Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 06. Januar 2014, 19.30 Uhr Strukturinfarkt. Von Schlaglöchern, Spurrillen und anderen Schikanen Von Wolf-Sören Treusch O-Ton: Bodewig Mein Ausgleichshobby ist Radfahren, wenn ich etwa in Norddeutschland mit dem Rennrad unterwegs bin, dann, kann ich Ihnen sagen, spüre ich am Rückgrat den Zustand der Straßen. O-Ton: Kooths Menschen stehen im Stau, es stehen aber auch Güter im Stau, das kostet uns als Volkswirtschaft Wohlstand, ... O-Ton: Ederer ... also das waren ja schon Dritte-Welt-Verhältnisse, das heißt: so geht es nicht weiter. O-Ton: Ferlemann Es geht darum, dass wir diesem Land eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stellen. SPRECHER v. Dienst Strukturinfarkt. Von Schlaglöchern, Spurrillen und anderen Schikanen. Eine Sendung von Wolf-Sören Treusch. ATMO O-Ton: Tür fällt ins Schloss, Motor anlassen kurz frei, dann weg ATMO O-Ton: Auto innen: es rumpelt nur drunter AUTOR Ich mache mich auf den Weg. "Deutschland geht kaputt". Oder: "Wie marode ist Deutschland" - in den Medien ist der Zustand unserer Verkehrsinfrastruktur Dauerthema. Auch im vergangenen Bundestagswahlkampf stritten sich die Parteien darüber. Ich will mir selbst ein Bild machen, wie es um die bundesdeutschen Verkehrswege bestellt ist. Schon nach wenigen Metern spüre ich: nicht gut. Es rumpelt, es knirscht, es kracht. Ich bin auf einer der viel befahrenen Berliner Hauptstraßen unterwegs. Und froh, dass der Wagen gute Stoßdämpfer hat. Auch in diesem Jahr hat das Geld für eine umfassende Sanierung der Straßen in der Hauptstadt nicht gereicht. Es gab ein Schlaglochbeseitigungsprogramm. 37 Millionen Euro standen dafür zur Verfügung. Viele Straßen müssen jedoch grundsaniert werden. Nach Ansicht des ADAC würde das pro Jahr etwa 100 Millionen Euro kosten - über eine Dauer von fünf Jahren, also 500 Millionen. Schreckensnachrichten dieser Art hört man überall in Deutschland. O-Ton: ATMO Motor abstellen, Handbremse O-Ton: Ederer Weil wir kein Geld haben, flicken wir die Straßen. AUTOR In einem Berliner Hotel treffe ich Günter Ederer. Der 72-jährige Wirtschaftsjournalist arbeitete lange für ARD und ZDF. Mit einem Freund zusammen wird er im Sommer ein Buch veröffentlichen. Arbeitstitel: Wie weiter? Warum in Deutschland alles still steht. O-Ton: Ederer Die Autobahnbaustelle: jede Baustelle, sagt man, kostet im Schnitt pro Benutzer pro Kilometer ungefähr 5 Euro. Und dann wird sie geflickt, und nach drei Jahren ist dann der Asphalt wieder kaputt, dann wird sie wieder geflickt, in der Schweiz weiß man jetzt schon, welcher Straßenabschnitt in 20 Jahren erneuert wird. Die haben ein Autobahnmanagement, wo klar festliegt, wie lange die Straße hält und wie sie dann grunderneuert wird. Eine Baustelle, und dann ist wieder 25 Jahre Ruhe an der Stelle. AUTOR: Aber die Schweiz, fügt er hinzu, so groß wie Baden-Württemberg, stecke auch ein Vielfaches in ihr Autobahnnetz: 1,2 Milliarden Franken pro Jahr. O-Ton: Ederer Und Baden-Württemberg kriegt vom Bund 250 Millionen. Wenn sie Glück haben. Das kann nicht funktionieren. Da muss die Straße anders aussehen. Lied aus Niederzimmern Und noch ein Schlag-, Schlagloch. AUTOR: Not macht erfinderisch: die thüringische Gemeinde Niederzimmern verkaufte ihre Schlaglöcher im Internet. Lied aus Niederzimmern ... Teer muss her. AUTOR Unter dem Motto ,Teer muss her' übernahmen Spender aus aller Welt die Kosten für die Ausbesserungsarbeiten. 50 Euro pro Schlagloch - am Ende war tatsächlich alles geflickt. Enak Ferlemann, CDU, Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, hält Aktionen wie diese für Quatsch. Für ordentliche Verkehrswege zu sorgen, sagt er, sei eine hoheitliche Aufgabe des Staates. O-Ton: Ferlemann Es gibt Infrastrukturen, die sind sehr gut aufgestellt, es gibt welche, da ist ein gewisser Renovierungsbedarf, und es gibt welche, da muss man dringlich ran. Es ist so, dass wir das Problem haben, dass wir stark zunehmende Schwerlastverkehre haben. Und diese Schwerlastverkehre drücken sehr auf die Brücken. Das heißt die Lebensdauer der Brücken wird wesentlich geringer als man das früher mal kalkuliert hat vor 30, 40 Jahren. Und deshalb haben wir einen erheblichen Ersatzneubaubedarf im Bereich der Brücken, das gilt sowohl für die Straße als auch für die Schiene. O-Ton: Bodewig Und das ist eine relativ aktuelle Entwicklung, die sich erst seit einigen Jahren in dieser Deutlichkeit abzeichnet. AUTOR Kurt Bodewig, SPD, von 2000 bis 2002 selbst einmal Bundesverkehrsminister. O-Ton: Bodewig Dass die Spannbetonbrücken, ein Typus aus den 70er Jahren, wo man Stahl einsparen wollte und eben auf die Elastizität des Betons gesetzt hat, nun alle erodieren. Das sind im Moment noch keine gravierenden Prozesse, aber wir haben Einzelfälle, wo der Korrosionsprozess so schnell eingetreten ist, dass eben wichtige Brücken auf wichtigen Achsen mit hoher Verkehrsbelastung dann gesperrt werden mussten. Verkehrsmeldung und Stau A7 Hannover Richtung Flensburg, zwischen Hamburg-Heimfeld und dem Elbtunnel sieben Kilometer stockender Verkehr. AUTOR Ich bin auf dem Weg nach Schleswig-Holstein und fahre über eine dieser erodierenden Brücken. Auf der A7, Höhe Hamburg-Heimfeld. Sie wird gerade saniert. Glücklicherweise kann der Verkehr dreispurig weiterrollen. Wenn er rollt. Eine Röhre des Elbtunnels ist gesperrt, deswegen der Stau. Um 14 Uhr 30. Nebenan auf der Köhlbrandbrücke staut sich der Verkehr ebenfalls. Zusammen mit den riesigen Kränen im Hamburger Hafen bietet die Autokolonne über der Elbe ein imposantes Bild. ATMO / Hof eines Spediteurs AUTOR: Ich erreiche Husum. Hier ist das Speditionsunternehmen Peter Lonsdorfer zu Hause. Ein Gabelstapler zieht einsam seine Runden, ansonsten herrscht Ruhe. Kein Lkw da. Zum Glück, sagt Geschäftsführer Bruno Martinsen. O-Ton: Martinsen Ja, natürlich ist es ein gutes Zeichen. Hardware kostet Geld, und Hardware, die steht, kostet noch mehr Geld. Alles, was sich bewegt, ist gut. AUTOR: Am 26. Juli des vergangenen Jahres war das anders. Da steckte ein Teil seiner Hardware fest. Der Grund: für Lkw ab 7,5 Tonnen wurde die Rader Hochbrücke mit sofortiger Wirkung gesperrt. Das Nadelöhr, das seine Fahrer täglich nutzen, um über den Nord-Ostsee-Kanal zu kommen. Bei einer Routinekontrolle hatte man festgestellt, dass die Pfeiler der 49 Meter hohen Brücke ein "Tragfähigkeitsdefizit" hatten und dringend saniert werden mussten. Eine Sofortmaßnahme mit weit reichenden Folgen für den Spediteur. O-Ton: Martinsen Sie müssen das so sehen: wir sind im Bereich Spezialtransporte unterwegs, das heißt: 50 Prozent der Transporte, die wir durchführen, sind genehmigungspflichtig. Das heißt auch streckengebunden. Das heißt: an einem Freitag um 13 Uhr stand 50 Prozent des Fuhrparks mit sofortiger Wirkung still. Bei uns waren das knapp 40 Fahrzeuge, die zwei Wochen standen. Mal 700 Euro, 750 Euro Kosten am Tag, die dadurch entstanden sind. AUTOR: Von nun an staute sich der Verkehr - teilweise nur einspurig ging es über die Brücke. Die Spediteure durften nicht mehr, aber auch viele Urlauber sind hier normalerweise unterwegs. Ein privater Radiosender aus Schleswig-Holstein machte daraus einen Sommerhit. Lied RSH Über morsche Brücken muss es gehen, übertrieben lange musst du stehen. Die A7 über den Kanal, Rader Hochbrücke: du kannst mich mal. AUTOR: Dreieinhalb Monate dauerte die Reparatur der 28 Pfeiler. Seit dem 8. November ist die Brücke wieder frei befahrbar - auch für Lkw. Allerdings nur für solche bis 40 Tonnen Gesamtgewicht. O-Ton: Martinsen Größer 40 Tonnen müssen wir immer noch Umwege fahren. Diese Umwege werden dann auch noch mal künstlich erschwert, weil dann zum Beispiel die Fahrzeuge begleitet werden müssen in gewissen Abständen. Und das teilweise nur für 20 oder 40 Meter. Lied RSH So ein Mist: jetzt haben wir den Salat. AUTOR Der Bundesverkehrsminister will die Planung und Finanzierung der Verkehrswege Zitat: "durch eine grundlegende Reform auf eine effiziente Grundlage stellen". Zitat Ende. So steht es im Koalitionsvertrag. O-Ton: Ederer So was habe ich schon oft gelesen, wenn Regierungen wieder anfingen. AUTOR: Günter Ederer ist, vorsichtig ausgedrückt, eher skeptisch. Im Koalitionsvertrag steht, Substanzsicherung stünde nun an erster Stelle. Erhalt und Sanierung ginge vor Aus- und Neubau. Er sagt: das klappt nicht. Und vor allem: das ist zu wenig. O-Ton:Ederer Einen Punkt hat man sich jetzt an den maroden Brücken aufgehängt. Nachdem ein paar extrem wichtige Brücken wie die von Mainz nach Wiesbaden, von Leverkusen nach Köln, in der Stadt Ludwigshafen, also das waren ja schon Dritte-Welt- Verhältnisse, dass da jetzt etwas geschieht, um die Straßen nicht sperren zu müssen, verbirgt sich dahinter. Aber: pro Jahr eine Milliarde mehr? Na, das kosten drei Brücken. AUTOR: Deutschland steht vor einem Dilemma. Obwohl der Verkehrsetat wahrlich nicht klein ist, bröckelt die Infrastruktur vor sich hin. Etwa neunzehn Milliarden Euro investiert der Bund pro Jahr in den Bau und die Unterhaltung von Straßen, Schienen und Wasserwegen. Über das Infrastrukturbeschleunigungsprogramm soll in der kommenden Legislaturperiode noch einmal gut eine Milliarde Euro pro Jahr fließen. Doch es reicht nicht. Laut einer Studie der OECD investiert Deutschland in sein Verkehrsnetz pro Jahr und Einwohner am zweitwenigsten in Europa. Nur Großbritannien liegt dahinter. GERÄUSCHAKZENT oder MUSIK vom Anfang Die meisten Tunnel und Kanalschleusen sind älter als 100 Jahre, ebenso fast ein Drittel der 25.000 Eisenbahnbrücken im Land. Bahnchef Rüdiger Grube sagte vor kurzem, bei 1.400 Brücken bestehe dringender Sanierungsbedarf, mit der derzeitigen Finanzausstattung könne er 125 pro Jahr in Ordnung bringen lassen. GERÄUSCHAKZENT oder MUSIK vom Anfang Der ehemalige Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig leitete im vergangenen Jahr eine Kommission mit dem sperrigen Titel: "Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung". Herausgekommen ist ein verkehrspolitisches Zukunftskonzept, das Anfang Oktober, wenige Tage nach der Bundestagswahl, von allen sechzehn Länderverkehrsministern unterzeichnet wurde. O-Ton: Bodewig Was wir brauchen, sind Finanzinstrumente, die nicht von jährlichen Haushalten abhängig sind, sondern wo wir Planbarkeit haben. Für die aktuelle Umsetzung des Erhaltungsaufwands, da schlagen wir Infrastrukturfonds vor. Das ist notwendig, um eben zu sagen: das Geld steht dann zur Verfügung, wenn der Bauabschnitt es benötigt. Und nicht, weil zu viel Geld am Ende des Jahres vorhanden ist, baut man, obwohl es vielleicht in der Priorisierung nicht an der obersten Stelle stehen würde. AUTOR: Alle zwei Jahre soll es deshalb einen Verkehrsinfrastrukturbericht geben. Er soll dokumentieren, wo in Deutschland in den Erhalt der Verkehrswege investiert werden soll. Und zwar unabhängig von Länderinteressen. Man werde die "notwendigen haushaltsrechtlichen Voraussetzungen" dafür schaffen, heißt es dazu im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann. O-Ton: Ferlemann Ich halte schon seit vielen Jahren nichts von einer Länderquote, weil es nicht danach gehen kann, dass man Verkehrsinfrastruktur nach Himmelsrichtungen macht, sondern es muss nach Bedarf gehen. Da, wo der Bedarf am größten ist und wo das Netz den meisten Bedarf hat, da muss investiert werden. Das heißt wo der größte Nutzen fürs Gesamtnetz ist, da muss am ehesten investiert werden. AUTOR: Die Gelder für Neubauprojekte werden allerdings weiterhin nach einem Länderschlüssel vergeben. Leider immer wieder am Bedarf vorbei. Bändchen zerschneiden und Spaten in den Boden stechen. Das sieht gut aus auf Fotos. Auch deshalb ist Neu- und Ausbau von Infrastruktur für Politiker attraktiver als deren Erhalt. GERÄUSCHAKZENT oder MUSIK vom Anfang Es gibt eine Fülle von Investitionsruinen in der Republik. Zum Beispiel den Flughafen in Kassel-Calden, den niemand nutzt, weil 70 Kilometer entfernt in Paderborn schon ein Airport existiert. Oder den Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven, in dem tagelang kein Containerschiff anlegt. Oder die geplante Verlängerung der A14 von Schwerin nach Magdeburg, auf der mutmaßlich nur wenige Autos fahren werden. Der Bundesrechnungshof fand heraus, dass bei 85 Prozent der Verkehrsprojekte die Wirtschaftlichkeit nicht ausreichend geprüft wurde. O-Ton: Ferlemann Das halte ich für ausgeschlossen. Die komplizierten Verfahren, die wir haben zur Ermittlung der Wirtschaftlichkeit, die vielen Kontrollen, die wir haben zur Ermittlung der Wirtschaftlichkeit schließen das völlig aus, dass da irgendwelchen nutzlosen Projekte in die Landschaft gestellt werden, das haben wir in Deutschland nicht, wir sind der Logistikweltmeister, und das wollen wir auch bleiben, und dafür muss die Infrastruktur in Form bleiben. ATMO: Schleuse Scharnebeck AUTOR: Ich fahre weiter in die Nähe von Lüneburg, zum Schiffshebewerk Scharnebeck. Eine gigantische Festung aus Stahl und Beton. Erbaut 1974. Wie in einem Fahrstuhl werden hier die Schiffe 38 Meter hoch- und heruntergehievt. Eine halbe Stunde dauert so ein Schleusenvorgang. ATMO Schleuse Scharnebeck AUTOR: Für die deutschen Binnenschiffer ist der Elbe-Seiten-Kanal, in dem sich die Schleuse befindet, eine sehr wichtige Wasserstraße. Sie verbindet Hamburg mit den Wirtschaftsstandorten entlang des Mittellandkanals. Entsprechend gut sind die Nutzerzahlen. Kai Römer vom zuständigen Wasser- und Schifffahrtsamt Uelzen. O-Ton: Römer Wir werden dieses Jahr wahrscheinlich einen Rekordwert an transportierter Tonnage hier im Schiffshebewerk erreichen, wahrscheinlich erstmals über 9 Millionen Tonnen im Jahr. ATMO Schleuse Scharnebeck AUTOR: Und das, obwohl das Schiffshebewerk zuletzt immer häufiger defekt war. Vor kurzem war der Osttrog für zwei Jahre gesperrt, weil er generalüberholt werden musste. Kai Römer zeigt mir das gigantische Hebewerk von unten. O-Ton: Römer Jetzt sieht man hier den ganzen Seiltrieb, also die Stahlseile, an denen der Trog hängt, 240 Seile pro Trog sind das, die dann über Umlenkrollen oben in den Pylonen zu den Gegengewichten geführt werden. Und diese Seile sind eben alle ausgetauscht worden, in der Grundinstandsetzung, das war eine der Hauptaufgaben, und die Seilscheiben oben in den Türmen sind überarbeitet worden, die Betonflächen sind instand gesetzt worden, und Korrosionsschutz an allen Stahlbauteilen ist überarbeitet worden. ATMO Begrüßung Schleuse Scharnebeck Ahoi? - Moin. Moin. AUTOR: Ich spaziere die Spundwand nördlich des Hebewerks entlang. Zwei Schiffe liegen hier. Rolf Bollhorn trifft letzte Vorbereitungen zur Weiterfahrt. Er ist seit 40 Jahren Binnenschiffer. Morgen wird er in Hamburg Ladung aufnehmen: Walzdraht, den er anschließend nach Almelo in den Niederlanden bringt. Er kennt sich aus, deswegen hat er sich auch rechtzeitig auf den Weg gemacht. O-Ton: Bollhorn wie Sie sehen, ist der linke Trog zurzeit wieder gesperrt, wegen irgendwelchen Reparaturarbeiten, das muss nun mal sein, aber wenn gerade mal viel Schiffsaufkommen ist, dann liegen hier manchmal 20 Schiffe und warten zum Schleusen. Wir haben hier schon manchmal 14, 15 Stunden warten müssen, bis wir überhaupt an der Reihe waren. Das ist ein bisschen geschäftsschädigend. Jeder Tag kostet Geld. ATMO: Hebewerk, Schiff nah nur drunter AUTOR: Das ärgert einen schon, fügt er hinzu, vor allem wenn man weiß, dass der Westtrog in zwei Jahren grundsaniert und dann für längere Zeit wieder nur eine Schleusenkammer zur Verfügung stehen wird. 500 Millionen Euro fehlen jedes Jahr, um die Wasserstraßen in Deutschland zu reparieren. In Scharnebeck kommt hinzu: der Sanierungsbedarf ist nicht das einzige Problem. Die Schleusenkammern sind schlicht zu kurz. O-Ton: Bollhorn Das ist von Anfang an falsch geplant worden, Anfang der 70er Jahre ist dieser Kanal ja wohl gebaut worden, und da hätte man eigentlich die Entwicklung so schon absehen können. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, ich habe noch ein bisschen was zu tun. Gehen Sie mal zum nächsten denn. O-Ton: Randy Hier hinten ist ein Riesenfeld und allet, die haben hier schon gebohrt und gemacht, aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass sie hier noch was hinziehen, wa. AUTOR: Auf dem Schiff nebenan begegne ich Randy. Ein junger Kerl, Steuermann. Er ist regelmäßig auf dem Elbe-Seiten-Kanal unterwegs. Mit dem Kopf weist er hinüber auf die andere Uferseite. Dorthin wollen sie die neue Schleuse bauen, aber bestimmt nur, wenn es sich rechne. O-Ton: Randy Denke mal, wird auch viel mit Hamburg zu tun haben. Wie viel Güterverkehr hier durch geht und alles. Es wird wirklich viel zu wenig getan für die Schifffahrt. Ein Zug fällt aus? Ab in die Nachrichten: Zug ist ausgefallen, Gleise gesperrt, ne Schneeflocke ist gefallen, der Zug kann nicht mehr fahren, und Schiff, Hebewerk kaputt? Da hört man gar nichts von. ATMO Hebewerk, Schiff nah ATMO Hebewerk allgemein nur drunter AUTOR: Es gibt tatsächlich Planungen für eine 200 Meter lange neue Schleuse direkt neben dem Schiffshebewerk. 250 Millionen Euro soll sie kosten. Mindestens. Entscheidend ist nun, welche Bedeutung das Projekt im kommenden Bundesverkehrswegeplan bekommt. ,Vordringlicher Bedarf plus'? Dann hätte der Bau eine Chance. O-Ton: Ferlemann Na ja, zu ,vordringlichem Bedarf plus' gehören natürlich Projekte, die von einer so überragenden nationalen Bedeutung sind, das sie unverzichtbar werden. Hier haben wir natürlich ein Bauwerk, derzeit, was den Betrieb abwickeln kann. AUTOR: Staatssekretär Enak Ferlemann aus dem Bundesverkehrsministerium wiegelt ab. Das Hebewerk leiste doch seine Dienste, außerdem müsse man sich um andere Verkehrswege in der Region kümmern. O-Ton: Ferlemann Irgendwo ist das Geld natürlich endlich, man kann nicht alles gleichzeitig machen, und insofern muss man sehen, wie wir das dann in die Jahresscheiben vertakten können und wie halt die wirtschaftliche Entwicklung weitergeht in der Region, vor allem natürlich, was die Binnenschifffahrt angeht. ATMO: Motor aus, Handbremse O-Ton: Kooths Was die Verkehrsinfrastrukturen angeht, da haben wir an nahezu allen Fronten eher eine Mangelverwaltung. AUTOR: Ich bin bei Stefan Kooths angekommen. Er ist Konjunkturexperte am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Er hat errechnet: die staatliche Infrastruktur in Deutschland verliert dramatisch an Wert. Waren es vor zehn Jahren noch 960 Milliarden Euro, gehen die Schätzungen für 2017 nur noch von 925 Milliarden Euro aus. O-Ton: Kooths Seit 2003 geht der öffentliche Kapitalstock in Deutschland physisch zurück, das heißt: der Verschleiß ist größer als das, was repariert wird, und deshalb steht zu befürchten, dass wir ab 2018 dann auf das Niveau abgesunken sind, was wir 1995 schon mal hatten. AUTOR: Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit stünde auf dem Spiel, sagt Stefan Kooths. Das Land lebe von seiner Lage im Herzen Europas. Und davon, dass Waren schnell transportiert werden können. Nun gelte es, ordnungsökonomisch umzusteuern. Der Kieler Wirtschaftsexperte fordert einen Systemwechsel. O-Ton: Kooths Das generelle Finanzierungsprinzip, was wir in Deutschland haben, ist ja eine Steuerfinanzierung, das heißt diejenigen, die die Infrastruktur nutzen wollen, können das nicht, was man sonst in einer Marktwirtschaft kann, nämlich: für ein Mehr an Angebot einen höheren Preis zu bieten oder für eine Qualitätsverbesserung einen höheren Preis zahlen. Sie müssen die Steuern, die ihnen abverlangt werden, zahlen, ob sie wollen oder nicht, und Sie haben keinerlei Gewähr dafür, dass die verkehrsbedingten Steueraufkommen auch tatsächlich in den Aufbau von Verkehrsinfrastrukturen fließen, es geht dann in den allgemeinen Haushalt, dort beginnen dann die allgemeinen Verteilungskämpfe, und es ist nicht zu erkennen, warum das in Zukunft anders sein soll, solange wir bei diesem prinzipiellen Modell ,Steuerfinanzierung' und dann Verhandlungsmasse über den Bundes- und die Länderetats bleiben. O-Ton: Ederer Es muss eben mehr Geld in die Hand genommen werden. Und hier kommen wir jetzt auf die Maut zu sprechen, nicht. AUTOR: In Zeiten knapper Kassen ist das Bedürfnis der Politiker, neue Einnahmequellen zu erschließen, groß. Der ausgeschiedene Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer errechnete: mit einer Pkw-Maut für Ausländer könne man etwa 800 Millionen Euro erwirtschaften. Verkehrsexperten hielten dagegen: nur 7 Prozent der Pkw auf deutschen Straßen würden von Ausländern gefahren. Es müssten aber 25 Prozent sein, um auf Einnahmen in Höhe von 800 Millionen Euro zu kommen. AUTOR: Nun soll es der neue Verkehrsminister Alexander Dobrindt richten. Will er die Bundesmittel für die Verkehrsinfrastruktur tatsächlich "substanziell erhöhen", wie es im Koalitionsvertrag heißt, braucht er neues Geld. Er will die Pkw-Maut in Form einer Vignette für 100 Euro einführen. Es könne aber auch etwas mehr oder etwas weniger sein, sagte er kurz vor Jahresende. Und, Herr Staatssekretär Ferlemann, wie weit sind Sie mit dem Konzept? O-Ton: Ferlemann Ich gehe davon aus, dass wir um die Osterzeit, spätestens um die Sommerzeit schon relativ konkret sagen können, wie es eingeführt werden soll, wie es geht, und dann kommt das Gesetzgebungsverfahren. AUTOR: "Relativ konkret" können Sie also zusichern, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird als heute und dennoch eine bedeutende Summe Geld in die Kassen gespült wird? O-Ton: Ferlemann Derzeit gehen wir mal davon aus, dass wir rund 800 Millionen erzielen können, wir können nach unserer derzeitigen Einschätzung diese Pkw-Vignette zum 01.01.2016 einführen, würde also für zwei Jahre dieser Legislaturperiode noch seinen Nutzen bringen, um Investitionen anzuschieben, und wir gehen davon aus, dass wir es Europakonform hinbekommen, das ist ja die Grundlage dessen überhaupt, um es genehmigungsfähig zu bekommen, da sind Abstimmungsgespräche erforderlich, ich gehe davon aus, dass wir das Ziel erreichen können, was der Koalitionsvertrag vorsieht: dass wir Ende 2014 das Gesetzgebungsverfahren zur Pkw-Maut abschließen werden. AUTOR: Aber: der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung von EU-Ausländern zwinge den deutschen Gesetzgeber dazu, Inländer und Ausländer gleichermaßen zur Kasse zu bitten. Meint der Europarechtler Professor Holger Schwemer. O-Ton: Schwemer Das heißt es wird in diesem Fall ein Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes die Maut für alle eingeführt werden, als Straßenbenutzungsgebühren. Der nächste Schritt wäre dann der, dass der Bund feststellt, wie viel durch die Maut hereinkommt und wie viel Überschüsse er hat, und dann ist es eine politische Zweckmäßigkeitsentscheidung, ob er in einem zweiten Schritt die Kraftfahrzeugssteuer mindert. Wobei wir alle nur hoffen können, dass der zweite Schritt auf den ersten Schritt folgt. AUTOR: Und noch etwas kann passieren. Die EU muss genehmigen, dass der deutsche Gesetzgeber alles richtig gemacht haben wird. Sollte ein EU-Bürger trotzdem vor dem Europäischen Gerichtshof klagen und gewinnen, hätte Deutschland die Maut für alle durch die Hintertür eingeführt. Für juristische Spitzfindigkeiten gibt es also noch ein weites Feld. Die beiden Wirtschaftsexperten Günter Ederer und Stefan Kooths fänden eine Pkw-Maut für alle in Ordnung. O-Ton: Ederer Es ist ja völlig wurscht, ob da 300 Millionen oder 800 Millionen rauskommen, das ist ja wirklich Folklore. Alle anderen großen Flächenländer außer Großbritannien, die ein ähnliches Verkehrschaos haben wie wir, haben eine Straßenbenutzungsgebühr. Also der Verursacher, der Benutzer zahlt. Wenn ein Handwerker heute in einem Ballungsgebiet arbeitet und er hat seinen Montagebus mit fünf, sechs Leuten drin, steht eine Stunde im Stau, dann muss er die bezahlen. Das kostet richtig Geld. Der zahlt gern 5 Euro dafür Straßengebühr, wenn er vorwärts kommt. O-Ton: Kooths Auch wenn sich viele auf die Position zurückziehen, die Straßen seien ja schon alle mal aus Steuergeld bezahlt worden und eine Belastung der deutschen Autofahrer, insbesondere um die geht es ja, würde dann ein doppeltes Abkassieren bedeuten, das kann man so natürlich nicht behaupten, denn die bislang in die Straßeninfrastruktur geflossenen Steuergelder sind jetzt verbraucht, und ein Umschwenken auf eine Nutzerfinanzierung würde die Nutzer auch endlich wieder in die Lage versetzen, dass sie nur für das zahlen, was sie auch tatsächlich nutzen wollen und nicht etwas in den allgemeinen Steuerhaushalt geben, von dem sie dann gar keine Rückflüsse erwarten können. ATMO Lkw startet Motor AUTOR: Die neue Bundesregierung wird jedoch nicht nur eine Pkw-Maut für Ausländer erheben. Sie wird auch die Lkw-Maut erhöhen. Für die kleinen Laster ist eine Vignette geplant, die Halter von Lkw ab 12 Tonnen werden künftig auf allen Bundesstraßen zur Kasse gebeten. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Staatssekretär Ferlemann rudert schon zurück. O-Ton: Ferlemann Wenn wir sämtliche Bundesstraßen voll bemauten würden für die Schwerlaster, dann bräuchten wir ungefähr vier Jahre, um das System einzurichten. AUTOR: Der Grund: das satellitengestützte Erfassungssystem kann 40.000 Kilometer zusätzlich derzeit noch nicht verarbeiten. Wenn es das kann, ist die Legislaturperiode zwar vorbei, aber 2,3 Milliarden Euro könnten dann jährlich zusätzlich in die Kassen fließen. Im vergangenen Jahr spülte die Lkw-Maut netto etwa 3,5 Milliarden Euro in den Verkehrshaushalt. Spediteure wie Bruno Martinsen aus Husum haben mit einer höheren Maut grundsätzlich kein Problem. O-Ton: Martinsen Eine Mauterhöhung ist erstmal nicht schlimm. Wenn es denn tatsächlich zweckgebunden ist. Viele meiner Kollegen sehen es nicht als großes Problem an. Weil die Maut, genau wie eine Mehrwertsteuer, eine staatliche Abgabe ist und damit am leichtesten tatsächlich auf den Kunden umzulegen ist. Das ist erstmal vielleicht okay, wenn die Einnahmen, die daraus resultieren, auch tatsächlich in die Infrastruktur laufen. Dann ist das nachvollziehbar. Was nicht nachvollziehbar ist, dass die Mehreinnahmen automatisch vom Gesamtbudget des Verkehrsministers gekürzt werden. AUTOR: So war es bisher, so soll es aber nicht mehr sein. Oder wie ist der folgende Satz im Koalitionsvertrag zu verstehen? Zitat: "Wir stellen sicher, dass die Netto-Einnahmen aus der Nutzerfinanzierung ohne Abstriche in die Verkehrsinfrastruktur investiert werden". Zitat Ende. ATMO Tür zu, Motor an ATMO: Auto innen: es rumpelt AUTOR: Ich bin wieder zurück in Berlin. Und immer noch froh, dass der Wagen gute Stoßdämpfer hat. Es rumpelt wieder, es knirscht, es kracht. "Deutschland geht kaputt". Oder: "Wie marode ist Deutschland" - ich kann verstehen, dass Journalistenkollegen derart drastische Formulierungen für die Beschreibung unseres Verkehrsnetzes wählen. Und denke über die volkswirtschaftlichen Kosten der vielen Staus nach, in denen wir oft genug stecken, weil wieder irgendeine Straße kaputt, Brücke marode oder Gleisanlage defekt ist. Rein rechnerisch liegt der Wertschöpfungsverlust im Jahr bei 18 Milliarden Euro. Klar ist: Planung und Finanzierung unserer Verkehrswege müssen grundlegend reformiert werden. Klar ist aber auch: das Misstrauen der Menschen ist groß, dass die Politik das auch hinbekommt. Und viele befürchten, dass die Pkw-Maut für Ausländer zur Abzocke für alle wird. O-Ton: Martinsen Ja, aber die Politik hat ja gesagt, gerade der Herr Seehofer: das passiert nicht. Und ein Politiker würde ja nicht lügen. Was haben wir denn alle gelernt? Die Politik ist sehr kreativ, wenn es um die Generation von neuen Einnahmemöglichkeiten geht. Sie werden Wege finden, immer wieder neue Belastungen ins Leben zu rufen. SPRECHER v. Dienst Strukturinfarkt. Von Schlaglöchern, Spurrillen und anderen Schikanen. Eine Sendung von Wolf-Sören Treusch. Es sprach: der Autor Ton: Martin Eichberg Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2014 Nächste Woche hören Sie an dieser Stelle: Wir wollen mehr! Kinderrechte in Deutschland Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.deutschlandradio.de Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio 1