COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 17. Januar 2008 Redaktion: Peter Kirsten Angst vor dem Missbrauch Pilotprojekt an der Charité hilft Pädophilen Von Beate Ziegs MUSIK 1 Gary Puckkett & the Union Gap: "Young Girl" O-TON 1 "JayJay": Ich weiß, welche Kinder für mich gefährlich sind. Das sind Mädchen im Alter von 8 bis 12 Jahren. Sie sollten also noch nicht in der Puber- tät sein. Sie sollten ein möglichst einfaches Erscheinungsbild haben, eher schlank als korpulent. Sie sollten auch sehr einfache Kleidung haben. Das passt dann so zu dem Leben, was ich damals geführt habe. Ich denke, das war so eindrücklich für mich, dass ich das heut- zutage auch in meine sexuelle Phantasie mit übernehme. SPRECHERIN "Eindrücklich" waren für JayJay der Alkoholismus und die Schläge seines Vaters; die Trennung von seiner Mutter als er vier Jahre alt war; die Lieblosigkeit der Großeltern, bei denen er in ärmlichen Ver- hältnissen aufwuchs. Vor allem aber litt JayJay unter der Ächtung, die er in seiner Heimatstadt im Ruhrgebiet zu spüren bekam, weil seine Familie als "asozial" angesehen wurde. O-TON 2 "JayJay": Ich habe damals immer mit einem wesentlich jüngeren Mädchen ge- spielt. Das ging noch nicht zur Schule. Und das ist auch der Grund gewesen, warum es überhaupt mit mir spielen konnte, denn ich war in der Schule ein Außenseiter. Es ging dann sogar soweit, dass mei- nen Schulkollegen der Umgang mit mir verboten worden ist. Von die- ser Situation wusste das Mädchen natürlich noch nichts. Das ist mir unbefangen gegenüber getreten, hat sich gefreut, mit mir zu spielen. Ich denke, wie ich von dem Mädchen aufgenommen worden bin, hat dazu beigetragen, meine sexuelle Entwicklung in diese Richtung zu treiben. Aber ich möchte betonen, ich habe dem Kind nichts angetan, was ich heute vielleicht noch bereuen müsste. SPRECHERIN JayJay ist Mitte 50, ein freundlicher Mann ohne besondere Kenn- zeichen. Sein Name ist allerdings ein von ihm selbst gewähltes Pseudonym, so wie auch seine Stimme auf seinen Wunsch hin tech- nisch verfremdet wurde. Denn JayJay ist pädophil. Obwohl er noch nie ein Kind sexuell belästigt oder gar missbraucht hat, muss er be- fürchten, automatisch als "Kinderschänder" stigmatisiert zu werden, sobald er offen über seine Neigung spricht. Und "Kinderschänder" fi- gurieren als die Übeltäter schlechthin: als "Unholde", über die das moralische Urteil immer schon gefällt ist. O-TON 3 "JayJay": Benennen konnte ich meine Probleme mit dem 14. Lebensjahr. Da- mals ging der Jürgen Bartsch durch die Presse. Er wurde als "pädo- phil" benannt. Gut, ich hatte einen Namen für mein Problem gefun- den. Das war natürlich sehr schwer, weil er war die Bestie, das Mon- ster. Und ich musste feststellen: Ich bin's auch. Das stimmte nicht, er war ganz anders als ich. Aber ich habe extreme Schuldgefühle ent- wickelt. Ich fühlte mich selber als Schwein, als abartig und habe eine wahnsinnige Angst entwickelt, irgendwann einen Übergriff zu bege- hen. SPRECHER Jürgen Bartsch - eigentlich Karl-Heinz Sadrozinski - machte Ende der 60er Jahre als "Bestie von Langenberg" Schlagzeilen, nachdem er vier Jungen vergewaltigt und zu Tode gequält hatte. Der nach au- ßen freundlich wirkende Jürgen Bartsch gehörte zu den sadistisch geprägten Tätern, die auf Kinder fixiert sind. Er litt unter so genann- ten "Paraphilien". Menschen, die von diesen psychischen Störungen betroffen sind, können ausschließlich im Kontext mit bizarren Phan- tasien, spezifischen Gegenständen oder ungewöhnlichen Praktiken sexuelle Erregung erleben - wozu auch der als unwiderstehlich er- lebte Drang gehören kann, Kinder oder andere nicht einverständnis- fähige Personen zu demütigen, ihnen Schmerzen zuzufügen oder sie zu Tode zu foltern. SPRECHERIN Mit Pädophilie hat das jedoch selten etwas zu tun, meint Sigrid Rich- ter-Unger. Sie ist Leiterin von "KiZ - Kind im Zentrum", einer Berliner Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Kinder und ihre Familien. Auch Täter und Täterinnen können im "KiZ" an einer Therapie teil- nehmen. O-TON 4 Sigrid Richter-Unger: "Pädophilie" an sich heißt ja eigentlich nur "Kinderliebe". Und Pädo- phile sind Menschen, die in ihrer Sexualität auf Kinder orientiert sind. Aber die müssen deshalb ja nicht tatsächlich Kinder sexuell miss- brauchen. Wir sprechen in der Regel dann, wenn diese Pädophilen Kinder missbraucht haben oder missbrauchen, von Pädosexuellen. Und da noch mal die nächste Unterscheidung: Die Männer, die Kin- der innerhalb der Familie missbrauchen, sind nicht immer unbedingt Pädosexuelle oder pädophil orientiert, sondern die sind in ihrer Se- xualität oft sehr wohl auch auf Erwachsenenbeziehungen aus - manchmal auf Sexualität mit wem auch immer - und da geht es auch oft um die Abhängigkeit, um Macht, um Unterdrückung. SPRECHER Die Erfahrungen von Sigrid Richter-Unger decken sich mit den Un- tersuchungen und Hochrechnungen von Sexualwissenschaftlern: Weltweit gelten etwa ein Prozent aller Männer zwischen 18 und 70 Jahren als pädophil. In Deutschland trifft das also auf rund 290.000 Männer zu. Aber nur etwa ein Drittel lebt diese Neigung auch aus. In- ternationale Studien kommen überdies zu dem Ergebnis, dass mit 12 bis 20 Prozent nicht einmal ein Viertel der wegen sexuellen Kindes- missbrauchs verurteilten Straftäter als pädophil eingestuft werden können. O-TON 5 Sigrid Richter-Unger: Auch jemand, der ein Kind missbraucht hat, hat ein Recht auf Thera- pie und Behandlung, hat ein Recht darauf, dass wir davon ausgehen, er kann sich auch verändern. Aber wir haben sehr oft damit zu kämp- fen, dass Leute sagen: "Also mit solchen könnte ich ja nicht arbei- ten!" Oder dass wir die Vorwürfe kriegen: "Ja ja, die Täter kriegen immer Therapie, und was ist für die Opfer?" Aber wenn Täter Thera- pie kriegen, werden auch Opfer geschützt und zukünftige Opfer ver- hindert. Und da glaube ich, dass man noch sehr dafür werben muss! SPRECHER Das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité ging diesen Weg und warb 2005 mit einer Aufsehen erregen- den Medienkampagne zur Teilnahme an dem Forschungsprojekt "Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld". Der etwas sperrige Titel spiegelt die erschreckende Erkenntnis wider, dass die jährlich von der Polizei in Deutschland registrierten knapp 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch nur die Spitze eines Eisberges sind. Repräsentativen Erhebungen zufolge werden 8,6 Prozent aller Mädchen und 2,8 Prozent aller Jungen zu Opfern von sexuellem Missbrauch. Die Mehrzahl der tatsächlich verübten sexuellen Über- griffe auf Kinder wird von der Kriminalstatistik also erst gar nicht er- fasst. Im Gegenteil: In keinem anderen Kriminalitätsbereich der Kör- perverletzungen ist die Anzahl von Taten, die nicht angezeigt und demnach im so genannten "Dunkelfeld" verübt werden, so hoch wie bei sexuellen Übergriffen auf Frauen und Kinder. SPRECHERIN "Damit aus Fantasien keine Taten werden!" "Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?" oder "Es gibt Hilfe! Werde kein Täter!": So laute- ten die Werbespots der Charité, auf die sich über 500 Männer aus dem gesamten Bundesgebiet meldeten. 100 wurden in das Pro- gramm aufgenommen, das im wesentlichen aus einer mindestens einjährigen Therapie besteht, bei der die Männer lernen, ihre sexuel- len Impulse zu kontrollieren. Voraussetzung zur Teilnahme ist, dass sie entweder noch nie einen Missbrauch begangen oder eine even- tuelle Strafe bereits abgegolten haben. O-TON 6 David Goecker: Bisher gibt es keinen Hinweis dafür, dass eine Sexualstruktur irgend- wie verändert werden kann. Seine Sexualität sucht man sich nicht aus, die hat man. Und es ist nicht eine Frage von "Jetzt streng dich mal an! Jetzt mach mal was mit erwachsenen Frauen oder Män- nern!" Es ist also keine Frage der Entscheidung, weil die sexuellen Impulse und Phantasien wird derjenige immer behalten. SPRECHERIN David Goecker ist Sexualmediziner und -therapeut sowie wissen- schaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt der Charité. O-TON 7 David Goecker: Es ist nicht heilbar, aber es ist behandelbar. Es ist behandelbar in- sofern, dass die Patienten bei uns lernen, damit umgehen zu kön- nen. Man kann lernen, wie sieht das eigentlich aus, was habe ich da für Phantasien; und man kann lernen, das eben nicht umzusetzen und zu gucken, in welchen anderen Lebensbereichen habe ich Mög- lichkeiten, auch intensive zwischenmenschliche Beziehungen, Kon- takte, Freundschaften zu pflegen, wo ich zwar nicht meine Sexualität auslebe, aber trotzdem etwas für meine Lebensqualität, für meine Lebenszufriedenheit tun kann. Das heißt, die können ihre Sexualität nicht mit einem anderen Menschen ausleben. Das ist ein bitteres Los. Das müssen die auch lernen in der Therapie zu akzeptieren. O-TON 8 "JayJay": Fürchterlich war das. Ich hatte die übelsten Widerstände, auf Deutsch gesagt. Aber es war auch auf der anderen Seite für mich die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas therapeutisch zu tun für mich. Und da habe ich mir halt gesagt: Es ist zwar alles unangenehm, aber Augen zu und durch, da willst du hin, das willst du machen. SPRECHERIN Ein Jahr lang hat sich JayJay Woche für Woche auf den Weg nach Berlin gemacht. In Rollenspielen hat er gelernt, sich aus der Sicht ei- nes möglichen Opfers wahrzunehmen und in gruppentherapeuti- schen Sitzungen einen so genannten persönlichen "Risikoplan" erar- beitet: einen Plan, nach dem er die Gefährlichkeit verschiedener Si- tuationen differenziert einschätzen - und die entsprechenden Konse- quenzen ziehen kann. O-TON 9 "JayJay": Wer bereit ist, Verantwortung Kindern gegenüber zu üben, der wird sicherlich auch vorher schon die Konsequenzen ziehen. Das heißt also im Extremfall umkehren, das Weite suchen, das wird jetzt zu ge- fährlich oder sowas. Das Ziel der Therapie ist ja, die eigene Akzep- tanz mit der Neigung und sich damit zurechtzufinden. Das hat bei mir noch nicht funktioniert, da arbeite ich noch intensiv dran. Aber ich bin riesige Schritte weitergekommen in der Arbeit mit mir selber. Meine Ängste vor einem Übergriff sind weniger geworden. Sie sind noch da; und ich finde das auch gut, die sollen auch bleiben. Man sollte sich da nicht überschätzen. Aber ich begebe mich zur Zeit aus der Isolati- on heraus. Denn ich habe die Straßenseite gewechselt, wenn mir Kinder entgegen kamen. Heute kann ich mich Kindern wieder nä- hern, wenn sie zum Beispiel in Begleitung mit Eltern sind. Und ich kann sogar Gespräche führen - mit den Eltern, mit den Kindern we- niger, da gerate ich doch noch ins Stocken und weiß nicht, was ich sagen soll. Aber das ist deutlich ein Trend nach oben. MUSIK 2 Peter Gabriel: "Darkness" O-TON 10 David Goecker: Man kann nicht verallgemeinern, dass jemand, der eine schwere Kindheit hat, dass der eher pädophil wird. Man kann jedoch sagen, jemand, der eine schwere Kindheit hat, hat sicherlich größere Pro- bleme dann, wenn er realisiert pädophil zu sein, damit umzugehen. Woher tatsächlich die Pädophilie kommt, weiß man bis heute nicht. Das ist weiterhin eine wissenschaftliche Blackbox. Selbst die Vermu- tung, die ja immer wieder kursiert, jemand, der als Kind selbst se- xuelle missbraucht worden ist, dass der dann überzufällig selbst pä- dophil wird, lässt sich so nicht aufrechterhalten, weil es ganz viele Männer gibt, die sind sexuell missbraucht worden, werden aber nicht pädophil. Im übrigen werden weitaus mehr Mädchen im Kindesalter missbraucht als Jungen. Trotzdem gibt es so gut wie keine pädo- philen Frauen. O-TON 11 "JayJay": Ich sage ganz klipp und klar: Für mich ist das eine Krankheit. Nicht die Neigung als solche, aber alles, was ich drumherum erleben musste mit den ganzen Schwierigkeiten, auf die ich gestoßen bin und der daraus entstandene Leidensdruck - ich fühle mich krank. SPRECHERIN Als JayJay 18 Jahre alt ist, wird dieser Leidensdruck so groß, dass er den einzigen Ausweg im Tod sieht. O-TON 12 "JayJay": Für mich war die Situation so beengend geworden, dass ich einfach nicht mehr leben wollte. Ich wollte mit meiner Neigung nichts mehr zu tun haben. SPRECHERIN Er schluckt eine Überdosis Tabletten, wird aber durch Zufall ent- deckt und gerettet. Fast sein ganzes Leben lang ist JayJay auf der Flucht vor sich selbst. Aus Angst vor der Nähe zu Kindern bricht er sein Pädagogikstudium ab und sucht sich stattdessen Arbeitsplätze fern aller Versuchungen. Mal arbeitet er als Kranführer, mal als Bin- nenschiffer, oft als Hilfsarbeiter. Er zwingt sich zur Normalität und geht mit einer Frau eine Beziehung ein, die ihm schon früher gut ge- fiel, als sie noch ein zwölfjähriges Mädchen war. O-TON 13 "JayJay": Der habe ich auch alles gegeben, was man geben muss, inklusive Sex. Aber da habe ich Theater gespielt, das kann man sich sicher- lich denken. Ich spiele Scharade mein ganzes Leben lang, Theater, das, was die Gesellschaft von mir sehen will. Und das hat recht gut geklappt. Also aufgfallen bin ich nicht. Ich habe da doch relativ gro- ße Leistungen vollbracht. Allerdings kann ich das nicht anerkennend für mich persönlich werten. Ich komme mir dabei verlogen vor und schäbig. Ich spiele da etwas vor, was ich nicht bin. Ich lüge also. SPRECHERIN Als JayJay endlich den Mut aufbringt, seiner Lebensgefährtin die Wahrheit zu sagen, bricht sie die Beziehung ab. Erneut versucht er sich das Leben zu nehmen. Polizisten können ihn in letzter Sekunde daran hindern, von einer Brücke in den Tod zu springen. Sein Haus- arzt, dem er sich schließlich anvertraut, verschreibt ihm ein Mittel zur Senkung des Blutdrucks, weil das angeblich den Sexualtrieb dämpft. Und er überweist ihn an einen Psychiater. O-TON 14 "JayJay": Und der hat mir gesagt: "Um Gottes willen, man muss ja auch an die armen Kinder denken!" Und das von einem ausgebildeten Psychia- ter! Dann ist er rausgerannt und hat auch meine Behandlung abge- lehnt und hat das Gespräch aus dem Praxiszimmer hinaus ins Foyer getragen, vor die anderen Patienten. O-TON 15 David Goecker: Wir erleben es, dass tatsächlich Psychiater, Psychotherapeuten sich hier melden, weil sie heillos überfordert sind und Angst haben: "Was mache ich jetzt? Darf ich den überhaupt wieder aus meiner Praxis lassen? Ist der nicht so gefährlich, dass der jetzt sofort einen Über- griff begeht?" Ganz viele Therapieteilnehmer berichten von einer jah- relangen, teilweise jahrzehntelangen erfolglosen Suche nach einem geeigneten Therapeuten. Das Behandlungsangebot ist in dieser Richtung sehr, sehr mau. Es gibt ja mittlerweile Versorgungsstruktu- ren in forensischen psychiatrischen Kliniken, das heißt für verurteilte Sexualstraftäter. Das sind ganz speziell geschulte Therapeuten, die aber auch gerade nur für diese Patientengruppe zuständig sind. Also eigentlich muss erst das Kind in den Brunnen gefallen sein, damit überhaupt sich jemand für die Behandlung zuständig fühlt. SPRECHERIN Nach längerem Tauziehen um Fördergelder kann das Projekt an der Berliner Charité bis 2010 fortgesetzt werden. Das Bundesjustizmini- sterium stellt jährlich 250.000 Euro zur Verfügung. Das sichert 60 Männern einen Therapieplatz. Die Warteliste ist weitaus länger. SPRECHER Außer dem Sexualwissenschaftlichen Institut an der Charité gibt es nur noch an der Universität Hamburg eine ähnliche Abteilung, die ei- genständig arbeitet. In Kiel ist die sexualmedizinische Forschungs- und Beratungsstelle dem Universitätsklinikum angegliedert. Und in Frankfurt am Main wurde im September 2006 das international re- nommierte Institut für Sexualforschung aufgelöst, nachdem sein Gründer, Volkmar Sigusch, in Pension gegangen war. Die sexual- medizinische Ambulanz gehört seitdem zum Zentrum für Psychiatrie. SPRECHERIN Für Folker Fichtel, der seit 2000 als Arzt und Therapeut in der Ambu- lanz tätig ist, bedeutet die Schließung des Instituts das Ende einer sozialkritischen Sexualwissenschaft. Der Trend gehe eindeutig in die Richtung einer Biologisierung und Re-Pathologisierung des Sexuel-. len und seiner Abweichungen - eine Entwicklung, die Folker Fichtel für um so bedenklicher hält, als das Thema "Kindesmissbrauch" im- mer häufiger im Fokus medialer Aufmerksamkeit steht, ohne dass es in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext diskutiert wird O-TON 16 Folker Fichtel: Pädophil veranlagte Männer oder pädosexuelle Männer tauchen in unserer Ambulanz sehr regelmäßig auf, in den letzten Jahren ver- mehrt. Es gab Zeiten, da hatte ich den Eindruck, ich sehe vielleicht 2 bis 3 neue pädophile Patienten im Monat, was für unsere Fallzahl re- lativ viel ist. Ich führe das auf einen Wandel des gesellschaftlichen Umfelds zurück. Ich denke, dass der gesellschaftliche Druck enorm angestiegen ist und man müsste sich fragen, was Kindheit heutzuta- ge überhaupt bedeutet. Kinder sind hierzulande ein doch eher rares Phänomen geworden, das von Seiten der Politik oder auch von Sei- ten der Gesellschaft sehr stark mit Erwartungen befrachtet ist. Aber natürlich auch die Kindheit als medialer Werbeträger: Kinder lassen sich offensichtlich so gut, ich sage mal vorsichtig "libidinös" besetzen, dass mit ihnen ja fast alles zu vermarkten ist, ob das Waschmittel oder neue Autos sind. Und das ist natürlich auch ein bestimmtes Bild, das von Kindern hier konstruiert wird. Das sind ja meistens rei- ne, engelsgleiche Wesen, von denen man nicht erwartet, dass sie so etwas wie eine eigene Sexualität oder auch aggressive oder sadisti- sche Impulse haben könnten. Und der Kinderschänder ist quasi die dunkle Seite oder das Negativ dieser Konstruktion von Kindheit. Er verkörpert die Aspekte, die destruktiv sind. Und es ist natürlich leich- ter, sich mit Sündenböcken und gesellschaftlichen Gegenkonstruktio- nen zu beschäftigen, als zu realisieren, dass laut neuesten Umfragen ein großer Teil der Kinder in diesem Land in Armut aufwächst. SPRECHERIN Auch die Kinder- und Jugendtherapeutin Lucyna Wronska von der Berliner Beratungsstelle "KiZ - Kind im Zentrum" sieht die Gefahr, dass Kindesmissbrauch zu einem Modethema geworden ist, mit dem politisch und sozial brisantere Themen kaschiert werden können. O-TON 17 Lucyna Wronska: Natürlich lässt sich leichter bei den wenigen Familien, wo Missbrauch geschieht, schauen, als bei den vielen Kindern, die unter verheeren- den Lebensbedingungen leben. Das ist eine Ablenkung von vielen anderen Themen, weil ich muss Ihnen sagen, für Kinder, die hier an- kommen, ist manchmal Vernachlässigung, seelische Qualen und Ab- wertung viel schmerzhafter. Die Mutter, die das Kind jeden Tag aufs Neue anschreit und sagt: "Du bist wie dein Vater, und dein Vater ist ein perverses Schwein" verletzt das Kind nicht weniger als der Miss- braucher. Die Kinder, die in der Schule immer wieder versagen, lei- den manchmal härter unter Versagen in der Schule als unter dem Missbrauch zu Hause. Das ist ganz makaber, das muss ich aber so benennen. SPRECHERIN Die Therapeutin weiß, dass sie sich mit dieser Äußerung auf ein ge- fährliches Glatteis begibt. Denn wer dort für ein differenziertes Hin- schauen und Nachdenken plädiert, wo nur Schrecken und Ekel als angebrachte Reaktion gelten, der wird schnell der Verharmlosung bezichtigt. Jedoch ohne die Bereitschaft verstehen zu wollen, was in den Tätern vor sich geht und was Kinder zu Opfer macht, sei keine Prävention und kein Schutz vor Missbrauch denkbar. Therapien, wie sie die Charité anbietet, hält Lucyna Wronska für eine wichtige Chan- ce, doch sei der Patientenkreis auf Pädophile begrenzt - und damit auf eine potentielle Tätergruppe, die in ihrer Praxis eine geringe Rol- le spielt. Lucyna Wronska sieht deshalb eine wirkungsvolle Präven- tion hauptsächlich in der Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes der Kinder und Jugendlichen: "Nein" sagen dürfen, wenn man etwas nicht will. Und vor allem: für sich sein und seine eigene, kindliche Se- xualität leben dürfen. O-TON 18 Lucyna Wronska: Kinder sind sinnliche Wesen. Und sie nehmen über Haut die Welt auf, sie begreifen die Welt durch Greifen. Und ein Kind kann Körper nutzen, um sich zu trösten, um zu entspannen. Kinder haben keine gezielten Orgasmen; sie können das Spiel mit sich selbst genauso unterbrechen wie andere Spiele. Aber das heißt, dass das Kind In- timräume braucht, um mit sich selbst Liebe zu machen. Selbstbefrie- digung bedeutet Unabhängigkeit des Kindes von fremden Zärtlichkei- ten. Das ist eine sehr umwälzende Forderung. Aber ein Mensch, der Intimsphäre sich nicht erschaffen konnte, kann andere Intimsphären nicht respektieren. So einfach ist das. MUSIK 3 Peter Gabriel: "Growing Up" SPRECHER Das, was wir heute Sexualität nennen, wird von Kultur zu Kultur und von Generation zu Generation umkodiert und anders erlebt. Für die so genannte 68er-Generation war die Forderung von Lucyna Wrons- ka nach sexueller Unabhängigkeit des Kindes keineswegs umwäl- zend, sondern Bestandteil dessen, was sie nach Wilhelm Reich "se- xuelle Revolution" nannten. Kinder sollten nicht nur das Recht auf ei- ne eigene Intimsphäre haben, sondern bewusst zu einem lustvollen Umgang mit ihrem Körper erzogen werden. Man ging davon aus, dass die Unterdrückung der Sexualität zu psychischen Störungen und damit zu einer unfreien Gesellschaft führt. SPRECHERIN Bestimmte Tabus wie Onanie sind ohne Zweifel tatsächlich geringer geworden. Jedoch ist der Topos von der sexuellen Befreiung einer beklemmenden Mischung aus Freizügigkeit und Angst gewichen. Folker Fichtel von der Sexualmedizinischen Ambulanz in Frankfurt am Main sieht den Grund dafür nicht nur in der enttäuschten Utopie der sexuellen Liberalisierung und der allgemeinen gesellschaftlichen Enttäuschung gegenüber Utopien an sich, sondern auch in der oft voreiligen Kriminalisierung von Zärtlichkeiten, die Erwachsene mit Kindern austauschen. O-TON 19 Folker Fichtel: Dass Kinder eine Sexualität haben, wissen wir eigentlich seit Freud. Aber trotzdem macht es doch immer mehr Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, offensichtlich Angst, weil sie nicht mehr wissen, wie soll ich denn mit dem Phänomen umgehen, und weil jede Kontakt- aufnahme zu einem sich selber sexualisierenden Kind schon die po- tentielle Gefahr in sich birgt, in eine - von außen betrachtet - miss- bräuchliche Situation zu geraten. Insofern wird es ja richtig gefähr- lich, sich mit Kindern und deren Sexualität zu beschäftigen, weil man sich latent in die Nähe dieses Missbrauchsdiskurses bringt. Und ich sehe nicht, dass sich dieser Trend umkehrt. Der Körper wird mehr und mehr zu einem medialen Versatzstück seiner selbst. Es geht nicht mehr um die Erfahrung seines Körpers, sondern um die Art und Weise wie wir denken, dass unser Körper zu sein hat. Bei Erwachse- nen wie bei Kindern. SPRECHERIN Liften, Absaugen, Straffen - das sind wichtige Gesprächsthemen nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Teenagern. Schät- zungsweise 100.000 Jugendliche unter 20 Jahren unterziehen sich in Deutschland jährlich einer Schönheitsoperation, manche von ihnen mitten in der Pubertät. SPRECHER Zum Schutz der Jugendlichen - auch oder gerade vor sich selbst - lässt die Bundesregierung zur Zeit ein Verbot von Schönheitsopera- tionen für Minderjährige prüfen. Ebenfalls zum besseren Schutz der Jugendlichen hat sie kürzlich den Gesetzesentwurf für eine Ver- schärfung des Sexualstrafrechts vorgelegt. Im wesentlichen sieht der Gesetzesentwurf vor, das Schutzalter von jetzt 16 auf 18 Jahre zu erhöhen, so dass künftig auch der Sex mit 16- und 17jährigen straf- bar wäre, sofern eine Zwangslage ausgenutzt oder Entgelt gezahlt wird. Unter "Entgelt" könnte allerdings bereits die Einladung ins Kino verstanden werden, falls es zu sexuellen Handlungen - und sei es bloßes Petting - kommt. Die Strafbarkeit von Kinderpornografie soll auf Jugendpornografie ausgeweitet werden. Unter das Verbot von pornografischen Darstellungen sollen auch so genannte "Posings" fallen, bei denen Kinder und Jugendliche ihre Genitalien oder ihre Schamgegend zur Schau stellen. SPRECHERIN Macht sich eine 17jährige also demnächst strafbar, wenn sie ihrem gleichaltrigen Freund eine SMS mit nackten Tatsachen ihres Körpers schickt, um ihn vor dem Treffen etwas "anzutörnen"? Kritiker wie die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung befürchten, dass das neue Gesetz bei der Ahndung echter Fälle von sexuellem Miss- brauch wertlos ist und statt dessen einem Rückfall in die Prüderie der 50er Jahre Vorschub leistet. Auch Folker Fichtel meint, das neue Ge- setz diene weniger dem Opferschutz, sondern produziere in erster Linie neue Täter. O-TON 20 Folker Fichtel: Die Zeichen stehen nicht auf eine Verminderung der Repressionen, eher im Gegenteil. Ich erwarte in den nächsten Jahren auf verschie- denen Ebenen eine Verschärfung des Sexualstrafrechts, gerade wenn es um sexuelle Minderheiten geht oder sexuelle Phänomene, die der Allgemeinheit oder der heterosexuellen Norm irgendwie Schwierigkeiten bereiten, so dass ich da eher pessimistisch bin. Ich bin natürlich für einen Schutz der Kinder. Aber mit Verdammung und Repression - das löst keine Probleme. Das fördert weder das Ver- ständnis des Phänomens noch fördert es eine wirkliche Bewegung des Diskurses aus der Polarisierung heraus. SPRECHERIN Aufgrund der heftigen Proteste der gesamten Opposition ist der Ge- setzesentwurf vorläufig vom Tisch. Aber er wird wieder aufgenom- men werden müssen, denn ein Rahmenbeschluss der EU aus dem Jahr 2006 schreibt die Umsetzung der Verschärfung des Sexualstraf- rechts auf nationaler Ebene zwingend vor. SPRECHER An deutschen Ostseeküsten lösen Kurverwaltungen ihre FKK- Strände auf, weil sich Gäste aus bibelfesteren Gegenden wie Bay- ern oder Baden-Württemberg an der Freizügigkeit stören. Es sind Gegenden, in denen sogar die Forderung nach Abschaffung des Se- xualkundeunterrichts laut wird. Dieser Renaissance von Werten, die alles Sexuelle in den Schmutz zu ziehen drohen, steht eine immer aggressivere Vermischung von Sexualität und Gewalt im Unterhal- tungssektor gegenüber - zum Beispiel wenn in nahezu jedem dritten Sonntagabendkrimi Kinderschänder, die dann fälschlicherweise "pä- dophil" genannt werden, ihr Unwesen treiben, oder wenn in dem On- line-Spiel "Second Life" Massenvergewaltigungen durchgespielt wer- den und kindliche Spielfiguren sich ganz offen zum Sex anbieten. SPRECHERIN Für Sexualwissenschaftler und -therapeuten wie Folker Fichtel und David Goecker stehen diese beiden Entwicklungen nur scheinbar im Gegensatz zueinander. Es seien zwei Seiten ein und derselben Me- daille. Ein wirksamer und konstruktiver Umgang mit sexuellen Rand- gruppen, der auch betroffenen Kindern zugute käme, ist jedoch nur möglich, wenn Isolationsbedingungen beseitigt werden - was wiede- rum ein gesellschaftliches Klima voraussetzt, in dem Männer wie JayJay Solidarität anstatt Verachtung erfahren. O-TON 21 "JayJay": Es gibt ganz viele, denke ich, die ganz laut sind und in aller Munde sind, die nicht bereit sind, verantwortlich mit ihrer Neigung umzuge- hen. Und wir sind ein paar wenige - die aber immer mehr werden! - die bereit sind, Verantwortung zu üben. Und diesen Leuten muss die Gesellschaft einfach vertrauen, dass es andere von uns gibt, die tat- sächlich nicht gefährlich sind für Kinder. Das wird sicherlich noch Jahrhunderte dauern oder wer weiß wie lange. Ich werde es auf alle Fälle nicht mehr erleben. Aber wenn wir nicht mal irgendwann anfan- gen, darüber aufzuklären, dann kommen wir auch nie dahin. Das ist klar. 1