COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur, 15.5.2007, 19.30 Uhr Der verschwiegene Erzähler Jean-Philippe Toussaint Von Marion Kolbach B (482) O-Ton 1: (Toussaint liest auf Deutsch, Länge 0:50) In Berlin, sagte sie, einen Sonnenbrand in Berlin! Und lachte laut auf. Während sie weiterlachte (einen Sonnenbrand in Berlin, wiederholte sie, sie hielt mich für unbezahlbar), begann ich ihr zu erklären, dass ich heute morgen nach draußen gegangen war, Luft schnappen, da ich einfach nicht hatte arbeiten können. Obwohl ich, in dem Moment als ihr Anruf kam, erklärte ich ihr, gerade ? ich überschlug rasch im Geiste ? eine halbe Seite, nun ja, fast eine halbe Seite geschrieben hatte Sprecher 1: Der Roman Fernsehen ist Jean-Philippe Toussaints Hommage an Berlin. Der Erzähler, ein französischer Kunsthistoriker, trägt deutliche Züge des Autors. Während die Familie Ferien am Mittelmeer macht, ist er nach Berlin gekommen, um sich seiner lang aufgeschobenen Tizian- Studie zu widmen. Außerdem hat er sich strikt auferlegt, nicht mehr fernzusehen. Zwei Dinge, die ihm im sommerlichen Berlin wahrhaftig nicht leicht fallen. Die Entbehrungen führen den begeisterten Telesport- Zuschauer bis hin zu diffusen Schmerzen: der ausgeschaltete Bildschirm reflektiert sein eigenes willensschwaches Ich. Er überlässt sich der fremden Stadt à la Toussaint: mit der ihm eigenen Skurrilität und Ironie, einem eigensinnigen Nichtstun. O-Ton 2: (Toussaint liest weiter) L:0:53 Wo hast du denn den Sonnenbrand bekommen, fragte sie. Sie konnte sich vor Lachen nicht mehr einkriegen. Auf dem Kopf? Oben auf der Schulter, sagte ich. Und ohne länger zu warten, fragte ich sie nach Neuigkeiten über die Kinder. Sprecher 1: Immer wieder zieht es Jean-Philippe Toussaint in seine europäische Lieblingsstadt Berlin. Mit einem Ausdruck schelmischer Ruhe, einem zurückhaltenden Lächeln, betritt er das Literaturhaus in der Fasanenstrasse, ?Liberation? unterm Arm. A (23) O-Ton 3: (Länge: 0:04) Ich kann auf französisch antworten?! Ja? Ja, gut. A(114) O-Ton 4: (Länge: 1.26) J´etais plutot du coté ouest... Ich bin eigentlich immer im Westen gewesen, seit meinem Aufenthalt 1993 in Berlin, als ich vom DAAD Berliner Künstlerprogramm eingeladen war. Damals hab ich in Stockwinkel gewohnt, das ist in der Nähe vom Rathenauplatz. Das ist wirklich Westen. Ich kenne hauptsächlich das Berlin vom Savignyplatz, Charlottenburg. Aber dieses Mal bin ich viel mehr im Osten, ich wohne in Mitte, in einer kleinen Wohnung in der Nähe der Oranienburgerstraße usw. Wenn ich heute in Berlin leben sollte, würde ich mir, glaube ich, eher da im Osten eine Wohnung suchen. Mitte ist ein sehr gut erschlossenes Viertel, mit angesagten Cafés, Kunstgalerien und so ? auch ein sehr schnelles Viertel. Ein interessantes Leben mit allen charakteristischen Merkmalen von Berlin. ...une vie interessante ou on trouve tout le characteristique de Berlin, mais un quartier très nouveau pour moi aussi. (146) Sprecher 1: Der 1957 in Brüssel geborene Toussaint zog mit dreizehn Jahren nach Paris. Seitdem ist er in einer gewissen Verlorenheit zu Hause. A (149) O-Ton 5: (Länge: 0:48) ... en faite je n´aime pas beaucoup Paris, c´est le radio allemagne... Im Grunde mag ich Paris nicht so. Vielleicht sollte ich das hier nicht so sagen, im deutschen Radio. Ich habe immer Probleme mit Paris, zugleich ist es in bestimmter Weise natürlich meine Stadt. Ich bin Belgier und ich bin auch Pariser, habe dort die Schule beendet, habe an der Sorbonne studiert, ich habe so lange in Brüssel wie in Paris gelebt. Ich bin ein Pariser, aber ich habe eine komplizierte Beziehung zu Paris. Ich bin sicher, wenn ich ein deutscher oder ein italienischer Schriftsteller wäre, würde ich Paris sehr mögen, aber das bin ich nicht, ich spreche französisch und so ist Paris für mich problematischer. Ich wahre lieber eine Distanz, ich fühle mich wohler, wenn ich in Rom oder Berlin bin. Je prefère garder une distance...je me sens beaucoup mieux lorsque je suis a Rome, lorsque je suis a Berlin. (165) Sprecher 1: Eine Sprache, in der er nicht ganz aufgeht, bildet für ihn eine behagliche Barriere. A (187) O-Ton 6: (Länge: 00:23) Je pense que je suis très sensible a la protection, je toujours... Schutz ist, glaube ich, wichtig für mich. Ich brauche immer mehrere Schutzschichten, im Winter zum Beispiel trage ich gerne einen großen Mantel, der mich schützt, so fühle ich mich wohl. Vielleicht beschwichtigt das ein bisschen eine Unruhe. Ich mag dieses Gefühl von Sicherheit. ...j´aime ce sentiment de sécurité. Sprecher 1: Zugleich ist Toussaint ein verschwiegener Mensch, wie auch seine Erzähler ? sie wahren Zurückhaltung, sind vorsichtig: Name, Beruf und Aussehen bleiben meist im Dunkeln. Das bestimmt den Abstand, mit dem er erzählt, verleiht seiner Romanwelt etwas Kühles, Elegantes, Abstraktes, aber dann greift der Spieler in ihm ein und sie wird zugleich absurd, humorvoll, kurios. Mit seinem 120 Seiten umfassenden Erstling ?Das Badezimmer? tauchte der junge Autor aus dem Nichts auf und wurde in Frankreich zum literarischen Geheimtipp. Im algerischen Médea, wohin er als Französischlehrer übersiedelt war, um dem Militärdienst zu entgehen, hat er den Roman geschrieben. Nachdem viele Verlage sein Manuskript abgelehnt hatten, schickte Alain Robbe-Grillet es dem Leiter der Editions de Minuit in Paris, wo die Bücher von Camus, Sartre, Duras und Yourcenar erschienen. Toussaint erinnert sich an das Telefonklingeln in dem korsischen Bergdorf, wo seine Frau Madeleine Santandrea herstammt, im Winter 1984. B 400 O-Ton 8: (Länge:00:50) Le moment le plus beaux... Der schönste Moment war zweifellos der, als Jérôme Lindon, der Verleger der ?Editions Minuit?, mir vorgeschlagen hat, mein erstes Buch ?Salle de Bain? herauszubringen. Ich schrieb damals schon fünf, sechs Jahre, ich schickte meine Manuskripte an Verleger, die sie regelmäßig zurückwiesen. Mir sind in meinem Schriftstellerleben viele schöne Dinge widerfahren, aber der stärkste Moment war der, als ein Verleger ? und es stellte sich dann eben heraus, dass es Jérôme Lindon war, der Verleger des Nouveau Roman, der Verleger von Beckett, sich entschieden hatte, mein Buch zu veröffentlichen. Ich sprach mit ihm am Telefon. Er fragte mich: Haben Sie schon einen Vertrag unterschrieben mit einem Verlag? Ich sagte nein, und er sagte: Ich schicke Ihnen einen Vertrag zu, sofort ? ohne irgendetwas sonst zu besprechen. Das war ein magischer Moment. ... sans discuter de rien, c´est magique. Sprecher 1: Der Roman erregte international Aufsehen, entwickelte sich zum Bestseller und wurde verfilmt. Toussaint wurde als Begründer einer neuen Literaturbewegung gefeiert, die nach dem intellektuellen ?nouveau roman? wieder Kurs nahm auf ein neues Erzählen, er gab seiner Generation, die Kritiker sprachen sogar von der ?Generation Badezimmer?, mit seinem Debüt eine Stimme. In ?Das Badezimmer? beschließt der Erzähler sein Leben in der Badewanne zu verbringen. Richtet sich dort ein, nimmt das Essen entgegen, das seine besorgte Mutter ihm bringt, verhandelt mit zwei Polen, die die Küche streichen und ihn beim Sex mit seiner Freundin Edmondsson stören, die in einer Galerie arbeitet und das Geld verdient, während er sich selbst, die anderen und die Anforderungen des Lebens mit eiskalter Präzision betrachtet. Sprecher 2: 69) Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, ohne auch nur die Augen zu öffnen. Ich hielt sie geschlossen und legte meine Hand auf den Arm Edmondssons. Ich bat sie, mich zu trösten. Mit zärtlicher Stimme fragte sie mich, warum ich getröstet werden wolle. Tröste mich, sagte ich. Aber warum denn, sagte sie. Tröste mich, sagte ich (to console, not to comfort). Sprecher 1: Es folgt ein Zitat auf Englisch aus Pascals ?Pensées?. Kurz darauf spielt der Erzähler mit seinen Wurfpfeilen, einer davon bleibt in der Stirn von Edmondsson stecken. Das Paar befindet sich inzwischen in einem Hotel in Venedig. Eines Tages hatte der Erzähler ohne ersichtlichen Grund seine Badewanne verlassen und war mit dem Zug in die fremde Stadt gereist. Toussaint ist ein hintertriebener Spieler. Er liebt Anspielungen und Verdichtungen, unerwartete Handlungen. Verweise aus der Mathematik, Literatur und Kunst schwingen obskur unter der Oberfläche des Geschehens. Der Autor spielt mit den identifizierbaren Formen, improvisiert genial auf den Sätzen seiner literarischen Wahlverwandten Kafka, Proust und Beckett und den Strichen seiner favorisierten Maler wie Mondrian, Rothko und Pollock, den Denksätzen Pascals und Derridas ? seine Leser schickt er auf ähnlich skurrile Irrläufe wie seine Erzähler. Alles geschieht beiläufig, die minimalistische Handlung wird parenthetisch und in Andeutungen erzählt ? das kennzeichnet die Umrisse seiner Eigenwelt, in der existenzielle und komische Töne aus Samuel Becketts und Jacques Tatis Welt klingen. Toussaint war sehr berührt, denselben Verleger wie der von ihm bewunderte Beckett zu haben. Einmal arrangierte Lindon ein Treffen im Verlag in der Rue Bernard-Palissy. Sprecher 2: In meiner Erinnerung drücken wir uns die Hand, und drei Dinge gleichzeitig frappieren mich: Becketts grauer fein gesprenkelter Wollmantel; seine extrem schwachen und dünnen Beine; und außerdem, was ich am sonderbarsten finde (aber bei genauerer Überlegung ist es eher normal): Samuel Beckett hat einen irischen Akzent. Sprecher 1: Später widmete er Beckett seinen dritten Roman ?Der Photoapparat?. Sprecher 2: Natürlich ist es heikel, ein eigenes Buch Beckett zu widmen, Sie zum Beispiel, könnten Sie sich das vorstellen? Schließlich (und jedenfalls nicht leichthin, ich habe wohl mehr Zeit gebraucht für die Widmung als für das Buch) schreibe ich: Für Samuel Beckett, mit meiner immensen Hochachtung, meiner immensen Wertschätzung und meiner immensen Bewunderung. Sprecher 1: Jerome Lindon ging damals täglich bei Beckett vorbei und las ihm, da er schon sehr schwach war und selbst kaum mehr las eines Tages das Ende des ?Photoapparats? vor: Sprecher 2: Ja, ich dachte, und die Augen geschlossen, den Leib geschützt, gab ich mich der Vorstellung eines anderen Lebens hin, das mit dem richtigen Leben in seinen Formen und seiner Eingebung, seiner Atmung und seinem Rhythmus identisch war, ein in allen Punkten dem Leben vergleichbares Leben, aber ohne denkbare Verletzung, ohne Aggression, ohne jedes Leid, ein abgehobenes Leben, das sich in den entkräfteten Trümmern der äußeren Wirklichkeit entfaltete, wo eine ganz andere Wirklichkeit, eine innerliche und fügsame Wirklichkeit, die Süßes jedes vergehenden Augenblicks zum Maß erhob... Sprecher 1: Toussaints deutscher Verleger Joachim Unseld spürt seine Texte und übersetzt sie inzwischen selbst. Ich würde mich nie an eine so diffizile Übersetzungsarbeit heranwagen, sagt er, wenn ich nicht in der Lage wäre, das zu empfinden, was Toussaint darstellen will: Ich will es so sagen, im vitalen Leben an den Tod denkend ? und weiter. Da sind wir uns ähnlich. Beckett ist einer unserer großen Fixpunkte. Und Beckett hat so etwas wie den göttlichen Restwitz. Seite B (346) O-Ton 9: (Länge: 0:50) C´est vrai que je veux les deux.. Es stimmt, ich möchte beides: Vergnügen und auch eine gewisse Komplexität. Aber die Komplexität darf das Vergnügen nicht verhindern. Und das ist sehr schwierig. Das bedeutet, Dinge zu schreiben, die interessant sind, aber ganz einfach aussehen, die man ohne Schwierigkeiten lesen kann, die Vergnügen bereiten oder komisch sind, in denen es Gefühle gibt ? die aber in erster Linie unmittelbar Vergnügen bereiten. Und danach bedeutet es, so zu schreiben, ? dass die Studenten oder die Leute, die sich mit den Büchern beschäftigen, natürlich auch noch andere Dinge darin finden... Es muss alles vorhanden sein, und das ist schwierig. Deshalb ist es so schwierig, zu schreiben. ...c´est difficile d´ecrire. Sprecher 1: In ?Der Photoapparat? beschließt der Erzähler in einem ?ansonsten ruhigen Leben?, seinen Führerschein zu machen, verliebt sich aber stattdessen Hals über Kopf in eine Angestellte der Fahrschule. Es beginnt eine wilde Toussaint-Liebes-Odysee durch eines jener abscheulichen Pariser Neubauviertel, das Kulisse für die schüchterne Liebe wird. Mailand und London sind die nächsten unerwarteten Stationen. Dösend auf der Hinterbank des Autos, das Pascale und ihr Vater steuern, denkt der junge Mann darüber nach, dass die Wirklichkeit, alles andere als Zeichen der Erschöpfung zeigt. Hätte er im anderen Fall ein robusteres Verhältnis zu ihr? Es ist kein Geheimnis: Anfälle großer Ermattung und Erschöpfung überkommen Toussaints Helden häufig sowie erotische, schläfrige Stimmen und in Tiefschlaf sinkende Geliebte seine Geschichten durchziehen und dann gibt es Augenblicke von phantastischer Klarheit, in denen die Zeit stillzustehen scheint, etwa beim nächtlichen Schwimmen in einem Tokioer Hotel im 26. Stock oder während der rasanten Motorradtour durch Peking zu dritt, die schöne Li Qi zwischen Zhang Xianzhi und dem Erzähler. Sprecher 2: Wir bewegten uns in der Substanz der Nacht selbst, in ihrem Stoff, in ihrer Farbe, ihre Luft peitschte uns gegen die Wangen, schien uns methodisch, heiß und ununterbrochen ins Gesicht zu schlagen. Ich drückte mich gegen die Hüften Li Qis, presste mich an ihren Körper, meine Brust an ihrem Rücken, atmete den Duft ihrer Haut, der sich mit dem der warmen Nacht vermischte und je heftiger ich mich an sie drückte, desto deutlicher spürte ich, wie auch sie sich an unserer stummen, heimlichen, ja kosmischen Umarmung beteiligte, zunächst so, als würde sie, abgelenkt von der Furie des Windes und der Dringlichkeit unserer Flucht, von der offenkundigen Promiskuität unserer Körper auf dem Motorrad nichts mitbekommen. Sprecher 1: Nach Das Badezimmer, Monsieur, Der Photoapparat, Der Köder, Fernsehen, Selbstporträt und Sich Lieben ist jetzt sein neuestes Buch Fliehen auf Deutsch erschienen. O-Ton 7: (Länge: 00:43) La premiere traduction que j´ai vu de ?Fuir? c´est en Chinois..... Die erste Übersetzung von Fliehen, die ich gesehen habe, war auf Chinesisch, das ist sehr berührend für mich, weil Fliehen in Peking und Shanghai spielt. ...?Fuir? ce passe à Peking et Shanghai. Je travaille avec un lecteur chinois... Ich habe einen bemerkenswerten chinesischen Verleger, der sich sehr darum bemüht, meine Bücher in China bekannt zu machen... So ergibt es sich also, dass ich sehr starke Beziehungen zu China habe, aber was ich fühle, ist auch eine gewisse Annäherung im Universum des Denkens ? die Chinesen und die Japaner erkennen sich in meinen Büchern sehr gut wieder. Sprecher 1: Der Einsamkeit des Schreibens entkommt er, wenn er seine eigenen Bücher verfilmt. Seit zehn Jahren lebt er wieder in Brüssel. Zum Schreiben zieht er sich häufig monatelang auf Korsika zurück. Einen großen Teil des Jahres ist er unterwegs. Er ist ein Reisender im globalen Zeitalter. Inzwischen photografiert er auch, neben dem Schreiben und Filmen. Er hatte Ausstellungen in Osaka, Kioto und Toulouse. Sprecher 2: Meine Armbanduhr zeigte nun etwas wie elf Uhr abends, eine japanische Uhrzeit, die nirgends sonst mehr gültig war, weder in Berlin, wohin ich mich begeben sollte, noch in Hongkong, wo ich mich gerade befand. Denn ich war tatsächlich in Hongkong, ich hätte genauso gut in einem Roman sein können. Sprecher 1: Tokio, Hongkong, Berlin, Prag, Cap Corse, Kioto, Nara, Vietnam, Tunesien heißen die Kapitel in Selbstporträt. Toussaint betont, es sei ein unkonventionelles Reisebuch, das nur im Untertitel In der Fremde heiße. (449) O-Ton 10: (Länge:00:46) Je me sens pas tellement voyageur. C´est un peu paradoxal... Ich sehe mich selbst eigentlich nicht unbedingt als Reisenden. Das ist vielleicht ein bisschen paradox, denn ich reise ja viel in meinem Leben, und die Erzähler in meinen Romanen reisen viel, aber ich habe nicht ? wie soll ich sagen ? diesen Geist des Reisenden, diesen Entdeckergeist, diese Neugierde. Die Erzähler in meinen Büchern, wie in ?Selbstporträt? zum Beispiel, sind von nichts überrascht. Sie finden, dass die Welt ganz normal, alltäglich, gewöhnlich, banal ist, ob man sich nun in China oder in Japan oder in Tunesien oder sonst wo auf der Welt befindet. Es geht im Grunde immer um ihren eigenen Blickpunkt. ...le monde dans son propre point de vue. Sprecher 1: Sich Lieben spielt in Tokio, es erzählt vom Ende einer langen Liebe in einer Winternacht in Tokio, - Toussaint bevorzugt die Nacht wie die belgische Filmemacherin Chantal Akerman - von Höfen im Dunkeln, Lampions, Gerüchen nach Suppe und Tako-yaki, einem zierlichen durchsichtigen Regenschirm, Taxis mit bonbonfarbenen Karosserien, vor allem von Marie, einer extravaganten Modeschöpferin, zart und entschlossen zugleich und von ihrem namenlosen, in seinen Gefühlen zerrissenen Liebhaber, der nicht von ihr loskommt und stets eine kleine Flasche mit Salzsäure bei sich trägt... Sprecher 2: ... mit der Idee, sie eines Tages jemandem mitten in die Visage zu schütten. Sprecher 1: Vor sieben Jahren begegneten sie sich in Paris. Sprecher 2: Wir hatten uns nicht sofort in dieser Nacht geküsst. Nein, nicht sofort. Aber wer möchte ihn nicht hinauszögern, diesen köstlichen Augenblick, der dem ersten Kuss vorausgeht. Sprecher 1: Das Hinauszögern rhythmisiert Toussaints Prosa. Ist es mit Marie zu Ende oder nicht? ? fragt sich der Erzähler in dem Tokioer Luxushotel, während die Lichter der umliegenden Neontürme in das Zimmer fluten und ein Erdbeben es für Sekunden in Finsternis taucht. Toussiant konturiert Marie, wie eine Gestalt auf einem Renaissance - Bild, vergraben in die fließenden Stoffe ihrer exquisiten Kleider der Marke Allons ? y Allons ?o in amarantrot auf dem Hotelbett, die Augen verdeckt von einer lilaseidenen Schlafbrille der Japan Airlines, wie einen elegischen Engel der Verführung. (487) O-Ton 11: (Länge: 01:35) Dans ?Faire L´Amour... ?Faire l?amour? heißt im Deutschen ?Sich lieben?, aber faire L´amour übersetzt ist: Liebe machen. Das ist viel expliziter im Französischen und das ist sehr sexuell. Ich hatte in meinen vorangegangenen Büchern keine solchen sexuellen Szenen behandelt und es hat mich gereizt, das zu tun. Und zwar gerade in dem Moment, in dem sie sich trennen... Gerade dann sind die sexuellen Gefühle besonders heftig, sogar noch außergewöhnlicher ? und ich fand, dass hier ein sehr starker Romanstoff steckte, in den sexuellen Gefühlen. Ich hätte das vielleicht vor fünf Jahren nicht schreiben können, aber jetzt, seitdem ich vierzig bin, fühle ich mich dazu in der Lage und stark genug, um solche Szenen zu schreiben, die eine große Kraft haben und die Emotionen, die es im sexuellen Akt gibt. Und diese Szenen anzugehen zwar mit einer gewissen Scham, aber zugleich auch keine Angst davor zu haben ? sie sind sehr explizit, es sind wirklich sexuelle Empfindungen, und gleichzeitig sind sie schamvoll. Es ist auch nicht etwa Pornographie oder so was. Es gibt immer auch eine Zurückhaltung, die Suche nach einer gewissen Schönheit. Sprecher 2: ...plötzlich hatte ich das Gefühl, dass es eine fremde Frau war, die ich in den Armen hielt, die sich gegen mich presste, feucht von Wollust und Tränen, ihre Hüften rieben sich an meinem Unterkörper mit übler Entschlossenheit auf der Suche nach Lustgewinn, das Gewaltsame ihres Begehrens macht mir Angst, ich spürte, wie sie meinen Mund suchte und dabei gegen mein Ohr keuchte, kurz, stoßweise atmend, stöhnend, als würden wir uns inmitten der Menge, die noch immer auf der Brücke an uns vorüber zog, ekstatisch lieben. Die Erde hatte soeben gebebt, und Marie, der die Passanten egal waren, drückte sich an mich und rieb lasziv ihr Geschlecht an meinem Schenkel, hob fiebrig mein T-Shirt, um meinen Bauch zu massieren, dabei mich an das Geländer drückend, ergriff dann meine Hand und führte sie unter ihr Kleid. Sprecher 1: Die Nacht ist der letzte Schutz, den ihre Liebe noch hat. Mit dem ersten Lichtstrahl über Tokio ist sie beendet. Es ist aus zwischen ihnen, denkt der Leser, wenn er das Buch Sich Lieben zuschlägt. Irrtum. Der neue Roman Fliehen beginnt mit dem Satz: Sprecher 2: Hört das denn nie auf mit Marie? Sprecher 1: So ist es. Der Erzähler erledigt in Shanghai für sie etwas Geschäftliches. Ihr chinesischer Partner drückt ihm am Flughafen ein Handy in die Hand mit den Worten: Don´t forget it - für seine Ohren hört es sich an wie, don´t fuck it. Soll er überwacht werden? Etwas später auf einer Vernissage lernt er Li Qi kennen. Seite B (527) O-Ton 12 (T.liest auf Französisch, Länge 01:20) Summt, voila, ..voila... Des essais de sonorisation avaient lieu dans le hagar... In der Halle veranstaltete man eine Tonprobe, dann erfüllten heftige Wellen chinesischen metal rock die Stille dieses Sommerabends, so dass die Fenster in der lauen Nacht erzitterten und die Heuschrecken aufschreckten. Wir konnten uns auf der Bank kaum noch verständigen, also rückte ich näher an sie heran, aber anstatt lauter zu reden, um die Musik zu übertönen, behielt ich meine leise Stimme bei, berührte dabei ihre Haare sanft mit meinen Lippen, ganz nah an ihrem Ohr, ich spürte den Geruch ihrer Haut, streifte fast ihre Wange, aber sie ließ es geschehen, bewegte sich nicht, hatte nichts unternommen, um sich meiner Gegenwart zu entziehen ? ich sah ihre Augen in der Dunkelheit, sie blickten in die Ferne. Während sie mir zuhörte ? und ich begriff auf einmal, dass etwas Zärtliches im Entstehen war. -et je compris que quelque chose de tendre était en trein de naitre. Sprecher 1: . Er folgt Li Qis Einladung mit nach Peking zu kommen. Als er sich im Nachtzug, nach langen Küssen mit ihr im Gang, auf der Toilette einschließt, klingelt in seinem Rucksack vor der Tür sein Handy. Sprecher 2: Ich hatte immer schon die irgendwie unbewusste Ahnung, dass meine Angst vor dem Telefon mit dem Tod zusammenhing ? vielleicht mit Sex und Tod -, aber niemals vor dieser Nacht sollte ich eine derart unerbittliche Bestätigung dafür bekommen... Sprecher 1: Das Telefon hat eine lange Geschichte in der Literatur, angefangen von Dorothy Parkers Short Story The call aus dem Jahr 1944. Himmelt die Erzählerin bei Parker den großen schwarzen Apparat in ihrer Wohnung noch an wie ein Wunderding, - möge er doch einen köstlichen Ton von sich geben! - ist er in Fliehen zu einem lästigen Ding geworden, das der Erzähler nicht los wird, das jeden Moment in seine Intimität einzubrechen vermag, auf der anderen Seite jedoch die Intimität mit der vom fernen Kontinent anrufenden Freundin herstellen kann. Einfach so überbrückt das Gerät Tausende von Kilometern. Als Marie hört, dass ihr Vater auf Elba umgefallen und tot ist, befindet sie sich im Louvre. Sie wählt, in Trance, die Nummer ihres Freundes. So klingelt das Telefon im Rucksack in dem rasenden Nachtzug. Nun beginnt eine großartige Überblendung des sonnigen Pariser Nachmittags, durch den Marie taumelt und irrt, wie um vor der Nachricht zu fliehen und der nächtlichen chinesischen Winterlandschaft, die der Erzähler durch das Zugfenster vorbeifliegen sieht, noch erregt von Li Qis Küssen. Er kennt die Säle des Louvres in und auswendig... Sprecher 2: ...den Salon Carré, die Salle Duchatel, die Salle Percier und Fontaine... Sprecher 1: ... Hört Maries nervöse Schritte, die französischen Stimmen und die Geräusche des Pariser Nachmittags durch den Hörer, den er sich ans Ohr presst, er begleitet sie im Geist durch die vertrauten Räume, träumt über ihren Schritten. Das alte Europa und das ländliche China, der Sonnenkönig, die Antike, Denkrichtungen, Zeitalter mischen sich grandios. Sprecher 2: Unten angekommen, verzweifelt, ein Fuß war aus der Sandale gerutscht, verirrte sie sich in einem Labyrinth von gewölbten Sälen, fing an, längs der seit Jahrtausenden steif stehenden griechischen Statuen zu rennen, vorbei an ihren glatten und stillen weißen Körpern unvollständig, beschädigt, Marmorfragmente, die die Zeit überlebt hatten... Sprecher 1: Li Qi kommt aus der Toilette heraus und geht auf den Erzähler zu. Sprecher 2: ...ich hörte noch immer die Stimme Maries an meiner Schläfe und hielt den Körper Li Qi´s sanft mit den Armen umschlossen... Sprecher 1: Er vernimmt, Li Qi im Arm, das Rumpeln, Knistern, Gemurmel, den Widerhall von Schritte aus Maries Welt - und halluziniert sie... Sprecher 2: Ich weinte. Ich stand im Zug und weinte, ich weinte in aller Stille und ohne Tränen, meine Stirn war schweißbedeckt, mein Hemd hing aus der Hose. Sprecher 1: Toussaint ist die erste große, globale Liebesgeschichte gelungen, ein unvergleichliches Zusammenrücken von Kontinenten und Kulturen, Geschwindigkeit und Stille, Lachen und Weinen, Tag und Nacht, Sex und Tod, bizarren Haltungen und undurchsichtigen Verhältnissen, träumerischer Melancholie und mörderischen Schnitten ? ein wilder Kosmos, aus dem der Erzähler selbst flieht. Wenn man denkt, dass die französischen Kritiker seine ?trockene, anorektische Stimme? in den frühen Romanen hervorhoben, ist es erstaunlich, dass seine Sätze sich inzwischen über eine Seite hinziehen, schwungvoll sind, der Ton sinnlich, fast barock ist und das Beziehungsgeflecht komplex. Das der Geschichte ergebene, alte, müde Europa, symbolisiert durch den Tod von Maries Vater, ihren Schmerz und auf der anderen Seite China, ganz im Aufbruch, in Gestalt der jungen schönen Li Qi, berühren einander Schwindel erregend. Hier Tod und Erschöpfung und dort Beginn und Begehren. Der Erzähler ist dauernd unterwegs, mit dem Flugzeug, Auto, Schiff, Motorrad, Marie zu Pferd vor dem Leichenwagen ihres Vaters. Er und auch wir wissen nie, wohin es geht, noch, was eigentlich passieren wird. Am Ende, auf Elba angekommen, hört er die Totenglocken für Maries Vater durch den Hörer seines Handys und zugleich direkt von der Kirche, die nur fünfzig Meter entfernt von ihm ist. Wer flieht vor wem? Marie vor sich und er vor Marie? Der verrückte Charme des Romans geht soweit, dass der Erzähler verschwindet. Seite A 324 O-Ton 13: (Länge: 00:15) Oui, il y a puis meme ce passage... Ja, es gibt sogar diese eigentlich ganz überraschende Passage in Fliehen, wo der Erzähler, eben derjenige, der die Geschichte erzählt, verschwunden ist. Das heißt, während einer ziemlich langen Textpassage im dritten Teil sucht Marie den Erzähler, sie weiß nicht mehr, wo er ist. Er erzählt zwar, aber er ist der Gesuchte. Im Grunde habe ich da im dritten Teil eine Art Paradox geschrieben. ...dans la troisieme passage de livre. Sprecher 1: Der Erzähler ist der Begleiter. Marie verdient das Geld. Sie ist eigensinnig, glamourös und unabhängig, jedoch nicht davon geliebt zu werden. A (292) O-Ton 14: (Länge: 01:15) C´est le narrateur qui parle... Es ist immer der Erzähler, der spricht, aber die stärkste Figur des Romans ist nicht der Erzähler, sondern sie. Das bringt die Figuren ins Gleichgewicht. Das Paar ist ganz ausgewogen, insofern als der Erzähler, die Geschichte erzählt, aber die starke Figur ist sie... Deshalb ist Marie für mich als Romanfigur sehr wichtig... Vorher war es immer nur der Erzähler, der Kraft und Persönlichkeit hatte. Aber sie ist eine wirkliche Romanfigur, sie ist nicht ich, ich kann nicht Marie sein ? natürlich in dem Flaubertschen Sinne ?Madame Bovary, c?est moi?, also: Marie, das bin ich. Aber nicht im offensichtlichen Sinn ? und so gibt es dieses Gleichgewicht, das ich zu schaffen versucht habe zwischen dem Mann und der Frau. ..entre l´homme et la femme. Sprecher 1: Das Schreiben ist ein Glück... A 520 O-Ton 15: (Länge: 01:15) C´est lié a la création, la création d´un monde... Das hat mit der Schöpfung zu tun, (... )wenn ich schreibe, erschaffe ich eine Welt, das bin ich, diese Welt ist in meiner Vorstellung, das erlaubt mir, eine ideale Welt zu schaffen: das zu nehmen, was es im Leben gibt, manchmal auch die schmerzlichen Dinge, aber sie nach meiner Art, in meinen Händen zu formen, also zu konstruieren, und so ist es also eine Welt, die schön ist,..., - für mich sind sowohl Sich Lieben als auch Fliehen, selbst wenn die Themen manchmal schmerzlich sind, Bücher, die eine große Lebenskraft haben. In denen es ein Glück gibt, voilà: (...) Es gibt das Glück der Schöpfung auf jeden Fall und ich glaube, das ist zu spüren. Il y a du bonheur de la creation de toute facon, je pense que c´est visible. 1