gefunden. 1200 Familien bleiben für immer ohne Überreste ihrer Verstorbenen. REGIE: Sound 9/11 ERZÄHLERIN: Als das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center einschlägt, ist die in Brooklyn lebende Journalistin Amy Waldman gerade in den Räumen der New York Times in Midtown Manhattan eingetroffen. Eigentlich soll Waldman über die Vorwahlen der Demokraten berichten. Stattdessen bereist sie schon bald im Auftrag der New York Times Länder der muslimischen Welt - nicht zuletzt auch Pakistan und Afghanistan. Die Reisen verändern Waldmans Blick. Bewusst nimmt sie Abstand von der allzu simplen Feind- Rhetorik, die das politische Klima in Amerika nach 9/11 dominiert. REGIE: O-Ton 1/Amy Waldman The very term 'enemy' is so complicated. I don't think we even figured out who the enemy is. And I think that is part of the problem. Is the enemy the 19 peoples who attacked America on 9/11 and the people who planned that? Is the enemy out of Islam? SPRECHERIN 1: (overvoice Waldman)) Schon allein der Begriff "Feind" ist schwierig. Ich glaube, dass wir noch immer nicht wirklich wissen, wer der Feind ist. Sind das konkret die neunzehn Leute, die den Angriff geplant und ausgeführt haben? Oder ist das der Islam selbst? ERZÄHLERIN: Wer Ground Zero besucht, steht noch immer vor einer gigantischen Großbaustelle. Wo einst die beiden Twin Towers aufragten, wächst nun ein neuer Turm namens 1 World Trade in die Höhe. 105 Stockwerke wird der Turm - im patriotischen Taumel noch Freedom Tower getauft - umfassen. Und doch ist Ground Zero mit einem Pathos aufgeladen, das einer Sakralisierung gleich kommt. Im nahe gelegenen Tribute Visitor Center erinnern reliquienartig anmutende Artefakte an die Katastrophe: Verschmorte Tastaturreste; das Cockpitfenster eines der beiden Flugzeuge; Fotos von verwaisten Kindern; dazu Tondokumente, die mit anschwellender Geigenmusik unterlegt sind. REGIE: Tondokument Tribute Center REGIE O-Ton 2/Waldman It does just look like a construction site and I thought how strange that was. I am sort of very interested in the phrase that gets used a lot of sacred ground. And I don't know exactly what that means, especially in such a secular society. The one fact that doesn't change is: There were people buried there. And that is always in the back of my mind. And yet I think that idea of making it sacred is jostling quite uncomfortable against what is going on there which is sort of commercial imperatives. And so we try to put one kind of value on it that has to with what happened there, and the fact there are remains or ghosts - whatever you want to call it. And another kind of value that is purely monetary and its about maximizing that cause it is in the middle of America's most commercial city where real estate is incredible valuable. SPRECHERIN 1: (overvoice Waldman)) Ground Zero sieht aus wie jede Großbaustelle. Und trotzdem hört man immer wieder, Ground Zero sei sacred land, also heiliger Boden. Aber was heißt das in einer gänzlich säkularen Gesellschaft? Fakt bleibt: Dort liegen Menschen begraben. Aber der Begriff des Heiligen steht im Widerspruch zu den rein kommerziellen Gegebenheiten vor Ort. Denn einerseits gilt es, sich zu erinnern, an die Menschen, ihre Seelen oder was auch immer von ihnen zurück geblieben ist. Zugleich aber geht es vor allem um viel Geld. Schließlich liegt Ground Zero im Herzen von Amerikas Hochburg des Kommerzes, wo Grundstücke unglaublich teuer sind. ERZÄHLERIN: Die Bebauung von Ground Zero schreitet voran. Immerhin 74 der geplanten 105 Stockwerke von 1 World Trade Center waren Ende Juni 2011 fertig gestellt. Vor allem aber wird nun am zehnten Jahrestag der Anschläge das 'National September 11 Memorial' eröffnet. Es besteht aus zwei Pools, eingelassen in die Umrisse der beiden zerstörten Türme und an den Rändern versehen mit künstlichen Wasserfällen sowie den Namen aller Toten. Erinnern soll es nicht allein an die Opfer des 11. September. Es ist auch all jenen gewidmet, die damals ihr Leben riskierten - wie etwa die Feuerwehrmänner, die zu nationalen Helden wurden. Doch nicht alle sind glücklich mit diesem von langen Debatten begleiteten Mahnmal. Auch Amy Waldman nicht: REGIE: O-Tonl 3/Amy Waldman: I felt that they got the competition to select the memorial going on very soon after 9/11. I think it was less then two years. And since then there have been a lot of issues around. What the costs would be? Will the rescue worker have an insignia to their name? What with other people who died? Then the various complications with other constructions going on down there. But I actually didn't feel there was so much of a debate about what the memorial should really do: What it should mean, is it too soon? - all of that. I think there is a fear of the blank space and just letting it be for a while and let people think through what happened and having different interpretations cast on that space. SPRECHERIN 1: ((overvoice Waldman)) Nur knapp zwei Jahre nach dem 11. September wurde der Wettbewerb ausgeschrieben. Und seitdem ging es zwar um alle möglichen Fragen: Was kostet das? Werden die Namen der Rettungshelfer gekennzeichnet? Es gab Probleme mit anderen Bauvorhaben am Ort. Aber was fehlte, war eine tiefer gehende Diskussion darüber, was solch ein Denkmal überhaupt bedeuten soll - und ob es eventuell sogar noch zu früh dafür ist. Als ob eine Art Angst vor der leeren Fläche herrschte - davor, den Ort einfach so zu belassen, wie er war, sodass jeder sich seine eigenen Gedanken zu den Geschehnissen machen könnte. ERZÄHLERIN: Von den sehr unterschiedlichen Haltungen zu 9/11 und der Frage, was ein entsprechendes Memorial können muss oder können soll, davon handelt auch Amy Waldmans Roman "The Submission", der gerade erst im August 2011 in Amerika erschienen ist. Das Datum 9/11 fällt darin kein einziges Mal. Aber der Roman erzählt von einem Wettbewerbskomitee, das - aus Anlass eines Terrorangriffs auf New York - über ein nationales Denkmal zu entscheiden hat. ERZÄHLERIN: Als dann der Gewinner feststeht und sein Name endlich preisgegeben wird, muss die Jury entsetzt erkennen: der Gewinner ist ein Muslim. REGIE: O-Ton 4 Waldman I was talking to a friend about the Vietnam Veterans Memorial in Washington and Maya Lin who was the designer. At the time her design was quite controversial. She is Chinese-American. So some people were against here saying, we don't want an Asian American women to design this memorial to an Asian war. And by the time I started thinking what would be the equivalent today? And the equivalent actually would be if a Muslim won a competition like that or design a memorial. SPRECHERIN 1: ((overvoice Waldman)) Ich sprach mit einem Freund über das Vietnam Veterans Memorial in Washington und über Maya Lin, eine chinesisch-stämmige Amerikanerin, die es entworfen hat. Ihr Entwurf wurde damals sehr kontrovers diskutiert. Viele wollten nicht, dass ausgerechnet eine asiatisch-stämmige Amerikanerin ein Denkmal baut, das an den Vietnam-Krieg erinnert. Da dachte ich: Was wäre das Äquivalent? Wenn ein amerikanischer Muslim ein entsprechendes Denkmal entwerfen und einen Wettbewerb gewinnen würde. ERZÄHLERIN: Auch Waldmans fiktiver Gewinner - Mohammed Khan ist sein Name - löst erbitterte Debatten aus. Erzähltechnisch ist das ein so schlichter wie wirkungsvoller Plot: Waldman versetzt den Leser auf diese Weise in die Lage eines säkular gesinnten Muslims, der plötzlich aufgrund seiner Religion, die ihm selbst nicht viel bedeutet, diskriminiert wird. Zugleich rührt der Roman an das emotionale Zentrum der aufgeheizten Debatte um das 9/11-Mahnmal: an die Frage, wer das Recht auf Trauer besitzt - und darauf, Ground Zero für sich zu reklamieren. Waldman erzählt daher abwechselnd aus der Sicht von sechs verschiedenen Charakteren: Da ist zum Beispiel der Bruder eines Feuerwehrmannes, der bei den Rettungsaktionen ums Leben kam. Und da ist Claire, die Witwe eines der Terroropfer. REGIE: O-Ton 5/Waldman Part of what I want to do is take you inside the head of all of these people who think about it very differently. And even if you don't agree with them you are still briefly forced at how they see the world, how they experience these things. So there is no easy spot to rest in. SPRECHERIN 1: ((overvoice Waldman)) Ich möchte die Leser in die Köpfe dieser Personen hinein nehmen, die alle sehr unterschiedlich denken und fühlen. Selbst wenn man anderer Meinung ist, ist man doch für einen kurzen Moment gezwungen, die Welt so zu sehen wie die andere Person. ERZÄHLERIN: Amy Waldman hat übrigens ungewollt nah an der Realität entlang geschrieben: Zwei Blocks, rund 400 Meter von Ground Zero entfernt, soll ein mehrstöckiges muslimisches Gemeindezentrum entstehen. Ende Mai 2010 fand eine erste öffentliche Anhörung statt. Seitdem führt Gegner und Befürworter eine erhitzte Debatte. Immer wieder protestieren vor Ort empörte Familienangehörige von 9/11- Opfern und fordern: "Keine Moschee - Respekt für 9/11". REGIE: Musik: Bumblefoot 9/11 ((kurz stehen lassen, dan Erzählerin unterlegen)) ERZÄHLERIN: Anti-muslimische Ressentiments beherrschen bis heute das Land. 'Will we ever belong?' - 'Werden wir je dazu gehören?' überschrieb die New York Times September 2010 einen Artikel über die Enttäuschung vieler amerikanischer Muslime, aufgrund ihrer Religion diskriminiert zu werden. REGIE: Sound Bush: Speaking on the war in Afghanistan "Afghanistan is just the beginning, If anybody harbours terrorists, this is a terrorist. If they have terrorists, they are terrorists. If they house terrorists, they are terrorists. ((ABC Networks News, Special feature 'Striking back', Oktober 2001)) ERZÄHLERIN: Vor allem pakistanischstämmige Amerikaner sahen sich in den ersten Tagen nach 9/11 einer enormen Welle von Feindlichkeit und Gewalt ausgesetzt. Der Roman "Home Boy" etwa, das temporeiche Debüt des 1974 in London geborenen, pakistanischen Autors H. M. Naqvi, ist eines der wenigen Bücher, das diese schwierige Zeit aus der Sicht dreier junger Pakistani zu erfassen versucht. Auch drei renommierte amerikanische Autoren - neben Martin Amis und Andre Dubus III vor allem John Updike - unternehmen einen Perspektivwechsel. Ihr Ansinnen: den Terroristen als 'den Anderen schlechthin' hörbar zu machen. SPRECHER 2 ((Zitat 1/Updike)) Teufel, denkt Ahmed. Diese Teufel wollen mir meinen Gott nehmen. Den ganzen Tag wiegen sich an der Central High School die Mädchen, verhöhnen einen, stellen ihr verlockendes Haar und ihre weichen Körper zur Schau. Ihre nackten, mit funkelnden Nabelpiercings und abenteuerlich tief ansetzenden lila Tattoos geschmückten Bäuche fragen: Gibt's vielleicht sonst noch was zu sehen? ((John Updike: Der Terrorist. Übersetzung: Angela Präsent. Rowohlt Verlag 2006. S. 7)) ERZÄHLERIN: Ahmed Mulloy. dem John Updike in seinem Roman "Der Terrorist" eine Stimme verleiht, ist 18 Jahre alt und der Sohn einer irisch-stämmigen Amerikanerin sowie eines Ägypters, der Frau und Kind schon bald nach der Geburt verlassen hat. Vor allem aber ist Ahmed ein Terrorist in spe. Mit ihm versetzt uns Updike - der sich in einem Hochhaus mit Sicht auf das World Trade Center aufhielt, als die Flugzeuge in die Türme rasten - in die Psyche eines möglichen Dschihadisten. SPRECHER 2: ((Zitat 2/Updike)) In den vaterlosen Jahren an der Seite seiner unbekümmert glaubenslosen Mutter hat sich Ahmed daran gewöhnt, der einzige Hüter Gottes zu sein, der einzige, für den Gott ein unsichtbarer, aber fühlbarer Begleiter ist. ((Updike, a.a.O., S. 52)) ERZÄHLERIN: Seit seinem elften Lebensjahr besucht Ahmed regelmäßig eine kleine Moschee - in der schlichten Hoffnung, über den Glauben seinem abwesendem Vater näher zu kommen. Eine Art Ersatzvater ist auch der Scheich der Moschee. Doch Scheich Rashid macht sich das Vertrauen seines gottergebenen Schülers zunutze und wirbt ihn als Selbstmordattentäter an. SPRECHER 2: ((Zitat 3/Updike)) 'Es besteht die Chance', hebt sein Meister vorsichtig an, 'den Feinden des Allmächtigen einen schweren Schlag zu versetzen.' 'Ein Anschlag?', fragt Ahmed. 'Eine Chance', wiederholt Scheich Rashid betont. 'Es bedürfte dazu eines shahid, dessen Liebe zu Gott bedingungslos ist und den es dringlich nach der Glorie des Paradieses dürstet. Bist du ein solcher Mann, Ahmed?' Fast träge stellt der Meister diese Frage, lehnt sich dabei zurück und schließt die Augen wie gegen ein zu grelles Licht. ((Updike, a.a.O., S. 300)) ERZÄHLERIN: Weder verdammt Updike seinen Protagonisten, noch bietet er ihm und seinesgleichen eine unkritische Plattform dar. Wie seinerzeit viele Amerikaner angesichts der in ihren Augen unverständlichen Tat, möchte Updike verstehen, warum und wie sich einer quasi aus der Mitte der Gesellschaft heraus radikalisiert. Schließlich verfügten fast alle 19 Attentäter des 11. September über moderne städtische Biografien. SPRECHER 2: ((fast ineinander überblenden)) Mohammed Atta: geboren am 1. September 1968 in Kafr asch- Schaich, Ägypten. Sohn eines Rechtsanwalts. Architekturstudium in Kairo. Danach Städtebau/Stadtplanung- Studium in Deutschland. SPRECHER 1: Marwan al-Shehhi: geboren am 9. Mai 1978 in Ra's al-Chaima, Saudi-Arabien. Schulausbildung. Ab 1996 Besuch einer Sprachschule in Bonn. SPRECHER 2: Ziad Jarrah: geboren 11. Mai 1975 in Mazraa. Libanon. 1996/1997 Deutschkurs an der Universität Greifswald. Wechsel an die TU Hamburg-Harburg, wo er Mohammed Atta kennen lernt. ERZÄHLERIN: Die Presse selbst ist sich uneins, als der Roman 2006 in Amerika erscheint: 'Verharmlosend' bemängeln die einen; 'reine Projektion' die anderen. Tatsächlich klingen Updikes Koran- Kenntnisse allzu aufgesetzt. Ahmed selbst wirkt wie ein schlecht getarnter Wiedergänger jener Updikeschen männlichen Protagonisten, die verstört sind von einem Zuviel an allem - und die sich nach einer Reinheit sehnen, an der sie zugleich zugrunde gehen. Genau deswegen aber erinnert Ahmed tatsächlich an die Attentäter von 9/11. Im Handgepäck von Mohammed Atta will das FBI dessen Testament gefunden haben. Es ist das Dokument eines fanatischen Reinheitsbedürfnisses und einer obsessiven Bekämpfung sinnlich-sexueller Regungen. SPRECHER 1: Die Person, die den Bereich um meine Genitalien wäscht, soll Handschuhe tragen, damit er meine Genitalien nicht berührt. Ich will nicht, dass Frauen zu meiner Beerdigung oder an mein Grab kommen. ((aus: taz, Nr. 6563 vom 1.10.2001, Seite 5)) ERZÄHLERIN: Auch Ahmed sucht verzweifelt eine Reinheit, die er nicht finden kann. Denn im Roman ist Updikes Amerika ein Realität gewordener Alptraum, verseucht von Materialismus und Überflussmentalität. SPRECHER 1: Es ist nicht der Hass auf die westlichen Demokratien, der den Dschihad antreibt, sondern die Angst vor dem verderblichen Einfluss der 'unreinen' westlichen Kultur. ((aus: Sudhir Kakar: Blutige Taten, heilende Rache. In: DIE ZEIT, 7.12.2005)) ERZÄHLERIN: So schreibt der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 2005 über die Psychologie islamistischer Terroristen. Selbst Ahmeds Hoffnung, durch sein geplantes Himmelfahrtskommando zu einem Helden zu werden, entspricht exakt dem Drehbuch, das auch Mohammed Atta und Co einen ersten Platz im religiösen Urschauspiel des Islams versprach: SPRECHER 1: An der Oberfläche steigen sie in eine Boeing 757 ein, die vom Logan Airport abfliegt... Aber dem Text nach bewegen sie sich auf einem Schlachtfeld, sind sie Akteure einer großen dramatischen Aufführung, die die Heldentaten der Prophetengenossen aus dem siebten Jahrhundert beschwört. ERZÄHLERIN: heißt es in einem Artikel in der New York Review of Books vom 17.1.2002. Für Ahmed geht es besser aus - zumindest nach westlicher Lesart. Im letzten Moment wird seine Seele aus den Fängen des Bösen gerettet - in Updikes wohlwollender Phantasie durch die Lehren des Korans selbst. Dennoch: Mit "Der Terrorist" - dem Bildungsroman über einen Fanatiker in spe - verändert sich allmählich der literarische Blick auf 9/11. Die schlichte Täter-Opfer-Perspektive weicht einer schleichenden Erkenntnis, dass Amerika sich mit sich selbst zu beschäftigen hat. REGIE: Musik: Arvo Pärt/Orient & Occident/track 2 ERZÄHLERIN: Von Anfang an mischen sich in das weltweite Entsetzen über die Anschläge auch kritische Stimmen: Trägt Amerika - diese Supermacht, die sich für unverwundbar hielt - nicht auch eine Verantwortung für den 11. September? War das Land zu einer Projektionsfläche von Hass geworden, weil es zu mächtig, zu übermächtig war? Vor allem in deutschen Intellektuellenkreisen wird über Opfer und Täter, über Schuld und Ursache debattiert. Und bald nach dem 11. September melden sich auch die ersten deutschen Schriftsteller zu Wort. SPRECHERIN 1: ((Zitat Röggla)) Jetzt hab ich also ein Leben. Ein wirkliches. ((Kathrin Röggla: really ground zero. S. Fischer Verlag 2002)) ERZÄHLERIN: lautet der erste Satz in Kathrin Rögglas Notaten "really ground zero", 2002 erschienen. Röggla weilt am 11. September als Stipendiatin in New York. Einen Monat lang notiert sie ihre Wahrnehmungen, schaut Fernsehen, macht den Prozess des Beobachtens transparent und liefert zugleich eine kritische Analyse der amerikanischen Berichterstattung. Vom Einbruch der Realität in die Literatur zeugt auch Ulrich Peltzers New York-Roman "Bryant Park". Peltzer sitzt an den letzten Kapiteln, als die Türme einstürzen. Er weiß sofort, er kann so nicht weiter schreiben, fängt von vorne an und montiert seine Erlebnisse am 11. September wie einen mahnenden Fremdkörper in den Roman hinein. REGIE: Musik Pärt/Orient und Occident SPRECHERIN 1: ((Zitat 1/Lehr)) ich müsste jetzt meine Stimme erheben und sagen: Erzähl mir eine Geschichte, Schwester, aber du bist in einem anderen Land ((Thomas Lehr: September Fata Morgana. Hanser Verlag 2010, S. 13)) ERZÄHLERIN: "September Fata Morgana" heißt der aktuelle Roman des 1957 in Speyer geborenen Romanciers Thomas Lehr. Darin reflektiert Lehr - der in all seinen Romanen die Akribie eines Wissenschaftlers mit der Wortmächtigkeit eines Poeten verbindet - vor dem Hintergrund des 11. September das so schwierige wie facettenreiche Verhältnis zwischen Orient und Okzident. REGIE: O-Ton Lehr 1 Als ich mir vor Augen hielt, wie dicht die historischen Ereignisse an mir sind - und das ist eine ungehörige nahe Distanz für einen Romanschriftsteller - dachte ich, das flimmert mir vor Augen. Und aus diesem Gefühl heraus, kam plötzlich die Idee der Fata Morgana auf, die dann auch stilbildend geworden ist. ERZÄHLERIN: Anhand von vier Stimmen kommen bei Lehr zwei Familien über den 11. September und seine Folgen zu Wort: Da sind der in Amerika lebende deutsche Professor Martin sowie seine Tochter Sabrina, die gemeinsam mit ihrer Mutter, Martins Exfrau, in den Türmen ums Leben kommt. Und da sind der in Bagdad lebende Arzt Tarik sowie dessen Tochter Muna, die 2004 nach dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak gemeinsam mit ihrer Mutter einem Bombenattentat zum Opfer fällt. REGIE: Musik: Pärt SPRECHERIN 1: ((Zitat Lehr 2)) noch hast du einen Mund um zu schreien du kannst die Augen öffnen zur Aussicht auf eine Vulkanlandschaft voll Asche Staub Rauch flach züngelndem Feuer überall ((Lehr, a.a.O., S. 465)) ERZÄHLERIN: Martin versucht, den Hass der Terroristen zu ergründen, indem er sich immer mehr in die Geschichte der islamischen Welt vertieft. Tarik, ein arabischer Intellektueller, der in Paris studiert hat, wird langsam aber sicher zermürbt vom Mahlwerk der großen Politik, die sein Leben, sein Land zerstört. REGIE: Musik: Pärt SPRECHER 2: ((Zitat 3 Lehr)) der Euphrat ist der große wilde Mutterfluss aber er wird mir zu fromm in der Mitte, wenn er an den auferstehungssüchtigen Leichenfeldern von Kerbela und Nadschaf vorbeiströmt wohingegen ich im träge sich windenden Tigris außerordentlich männliche Phantome beobachten kann wie das Aufblitzen der Jagdbombergeschütze am 36. Breitengrad entlang der Flugverbotszone ((Lehr, a.a.O. S. 23)) ERZÄHLERIN: Doch Lehr inszeniert keinen Kampf der Kulturen, sondern einen einfühlsamen und bewegenden Dialog der Kulturen. Wenn sein Erzähler Martin sich also beruflich mit Goethes 'West-Östlichem Diwan' beschäftigt, ist das mehr als Spielerei. Denn der Diwan - 1819 erschienen und das Ergebnis von Goethes eindringlicher Auseinandersetzung mit dem Islam - war auch für Thomas Lehr Inspiration und Vorbild zugleich: REGIE: O-Ton 2/ Lehr Um die andere Seite zu verstehen, muss ich mich in die andere Seite hineinversetzen, muss ich einen Dialog führen. Denn was Goethe macht, ist: Er sucht sich in der orientalischen Kultur ein Gegenüber auf Augenhöhe, und das ist der persische Dichter Hafiz, und mit Hafiz kann er dann eine Spiegelung inszenieren und ein gegenseitiges Betrachten der Kulturen. Und das hat mich natürlich direkt in das Prinzip meines Romans geführt: also aus zwei Perspektiven eine kulturelle Annäherung oder ein kulturelles Verständnis zu suchen. REGIE: Musik: Pärt SPRECHER 2: ((Zitat 4/Lehr)) halten wir uns fest an der Zeit der ersten Paläste als man in Bagdad noch unvergleichlich ruhig schlief selbst die Juden die hier ihren großen Talmud schrieben und ihre wichtigsten Akademien hatten als Rom schon längst erloschen war und Europa noch lange nicht leuchtete ((Lehr, a.a.O., S. 241)) ERZÄHLERIN Drei Jahre sammelt Lehr nach dem 11. September Material über die Anschläge: Bücher, Zeitungsartikel, Nachrichtensendungen, Fernsehdokumentationen. Nach der Invasion des Iraks durch US-Truppen nimmt der Irak- Komplex in seiner Auseinandersetzung mit diesem Tag immer mehr Raum ein. Lehr trifft sich mit Exil-Irakern in Berlin, freundet sich mit dem berühmten irakischen Dichter Fadhil al-Azzawi an. Was als akribische Recherche des Autors beginnt, wandelt sich in spürbare Empathie, die den Roman auf jeder Seite durchdringt. REGIE: O-Ton 3a Lehr In der Nachfolge des Irak-Kriegs sind etwa 5000 Amerikaner ums Leben gekommen, vorwiegend Soldaten. Im Irak sind es Hunderttausende. ... Schon diese Asymmetrie, und wenn man dann auch diese Szenerie schildert, sorgt schon dafür, dass man merkt, dass das Leiden halt stärker bei den Irakern ist in dieser Situation. Also die Sympathie ist auf dieser Seite der Menschen, die so viel erlitten haben. REGIE: Musik: Pärt SPRECHER 2: ((Zitat 5/Lehr)) feindliche Divisionen aus der Luft zerhackend bevor man am Boden ihre Überbleibsel beiseite räumte alles mit der Leichtigkeit von Joystick- oder Mauszeiger-Bewegungen Stadtviertel aufschlitzend Häuser Autos Bäume Leichenteile durch die Luft schleudernd jedoch immer präzise kalkuliert koordiniert kommuniziert ((Lehr, a.a.O., S. 352)) ERZÄHLERIN: Die Großaufnahme und die Nahaufnahme - anhand solch ineinander montierter Bildkaskaden macht Lehr die menschlichen Tragödien und die politischen Katastrophen dieser Zeit gleichermaßen sichtbar: den reißerischen Kriegshunger eines Präsidenten, der sich erst mit dem 11. September aus der eigenen Bedeutungslosigkeit retten kann sowie das außenpolitische Irak-Debakel, in dessen Verlauf Amerika spätestens mit den Bildern aus Abu Ghraib jegliche Glaubwürdigkeit verliert. Und die wachsende Gewalt, die den Irak nach der Invasion heimsucht: eben ein 'geklonter Terror', um noch einmal den Kulturwissenschaftler Tom Mitchell zu Wort kommen zu lassen: REGIE: ((O-Ton 3 Mitchell)) The US intelligence service estimates that the number of members of Al Qaida globally is thousand of times more then it was before the War on terror was lanced. The war with Iraq for instance had the effect of attracting and producing recruits for Al Qaida inside Iraq. There was no presence of Al Qaida in Iraq before we invaded. But once we did invade, it drew Jihadists from all over the world. So in that sense Cloning terror refers to the idea that by declaring War on terror it is like making the disease worse. SPRECHER 1: ((overvoice Mitchell)) Der US-amerikanische Geheimdienst schätzt, dass die Zahl der Al-Qaida-Kämpfer seit dem 'Krieg gegen den Terror' sprunghaft angestiegen ist. Das kann man vor allem im Irak sehen, wo Al-Qaida erst nach dem Einmarsch der Amerikaner Anhänger fand. Plötzlich kämpften im Irak Jihadisten aus der ganzen Welt. Das aber heißt, den Terror zu klonen: Indem man vorgibt, ihn mit einem Krieg zu bekämpfen, macht man alles nur schlimmer. ERZÄHLERIN: Martin und Tarik, diese Brüder im Geiste, verwenden das Wort PRÄSIDENT nur in hämischen Großbuchstaben. Mehr braucht es nicht, um den politischen Größenwahn à la Bush/Saddam zu travestieren. Überhaupt ist die Sprache Lehrs mächtigste Waffe! Der Roman, ein hoch verdichteter Gedankenfluss seiner Figuren, verzichtet auf jegliche Satzzeichen, hat eine fast rhapsodische Qualität. Die Schrecken der Realpolitik durchdringt Lehr mit einer so lyrisch aufgeladenen wie präzisen Sprache. Der Eindimensionalität der Medien setzt er vielschichtige, da anspielungsreiche Bilder entgegen. Verschmitzt bezeichnet der Autor sich selbst als einen EMBEDDED POET. REGIE: O-Ton Lehr 4 Ich fand einen eklatanten Widerspruch zwischen der Klarheit, Schärfe und Penetranz dieser Bilder und dem Ausmaß des Unverständnisses, das gleichzeitig da war. Man sieht immer genauer, immer schärfer, wie die Flugzeuge in das WTC krachen - und gleichzeitig ist das Verständnis dessen, was da geschehen ist, warum es geschehen ist, und was die Hintergründe sind, stets sehr flach geblieben. SPRECHER 2: ((Zitat 6/Lehr)) SIE die hasserfüllten Terroristen WIR die zivilisierte Menschheit das einfache Bild auf allen Kanälen aber wie sieht das zutreffende aus? ((Lehr, a.a.O., S. 201)) ERZÄHLERIN: Einfühlung, Hingabe, Sachverstand. "September Fata Morgana" ist ein literarisch grandioser und ein menschlich mutiger Roman. Ein Roman über das Drama unserer Zeit, die seit nunmehr einer Dekade von Islamphobie und islamistischem Terror, von globaler Angst und ideologischer Aufrüstung gleichermaßen geprägt ist. Aber auch ein Roman über die Möglichkeit eines dennoch friedlichen Miteinanders. REGIE: Trenner Musik? Noch mal Pärt? ERZÄHLERIN: Derweil hat das wahre Leben ein ganz eigenes Schlusskapitel unter die Dekade nach 9/11 geschrieben: Am 2. Mai 2011 wird Osama Bin Laden - Chef der Terrorgruppe Al Qaida - von einer US-Spezialeinheit auf seinem Anwesen in Pakistan getötet. SPRECHER 2: ((Zitat 7/Lehr)) Wa la ghalib illa-llah. Es gibt keinen Sieger außer Gott. ((Lehr, a.a.O., S. 478)) ERZÄHLERIN: So lauten die letzten Worte in 'September Fata Morgana'. Doch ein Dialog der Kulturen, wie ihn Lehr in seinem Roman imaginiert, scheint im wahren Leben fraglicher denn je. Zugleich wäre er - zehn Jahre nach 9/11 - notwendiger denn je. REGIE: Musik für den Abspann (c) Claudia Kramatschek 1