COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Kulturelle Notversorgung Mit einer Wanderoper unterwegs durch Brandenburg Von Barbara Wiegand Sendung: 26. Januar 2013, 15.05 Uhr Kennmelodie O-Ton 1 Collage Wanderoper, na, da habe ich so die Vorstellung gehabt, dass da so'n großer Karren vor dem Bürgerhaus fährt und dann im Freien spielt, und wurde dann nur misstrauisch, dass es im Dezember ist.... Wir sind ja eigentlich ein fahrendes Volk wir Musiker. Das macht den Beruf auch spannend. Weil man immer wieder mit neuen Menschen zu tun hat... Autorin Eine Wanderoper zieht durch Brandenburg. Sie zieht von Ort zu Ort. Durch die Wälder des Barnim, an den Kanälen der Spree entlang. Sie spielt heute da, wo die Gurken wachsen, morgen in einer alten Fabrik, übermorgen in einer Turnhalle. Will in Zeiten knapper Kassen, in denen Stadttheater dicht gemacht, Ensembles fusioniert wurden, kulturelle Leerstellen besetzen. Kann das gut gehen? Kennmelodie Sprecher vom Dienst Kulturelle Notversorgung. Mit einer Wanderoper unterwegs durch Brandenburg. Eine Deutschlandrundfahrt von Barbara Wiegand. Atmo 2 Aufbau Autorin An einem Freitagmorgen in Eberswalde. An einem frühen Morgen - jedenfalls für einen Opernsänger, der normalerweise erst abends auf der Bühne steht. Es ist 9 Uhr und schon jede Menge los hinter den Kulissen: Atmo 3.. Einsingen Geräusche... Autorin Während sich das Ensemble der Wanderoper in den Garderobengängen einsingt, umzieht und in der Maske schminken lässt, legt die Kostümbildnerin Elke Eckhardt-Schrem letzte Hand an - an die Gewänder für Mozarts Zauberflöte, die heute auf dem Programm steht. Atmo 3 noch mal O-Ton 2 Ich muss was kleben. Da is' was kaputt gegangen. Die Königin soll ja eine Erscheinung sein, und da haben wir ihr diese Kotonen verpasst. Hier löst die sich ein bisschen ab, da muss ich jetzt Kleber reinmachen und dann wird es die Vorstellung wohl überstehen. Und dann muss es zum Schuhmacher geben. Ich glaube, die war auch damals umgestürzt und dadurch, hat sie nicht gesagt, dass doch etwas mehr passiert ist. Autorin Eckhardt-Schrem, die Frau des Wanderopernchefs Arnold Schrem, klebt hier noch rasch das abenteuerlich hohe Schuhwerk der Königin der Nacht. Bügelt dort noch schnell Hemd und Hose für deren männliche Gegenspieler. Und hängt sie dann einsatzbereit hin - für den schnellen Kleiderwechsel. O-Ton 3 ...vier Rollen, fünf, sechs, sieben, acht....mindestens 25, wenn nicht sogar mehr Kostüme, weil die Herren sind ja auch noch. ... Wir haben den Monostatos, den Sarastro, den Papageno, und wir haben den Prinzen Tamino. Und zwei haben auch mehrere Rollen, der den Sarastro macht, der muss auch den Blinden spielen und hinterher auch einen der Geharnischten, das sind schnelle Wechsel. Die muss ich denken, dass das mit einfacher Kostümveränderung realisierbar ist und die trotzdem nicht wieder erkennbar sind. Atmo 4 Probe Autorin Draußen auf der Bühne machen sich einige der Sänger derweil mit dem heutigen Auftrittsort vertraut. Denn das ist es, was die Wanderoper ausmacht. An jedem Ort, durch den sie zieht, sind die Bedingungen anders. Nur das Traversensystem bleibt gleich: Eine wandelbare, gut transportable Konstruktion, um daran etwa den Sternenhimmel über dem Reich der Königin der Nacht zu installieren. Ansonsten spielt man in großen Hallen oder auch schon mal in kleinen Kellerräumen, in Kulturzentren oder in Mehrzweckhallen statt im Theater. In Eberswalde etwa ist eine alte Hufeisenfabrik das Ambiente für Mozarts Zauberoper - gewöhnungsbedürftig, findet auch Arnold Schrem, der Chef der Wanderoper: O-Ton 4 Ich war erst ein bisschen konsterniert und habe dann aber gefunden, dass sich der Raum gut eignet. Es passen viele Kinder rein, er ist akustisch relativ günstig. Wir sind ja dazu angetreten, nicht immer auf die geeignetsten oder schönsten Bedingungen zu treffen, sondern in die Nähe der Schüler zu kommen! Atmo 5...heilge Hallen Autorin Mit seinen offen unter der Decke verstrebten Eisenträgern ist das alte Gebäude zwar sicher imposant, wirkt aber dennoch wenig einladend, groß und kühl, wie es ist. Die heute als Stadthalle genutzte ehemalige Hufeisenfabrik steht neben den historischen Hallen eines Walzwerkes im sogenannten Familiengarten. Hier am Finowkanal, wo einst das "eiserne Herz" Eberswaldes schlug, hat man im Rahmen der Landesgartenschau 2002 einen kleinen Stadtpark angelegt. Einen Freizeitpark, der etwas künstlich wirkt in dieser von der Metallverarbeitenden Industrie geprägten Stadt, mitten in den Wäldern des Barnim gelegen. In der Brandenburgischen Provinz - dem Spielfeld der Wanderoper. O-Ton 5 Wir sind ein geradezu nomadisierendes Ensemble, das im Grunde ein virtuelles Theater ist. Ich habe einen Briefkasten und einen Computerplatz und mehr ist es eigentlich nicht an Hardware. Ein wechselndes Ensemble an wechselnden Orten - das ist die denkbar preiswerteste, mobilste Weise, Theater zu vermitteln. Insofern sind wir zwar eine Notlösung. Aber ich fürchte, wir werden wegweisend sein. Es wird immer mehr Regionen geben, nicht nur in Brandenburg, in denen es ein anderes Verfahren gar nicht mehr geben wird. Also dann muss man es wenigstens so machen, damit kann man Regionen noch versorgen. ...Eine Notversorgung. Autorin Eine Notversorgung in einer Region, in der nach einer umfassenden Reform 2001 die Theater der größeren Städte in einem Verbund zusammengefasst sind und einzelne Ensembles und Orchester aufgelöst wurden. Wobei man sich das teure Musiktheater gern ganz spart. Jenseits der von Berlinern auf Sommerfrische gut besuchten Festivals macht nur noch Cottbus Oper in Brandenburg. Und eben die Wanderoper. Doch auch wenn der Berliner Schrem bei seinen Musikfreunden in der Stadt durchweg auf Begeisterung stößt mit seiner "Mission"- die rund 140 Eberswalder Schüler, die sich an diesem Vormittag in der Hufeisenfabrik versammelt haben, sind nicht so leicht zu überzeugen. Was vielleicht auch an der eher konservativen Inszenierung liegt. Aber sicher auch am Metier Oper überhaupt. O-Ton 6 ...das Gesinge, langweilig Atmo 6 töne Königin+ Atmo Unruhe Autorin Bei den berühmten Arien der Königin der Nacht etwa wird es unruhig. Die Schüler - die meisten um die elf, zwölf Jahre alt sind - merken nämlich sehr schnell, dass dieser hohe Gesang vom Band kommt, weil sich die Wanderoper eine solche Sopranistin einfach nicht leisten kann. Dass die Notlösung "Play Back" bei den Schülern also durchfällt, hat aber durchaus seine guten Seiten, meint Elke Eckhardt-Schrem: O-Ton 7 Eigentlich müsste ihnen das Medium sehr vertraut sein. Aber eigentlich ist es da ja auch wieder toll, das ist ja ganz authentisch, wenn die Sänger live auf der Bühne stehen und sie sind live dabei, wenn das doch mehr fesselt und sie eine Konserve dann irritiert, zeigt es doch, dass das andere dann mehr Kraft hat. Aber wir haben wirklich kein Budget für eine Königin der Nacht. Wer das singen kann, der ist nicht bei uns!! Atmo 7 Gesang....Pamina...Sarastro... Autorin Dafür hat die Wanderoper aber andere, durchaus beeindruckende Stimmen. Etwa Nora Lentner. Die junge Sopranistin hat schon einige Nachwuchspreise bekommen und singt hier die Pamina, hell, mit natürlichem Timbre und hörbar viel Lust an der Oper. Auch an Tagen wie diesen, an denen das Publikum nicht ganz so begeistert ist. O-Ton 8 Das war super schwierig, das sind Kinder in der Pubertät, die können, gerade bei Zauberflöte, mit Liebe und Emotionen, da können die nicht mit umgehen, da entsteht eine unangenehme Stimmung für die. Und deshalb können die damit nicht umgehen und dann wird es laut und unruhig. Autorin So tritt das Ensemble der Wanderoper nach der Aufführung mit gemischten Gefühlen die Heimfahrt an. Gemischt - und etwas gedämpft vielleicht. Denn eigentlich hätte man am Folgeabend noch mal spielen sollen in Eberswalde. Aber es wurden nicht viel mehr als zehn Karten verkauft und die Vorstellung wurde abgesagt. Maik Tödter, der Bass: O-Ton 9 Ja, jetzt weiß man nicht, woran es liegt, an der Werbung, ob das nicht publik gemacht wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Eberswalder Publikum so kulturdesinteressiert ist, ich schieb's mal auf die Werbung. Leute, die es interessiert, die würden auch Samstag 19 Uhr herkommen - wann denn sonst? Wochenende ist Wochenende, da ist Zeit für Kultur! Atmo 8 , 9 Gesang Papageno, Übergang atmo essen.. Autorin Kultur schon, aber vielleicht nicht unbedingt Oper. So trifft sich um 19 Uhr am Samstag Abend die Eberswalder "Kulturküche" in der Zainhammer- Mühle am Stadtrand von Eberswalde. Statt in der Wanderoper zu sitzen, steht man gemeinsam am Herd, brutzelt, mixt, köchelt. O-Ton 10 Die Frage war ja, ist Eberswalde deswegen eine Stadt mit einem kulturlosen Volk. Da würde ich mich echt wehren. Es ist einfach nur eine riesige Bandbreite.... Aber wollen wir uns mal nichts vormachen, scheinbar ist das, was in Berlin passiert, immer noch irgendwo höher angesiedelt, selbst wenn wir hier was Gutes haben. Autorin Der Ausfall der Vorstellung löst heftige Diskussionen aus, über das Kulturverständnis der Eberswalder. Die Oper jedenfalls hat es hier schwer. Früher, zu DDR Zeiten, da setzte man sich schon mal in die bereit gestellten Busse und fuhr nach Berlin, in die Staatsoper, die Komische Oper. Ohne diesen "Service" verlor die Oper nach der Wende für viele jeglichen Reiz. Und ihre Liebhaber wollen keine kleine Wander- sondern "richtige Oper" - mit allem, was da zugehört: ein festliches Haus, ein großes Orchester, große Stimmen. Doch deshalb sei Eberswalde noch lange keine kulturlose Stadt: Da gibt es das 2007 nach ökologischen Kriterien errichtete Paul-Wunderlich-Haus, mit Kunstwerken seines Namengebers und einem überregional beachteten Filmfest. Außerdem finden hier jeden Samstag unter dem Motto "Guten Morgen Eberswalde" Lesungen, Kleinkunst und Musik statt. Alles familiär vernetzt, statt amtlich institutionalisiert. Ein Beispiel dafür ist die Alte Mühle. Atmo 10 Autorin Ein altes Gemäuer, vom Wasser umgeben, zwischen Fichten versteckt. Vor ein paar Jahren hat es der Kunstverein "Die Mühle" gekauft, erzählt die Vereins-Vorsitzende Veronika Brodmann bei einem Rundgang. Ein Mühlenrundgang, der durch versteckte Bodenklappen hinunter in den Keller und bis hinauf zum Dachboden führt. Atmo 11+O-Ton 11 Nachdem die Leute Mitte der 80er Jahre, vom Kulturbund der DDR ausgehend, sich hier niedergelassen haben, das Gebäude von Geröll und so befreit haben und ihre Ateliers hier eingerichtet haben, haben sie 1991 begonnen, in Ausstellungen zu zeigen, was hier geschaffen wurde. Dann gab es Erben, die das wiederhaben wollten. Und 2008 stand die Frage, ob wir es kaufen. 1789 wurde das gebaut, die Wasserkraft wurde erst zur Produktion von Zainen verwendet, zu Nägeln dann war sie mal Knochenmühle auch, das muss bestialisch gestunken haben, für die Chemie Produktion. Dann Mehlmahl Mühle, aber der Müller ist dann 1945 in den Westen gegangen, und dann wurde es als Lager genutzt. Autorin Mit dabei auf dem Rundgang ist auch Steffen, genannt "Schortie", Scheumann. Der Schauspieler, der vor allem auch durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Leander Haußmann bekannt wurde, lebt seit einigen Jahren in Eberswalde - wieder... O-Ton 12 Ich bin geborener Großenhainer, in Dresden aufgewachsen. Im 11. Lebensjahr bin ich in diese Preußische Region quasi verschleppt worden - meine Mutter hat hergeheiratet. Es ist natürlich ein kultureller Schock, wenn man aus Dresden in den Wald kommt, eine große Lebensleistung war, dass ich die Stadt verlassen habe und in die Welt gegangen bin, aber noch `ne größere Leistung ist eben wieder hergekommen zu sein und entdeckt zu haben, wie schön es sich eigentlich hier lebt, im Biosphärenreservat, wenn man die Neurotik der großen Städte verlassen hat und mit seiner Familie eigentlich ein recht glückliches Leben führt. Autorin Gemeinsam mit seiner Frau, der ebenfalls in Eberswalde aufgewachsenen Künstlerin, Ina Abuschenko-Matwejewa und ihrer Tochter bewohnt Scheumann eine gemütliche Altbauwohnung in Eberswalde. Und fährt immer wieder nach Berlin, wo er jahrelang lebte. Zuletzt etwa stand er in der Deutschen Oper in einer stummen Rolle in Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" auf der Bühne. Ansonsten besucht Schortie Scheumann gern Premieren, guckt, was die Kollegen so machen. Denn dran bleiben, drin bleiben, in seinem Beruf, das ist ihm wichtig. Einerseits. Andererseits liebt er die gute Luft, das Grün, das Eberswalde - die "Waldstadt" - ihm bietet. Die Freiräume, auch mal quer zu denken, sich mit Querdenkern zu befassen. Beispiel dafür ist die Sache mit dem Neuen Blumenplatz: Schortie Scheumann hat sich mit dafür eingesetzt, dass der kleine Platz vor dem Humboldt-Gymnasium heute "Neuer Blumenplatz" heißt. Nach der berühmten Ballade des polnischen Dichters Czeslaw Milosz: Campo de' Fiori. Auf diesem Platz in Rom wurde einst Giordano Bruno als Ketzer verbrannt - mitten im Trubel, umringt von Menschen, die sich nicht um das Unrecht scheren, das um sie herum geschieht. An diesen Platz dachte der Literaturnobelpreisträger Milosz, als er 1943 entsetzt die feiernden Menschen auf einem Warschauer Rummelplatz beobachtete, während sich nebenan im Warschauer Ghetto die Juden verzweifelt gegen die Nazis erhoben. O-Ton 13 In Rom auf dem Campo de' Fiori, Oliven, Zitronen in Körben... Hier auf genau diesem Platze wurde Giordano Bruno verbrannt...der Scheiterhaufen vom Henker entzündet war umringt von Schaulustigen... doch kaum war die Flamme erloschen, waren erneut die Tavernen gefüllt, trugen die Händler auf ihren Köpfen Oliven, Zitronen in Körben. Ich sah den Campo de' Fiori vor mir, in Warschau, an einem heiteren Frühlingsabend, beim Klang beschwingter Musik. Die lustige Melodie übertönte die Salven hinter der Ghetto Mauer. Vielleicht wird einer hieraus ersehen, das Menschen in Warschau und in Rom an brennenden Märtyrern vorübergehend sich amüsieren und handeln und lieben. Ein anderer zieht daraus die Lehre das menschliches vergänglich ist und Vergessen größer wird, bevor noch die Flamme erloschen ist. Ich jedoch dachte damals schon an das allein sein der Sterbenden. Dass es in dem Moment als Giordano das Gerüst erklomm kein einziges Wort gab, um der Menschheit Lebwohl zu sagen. Autorin Wie am Ende des Gedichts soll auch in Eberswalde der Neue Blumenplatz ein Symbol der Hoffung sein: darauf, dass die Sprachlosigkeit aufhört. Und ein Ort für kulturelle Experimente. Nicht weit vom Eberswalder "Campo de' Fiori" gelangt man zu einem anderen symbolträchtigen Ort: dem neuen Bürgerbildungszentrum. Das soll bald Amadeu Antonio Haus heißen - in Gedenken an den 1990 auf offener Straße von Neonazis zu Tode geprügelten Angolaner Amadeu Antonio Kiowa. Außerdem wurde auf den Grundrissen der Synagoge, die in der Pogromnacht 1938 zerstört worden war, im vergangenen Herbst ein Mahnmal eingeweiht - zur Erinnerung an ein noch weiter zurück liegendes dunkles Kapitel Eberswalder Stadtgeschichte. Die Mauern, die die dahinter gepflanzten Bäume solange verbergen, bis sie über sie hinaus ans Licht wachsen, prägen jetzt das neue Gesicht der Stadt. Schroff, widersprüchlich, offen und darin spannend. 01 MUSIK Titel: Twin Peaks: Laura's Theme - Soundtrack Interpret u. Komponist: Angelo Badalamenti Label: Warner Bros. Records, LC-Nr. 00392 Autorin Einer der Musiker liest noch rasch den Spielstand des letzten Basketballmatches ab, bevor er gemeinsam mit seinen Kollegen Notenständer und Stühle zwischen den Linien des Spielfeldes arrangiert, die auf dem Boden vor der Bühne verlaufen. O-Ton 14 Es steht 13: 9 Hier, wo sonst Sportler angefeuert werden, oder auch mal Maxi Arland mit seinem Musikdampfer auftritt, spielt heute die Wanderoper: In einer Mehrzweckhalle, am Rande von Lübben. Südöstlich von Berlin, mitten im Spreewald gelegen, berühmt für seine Kanäle und Gewürzgurken. Eigentlich ein reizvoller Ort, um Hänsel und Gretel zu spielen - die Oper von Engelbert Humperdinck, die heute auf dem Programm steht. Aber: Statt romantischem Kahnhafen erwartet die Musiker eben das "Blaue Wunder". Ein blau getünchter Kasten, der zwischen Plattenbauten herausragt. Mit Deckenluken statt Fenstern, die zu hoch sind, um sie abzuhängen, so dass Tageslicht auf die Bühne fällt. Erschwerte Bedingungen also, für die Wanderoper-Mitglieder? O-Ton 15 Bedingt. Also man kann das alles Make Up mäßig anpassen, wir haben ja auch schon draußen gespielt. Das war abenteuerlich vom Licht her, weil man da die Beleuchtung gar nicht wahrgenommen hat... Autorin Sagt Carolin Spill, die Maskenbildnerin. Ein bisschen mehr Make Up darf's allerdings in der großen Halle schon sein, schmunzelt sie. Für die Hexe mit der knallroten Perücke, die wie eine Explosion auf ihrem Kopf thront. Aber auch für Mutter und Vater, die in etwas gedeckteren Farben daherkommen. Atmo 12 Autorin Die "Eltern" von Hänsel und Gretel singen sich derweil in der Garderobe nebenan für ihren Auftritt ein. Christiane Mikoleit und Ulf Dirk Mädler sind dabei, seit die Wanderoper im Herbst 2011 in Bad Freienwalde mit der Hänsel und Gretel Inszenierung ihre Gründungspremiere feierte. Ein Engagement - mit Abenteuerfaktor. O-Ton 16 In einer Turnhalle zu singen hat man selten das Vergnügen. Mit der Wanderoper kommt man auf Bühnen, die man noch nicht gesehen hat. Es ist einerseits ganz spannend und andererseits für das Publikum, das wir hier ansprechen, wichtig. Es ist Nachwuchsarbeit, wir brauchen das Publikum in zehn, zwanzig Jahren noch und das ist der Grundstein, den man dafür legt. Und dann finde ich es auch wichtig, dass die mal mitbekommen, wie das ist, wenn die Leute singen ohne Verstärkung. Und das ist für die Kinder auch erstmal ganz komisch, warum schreien die Leute da auf der Bühne so. Aber wenn sie das dann kennen, ist das ganz aufregend, weil sie merken, wir sind mit Leib und Seele dabei Autorin Doch bei allem Enthusiasmus fürs künftige Publikum geht es ganz konkret natürlich auch um die eigene Zukunft. Denn Schrems Notprogramm für die Region bedeutet für seine Sänger zunächst mal ein Engagement - das viele gut brauchen können, in einer Zeit, in der die Konkurrenz immer größer wird. Viele gelangen über die Künstlervermittlung des Arbeitsamtes zur Wanderoper, andere über die Opernwerkstatt - von Schrems Verein mit Unterstützung der Agentur für Arbeit gegründet. Für manch ältere Sänger ist es der Weg zurück zur Bühne. Oder eine Möglichkeit, sich breiter aufzustellen - für eine ungewisse Zukunft. Für die Jungen ist Schrems Projekt ein gutes Experimentierfeld. Etwa für Carolin Löffler, die in Lübben ihr Debüt als Hänsel in der Wanderoper-Inszenierung gibt. O-Ton 17 Ja genau, ich bin auch schon etwas aufgeregt. Herr Schrem ist auf mich aufmerksam geworden, ich hab dieses Jahr in der Kammeroper Schloss Rheinsberg gespielt. Und ich hatte da schon von der Wanderoper gehört und war total begeistert, weil die Rolle des Hänsel für einen Mezzosopran ein Sahnestück ist. Und jetzt auch für Schüler zu spielen ist sehr reizvoll, auch insbesondere, weil es eben nicht die großen Häuser sind, wo dann die ganzen Kritiker drin sitzen... Autorin Hier in Lübben sitzen stattdessen 450 Kinder in der Vorstellung, 450 weitere Karten sind für die Vorstellung am kommenden Vormittag angemeldet. Atmo 13 kids, Lehrerin Bus... Autorin Viele der Schüler kommen aus der Grundschule Lübben. Andere aus Nachbardörfern - bis zu 30 Kilometern entfernt. Jetzt sind alle hier versammelt, und im Blauen Wunder geht's bunt durcheinander - Atmo 14, Kids durcheinander Autorin doch wenn das Licht im Saal ausgeht, die Musik beginnt, sitzen alle - zwar nicht ganz still, aber neugierig. Atmo 15 Autorin Bis zum Schluss, wenn die Hexe unter lautem Gejohle der Kinder und dem Gejaule des vom Bühnennebel ausgelösten Feueralarms im Ofen verschwindet. Atmo 16 Applaus O-Ton 18 Mix Kids Das ist voll cool. Vor allem dass man denkt, dass die so eine kräftige Stimme haben. Da knistert wieder da was, wieder da, dass die das trotzdem so laut da... Autorin Die Wanderoper im Blauen Wunder - ein voller Erfolg also. Was vor allem bei Anke Pommerening für Erleichterung sorgt. Schließlich war sie es, die Direktorin der 2. Grundschule in Lübben, die Schrem und sein Ensemble in den Spreewald holte. Und das, obwohl sie noch keinen Ton von der Wanderoper gehört hatte, als sie sie im Januar letzten Jahres engagierte. Und auch sonst keine ausgewiesene Kennerin ist. O-Ton 19 Ich hatte als Kind nie Berührung zu einer Oper. Und ich habe selber auch nie eine Oper besucht, also eine Staatsoper oder Komische Oper. Wer mich kennt weiß, dass es ein Wunsch von mir ist, mal eine Vorstellung der Semperoper zu besuchen. Und den Wunsch werde ich mir wohl auch erfüllen. Autorin Auf Grund der großen Nachfrage neben den zwei ausverkauften Schülervorstellungen noch eine Familienvorstellung anzubieten - auf die Idee ist allerdings in Lübben keiner gekommen. Obwohl man schon positive Erfahrungen mit Schrems musikalischem Tourneetheater gemacht hatte: Im letzten Juni nämlich war die Wanderoper im Ehrenhof des Landratsamtes zu Gast - im Rahmen des Kunstfestivals Aquamediale, mit Kunstinstallationen am und im Wasser. Doch das war eben im Sommer, als wie jedes Jahr Scharen von Touristen in den 14tausend Einwohner Ort Lübben strömten und sich über die Kanäle des Spreewaldes schippern ließen. O-Ton 20 Ich glaube, der Tourismus, das Kahnfahren steht hier an erster Stelle und es findet ja auch die Aquamediale statt, da hat man das Soll erfüllt, Kultur geschieht. Aber eine Stadt lebt ja auch von den Bürgern und nicht von Touristen, die sich bei einer kleinen Kahnfahrt die Aquamediale anschauen, Autorin sagt Marietta Thier. 1999 kam die Berliner Künstlerin und Kunsterzieherin auf der Suche nach einem Atelier, aber auch nach Stille und Abgeschiedenheit jenseits des Berliner Kunstszene-Trubels nach Lübben. Durch Zufall war sie auf die Verkaufsanzeige der alten Druckerei gestoßen, die sie gemeinsam mit ihrem Mann und viel Liebe zum Detail restauriert hat - um darin zu arbeiten und zu wohnen. O-Ton 21 Ich hatte große Visionen, wollte Kurse geben, Malkurse, wollte mich engagieren. Dem war erstmal nicht so. Ich bin auf wenig Echo gestoßen. Das entwickelte sich erst im Laufe der Zeit durch zufällige Begegnungen, dass ich allmählich auch als Künstlerin wahrgenommen wurde. Ich kam doch aus der Fremde und ich muss auch sagen, ich bin nach 13 Jahren auch fremd geblieben. Autorin Nicht nur als Mensch, sondern auch als Künstlerin. In ihrem Atelier lehnen in Öl gemalte Bilder an der Wand - darauf zusammenhanglose Konturen oder fragmentarische Portraits. Eines davon sticht hervor: es ist der Kopf eines blond gelockten Jungen, der einen, so hat man das Gefühl, unverwandt ansieht. Die Geschichte hinter diesem Bild ist beispielhaft für Thiers gespaltenes Verhältnis zu Lübben und den Lübbenern - ihrem Umgang mit der Vergangenheit, mit Kunst und Kultur. O-Ton 22 Das ist eine persönliche Begegnung gewesen mit einer Bekannten, die ihren Bruder nach dem 2. Weltkrieg verloren hat. Und zwar wurden direkt nach dem Zweiten Weltkrieg Jugendliche, unter anderem hier in Lübben eine halbe Schulklasse inhaftiert in Arbeitslagern von den Russen und zwar unter dem Werwolf Verdacht. Das Foto habe ich hängen sehen bei der Freundin, Das Foto von diesem Jungen hat mich sehr berührt und ich wollte etwas über sein Schicksal erfahren. Autorin In langen Gesprächen erzählt Ingrid Juds-Varduhn ihrer Freundin Marietta Thier die beklemmende Familiengeschichte. Wie sie später über das Rote Kreuz in West-Berlin erfuhren, dass der 16jährige Wolfgang im sowjetischen Spezial-Lager Ketschendorf bei Fürstenwalde an der Spree gestorben war. Erfroren, verhungert. Wie sie nur im Stillen trauern durften, nach außen schweigen mussten über sein Schicksal. Ja, wie die Mutter unterschreiben musste, nie einen Sohn gehabt zu haben, sonst drohten Verhaftung und Deportation. Und wie sie doch immer wieder nach Ketschendorf fuhr, später nach Halbe, wohin man die Gebeine aus dem Lager-Massengrab umgebettet hatte - deklariert als Kriegstote, gefallen in der Kesselschlacht bei Halbe... O-Ton 23 Und da sah mein Bruder ein Auto auf der anderen Straßenseite stehen. Und er wollte auf das Haus zu gehen und in dem Moment stürzten zwei oder drei Russen heraus und stürzten sich auf ihn. Und irgendwie hat mein Bruder geschaltet, oh die wollen mich jetzt greifen. Und er lief weg, lief in das Haus in dem wir schliefen und dort haben sie ihn dann rausgeschleift. Ich stand draußen wie versteinert und sie brachten ihn, hatten ihn an den Schultern gegriffen, zogen ihn raus und er war ohnmächtig und dann haben sie ihn das Auto geworfen....ich stand weiter dabei, sprachlos. Und kurz bevor sie dann das Auto in Gang bekommen haben kam er dann wieder zu Bewusstsein und ganz matt guckte er so aus der Scheibe und versuchte so ein bisschen die Hand zu heben, zum winken. Und das war der letzte Blick, dann hat ihn niemand mehr von uns gesehen.... Aus den Gesprächen mit Ingrid Juds-Varduhn entstand eine Kunstinstallation, die Thier vor drei Jahren auch auf dem Dachboden des Paul-Gerhardt-Gymnasiums zeigte, Wolfgang Varduhns einstiger Schule. O-Ton 24 Das Tolle war, dass Lehrer hochgegangen sind auf den Dachboden, und haben den Schülern das gezeigt. Die Schüler konnten auch Texte hinterlassen, was ihnen an Gedanken in den Sinn kam und das wurde festgehalten, auch dokumentiert. Aber nachdem es vorbei war, war auch alles vorbei. Das finde ich schrecklich. Dass es keine Nachhaltigkeit gibt. Die Bilder sind hier eingepackt, in meinem Atelier, und mehr ist nicht geblieben. Also es existiert keine Tafel in der Schule, also hier ist eine halbe Klasse umgekommen - oder wir gedenken Wolfgang Varduhn, nichts Autorin Kultur ist hier in der Spreewaldstadt ein anerkannter Standortfaktor, organisiert nicht vom Kulturamt, sondern einer Tourismus, Kultur- und Stadtmarketing GmbH. Das macht Projekte wie die Aquamediale möglich, einem jährlich von Juni bis September stattfindenden Kunstfestival, bei dem Lübbener und Touristen an zeitgenössischen Kunstobjekten vorbeigeschippert werden, manche davon originell, manche banal. Es gibt Sommerkonzerte im Ehrenhof des Landratsamtes, klassische Winterkonzerte, Kabarett und Kleinkunst im Wappensaal des an Stelle einer Mittelalterlichen Wasserburg entstandenen Schlosses. Privat Initiiertes findet allerdings jenseits der Kultur GmbH Veranstaltungen wenig Raum. Oder sucht ihn auch nicht. Offene Ateliers, Kunstvereine, kleine Konzerte, das gibt es kaum. Die Wanderoper fällt da ein bisschen aus dem Rahmen - war sie doch das Ergebnis eines Engagements einer Grundschuldirektorin, die sich und ihren Schülern den Traum vom Opernbesuch erfüllte, im Blauen Wunder, am Rande der Stadt.... 02 MUSIK Titel: Oliver runs away - Motion Picture Soundtrack "Oliver Twist" Komponist: Rachel Portman Label: Tri Star Sony, LC-Nr. 06868 Atmo 17...s bahn Autorin Zurückbleiben - in Neuenhagen bei Berlin! Die nächste Station auf der Tour der Wanderoper. 25 S-Bahn Minuten nur sind es von hier bis zum Alex in Berlin Mitte. Vor dem Bahnhof stehen zahlreiche Fahrräder als Vehikel einer umweltbewussten Park-and-Ride- Gesellschaft bereit. Neuenhagen ist ein typischer Berliner Vorort. So wie sich diese nach der Wende entwickelt haben. Mit einer gutbürgerlichen Klientel, die Citynähe und Beschaulichkeit schätzt. Ohne Dorfplatz, ohne Dorfkirche. Dafür mit gepflegten Eigenheimen an waldigen Sträßchen - und mit einem Bürgerhaus...Ein von außen modern zweckmäßiger Bau, direkt hinter der S-Bahnschranke gelegen. O-Ton 25 Das Haus wurde ja erst im Juni 2011 eröffnet. Die Möglichkeiten sind sehr gut, eine große Bühne, wir haben Theater, Musical schon gehabt. Kabarett, die Kammerkonzerte sind seit September 2011 hier zu Hause. Wir haben wunderbare Bedingungen, es muss nichts verstärkt werden. Fürs Theater muss die Sprache nicht technisch verstärkt werden... Autorin Sagt Regina Süßmuth. Hier im von ihr geleiteten Bürgerhaus stellt die einstige Orchestermusikerin ein anspruchsvolles Programm zusammen - frisch gekürte Echo- Preisträger wie Amacord treten hier auf oder das Armida Quartett als ARD- Musikwettbewerb-Gewinner. Und wer dachte, dass die Neuenhagener bei Berlin wohnen, aber in Berlin Kultur genießen, der täuscht sich. O-Ton 26 Unsere Abonnenten kommen zum größten Teil aus Neuenhagen. Aber ich habe mal eine Statistik gemacht. Hoppegarten waren viel, aber auch aus Berlin. Aus Mahlsdorf. Hellersdorf. Also das Einzugsgebiet ist sehr groß. Autorin Kein Wunder, dass die erste Vorstellung der Wanderoper gleich ausverkauft war, so dass man noch eine zweite, am selben Tag um 14 Uhr, ansetzen konnte. Ein langer Tag also, für das Ensemble von Arnold Schrem. Aber ein Tag, der eigentlich beste Voraussetzungen bietet: nämlich Oper vor einem offensichtlich interessierten Publikum in einem Haus zu spielen, das von seinen akustischen Bedingungen zumindest nicht allzu weit weg ist vom klassischen Musiktheater. Doch Arnold Schrem ist alles andere als entspannt an diesem Freitagmorgen. Gretel ist krank! Nora Lentner hatte es erwischt mit einer heftigen Erkältung. Und binnen kürzester Zeit musste Ersatz gefunden werden. O-Ton 27 Ich wurde Dienstag angerufen ob ich am Freitag jetzt die Gretel übernehmen konnte. Und meinte: Ja, ich hab die Partie schon oft gesungen. Und es ging dann erst am Mittwoch und dann die DVD mir angesehen und dann fleißig szenisch geübt und die Nachbarn ein wenig genervt. Autorin Die junge Sopranistin Esther Puzak gibt sich professionell. Und ist es später auch auf der Bühne. Ist auch besser so. Denn schon bei der ersten Vorstellung um 10 Uhr sitzen kritische Kenner im Publikum - etwa der 11 jährige Max, der schon drei Opern gesehen hat, darunter die Zauberflöte. O-Ton 28 Ja es ist ganz lustig. Ja, also manchmal ist es recht langweilig, manchmal kann man lachen, also gegen die Zauberflöte ist es nichts. Also ich verstehe überhaupt nichts. Autorin Ein Problem, mit dem der Sechstklässler nicht allein steht. Hilft sich doch auch das Publikum in den großen Häusern mit heute üblichen Übertiteln über Verständnisschwierigkeiten hinweg. Bei der Wanderoper kommt erschwerend hinzu, dass man eben nicht in "richtigen Opernhäusern" spielt. O-Ton 29 Das Problem ist eigentlich das Verhältnis des Orchesters zu den Sängern. Sehen Sie mal, wir sitzen immer vor der Bühne. Normalerweise sitzt ein Orchester im Graben oder irgendwie hinter den Sängern. Wir sitzen davor, das ist der Räumlichkeit geschuldet. Aber das ist schon mal das Manko, das wir haben und irgendwann kann man nicht leiser spielen. Diese Musik hat auch einen gewissen Aplomb, einen gewissen Ausdruck und irgendwann muss forte sein. Und wenn die Sänger dann in der Mittellage sind, dann ist das natürlich ein Problem. Das ist nebenbei gesagt auch auf der großen Bühne ein Problem. Ich hoffe wir bewältigen das einigermaßen, aber na ja, gut damit leben wir... Autorin Sagt Bernd Wefelmeyer. Der langjährige Chefdirigent des Filmorchesters Babelsberg ist seit dem Start der Wanderoper 2011 dabei. Für Hänsel und Gretel hat der Komponist und Arrangeur eine Fassung für ein reduziertes Orchester geschrieben. Schließlich hätte der Klangkörper in Humperdincks üppiger Originalbesetzung das Budget der Wanderoper und auch das Fassungsvermögen ihrer Auftrittsorte gesprengt. Jetzt sitzen fünf Streicher, eine Flöte, ein Horn und ein Keyboard dabei - und bringen die teils wagnerhaften Klänge der spätromantischen Oper erstaunlich gut rüber. Ja, bei der zweiten Vorstellung gelingt es ihnen sogar, ihre Lautstärke noch besser an die Sänger anzupassen. Und auch die kurzfristig eingesprungene Gretel findet sich zurecht. Atmo 18 Autorin Trotzdem ist die Stimmung hinter der Bühne auch jetzt merklich angespannt. Denn im Publikum sitzen nicht nur Familien, sondern auch Kenner. Etwa Konstanze Sander, Generalsekretärin des Landesmusikrates Brandenburg, die zur Pause noch nicht ganz überzeugt ist. O-Ton 30 Es könnte teilweise von der Inszenierung noch spannender laufen. Und sicher, der Gesang der Oper ist natürlich für die Kinder schwierig zu verstehen, aber auch dort muss man drauf achten, dass der Text noch deutlicher gesprochen wird und das kann man, das zeigen ja viele Opern, dass es geht. Aber grundsätzlich ist es eine gute wunderbare Sache, aber man sollte noch ein paar Punkte bedenken Autorin Eberhard Büchner, einst Tenor an der Berliner Staatsoper, ist dagegen hin und weg. O-Ton 31 Das ist ne ganz vergnügliche Sache hier. Und ich staune über die jungen Kollegen, die singen sehr sauber, sehr engagiert. Die spielen auch sehr engagiert. Und was ich besonders angenehm finde, was Bernd Wefelmeyer macht mit seinem Orchester, denn dieses Mordsorchester von Humperdinck, was auch eine Diskrepanz sieht zu dem leichten und lockeren Märchen, das kommt hier ganz wunderbar rüber, das ist alles sehr durchsichtig, also es gefällt mir ausgenommen gut Autorin Seit 1970 lebt Büchner in Neuenhagen - ist früher wie so viele andere von der Gartenstadt jeden Tag nach Berlin zur Arbeit gefahren, zum Singen. Nach der Wende war der Tenor an der Staatsoper immer weniger gefragt. So trat der heute 73jährige als Konzertsänger auf - und holte sich seine eigene "kleine" Oper ins Haus. O-Ton 32 Einer der namhaften Dirigenten, die sich auch aus der Staatsoper heraus entwickelt haben, der sagte: Ach weeßte, du hast doch hier deine eigene kleine Staatsoper.... Autorin Denn vor 17 Jahren baute er sich den Keller seines Einfamilienhauses zum kleinen Konzert- und Veranstaltungssaal aus - zum Fermate-Studio. Hier wurde vorgetragen, gelesen, gesungen. O-Ton 33 +Atmo Man könnte es im weitesten Sinne als Kellerstudio bezeichnen. Das ist der Haupteingang, wir haben auf diesem kleinen Podest da, da haben wir von Kabarettveranstaltungen über Lesungen mit einer guten Verbindung zum Deutschen Theater, wer alles bei uns war. Also ich fange mal an mit Eberhard Esche, Rolf Ludwig und Jutta Wachowiak, sehr gut befreundet sind wir mit Dieter Mann und Otto Mellies. Einiges haben wir auch gemeinsam gemacht. Mit Dieter Mann habe ich ein Goethe Programm gemacht, mit Otto Mellies ein Lessing Programm. Hab dann noch eine Sängerin dazu genommen. Das taten wir dann hier unten - 17 Jahre lang.... Autorin Jetzt soll Schluss sein, das Studio soll vermietet werden. Die Büchners wollen sich zurückziehen aus der Organisation ihres kleinen Konzertstudios, das über die Jahre Besucher und Künstler aus Berlin, aber auch aus Neuenhagen anzog. Denn in der grünen Vorstadt Berlins leben einige Kulturschaffende, erzählt Büchner. Der Hornist der Staatskapelle etwa und Pudhys Sänger und Gitarrist Dieter Birr. So gibt es Klassik und Rock in Neuenhagen bei Berlin. Und - auch Karneval. Ja, die Gartenstadt ist eine richtige Karnevalshochburg - für Brandenburgisch-Preußische Verhältnisse. 1963 nämlich gründete sich hier der NKC, der Neuenhagener Karneval-Club. Und der probt schon fleißig für das große Jubiläum 2013 - mit Funkenmariechen und Gardemusik. Im Bürgerhaus, dort wo gerade noch die Wanderoper zu Gast war. Schlagermusik- und Opernarien - es sind schon Welten, die hier in Neuenhagen aufeinander prallen. 03 MUSIK Titel: Nyack Interpreten: Markus Hauke, Michael Kiedaisch Komponisten: David Friedman, David Samuels Label: audite, LC-Nr. 04480 Atmo 19 O-Ton 34 atmo 20 leise Vogel..natur..Winter Hier hat man einen Blick über das Urstromtal...alles gerafft. Da ist der Dom, vor uns diese flache Ebene Urstromtal, Pintsch Gewerbegebiet, Chemie-Tank-Anlagen-Bau, heute Industrie Gebiet, vielfältiges, und am Ende vom Tal ist dann Rauen, die Findlinge, die Rauener Steine sind auch mit die größten Findlinge in Deutschland, und was jetzt ganz neu ist: der Aussichtsturm auf den Rauener Bergen, der ist dort zu sehen. Und bei gutem Wetter kann man bis Berlin sehen Autorin Ralf Ullrich ist auf dem von ihm betreuten, sogenannten Eiszeitweg zwischen Trebus und Rauen unterwegs und blickt von einer kleinen, kargen Anhöhe hinunter auf die Stadt Fürstenwalde - die nächste Station der Wanderoper. Eingebettet ins Urstromtal, durch das einst die Schmelzwasser der Eiszeitgletscher ihren Weg von den alten Gebirgen in Nordeuropa in Richtung Süden bahnten liegt die Silhouette der 30tausend Einwohner Stadt vor einem. Mit dem Dom des einstigen Bischofssitzes, Fabrikschloten, Plattenbauriegeln. Atmo 21 Dom Glocken, Straße Autorin Die Stadt, in einer reizvollen Landschaft gelegen, ist sichtlich industriell geprägt. Auch die Spielstätte der Wanderoper in Fürstenwalde, die Kulturfabrik, war, ihrem Namen entsprechend, früher Produktionsstätte. Auf dem Areal der alten Bischofsburg gleich neben dem alten Dom als Brauerei errichtet, war sie später eine Margarinefabrik, dann ein Großhandelslager, das allerdings mehr und mehr verfiel. O-Ton 35 Also das war eine Ruine, wo wir hier sitzen. Ich bin hier noch durchgelaufen mit dem einstigen Gründer und Ideengeber dem Friedrich Stachat. Also, es war eine unglaubliche Ruine. Was daraus entstanden ist, ist für mich ein Symbol für den Aufbruch in Fürstenwalde. Die Kulturfabrik aber ganz viele Dinge haben sich zum Guten verändert. Ich bin gern Fürstenwalder, bin stolz, Fürstenwalder zu sein. Autorin Erinnert sich Peter Apitz. Er organisiert seit 2002 die Fürstenwalder Jazztage. An vier Tagen im Oktober sucht und findet Apitz dabei eine eigene Linie zwischen Old Time Jazz und experimentelleren Formen. Eigene, Fürstenwalder Wege zu gehen, dass ist auch jenseits der Jazztage die Zielrichtung der Kulturfabrik, erklärt ihr Leiter Klaus-Peter Oehler. O-Ton 36 Fürstenwalde ist ja so eine Speckgürtel Stadt. Man ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln in einer halben Stunde oder sogar weniger in Berlin. Viele arbeiten ja in Berlin auch und die befriedigen ja auch ihre Kulturbedürfnisse da. Und es bringt nichts, eine Art Lückenangebot zu machen. Nach dem Motto Oper und die großen Bands haben sie alles in Berlin, und wir machen was für die kleineren Zielgruppen. Sondern wir müssen zeigen, dass Fürstenwalde ne kulturell interessante Stadt ist. Und wer etwa eine Band wie Seilschaft unplugged erleben will, der kann dass so nur in Fürstenwalde...Unser Publikum begreift, dass sie hier auch Dinge sehen können, die sie so nicht in Berlin sehen können. Autorin Doch gilt das auch für die Wanderoper Brandenburg? Funktioniert so etwas hier, klassische Musik, klassischer Gesang, in der Kulturfabrik? Die Räume hier sind zumindest alles andere als "Opernlike". Hänsel und Gretel spielen im Keller, auf einer verflixt kleinen Bühne.... O-Ton 37 ...hier vorne müsst ihr sehen, es ist fast kein Platz....das sind insgesamt Tiefe vier Meter.... Autorin Die Hexe muss höllisch aufpassen, wenn sie ihr Häuschen auf die Bühne schiebt. O-Ton 38 Ich bin da wo das Haus ist und helfe ihnen zu schieben - wichtig ist, dass sie da die Tendenz nach vorne haben, weil wenn sie da reinstürzen, dann haben wir Problem... Autorin Und auch für die Pianistin Hae Song Jang, die hier auf Grund des Platzmangels das Orchester ersetzen muss, heißt es ruhig bleiben..! Atmo 22 Klavier +O-Ton 39 Jetzt muss ich ganze Zeit still sitzen ansonsten würde ich wahrscheinlich runterfallen! O-Ton 40 Atmo 23 leise Einsingen 941 Das kennt man ja, bei Vorsingen, wenn's da mal knapp wird mit den Räumen. Jetzt in der Garderobe ist das doch etwas ungünstig, man will die anderen nicht stören. Wenn da jetzt alle gleichzeitig singen würden, das geht ja eh nicht, also, darauf achtet man dann schon. Aber umziehen, das ist alles kein Thema, egal, wer drin ist!! Autorin Auch sonst herrschen extreme Bedingungen für das Wanderopernensemble: Ein einziger Raum muss Sängern wie Sängerinnen zum Umziehen und Schminken reichen, zwei Toiletten zum Einsingen. Atmo 24 Publikum Autorin Ebenfalls nicht so einfach ist die Sache für das Publikum. Denn nicht von jedem Platz aus hat man eine gute Sicht auf die kleine Bühne. So hocken sich Väter mit ihren Söhnen einfach vor die Bühne auf den Boden. Großmütter nutzen ihren Rollator als etwas erhöhte Sitzmöglichkeit. Atmo 25 Gesang+O-Ton 41 Es sind natürlich auch akustische Grenzen, sie singen, als hätten sie einen großen Opernsaal vor sich, und das ist vielleicht für die Kinder manchmal etwas schwierig. Autorin Was einen Herrn nicht davon abhält, zwei eifrig tuschelnde Mütter um Ruhe zu bitten...Ja, was das Publikum angeht, ist man hier in Fürstenwalde weit entfernt von der klassischen Oper. Manchmal kommt man sich eher vor wie im Kino, es plappert, knistert aller Orten. Und während die Tochter zwischendurch einen Schokoriegel isst, checkt der Papa auf seinem Handy die eingegangenen SMS. Arnold Schrem: O-Ton 42 Ich leide unter solchen Wechselfällen des Publikums sehr. Aber bisher kann ich noch mit all dem leben....ich bin ganz sicher, dass selbst dieses unruhige und selbst die sich zwischendurch mal unterhalten oder aufs Handy gucken, dann doch reicher und interessierter weggehen, als sie kamen. Das ist alles in Ordnung. Brecht wollte, dass gegessen und geraucht wird im Berliner Ensemble, so weit sind wir noch lange nicht!! Kennmelodie Spr. V. D.: Kulturelle Notversorgung Mit einer Wanderoper unterwegs durch Brandenburg Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Barbara Wiegand Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2013. Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1