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Wetterbericht Der Seewetterdienst Hamburg teilt mit, deutsche Nordseeküste süddre- hend fünf bis sechs, Böen sieben, deutsche Ostseeküste Nordwest bis West fünf bis sechs, Böen sieben. ERZÄHLERIN Im Winter gibt es weder Linien- noch Ausflugsschiffe nach Gröde. Man kann entweder mit dem Postschiffer fahren oder sich von seinen Gastgebern abholen und zurückbringen lassen. Aber es darf nicht stürmen. Ab Windstärke fünf bleiben die kleinen Boote vertäut. Zu viel Wasser vereitelt Reisepläne ebenfalls. Bei Landun- ter ist die Hallig überschwemmt und damit auch der Schiffsanle- ger. Dann ragen nur noch die Warften aus der Nordsee, die künst- lich aufgeschütteten und von Deichen gesicherten Hügel, auf de- nen die Häuser stehen. In dem milden Winter, den wir hinter uns haben, gab es so viel Wind und Sturm aus Westen, dass Hallig Gröde alle Nase lang Landunter hatte. MUSIK Rammstein ?Seemann?, Nina Hagen und Ensemble Apocalyp- tica Wetterbericht Morgen Vormittag weitere Schauer, und dann aus Westen ein neues Regenband. Im Laufe des Nachmittags wird?s zum Teil kräftige Schauer geben. Auch im Flachland wird es stürmisch, und es wird verbreitet mild. ERZÄHLERIN Immerhin, mit eisigem Ostwind und Packeis war nicht zu rechnen. Mein Essen müsse ich aber selbst mitbringen, hatte Claudia Mommsen gesagt. In meinem Korb liegt eine riesige Packung Tee. Ergibt viel und braucht wenig Platz. Und Spaghetti. Haltbar und ergiebig wie der Regen. Nein, Zigaretten könne man auf Gröde auch nicht kaufen, hatte ich gehört. Sollte ich mir irgendwann das Rauchen abgewöhnen wol- len, dann reise ich im Januar oder Februar vor einer Sturmflut oh- ne Zigaretten nach Gröde. Ich solle unbedingt in Gummistiefeln anreisen, hatte mir Claudia Mommsen noch empfohlen. Gummistiefel habe ich nun auch ge- kauft. Blau und sauber stehen sie an der Garderobe. Am Sonntag könne es losgehen, sagt meine Gröder Vermieterin. Endlich. Mittags wird ihr Mann mich in Schlüttsiel abholen, mit auf- laufendem Wasser. Allerdings sei das große Boot gerade nicht fahrtüchtig, er käme mit dem kleinen Motorboot. Und was bedeutet das, frage ich. Dass es ein bisschen mehr schaukelt, lautet die Antwort. MUSIK Rammstein ?Seemann?, Nina Hagen und Ensemble Apocalyp- tica ERZÄHLERIN Mein Gepäck liegt unter einer wasserundurchlässigen Plane, auf der Plane liegt ein Plastikkissen. Auf dem Plastikkissen sitze ich. Gummistiefel fest auf den Boden gestemmt, Kapuze überm Kopf. Reiner Mommsen startet den Außenborder, lenkt sein Boot aus dem Hafen und nimmt Fahrt auf. Redefreudig scheint er nicht zu sein. Aber für ein Gespräch ist es ohnehin zu laut. Der Mittvierzi- ger sieht zünftig aus. Gummihose, Gummistiefel, die blonden Haa- re feucht und strubbelig. ATMO Motorboot MUSIK Rammstein ?Seemann?, Nina Hagen und Ensemble Apocalyp- tica ERZÄHLERIN Das Wasser ist glatt, das Boot schnell. Mommsen steuert es in einer weiten Linkskurve nach Südwest. Rechts liegt Hallig Oland, dahinter Hallig Langeness. Und irgendwo unter dem Meeresboden das sagenumwobene Rungholt. Kaum eine halbe Stunde, dann sind wir da. Ich solle auf dem Plat- tenweg bleiben, sagt Reiner Mommsen, das Land sei völlig verschlickt. An einer steilen Leiter klettere ich vom Boot auf die Hallig. Das Gepäck bringt er später mit, wenn genug Wasser auf- gelaufen ist, um mit dem Boot am Anleger festzumachen. Weit hinten ragen die Warften aus dem graubraunen Boden, der überall von kleinen Wasserrinnen durchzogen ist. Rechts und links des Plattenwegs Matsch und Schlick so weit das Auge reicht. Wind zupft an meiner Kapuze. Claudia Mommsen hatte Recht. Al- les andere als Gummistiefel wäre fatal. ATMO Regen, in der Ferne Austernfischer ATMO Ferienwohnung ERZÄHLERIN Auf der Knudtswarft werde ich erwartet. Natürlich wissen alle, dass heute ein Gast kommt. Bahne Mommsen begrüßt mich. Der Senior der Familie führt mich zum Haus von Sohn Reiner und Schwiegertochter Claudia. Hinter der Haustür eine Schuh- und Stiefelparade. Gummistiefel, Gummischuhe, Schlappen, Cloggs. Auch für den kleinsten Weg nach draußen werden die Schuhe gewechselt, sonst wäre drinnen schnell so viel Matsch wie draußen. Im ersten Stock beziehe ich eine der beiden Ferienwohnungen. Wohnzimmer, Schlaf- und Kinderzimmer, Küche und Duschbad. Alles sieht piccobello gepflegt aus. Kiefernmöbel, Deckchen und Kunstblumen. Es nieselt immer noch. Ich stelle mich vor der Haustür unter die Traufe des Reetdachs, aus dem leise und beständig Tropfen auf meinen Kopf fallen, und überlege, ob ich einen Spaziergang ma- chen soll. Immerhin sind die Temperaturen geradezu lau, sieben, acht Grad schätze ich. ATMO Spatzen ERZÄHLERIN Reiner Mommsen setzt mein Gepäck an der Treppe ab. Seine Haare sind noch ein bisschen strubbeliger geworden. Sein Vater hatte genickt, als ich fragte, ob ich ihn und seine Frau am Nach- mittag besuchen dürfe. Claudia Mommsen sagt, ich solle auf kei- nen Fall die Haustür abschließen. Die bleibe unverschlossen, auch in der Nacht. Alle Türen bleiben auf Gröde Tag und Nacht unverschlossen. Der Schlüssel steckt nur im Schlüsselloch, damit man ihn findet, falls man ihn doch mal brauchen sollte. Ach ja, die Hündin, Mandy, dürfe nicht gefüttert werden. Manche Gäste wür- den ihr Würstchen geben; das könne sie nicht vertragen. Würst- chen habe ich nicht in meinem Proviantkorb. Das ist also kein Problem. Erik, der 14-jährige Sohn von Claudia und Reiner Mommsen spielt Gitarre. ATMO Biosphärensong Erik Das ist eigentlich eine ziemlich gute Beschäftigung, Musik, wenn man hier auf der Hallig wohnt, vor allem auch im Sommer draußen auf den Deichen, das ist so eine schöne Akustik. Die ersten Griffe hat mein Bru- der mir beigebracht, aber ich hab mir eigentlich fast alles selber beige- bracht, aus Büchern und aus dem Internet. ERZÄHLERIN Mit den Kindern von den anderen Halligen hat Erik ein Lied produ- ziert, den ?Biosphärensong?. Nachmittags treibt Erik Sport. Erik Im Winter mache ich alleine Sport, Hanteln, sit-ups, Liegestütze und auf dem Laufrad. Da ist auch Joggen nicht so gut, weil das Wetter in der Zeit ziemlich schschsch, nicht so schön ist. Ich mach das alles, damit ich im Sommer fit bin, wenn die Kinder da sind, damit ich nicht dem Ball hin- terherlaufen muss und die mich alle überholen. ERZÄHLERIN Erik ist jetzt in der 9. Klasse. Noch ein Jahr, dann muss er die Hal- lig verlassen, denn nach dem Hauptschulabschluss geht es nicht weiter in der Schule gegenüber auf der Kirchwarft. Erik Ich gehe auf ein Internat nach Dänemark, wahrscheinlich, also höchst- wahrscheinlich. Das ist ein deutsch-dänisches Internat in Tinglev, das ist nahe der Grenze. Da kann man schnell hin und zurück, hat auch eine Bahnverbindung. ERZÄHLERIN In Tinglev kann Erik seinen Realschulabschluss machen. So wie sein älterer Bruder Tade, der jetzt in Husum wohnt und dort eine Lehre absolviert. Danach könnte Erik auch das Abitur ansteuern, aber ob er das will, weiß er noch nicht. Jetzt denkt er viel an Tinglev, ans Fortgehen und daran, dass er ein bisschen Dänisch lernen will bis dahin. ?Hast du auch ein wenig Schiss?? frage ich. Erik Ne, Schiss nicht, aber ich bin ziemlich aufgeregt. Ich freu mich eigentlich tierisch, auch mal was anderes zu machen. Ich werde das natürlich sehr vermissen, aber ich komm ja fast jedes Wochenende nach Hause. ATMO Wind und Spatzen ERZÄHLERIN Drei lange, reetgedeckte Häuser stehen auf der Knudtswarft in U- Form schützend um den Fething, den alten Wasserspeicher, ein tiefes Loch, in dem sich Regenwasser und Schnee sammeln. Dort, wo das U offen ist, führt ein Weg hinüber zur Kirchwarft mit nur ei- nem Gebäude. Erik zeigt mit der Hand über den Fething auf die mittlere Haustür gegenüber. Ganz rechts wohnt sein Onkel, der Bürgermeister, mit seiner Frau, in der Mitte wohnen seine Großeltern und links eine Cousine mit Mann und zwei kleinen Kindern. Die Mommsens sind mit vier Generationen vertreten und stellen vier der sechs hier le- benden Paare. Zwölf Erwachsene und fünf Kinder wohnen auf den beiden Warften. Bahne und Frieda Mommsen übernahmen 1964 einen Hof auf Gröde. Sie waren um die Dreißig und hatten drei kleine Kinder. Ihr Jüngster wurde hier geboren. Bahne Mommsen Meine Frau ist von Oland, Hallig. Daher kannten wir die Hallig so ein bisschen. Meine Frau wollte nicht so gerne, aber wir sind denn doch ganz glücklich hier geworden. ERZÄHLERIN Für das Zögern der jungen Frieda Mommsen gab es viele Gründe. Bahne Mommsen Gröde war immer so ein bisschen abgelegen. Da war kein Wasser. Da war kein Strom. Da war eigentlich nix, wie wir hier hinkamen. Ein Jahr später dann kriegten wir ein Aggregat. Dann lief der Strom immer tags- über, zum Sparen wurde nachts ausgeschaltet. Wasser kam, Frieda, wann war das noch? 76, ja. Und Wasser kam damals von der Dachrin- ne, vom Reetdach, war ein bisschen braun, aber konnte man trinken. Wurde gekocht immer. ERZÄHLERIN Das Wasser, das sich im Fething sammelte, war brackig. Bahne Mommsen Das Vieh konnte das trinken, schlecht und recht, aber haben?s getrun- ken. Die mussten ja, weil nix anderes da war. ERZÄHLERIN Auf Gröde hielten sich die urtümlichen Zustände am längsten. Bahne Mommsen Das war schwer, die erste Zeit war schwer. Die Landwirtschaft, das brachte nicht so viel. Damals hatten wir ja noch Kühe. Die mussten dann abgeschafft werden, wegen wenig Futter, wenig Gras, wegen der Rin- gelgänse. Dann sind wir beim ALR angefangen, damals Marschenbau- amt, und dann ging das schon ganz gut. ERZÄHLERIN Ja, die Ringelgänse. Zigtausende rasten im Frühjahr an der Nord- seeküste. Heute bekommen die Landwirte, deren Felder sie leer futtern, Ausgleichszahlungen. Bahne Mommsen stammt aus Niebüll. Seit Kindesbeinen spricht er Plattdeutsch. Und das ist auch die Umgangssprache auf Gröde. Frieda Mommsens Muttersprache auf Oland war Friesisch. Frieda Mommsen Dör wört bloss Frer schnake jetet. Da wurde bloß Friesisch gesprochen die Zeit. ERZÄHLERIN Die Bemühungen, die Sprache zu erforschen und zu erhalten, sind beträchtlich, aber auf Gröde wird kein Friesisch mehr gesprochen. Frieda Mommsen He of Gröde überhaup den moa. Ja, hier auf Gröde nicht mehr. En Broer hev ick noch. Un wi schnak Fresch do hupe. Einen Bruder habe ich noch, und wir sprechen Friesisch zusammen. ERZÄHLERIN Zwei Söhne sind auf die Hallig zurückgekommen und eine Enkel- tochter, die hat nun auch schon zwei kleine Kinder. Rechts und links und gegenüber, überall Mommsens. Man lebt Tür an Tür, aber jede Familie wirtschaftet für sich. Frieda und Bahne Momm- sen haben auch auf dem Festland eine kleine Wohnung und ein Auto. Manchmal bleiben sie ein paar Tage dort, sie sind ja längst im Ruhestand und können sich auch mal anderswo den Wind um die Nase pusten lasen. Aber nicht zu lange, dann wollen sie nach Hause, nach Kindern, Enkeltochter und Urenkeln sehen, nach den Spatzen, dem Himmel und den Wasserständen. Bahne Mommsen Die letzten Jahre, ja, haben wir mehr Sturmfluten. Wasserstände wer- den ein bisschen höher. Aber wir merken das noch nicht. Unsere Hallig wächst auch mit. Wir sind jetzt schon wieder durch diese Sturmfluten und Landunter, ist die Hallig schon wieder einen Zentimeter höher ge- worden. Dat schlickt ab. Wenn wir Landunter haben, einen Meter über Normal oder anderthalb, kommt der Schlick mit auf die Hallig, und denn auf der Hallig beruhigt sich das Wasser, und denn setzt sich das ab. Dann haben wir schon wieder einen Zentimeter Sand gewonnen. ERZÄHLERIN Das Wasser spielt die Hauptrolle, selbst dann, wenn es nicht da ist, bei Ebbe. Und von Mai bis Oktober bietet es Frieda Mommsen besondere Vergnügungen. Sie badet gern. Frieda Mommsen Dat kammt bei Ebe un de Sonne schint, war dat Watt wörm, und wer dat Woar kammt, labt dat de our. Bei Ebbe scheint die Sonne aufs Watt, dann erwärmt sich das Watt. Und dann kommt das Wasser und erwärmt sich dann davon auch. ERZÄHLERIN Früher sagte man, es sei besser, wenn Seeleute und Küstenbe- wohner nicht schwimmen können, dann dauere der Tod durch Er- trinken nicht so qualvoll lange. Und dieser Tod drohte ständig, durch Schiffsuntergänge und Sturmfluten. Noch in Frieda Momm- sens Generation war es keineswegs selbstverständlich, dass die Kinder schwimmen lernten. Frieda Mommsen Ich kö schwamma, aber mei bröer nei. Meine Brüder konnten nicht schwimmen. ERZÄHLERIN Wenn das Wasser ruhig und flach war, stiegen die Frauen früher mit einem großen Sieb ins Watt. So fingen sie Krabben. Bahne und Frieda Mommsen (B.) Die haben sich nicht ausgezogen. Früher die Frau- en haben sich nie gern ausgezogen und liefen auch dann im Watt mit volles Zeug. Die sagten, das war wärmer. Wenn man volles Zeug anhat, ist man wärmer im Wasser. (F.) Das fing ja auch erst an Ende September, Anfang Oktober an. ERZÄHLERIN Ich bin froh, dass ich nur ein paar Meter durch den Regen muss, um etwas Essbares zu finden. Aber zuvor will ich noch eine Er- kundungstour auf der Knudtswarft unternehmen. MUSIK Alex Gifford, Morecambe Bay, Various Artists ATMO Schritte in Gummistiefeln, im Matsch und auf Gehwegplatten ERZÄHLERIN Hinter den Häusern zeigt sich die landwirtschaftliche Seite des Halliglebens: Ställe, Land- und Baumaschinen. Wozu habe ich die Gummistiefel? Um auf die Deichkrone zu steigen und die Schafe zu begrüßen. Jenseits des Zauns stehen sie wie angewurzelt in einer langen Reihe und starren mich an. Wahrscheinlich haben sie noch nie jemanden mit einem Regenschirm gesehen. Zünftig ist das nicht. Hier trägt man Gummizeug und zieht bei Regen die Ka- puze über den Kopf. Kein Mucks ist zu hören. Die Schafe haben sogar das Kauen eingestellt. Eins, zwei, drei, elf, fünfzehn, neunzehn ? dreiundzwanzig. ?Mit dem Schäfchen zählen ist man hier schnell fertig?, denke ich. Die Schafe sehen so aus, wie es sich für Schafe Ende Februar gehört: dreckig, zottig, dickfellig. Das Leitschaf beginnt zu kauen. ?Okay?, sage ich, und mache zwei Schritte den Deich hinab: ?Wenn die Unterhaltung so eintönig ist, gehe ich zurück.? MUSIK Alex Gifford, Morecambe Bay, Various Artists ERZÄHLERIN Ich schlingere, ich rutsche, rudere mit Schirm und Arm. Das Profil meiner Gummistiefel ist ohne Chance auf dem schlickigen Boden. Batsch! Noch keine drei Stunden bin ich hier und liege schon im Matsch. Ich lache. Die Schafe schweigen, aber keines kaut mehr. Ich rappele mich auf. Meine einzige Jacke, meine einzige Jeans, mein einziger Schirm ? alles voller grauem Modder. Wenigstens sehen meine Gummistiefel nun nicht mehr so landfein aus. Der Gedanke daran, dass jemand meine erste Exkursion von einem der Fenster beobachtet haben könnte, ist mir allerdings ein wenig peinlich. ?Ich rechne weiter auf eure Verschwiegenheit?, sage ich und klappe den schmutzigen Schirm zu. MUSIK Alex Gifford, Morecambe Bay, Various Artists ERZÄHLERIN Himmel, Arsch und Wolkenbruch! Was habe ich mich eingesaut! Notdürftig spüle ich in der Dusche den Dreck von Jacke und Jeans, hänge die Sachen über die Heizkörper. Die Spaghetti sind gar. Die Soße aus dem Glas ist keine Offenbarung, aber Nordsee- luft macht hungrig, und der frisch geriebene Parmesan ist köstlich. Nach dem Essen stehe ich noch ein wenig am geöffneten Fenster. Die einzigen Farbkleckse sind der gelbe Briefkasten, das gelbe Postschild und ein rotes Dreirad gegenüber. Der Abend ist lang, und ich bin froh, reichlich Lektüre mitgenom- men zu haben. Eines der Bücher könnte genau zu meiner nach- mittäglichen Begegnung passen: ?Glennkill? von Leonie Swann, ein Schafskrimi. George, der Schäfer von Glennkill, ist ermordet worden, und seine Schafe wollen herausfinden, wer das getan hat. MUSIK Rammstein ?Seemann?, Nina Hagen und Ensemble Apocalyp- tica ATMO Küche, Ferienwohnung ERZÄHLERIN Morgens um sechs ist es noch überall dunkel, nur über der Schul- tür auf der Kirchwarft brennt eine Lampe. In der Küche gurgelt die Kaffeemaschine. Kaffeeduft macht sich breit. Meine Hose ist über Nacht getrocknet. Um neun bin ich mit dem Bürgermeister verabredet, aber bis dahin ist noch reichlich Zeit. Ich schlage wieder den Schafskrimi auf und beiße in mein Käsebrot. ZITATORIN Schafe sind normalerweise kein geschwätziges Volk. Das liegt daran, dass sie oft den Mund voll Gras haben. Es liegt auch dar- an, dass sie manchmal nur Gras im Kopf haben. Aber alle Schafe schätzen gute Geschichten. Am liebsten hören sie nur zu und staunen ? auch deshalb, weil man gleichzeitig zuhören und kauen kann. ERZÄHLERIN Es ist gut, dass man auch gleichzeitig kauen und lesen kann, denn ich schätze ebenfalls gute Geschichten. Und diese ist hervorra- gend. Der Tag beginnt also vielversprechend, wenn auch regne- risch. Ich öffne das Fenster. ATMO Regen ERZÄHLERIN Kurz vor halb acht. Inzwischen ist es hell geworden. Erik geht an der Wäscheleine vorbei auf dem Plattenweg über den Deich zur Schule. Auch die Spatzen sind aufgewacht und tschilpen im Bocksdorn, einem dichten Busch am Rand des Fethings. Es hat aufgehört zu regnen. ATMO Spatzen ERZÄHLERIN Auf dem Deich vor der Schule springen eine Frau und drei Kinder auf und nieder und klatschen dabei in die Hände. Ein eigentümli- ches Bild vor dem dunkel bewölkten Himmel. Von West nach Ost treiben die Wolken. Aus dem Wohnzimmerfenster sehe ich Mandy hinter Claudia Mommsen über den Hof tänzeln, als sei Mandy kein Golden Retriever, sondern ein Dressurpferd. Volker Mommsen sieht aus, wie ich mir einen Halligbürgermeister vorstelle: Groß und blond, mit ersten grauen Haaren im Vollbart. Volker Mommsen Ich hab momentan Urlaub und bin am Renovieren. Das Badezimmer muss neu, und da ist natürlich eine Menge zu tun. ATMO Wohnung Volker und Monika Mommsen ERZÄHLERIN Bürgermeister zu sein, ist hier keine Vollzeitbeschäftigung. Volker Mommsen ist wie sein Bruder, sein Schwiegersohn und der neue Nachbar beim Amt für ländliche Räume als Wasserwerker ange- stellt. Volker Mommsen Das ist hier auf Gröde der einzige Beruf, den man hier ausüben kann, wo man ein sicheres Einkommen hat. Alles andere ist Nebenerwerb. Landwirtschaft und Tourismus ist im Nebenerwerb. Aber das betrifft na- türlich nicht nur Gröde, das betrifft alle Halligen, dass die Berufswahl eingeschränkt ist. Deswegen ist es auch schwierig für viele, zur Hallig rüberzuziehen. Das ist ein Manko, das wir haben. ERZÄHLERIN Die Arbeit der Wasserwerker lässt an Sisyphus denken. Volker Mommsen Die Befestigung der Hallig, Sicherung der Halligkante, Erhöhung von Steindeichen, also von den festen Ufern. Man muss ja dem steigenden Wasserspiegel Rechnung tragen. Also, die Hallig wächst mit, und da müssen wir eben mitarbeiten, dass die Hallig wieder ein Stückchen hö- her wird. Und das sind so die Sachen, die eigentlich jedes Jahr, man beginnt vorne, hört hinten auf, und dann beginnt man wieder vorne. ERZÄHLERIN Volker Mommsen war sechs Jahre alt, als seine Familie 1964 auf die Hallig zog. Nach der Schule musste er aufs Festland, so wie die jungen Leute auch heutzutage. Zum weiteren Schulbesuch, zur Ausbildung. Und natürlich der Liebe wegen. Volker Mommsen Ich würd? zum Beispiel nie alleine hier wohnen wollen, und das ist si- cherlich auch ein Grund, dass man sich erst den Partner sucht, bevor man so was macht. Hier jemanden zu finden, ist schwierig, das muss man schon vorher geregelt haben. Ich denke, wenn man dann die Ent- scheidung getroffen hat, hier rüber zu gehen, ich glaube, man lebt hier ganz anders zusammen. Es schweißt auch mehr zusammen, das Leben hier auf der Hallig. ERZÄHLERIN Scheidungen gibt es auf Gröde nicht. Jedenfalls kann sich keiner an einen solchen Fall erinnern. Die Ehepaare, die Familien sind hier gut eingespielte Teams. Jeder ist für jeden auch als Nachbar, als Kollege wichtig. Volker Mommsen Es gibt schon Reibereien, wie überall auch, bloß, ich glaub, in so einer kleinen Einheit ist es wichtig, dass man sich hinterher wieder verträgt. Man darf nie so auseinandergehen, dass man nicht mehr zusammen re- den kann. ERZÄHLERIN Monika Mommsen war Studentin, als sie ihren Mann kennenlern- te. Monika Mommsen Ich hab Latein und Englisch studiert. Ich wollte ursprünglich mal Lehre- rin werden. Und das habe ich dann aber ganz schnell ad acta gelegt. ERZÄHLERIN Jetzt spricht sie wie alle anderen Plattdeutsch. Sie strickt gern, und im Sommer betreibt sie einen Kiosk für die Gäste. Aber der Sommer scheint noch ewig weit entfernt. Es regnet wieder. Der Wind frischt auf. Eine Ecke des benachbarten Reetdachs ist mit mächtigen Seilen festgebunden. Volker Mommsen Das sind natürlich Sturmschäden, die jetzt bei dem Orkan aufgetreten sind, die natürlich gesichert werden, aber ansonsten machen Reetdä- cher eigentlich keine großen Probleme, wenn sie in Ordnung sind, von den Kosten mal abgesehen. Es ist natürlich ein teures Dach. ERZÄHLERIN Nach der Sturmflut 1962, die in Hamburg eine Katastrophe war, aber die Küste einigermaßen ungeschoren davonkommen ließ, gab es ein großes Halligsanierungsprogramm. Fast alle Häuser wurden neu erbaut und mit einem Schutzraum ausgestattet. Des- sen besondere Bauweise ist allerdings nicht zu erkennen. Der Schutzraum ist das Wohnzimmer von Volker und Monika Momm- sen und das Wahllokal von Gröde. Volker Mommsen Gröde ist die erste Gemeinde, die ihre Wahlzettel ausgezählt hat, und immer als erstes durchgibt. Und da legen wir auch schon Wert drauf, dass wir auch zwei, drei Minuten nach 18 Uhr damit fertig sind, damit wir auch die ersten sind. ERZÄHLERIN Gröde ist auch bekannt für eine regelmäßige Wahlbeteiligung von 100 Prozent. Volker Mommsen Hallig Gröde ist eine eigenständige Gemeinde mit einem eigenen Haushalt, gehört dem Amt Pellworm an. Wir haben hier eine Schule, wir haben Straßen, Gemeindewege, Feuerwehr. ERZÄHLERIN Feuerwehr. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Es gibt Übun- gen für den Ernstfall, aber bislang musste noch nie gelöscht wer- den. Beim Wort Ernstfall denkt hier jeder an andere Elemente. An Wind und Wasser und an die Folgen der Klimaerwärmung. Monika und Volker Mommsen (M.) Was zugenommen hat sind so die Windgeschwin- digkeiten über einen längeren Zeitraum auch, dass man nicht nur so starke Böen hat, sondern auch über Stunden richtig kräftigen Sturm. (V.) Der Sturm selber ist vielleicht gar nicht das Problem, aber die hohen Wasserstände, die damit entstehen. Durch diese Sturmtätigkeit, durch die erhöhten Strömungsgeschwindigkeiten und durch den erhöhten Wel- lenauflauf habe ich auch eine ganz andere Brandung. Also die Warften oder die Deiche, die sind ja viel mehr angegriffen. Und da muss reagiert werden. Das Stichwort ist ganz eindeutig flächenhafter Küstenschutz, also Buhnenbau zum Beispiel im Wattengebiet, das ist eine Geschichte, die vorangetrieben werden muss. MUSIK Ola Flottum, Air, The white birch ATMO Regen ERZÄHLERIN Der Regen hat zugenommen. Ich laufe an der Leine vorbei, auf der zu meiner Überraschung Wäsche hängt. ATMO Spatzen Claudia Mommsen Sie riecht schon besonders schön, wenn sie wenigstens einmal kurz draußen gehangen hat. ATMO Küche bei Claudia Mommsen ERZÄHLERIN Claudia Mommsen, meine Vermieterin, stammt aus dem Ruhrge- biet. 1983 zog sie mit ihrem Mann nach Gröde. Die mädchenhafte 42-Jährige bereitet das Mittagessen vor. Claudia Mommsen Heute gibt?s bei mir Fisch. Eingefroren. Wir haben ja viele, viele große Gefriertruhen und haben natürlich das meiste eingefroren. Wir fangen im November an, uns zu bevorraten. So frisches Obst und Ge- müse ist dann natürlich ein Problem. Aber im Moment, wir haben ja ei- nen milden Winter, kriegen wir 14-tägig unsere Lebensmittellieferungen, und das ist dann natürlich Luxus für uns. ERZÄHLERIN Ich freue mich auf eine meiner luxuriösen Orangen. Und nachmit- tags darf ich mir den Stall angucken, zum Trost, weil es mit einem Spaziergang zur Halligkante vorläufig nichts wird. Claudia Mommsen Ja, das Leben ist schon besonders hier. Man hat hier einen ganz besonderen Bezug zur Natur. Man kriegt immer wieder gezeigt, dass sich nicht alles um einen selbst dreht, sondern dass man einfach im Einklang mit der Natur auch leben muss. ERZÄHLERIN Das gilt auch für die Tiere und schränkt die Fauna erheblich ein. Claudia Mommsen Wir haben keine Kaninchen, keine Mäuse, keine Ratten. Das ist hier angenehm, keine Maulwürfe. Durch das Landunter. Die überleben natürlich hier nicht. Und die Warften sind ja zu klein. Wir kaufen ja für unsere Schafe jedes Jahr Stroh, und da sind mal Mäuse mit hier rüber- gekommen, die waren aber nach einem Winter von selbst wieder ver- schwunden. ERZÄHLERIN Bei mir gibt es keine Tiefkühlkost, sondern Spaghetti, danach die Apfelsine und Lektüre. Die Schafe von Glennkill begeistern mich, besonders, wenn sie über die rätselhaften Menschen nachdenken: ZITATORIN ?Wird Georges Geist wiederkommen??, fragte (das Lamm) schüchtern. Cloud beugte sich beruhigend zu ihm herunter und ließ es sich in ihre üppige Wolle schmiegen. ?Nein, Kleines, Georges Geist wird nicht kommen. Menschen haben keine Seele. Keine Seele. Kein Geist. So einfach ist das.? ?Wie kannst du so etwas sagen?? protestierte Mopple. ?Wir wissen doch gar nicht, ob Menschen auch eine Seele haben. Es ist viel- leicht nicht wahrscheinlich, aber möglich ist es.? ?Jedes Lamm weiß, dass die Seele im Geruchssinn liegt. Und die Menschen können nicht gut riechen.? ATMO Schritte auf Steinplatten und im nassen Gras ERZÄHLERIN Nach der Mittagspause bin ich mit der Hallig-Lehrerin verabredet. Am Innendeich blühen vereinzelt Krokusse. Aber der Wind hat nicht viel von ihnen übriggelassen. Die Vorstellung, wenn ich auf den Gehwegplatten bliebe, brauchte ich keine Gummistiefel, war naiv. Da wo sich der kaum hundert Meter lange Weg vom Deich hinab zur Kirchwarft senkt, steht eine dicke Pfütze, und das Gras daneben ist vor Modder kaum als solches auszumachen. Die Schuhe sind hin. Christiane Fleeth steht in der Tür, über der früh am Morgen schon Licht brannte. Weil sie mit dem Hund raus musste, erfahre ich. Und warum fängt die Schule schon um halb acht an? Christiane Fleeth Die Väter haben von zwölf bis eins Mittagspause. Und da ich das schön finde, wenn die Familien zusammen die Mahlzeit einnehmen kön- nen, haben wir gesagt, wir fangen um halb acht an und sind dann um halb eins fertig. Wenn die Kinder morgens um halb acht in die Schule kommen, dann ist erst mal eine Viertelstunde lesen. Und zwar, wie ich immer sage, zweckfrei lesen. Ich frage hinterher nichts ab zu diesem Buch. Und dann kommt um Viertel vor acht eine Nachbarin, die Mutter zweier Schulkinder, die ist ausgebildete Ergotherapeutin, und die macht jeden Morgen eine Viertelstunde mit den Kindern Gymnastik. Wir kön- nen nicht so einen guten Sportunterricht machen, wir haben keine Räumlichkeiten dafür, und dafür haben wir jeden Morgen immer eine Viertelstunde Gymnastik, Spiel, und dann sind sie um acht richtig mun- ter, und dann kann der Unterricht losgehen. ATMO Schule ERZÄHLERIN Wir befinden uns in einem Raum von etwa 16 Quadratmetern. Ich denke, dass wir jetzt gleich in die Schule gehen werden, aber wir sind schon in der Schule. Christiane Fleeth Ich sitze so ziemlich in der Mitte zwischen allen, und ich sage immer, ich habe so einen Chamäleonblick, ein Auge da und ein Auge da. Wenn ich was erklären muss, was Neues einführen muss, dann spreche ich mit dem Anderen, und alle sind gewöhnt, dann trotzdem weiter zu arbei- ten, wobei tatsächlich alle drei Klassen verschieden unterrichtet werden. Ich habe im Moment eine achte Klasse, ein Junge, siebente Klasse, ein Junge und vierte Klasse, ein Mädchen. ERZÄHLERIN Christiane Fleeth hat ihre ersten Lebensjahre im nordfriesischen Niebüll verbracht. Dann zog sie nach Hamburg. Christiane Fleeth Ich bin 15 Jahre in Hamburg im Schuldienst gewesen, Haupt- und Re- alschullehrerin gewesen. Mein Mann und ich sind viele Jahre hier auf Gröde im Urlaub gewesen. Mein Mann seit 1963, der hat hier früher noch bei den Bauern im Heu geholfen. Und dann sind wir seit 69 regel- mäßig hier im Urlaub gewesen und haben von 81 bis 87 die Lehrer- dienstwohnung als Ferienwohnung gehabt, weil keine schulpflichtigen Kinder da waren. Und dann zog ein junges Paar hierher, die bekamen ein Kind und fragten mich irgendwann, hast du nicht Lust, dich hier als Lehrerin zu bewerben. Ja, und das habe ich dann getan und bin dann 1987 von Hamburg in den schleswig-holsteinischen Schuldienst ge- wechselt. Wir sind beide, mein Mann und ich, außerordentlich glücklich hier. Und es ist eine schöne Arbeit, es ist eine verantwortungsvolle Ar- beit. Es ist sicher nicht so stressig wie früher in Hamburg, aber man hat doch auch eine große Verantwortung. ERZÄHLERIN Die burschikose Endfünfzigerin unterrichtet fast alle Fächer, außer Sport, dafür kommt morgens die Ergotherapeutin - und Singen. Christiane Fleeth Ich kann den Kindern das Flöte spielen beibringen und Noten, aber singen ist wirklich so, dass ich es lieber lasse. Das wäre schon fast Kin- desmisshandlung. (Kichern) ERZÄHLERIN Auch außerhalb des Unterrichts hat Christiane Fleeth das Wohl der Kinder im Auge. Christiane Fleeth Wir haben eine ganz, ganz strikte Trennung zwischen Vormittag und Nachmittag. Ich würde niemals am Nachmittag von mir aus ein Ge- spräch über die Schule anfangen. Diese Vorstellung, dass man die Leh- rerin den ganzen Tag sieht, die möchte ich den Kindern eigentlich nicht zumuten. Nachmittag ist Nachmittag, und wir feiern privat und alle diese Sachen, und das hat mit Schule überhaupt nichts zu tun. ERZÄHLERIN Die Gröder feiern ihre Geburtstage zusammen. Im Sommer grillen sie gelegentlich gemeinsam. Christiane Fleeth Man weiß im Prinzip über jeden fast alles oder ganz viel. Aber man guckt sich trotzdem nicht ständig in den Kochpott. Mein Mann und ich, wir wohnen hier auf Kirchwarft, also, wenn ich nicht wollte, dann kann ich wochenlang keine Nachbarn sehen. Und auch drüben, die treffen sich mal an der Wäscheleine, oder man schnackt mal so miteinander, aber man hockt überhaupt nicht ständig zusammen. Viele Leute denken immer, jeden Abend sitzen wir und trinken unseren Pharisäer oder unse- ren Teepunsch, das ist also völliger Unsinn. ERZÄHLERIN Christiane Fleeth schaut auf ihre Uhr. Sie hat zu tun, aber die Kir- che will sie mir noch zeigen. Natürlich wechselt sie an der Tür Schuhe gegen Cloggs. Wir gehen bis zum Ende des reetgedeck- ten Multifunktionsgebäudes. Das erste Drittel Schule, das mittlere Drittel Lehrerwohnung, hinten die Kirche. Daneben ein kleiner Friedhof. Auch die Kirche ist natürlich nicht abgeschlossen. ATMO Kirche innen Christiane Fleeth Ja, es ist eigentlich das Schmuckstück der Hallig, 1779 gebaut, und ist wohl die sechste Kirche, die Gröde schon hat. Die anderen Kirchen sind in irgendeiner Form Opfer von Sturmfluten geworden oder diese Vor- gängerkirche zum Beispiel, die hat weiter draußen im Westen gestanden an der damals noch unbefestigten Halligkante, war schon baufällig. Dann hat man die abgerissen und weiter landeinwärts wieder aufgebaut. Oder eine andere Kirche ist 1625 durch eine schwere Eisflut verlorenge- gangen. Eisflut bedeutet, dass das Wattenmeer im Winter mit Eis be- deckt war, weil lange tiefer Frost war, und dann eine Sturmflut die Eis- massen über die Hallig getrieben hat. Man geht davon aus, dass Gröde schon vor 1362, vor der ersten großen Manndränke, der so genannten Rungholtflut, schon im Bereich Gröde eine Kirche war, aber nicht auf dem Land, das heute ist, sondern weiter draußen, was jetzt untergegan- gen ist. ERZÄHLERIN Mindestens die Hälfte der Gemeinde besucht die Gottesdienste, erzählt Christiane Fleeth. Nur ein einziger Gröde-Bewohner sei nicht in der Kirche. Christiane Fleeth Wir haben im Schnitt alle vier, fünf Wochen Gottesdienst. In diesem Jahr werden wir zwei Konfirmationen und eine Taufe haben. Es werden also alle Amtshandlungen, die in einer evangelisch-lutherischen Kirche durchgeführt werden, die finden hier auch statt. ATMO Schafstall ERZÄHLERIN Wieder zurück, finde ich meine Vermieterin bereits im Stall. Claudia Mommsen Das ist Timo, das ist unser ältestes Schaf. Das ist immer bei so einem Wetter drinnen, weil die dann auch einfach ein bisschen gebrech- lich schon ist. Die ist 14, Timo, und die anderen drei, sieht man auch schon, sind jetzt als erste dran mit Lammen, haben ganz dicke Bäuche und auch schon ein bisschen Euter. ERZÄHLERIN 40 Schafe haben die Mommsens. Bald werden viele Lämmer die Herde vergrößern. Erik und Claudia Mommsen (Bohrgeräusche) (E.) Das wird ein Gatter für die Schafe. Die kommen bald rein zum Lammen, dann brauchen wir ein Gatter. (C.) Das bedeutet viel Arbeit. Das ist eine schöne Zeit, aber auch eine anstrengende Zeit, weil man nachts auch viel hoch muss, gucken muss, helfen muss. Meistens schaffen sie es allein, aber man weiß es immer vorher nicht genau, und es gibt eben immer Situationen, wo man helfen muss. Dann liegen die falsch rum, oder die Geburt dauert zu lange, dann haben die Lämmer einfach keinen Sauerstoff, und dann muss man schon helfen. Manchmal haben wir Schafe, die nehmen ihre Lämmer nicht an, die müssen wir dann festhalten zum Trinkenlassen oder wir geben ihnen die Flasche. Das fanden die Kinder natürlich immer ganz klasse. Timo ist auch ein Flaschenlamm, die ist auch so groß gezogen. So bei ganz jungen Schafen ist es so, dass die Lämmer ein bisschen unbeholfen sind. Da muss man dann das Euter so ein bisschen zeigen, die Schafe ein bisschen anmelken und vielleicht auch mal so die Zitze denn ins Maul stecken. ERZÄHLERIN Im Nachbarhaus, bei Familie Gessing-Kolk, gibt es schon Läm- mer. Dialog Jürgen und Jesper Kolk (Blöken) Das Schwarze ist morgen schon zwei Wochen alt, das schwarze Lämmchen. Dann haben wir zwei, die sind, lass mich nachdenken, die sind jetzt eineinhalb Wochen alt. Und die ganz kleinen, die sind erst fünf Tage alt. Du kannst Dickie mal ein biss- chen Heu in den Eimer stopfen. Vorhin lag der umgekippt da. Die sind leider etwas früh, diese Lämmer. Die Böcke waren nämlich ausgebüxt, und dann haben sie schon ein paar Schafe erwischt, bevor sie eigentlich sollten. Deswegen hat Herr Mommsen auch noch keine. Kriegen die auch vorne was in die Raufen, Papa? Ja, aber da ist ja nicht so viel in dem Korb. Lass man erstmal hier die. (Mampfen) Wenn die Lämmer so früh kommen, müssen wir die so lange im Stall haben. Hier ist ja sonst nichts zu beißen. Bei schlechtem Wetter geht das nicht. Deshalb sind wir auf der Hallig mit der Lammzeit immer ein bisschen später eigentlich als auf dem Festland, weil wir hier relativ spät erst Gras auf dem Land haben. Und eben mit der Witterung. Für die kleinen Lämmchen, das geht einfach nicht. Wenn die nass werden, dann frieren die ganz furchtbar. Können die nicht gut ab. Das mögen die auch gerne. Das sind einfach Gemüsereste, Sellerie in diesem Fall, Brotreste. Finden die gut. Guck mal, Papa, das kleine Schaft frisst doch, eindeutig. Das frisst auch schon, ja. (Schüttgeräusche) ERZÄHLERIN Für Familie Gessing-Kolk ist es erst die zweite Lammzeit auf Grö- de. Aber der 13-jährige Jesper ist schon ein richtiger Experte. Jesper Kolk Die Mutter hat eine Markierung, und die Kleinen haben eine Markierung. Das kann man unterschiedlich machen, wir machen es jetzt mit Zahlen, damit man weiß, welche Lämmer und welche Mutter zusammengehören. Es kann ja immer mal sein, vielleicht stößt die Mutter dann das Lamm noch ab, und dann weiß man wenigstens, wo wer hingehört. Gut, bei diesen paar Schafen ist das einfach nicht nötig, auch bei dem schwar- zen nicht. Aber wenn dann nachher alle Lämmer haben, dann braucht man das schon. ATMO Schafstall ERZÄHLERIN Dickie ist krank. Ein Fuß ist entzündet. Sie liegt allein in einer Box. In den letzten Tagen wollte sie kaum fressen. Sie bekommt Arni- kawickel. Dialog Jürgen und Jesper Kolk Dann muss man das Huf so ein bisschen aufma- chen, vorsichtig, und dass das raus kann. (Husten) Verschluckt sich manchmal. (Husten) Sie ist ja schon sehr viel interessierter am Essen als die letzten Tage. Ja, sie hat so wenig gegessen, und wenn sie dann jetzt so viel auf ein- mal verschlingt, dann verschluckt sie sich natürlich. (Mampfen) ATMO Rufe Jesper Kolk ?Hah, mäk?? ERZÄHLERIN Der Junge rennt auf die Warft, die Schafe, die draußen kein Gras finden, rennen hinter ihm her zum Futtertrog vorm Stall. ATMO Raum bei Sabine Gessing ERZÄHLERIN In der Küche sitzt Sabine Gessing. Tochter Malin schreibt etwas auf. Fragen lassen möchte sie sich nichts. Sabine Gessing stammt aus Bad Schwartau bei Lübeck. Dann hat sie etliche Jahre in Ber- lin gelebt, danach in Kiel. Sie ist die Ergotherapeutin, die morgens mit den Kindern vor der Schule auf und nieder gesprungen ist. Aber nicht nur das ist neu, seit die Familie im vergangenen Jahr nach Gröde zog. Sabine Gessing Anders ist, dass man mehr Zeit miteinander verbringt, und dass das sehr, sehr gut tut. Also allen. Vielleicht haben wir auch irgendwie ein bisschen verkehrt gelebt. Ich weiß es nicht. Morgens die Kinder halt in den Kindergarten gebracht, jeder ist zur Arbeit gegangen, später war es dann die Schule. Man war es gewohnt, dass einer dahin ging, einer da- hin, viel Freizeit auch getrennt oder im größeren Rahmen verbracht hat. ERZÄHLERIN Ihr Mann kennt Gröde seit Kindertagen. Jürgen Kolk trägt die lan- gen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jürgen Kolk Für mich persönlich ist es eine Beziehung hier, weil das Haus hat früher Onkel und Tante von mir gehört. Ich bin hier in den 70er Jahren viel als Kind immer gewesen, und das hat mich einfach geprägt, und als ich dann hörte, dass es zu haben ist, war für mich ganz klar, entweder jetzt oder nie. Und meine Frau hat dann auch gesagt, gut, warum nicht, lass uns das machen. Von der Ausbildung her habe ich ein Studium in Poli- tikwissenschaften und Geschichte. Ich habe aber in der EDV gearbeitet. Und hab damit mein Brot verdient. ERZÄHLERIN Nun ist auch er Wasserwerker. Jürgen Kolk Gut, der eine oder andere Muskel zwickt dann mal. Das ist halt so. An- dere gehen ins Fitnessstudio, und wir tragen eben die schweren Steine und schwingen den Vorschlaghammer. Man baut einfach mehr Muskel- masse auf, und dann geht das irgendwie am Ende. Nach ein paar Mona- ten war das gut. ERZÄHLERIN Und wie erlernt ein Geisteswissenschaftler, der neuerdings 40 Stunden in der Woche den Vorschlaghammer schwingt, das Schä- ferhandwerk? Jürgen Kolk Ich hab früher schon, als ich noch Student war, paar Jahre lang immer in der Lammzeit in einer Schäferei gearbeitet, und hab mir das insofern dann auch zugetraut mit eigenen Schafen, weil, ja, hatte ich halt Erfah- rungen schon gemacht. Das bringt einfach so einen Spaß. Schafe finde ich einfach toll. ERZÄHLERIN Ich auch. Und deshalb freue ich mich schon auf meine abendliche Lektüre. Claudia Mommsen guckt mir im Flur beim Schuhewech- seln zu. ?Wir kriegen Sturm?, sagt sie. Morgen früh kommt der Postschiffer. Vielleicht. Womöglich. Er macht sich nur bis Wind- stärke fünf auf den Weg, würde mich aber mitnehmen. Die weite- ren Aussichten sind finster. Sturm aus West. Landunter. MUSIK Ola Flottum, Air, The white birch ATMO Wind und Regen gegen das Fenster ERZÄHLERIN In der Nacht lausche ich auf die Windgeräusche. Mal ebben sie ab, mal nehmen sie zu. Regen klatscht gegen das Fenster. ATMO Ferienwohnung, Zimmer ERZÄHLERIN Um sieben Uhr klopft Claudia Mommsen an meine Tür. Ja, Post- schiffer Nissen fährt. In einer Stunde ist er am Anleger. Eilig packe ich meine Sachen zusammen. Reiner Mommsen guckt auf meine schmutzstarrenden Gummistie- fel. ?Das geht nicht?, sagt er und erklärt mir, dass Fiete Nissen nur Leute an Bord lässt, die sein Holzdeck nicht dreckig machen. Rei- ner Mommsen rollt ein Stück vom Schlauch ab, der an der Stall- wand hängt, und spritzt den trockenen Modder von meinen Stie- feln. Dann fährt er mich und mein Gepäck mit seinem Trecker zum Anleger. ATMO Trecker ATMO Motorboot ERZÄHLERIN Das Wasser ist schon ganz schön kippelig. Ich sitze auf einer Holzbank mit dem Rücken am Ruderhaus und sehe zu, wie Gröde langsam kleiner wird. An Möwen hatte ich vor meiner Tour gedacht, an Spaziergänge zur Halligkante und im Watt. Begegnet sind mir Schafe, Schafe und Lämmer, ein Hund, der seine Pfoten setzt wie ein Pferd die Hufe in der Wiener Hofreitschule, und Menschen, die es verste- hen, dauerhaft gut zusammen zu leben. Ehepaare, die ganz selbstverständlich davon sprechen, glücklich zu sein. Menschen, die wissen, wie wenig es nützt, das letzte Wort zu haben, aber wie viel es nützt, sich aufeinander einzustellen. Und wenn einer nur saubere Stiefel auf seinem Deck duldet, dann werden die eben gründlich gereinigt. Das kleine Postschiff schaukelt mächtig und kommt gegen die Wellen nur langsam voran. In Bredstedt werde ich frühstücken. MUSIK Rammstein ?Seemann?, Nina Hagen und Ensemble Apocalyp- tica ATMO Möwen ERZÄHLERIN Im Hafen von Schlüttsiel höre ich tatsächlich laute Möwenschreie. Ich denke an Jesper und Erik, die 13- und 14-jährigen Jungen, die so begeistert mit ihren Vätern Gatter bauen und die Schafe ver- sorgen. Um die wird man sich vermutlich nie Sorgen machen müs- sen. Und wer weiß, vielleicht wird Erik ein toller Musiker. MUSIK Rammstein ?Seemann?, Nina Hagen und Ensemble Apocalyp- tica 1