COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Das ambivalente Wesen - zum 200. Geburtstag der Ada Lovelace Zeitfragen - Kultur und Geschichte am 9. Dezember 2015 Autorin: Julia Eikmann Redaktion: Jana Wuttke Produktion: 7. Dezember 2015 Atmo 1: Kriegsgerät Autorin 1: Wenn die USA heute ihre Langstreckenraketen abfeuern, dann geschieht das in ihrem Namen. Zitatorin Ada 1: Ada. Atmo 1: Kriegsgerät geht über in Musik Autorin 2: Seit 1980 ist diese Programmiersprache militärischer Standard des US- Verteidigungsministeriums. Benannt nach... Zitatorin Ada 2: Lady Augusta Ada King Byron Countess of Lovelace. O-Ton 1: Krämer: Ada Lovelace ist eine historisch gebrochene, zwiespältige, genialische Figur, auf die wir die Unterscheidung von Hardware und Software, die uns heute völlig vertraut ist, zurückführen können. O-Ton 2: Dotzler: Ada Lovelace steht dafür, die erste Programmiererin der Welt gewesen zu sein, beziehungsweise sogar im Grunde die Idee von Programmierbarkeit in der Mitte oder ersten Hälfte sogar des 19 Jahrhunderts vorweg genommen zu haben. Zitator Babbage 1: "Sie ist eine Zauberin, die die abstrakteste der Wissenschaften mit ihrem magischen Zauber umgibt und sie mit einer Intensität begreift, wie kaum ein männlicher Verstand es hätte erreichen können" (Charles Babbage an Michael Faraday 1843) Zitatorin Ada 3: "Ich bin ein verdammt SELTSAMES Geschöpf." Autorin 3: Manche sagen, Ada wäre die erste Programmiererin der Geschichte gewesen. War sie es? Oder war sie es nicht? Wenn es darauf nur eine Antwort geben darf, richtig oder falsch, 1 oder 0, dann verpasst man die Antwort auf die wirklich interessante Frage: Wer war Ada Lovelace? Denn diese Antwort findet sich irgendwo dazwischen. Musik Ende Zitator Byron 1: "Wahrheit ist immer seltsam, seltsamer als Dichtung." F1: Frau 1 Lord Byron Autorin 4: Diese Geschichte spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist eine Geschichte so voll mit schillernden Figuren und kuriosen Umständen, dass sie einfach wahr sein muss. Eine Geschichte, in der ein Mann knapp daran scheitert, den Computer zu erfinden. Und eine Frau imaginäre Programme für eben diese imaginäre Universalmaschine schreibt. Einhundert Jahre vor ihrer Zeit. London zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Besondere Musik/Atmo, wiederkehrend zu Texten zum zeitgeschichtlichen Kontext Sprecher 1(sachlich, aufzählend): Umbrüche 1 Mit der Schlacht von Waterloo endet der napoleonische Krieg. Der mechanische Webstuhl läutet die Industrialisierung der Produktion ein. Die Maxime der Aufklärung, die Entdeckungen von Galilei, Kopernikus und Newton wirken sich spürbar aus: Die Religion ist auf dem Rückzug, die Welt ihrer Spiritualität beraubt. Die Romantiker sind bemüht, die göttliche Leere mit neuem Geist zu füllen. Atmo 2 Hochzeitsglocken Autorin 5: Am frostig kalten zweiten Januar des Jahres 1815 wird in Seaham im Nordosten Englands im ganz kleinen Rahmen die Hochzeit des Jahres begangen: Sprecher 2: Lady Anne Isabella Milbanke, genannt Annabella, mathematisch gebildet, eine Aristokratin von höchster Disziplin. F2 (Frau1) Und Lord Byron, für seinen ausschweifenden Lebensstil fast ebenso berühmt wie für seine romantische Dichtung. Spielszene 1: Mann: Stellt Euch vor, bei den Gelagen in seinem Castle in Newstead Abbey trinken sie Wein aus menschlichen Schädeln! Frau 1: He is mad, bad and dangerous to know! Frau 2: Aber ich würde ihn trotzdem gerne kennenlernen *kicher* Autorin 6: Die Klatschpresse in London jubiliert - die Vermählung ist ein gefundenes Fressen: Sie bietet genug Stoff für die neuerdings mit Dampfkraft betriebenen Druckerpressen. Spielszene 2: Frau 1: Ach? Die dröge Annabella? Und dabei hörte ich, Lord Byron hätte sich in seine eigene Schwester verliebt? Frau 2: Sie sollen sogar ein gemeinsames Kind haben! Zumindest ist es erstaunlich, wie vernarrt der "Patenonkel" in seine Nichte ist... Frau 1: Sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten! Mann: Hoffentlich zügelt Lady Milbanke diesen Schürzenjäger - das Weibsvolk reagiert ja geradezu hysterisch! Autorin 7: Lady Milbanke will die Herausforderung annehmen: Als Korrektiv auf den exaltierten Lord einwirken, den gefallenen Helden aus dem Sündenpfuhl befreien! - Aber es gelingt ihr nicht. Nach nur einem Ehejahr packt sie eilig ihre Sachen - und die gemeinsame Tochter, erst wenige Wochen alt. Ada sollte Lord Byron, ihren Vater, zeitlebens nicht mehr zu Gesicht bekommen. Musik Zitator Byron 2: "Gleichst du der Mutter, Ada, holdes Kind, Du einz'ge Tochter für mein Herz und Haus? Die blauen Augen lachen sanft und lind, als ich zuletzt sie sah; da zog ich aus voll Hoffnung.-..." O-Ton 3 Krämer Die Mutter hat Zeit ihres Lebens versucht, den Vater in Ada auszutreiben. O-Ton 4 Dotzler Sie hatte mehr Lord Byron in sich als ihrer Mutter lieb war, ja. Musik Ende Autorin 8: Poesie und Geometrie. Phantasie und Intellekt. Ausschweifende Leidenschaft und strenge Selbstdisziplin. O-Ton 5 Krämer: Lord Byron hat seine Frau und Gattin, immer spöttisch Princess of Parallelograms genannt, also, sie war die Königin der Mathematik und hat sich zusammen getan mit dem romantischen Dichter Lord Byron. Autorin 9: Sybille Krämer, Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin, bezeichnet Ada Lovelace als die "Ambivalenz als Existenz". Den Samen der Ambivalenzen, die ihr ganzes Leben prägen sollen, haben Adas Eltern ihr bereits eingepflanzt. Auch wenn ihre Mutter alles versucht, den einen Spross, den phantastischen, erst gar nicht keimen zu lassen. Zitator Byron 3: "Ich hoffe, die Götter haben sie nicht gerade poetisch gemacht - ein Verrückter in der Familie ist genug." F3 (Frau1): Byron erkundigt sich in einem Brief an seine Schwester nach Ada (1823, sechs Monate vor seinem Tod) Autorin 10: Eine strenge Erziehung soll ihre moralischen und intellektuellen Kräfte fördern - etwaige poetische Tendenzen, phantastische Flausen oder gar die gefürchtete Leidenschaft dagegen von vornherein unterdrücken. Bereits im Kleinkindalter beginnt die "Kur". Ada ist vier Jahre alt, als die ersten Hauslehrer sie in Mathematik unterrichten. O-Ton 6 Krämer: "Ihr Tagesablauf war einer ziemlich strengen Disziplin unterworfen, in der Hauslehrer beständig die Aufgabe hatten, sie zu unterweisen. Es gab dann auch Stunden, in denen eben nicht nur die Mathematik, sondern durchaus auch die Musik zugelassen waren. Ja jedenfalls war ihr Tagesablauf höchster Disziplin unterworfen und wie uns aus Dokumenten berichtet wird, gilt das sogar für das Wochenende. Autorin 11: Sonntags bekommt Ada zwar keinen formalen Unterricht, wird aber nach den neuesten pädagogischen Ansätzen Pestalozzis in Bauen und Formen geschult. Ihre so erworbenen Erkenntnisse werden ihr späteres Verständnis von Wissenschaft ebenso beeinflussen, wie ihre Liebe zur Sprache, für Musik und Literatur, die ihr allen Versuchen zum Trotz nicht auszutreiben ist. Und auch die Charaktereigenschaften, die eigentlich unterdrückt werden sollten, blitzen hier und da auf. Spielszene 3: Mann1: Ich musste ihr heute wieder zwei Fleißkärtchen abnehmen - die Arithmetik erfordert eine größeren Aufmerksamkeit! Frau1: Beim Deklinieren der französischen Vokabeln war sie auch nachlässig - als ich sie dafür in die Ecke schickte, hat sie doch tatsächlich ein Stück aus einer Holzleiste heraus gebissen! Autorin 12: Ada wächst abgeschirmt auf, immer umgeben von Gouvernanten und den wachsamen Augen der Freundinnen ihrer Mutter. Allesamt alte Jungfern, die Ada Furien nennt. Weit weg von der Metropole London - in der sich zu dieser Zeit das Leben rasant verändert. Besondere Musik/Atmo, wiederkehrend zu Texten zum zeitgeschichtlichen Kontext Sprecher 3 (sachlich, aufzählend): Umbrüche 2 Dampfkraft ermöglicht die Massenproduktion von Waren. Angezogen von der Arbeit in den Fabriken, zieht es viele in die Städte. Die Einwohnerzahl Londons übersteigt die eine Million Marke, es bildet sich ein Proletariat. Aber nicht nur die Folgen der Industrialisierung erschüttern die Menschheit. Auch die Erkenntnis, dass die Welt nicht in sechs Tagen, sondern in Millionen von Jahren entstanden ist - und es ein Universum ohne Gott geben könnte. Musik Ende Autorin 13: Und noch eine Nachricht bewegt die Nation: Im Jahr 1824 stirbt der große Dichter Lord Byron im griechischen Freiheitskampf. Die Zeitung "The Times" schreibt: Sprecher 4: "Es hat untadeligere, Vorbildlichere und Liebenswertere gegeben als Lord Byron; aber es gibt wohl niemanden auf der Erde, dessen plötzliches Ableben die Gemüter in tiefere und grenzenlosere Trauer versenkt hätte." Autorin 15: Von der öffentlichen Trauer, die der Tod ihres berühmten Vaters auslöst, bekommt Ada wenig mit. Sie wird weiterhin systematisch beaufsichtigt, um die Ausbildung einer moralisch gefestigten Persönlichkeit zu überwachen - während ihre Mutter selbst viel auf Reisen ist. Das Mädchen ist körperlich schwach und häufig krank, muss viel im Bett liegen. Gleichzeitig wächst ihr Wunsch, der ständigen Kontrolle ihrer Mutter und der Gouvernanten zu entkommen; beginnt das Streben nach Freiheit stärker zu werden. Zitatorin Ada 4: Meine liebe Mami. Ich arbeite an etwas, mit dem ich höher fliegen werde als Du Dir vorstellen kannst: ich werde die Form eines Vogelflügels nehmen und die Größe des Flügels gewissenhaft in Proportion zu seinem Körper setzen. Anschließend werde ich ein Paar Flügel aus Papier bauen, die exakt die Form des Vogelflügels haben, allerdings in Proportion zu meiner Größe. Wenn wir uns sehen, ziehe ich sie an und zeige Dir, was ich mir unter Fliegen vorstelle. Ich glaube kaum, dass ich es Dir anders verständlich machen kann. Adieu, Deine Dich liebende Taube Autorin 17: Ada ist zwölf Jahre alt, als sie sich in den Kopf setzt, einen Flugapparat zu bauen - lange vor Otto Lilienthal. Monatelang befasst sie sich gewissenhaft und leidenschaftlich mit dem Projekt. Methodisch wägt sie Material und Aufbau der Konstruktion ab. Nachdem sie den Flügel einer toten Krähe, die sie auf den Feldern gefunden hatte, akribisch untersucht hat, entscheidet sie sich für einen proportionalen Nachbau. Der Flugapparat soll die Gestalt eines Pferdes haben und mit Dampf betrieben werden - ganz ähnlich wie William Henson es 15 Jahre später für seine Dampfflugmaschine vorsieht. Zitatorin Ada 5: "Ich werde morgen mit meinen Papierflügeln beginnen, und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich fast davon überzeugt, dass ich mit einem Jahr der Übung in der Lage sein dürfte, die Kunst des Fliegens zu großer Perfektion zu bringen. Ich denke daran, ein Buch mit Abbildungen über Fliegologie zu schreiben, sollte ich jemals wirklich eine Methode des Fliegens erfinden." O-Ton 7 Krämer: Ich glaube, dass sie sowohl in der kindlichen Motivation, wie später auch in der akademisch-wissenschaftlichen Motivation weder die Grenze akzeptieren wollte, du sollst nicht werden wie dein Vater, sondern sie hat genau seine Leidenschaft gelebt nur auf anderem Gebiet, und auch die Grenze eben überschritten, die ihr die Maschinentechnik der damaligen Zeit gegeben hat. Autorin 16: Ende 1829 finden die Flug-Phantasien der Grenzgängerin ein jähes Ende: Sie erkrankt erneut. Zunächst tippt man auf Masern, nur kurze Zeit später ist das Mädchen gelähmt und fast erblindet. Diagnose: unbekannt. Der Biograph Benjamin Woolley legt später nahe, es könne sich um das psychosomatische Eingeständnis einer Niederlage handeln: Es war ihr nicht gelungen, der Enge zu entfliehen. Mutter und Hausarzt verschreiben ihr, ganz zeitgemäß, sich vorrangig von "Fleisch erwachsener, warmblütiger Vierbeiner" zu ernähren. Es dauert, bis Ada sich erholt. Dann bläst sie zum Gegenangriff: Erst gegen die Krankheit, dann gegen den Kontrollapparat, den die Mutter um sie herum errichtet hat. Spielszene 4: Frau 1: Die junge Ada soll ein Verhältnis mit ihrem Stenographie-Lehrer gehabt haben. Frau2: Dem Herrgott sei Dank dass sie erwischt wurden! Der Lehrer ist natürlich entlassen. Mit dem Stubenarrest kam das Mädchen aber sehr glimpflich davon, wenn Sie mich fragen. Und dann konnte sie auch noch ausbüxen und zu ihrem Geliebten rennen... Frau1: Und wenn Sie mich fragen: Eins liegt klar auf der Hand, Ada trägt das wilde Blut ihres Vaters in sich! Musikakzent Autorin 17: Emotion und Vernunft. Für Ada gehört beides zusammen. Die Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie genau wie die mit der Mathematik. Ihr Ziel: eine poetische Wissenschaft. So schreibt sie an ihre Mutter: Zitatorin Ada 6: "Philosophische Poesie gestehst Du mir nicht zu. Ändere doch einfach die Reihenfolge! Wirst Du mir poetische Philosophie, poetische Wissenschaft erlauben?" Autorin 18: Was ihre Mutter auf diesen undatierten Brief antwortet, ist nicht überliefert. Dennoch: Für Ada wird durch dieses integrative Wissenschaftsverständnis die Pflicht, sich mit Mathematik zu beschäftigen, endlich zu einem Vergnügen. Mit 17Jahre wird sie in London in die Gesellschaft eingeführt. Und trifft den Mann, der ihr Leben verändern wird: Charles Babbage. Heute gilt der Mathematiker als einer der größten Denker des 19. Jahrhunderts - 1832 ist er für seine Salons fast ebenso berühmt wie für seine Erfindungen: Samstagsnachmittags treffen sich in seinem enormen Anwesen alle, die mindestens zwei der drei von Babbage aufgestellten Qualifikationen besitzen: Intelligenz, Schönheit oder Titel. Zu seinem Freundeskreis gehören unter anderem Michael Faraday, Aufzählung: Zitator Babbage (aufzählend): Charles Darwin Frau1 (aufzählend): Florence Nightingale Sprecher (aufzählend): Charles Dickens Zitator Byron (aufzählend): Augustus De Morgan Frau2 (aufzählend): der Duke of Wellington Sprecher (aufzählend): John und Caroline Herschel Autorin 19: sowie Mary Somerville - letztere nimmt Ada mit auf eine der Soireen. Hier präsentiert Babbage seine Erfindungen. Die neueste und aufregendste: ein Trumm aus Zahnrädern und chromblitzenden Säulen, die Differenz-Maschine. O-Ton 8 Krämer Charles Babbage hat zwei Typen von Maschinen entworfen, die erste, das war seine Difference-Engine, das ist eine Maschine, die mehr oder weniger das Addieren beherrscht, um das einzusetzen bei Differenzialrechnungen und buchhalterischen Angelegenheiten. Aber noch in der Bauphase entdeckt Charles Babbage, dass man eine Maschine noch ganz anders konstruieren könne, nämlich eine Maschine, die nicht nur addieren oder vielleicht subtrahieren kann, sondern die durch Lochkarten gesteuert wird, die im Prinzip mit unterschiedlichen Zeichen arbeiten können oder mit Zeichen arbeiten könnte, die unterschiedlich interpretiert werden. Autorin 20: Eine Maschine, die mittels Lochkarten mit variablen Operationen gefüttert werden kann. Ada ist wie vom Donner gerührt. Dennoch wird es einige Zeit dauern, bis sie sich ganz der Analytical Engine hingeben kann. Mit 19, Ada ist intelligent, hübsch und reich, heiratet sie den 30-jährigen William King, wird zur Countess of Lovelace. Sie bekommt in drei Jahren drei Kinder. Dem Erstgeborenen gibt sie den Namen ihres Vaters: Byron. Im Jahr der Geburt ihrer Tochter wird Viktoria zur Königin gekrönt, das viktorianische Zeitalter beginnt. Besondere Musik/Atmo, wiederkehrend zu Texten zum zeitgeschichtlichen Kontext Sprecher 5 (sachlich, aufzählend): Umbrüche 3, Viktorianisches Zeitalter Zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens gibt es eine demokratische Regierung. Die Grundbildung für alle Schichten und für Frauen wird zur gesellschaftlich anerkannten Aufgabe. Die Wissenschaft erklärt die Welt nicht mehr nur, sie verändert sie: Während Ingenieure und Techniker mathematische und mechanische Gesetzmäßigkeiten umsetzen, bleibt den Dichtern nichts anderes übrig als zu zu sehen. Die reine Phantasie muss sich der Beobachtung von Tatsachen beugen. Autorin 20: Und Ada? Denkt Kraft ihrer Phantasie weit über bestehendes Wissen hinaus. Zitatorin Ada 7: "Ich will der Gesellschaft gegenüber Byrons Missbrauch seines Genies wieder gut machen. Wenn er mir auch nur das kleinste Bisschen dieses Genies vererbt hat, werde ich es nutzen, um große Wahrheiten und Prinzipien offenzulegen. Ich denke, diese Aufgabe hat er mir hinterlassen." (1843 Brief an ihre Mutter) Autorin 22: 1842 nimmt Ada ihre mathematischen Studien wieder auf. Fasziniert von der Vision einer Analytical Engine, die so viel mehr zu sein verspricht, als eine einfache Rechenmaschine, übersetzt sie einen Artikel, den der Italiener Federico Luigi Menabrea nach einer Vorlesung von Charles Babbage in Turin verfasst hat. Als Babbage von der Übersetzung erfährt, ist er begeistert. Zitator Babbage 2: "Ich fragte sie, warum sie nicht selbst einen Artikel zu diesem Thema geschrieben habe, mit dem sie doch so gut vertraut sei. Und Lady Lovelace erwiderte, dieser Gedanke sei ihr gar nicht gekommen. Ich schlug ihr daher vor, sie möge einige Erläuterungen hinzufügen, und sie griff diesen Vorschlag sogleich auf." O-Ton 9 Krämer: "Die Übersetzung war das Feld, in dem damals Frauen eben "Autorinnen" werden durfte. Also es war üblich, dass man Frauen zu gestand, entweder die Werke großer Männer, großer Geister zu übersetzen und zu kommentieren oder eben für ein weibliches Publikum zu schreiben. Das waren zwei, sozusagen das Populärwissen heruntergebrochen für den Geist der Frau, das waren neben den Übersetzungen die beiden Aufgaben, die man in wissenschaftlicher Hinsicht den Frauen zuordnete." Autorin 23: Letztlich werden die Anmerkungen von Ada Lovelace den eigentlichen Artikel, den so genannten Grundriss, um ein Vielfaches übertreffen. In ihrer Länge - aber auch in der Tiefe des Verständnisses. Zitatorin Ada 8: "Um die Wahrheit zu sagen, ich bin ziemlich erstaunt über meine Anmerkungen &kann nicht anders als irgendwie malgré moi beeindruckt zu sein von der wirklich meisterhaften Natur des Stils & seiner Überlegenheit gegenüber dem des "Grundrisses"" Autorin 24: Erst in den Anmerkungen, den Notes, von Lady Lovelace nimmt die Analytical Engine vollends Gestalt an. Anders als Menabrea und sogar Babbage selbst sieht sie in der Maschine nicht nur ein Hilfmittel zu numerischen Leistungssteigerung. Warum nur mit Zahlen operieren? Im Prinzip könnten alle Objekte Berechnungsgrundlage sein, deren Beziehung zueinander sich durch Algorithmen ausdrücken lassen. Zitatorin Ada 9: "Angenommen etwa die grundlegende Relation der Tonhöhen in der Harmonie- und Kompositionslehre könnten auf diese Art und Weise ausgedrückt werden und an die Maschine angepasst werden, so könnte sie ausgefeilte und allen Regeln der Kunst gehorchende Musikstücke von beliebiger Komplexität und Länge komponieren." Autorin 25: Die Analytical Engine, doch keine Ziffernfabrik? Durch die Anmerkungen von Ada Lovelace wird sie zur Universalmaschine erhoben, zum veritablen Vorfahren des Computers, wie wir ihn heute kennen. O-Ton 10 Krämer: Die Erkenntnis, dass es universelle Maschinen gibt, deren Hardware zwar feststeht, Ingenieurstechnik, deren Software aber je nach Programm verändert werden kann, so dass sich, wenn diese Hardware nun mit dieser Software gefüttert wird, diese Hardware sich in jeweils ganz verschiedene Maschinen umgestalten kann. Musik, die sich erst ganz leise und unauffällig rein schleicht, dann immer größer wird und abhebt, wie ein Schwarm Schmetterling ? hui, ab in eine andere, eine poetische Dimension! ;) Zitatorin Ada 10: "Die Analytical Engine webt algebraische Muster gerade so, wie der Jaquard- Webstuhl Blätter und Blüten" Autorin 26: ...fasst sie poetisch zusammen. Und bringt damit den Funken Phantasie in die von Babbage erdachte Ingenieurskunst ein. Bernhardt Dotzler, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Regensburg. O-Ton 11 Dotzler Die genialischere und auch die poetische Note hat sicherlich Ada stärker dazu getan, ja. Also Babbage hätte nie einen Satz geschrieben und gedacht, wie die Analytical Engine webt algebraische Muster wie der Jaquard-Webstuhl Blätter und Blüten. Das ist ne Poetisierung dieser Maschine, die natürlich auch zu einer Phantasmatisierung, zu einer Erweiterung ihrer Wahrnehmung beiträgt und das kann man glaube ich ohne Übertreibung sagen geht auf Adas Konto, ja. Autorin 27: Indem sie Imagination und fundiertes Wissen zusammen bringt, gelingt es Ada, weit über die bestehenden Denkmuster des Viktorianischen Zeitalters hinaus zu fliegen. Sogar die Frage, ob die Maschine letztlich auch das Denken übernehmen wird, die Diskussion um künstliche Intelligenz, nimmt sie in ihren Anmerkungen um Jahrzehnte vorweg. Zitatorin Ada 11: "Die Analytical Engine erhebt nicht den geringsten Anspruch, irgendetwas hervorzubringen. Sie kann tun, was immer wir ihr auszuführen zu befehlen wissen (sic). Sie kann der Analysis folgen. Aber sie besitzt nicht das Vermögen, irgendwelche analytischen Relationen oder Wahrheiten zu antizipieren. Ihr Gebiet ist darauf beschränkt, uns bei der Verfügbarmachung dessen zu assistieren, womit wir bereits vertraut sind." Autorin 28: ... gut einhundert Jahre später wird Alan Turing diese Äußerung im Rahmen der modernen Debatte über künstliche Intelligenz als "Einwand der Lady Lovelace" diskutieren. O-Ton 12 Dotzler "Mit einem Schlag im 19. Jahrhundert, das gab's im achtzehnten nicht, sind da diese Fragen da: Kann eine Maschine denken? Und auch in dem vehementen Nein, das Ada formuliert und sagt, nein wir dürfen keine übertriebenen Vorstellungen haben und die Maschine kann bei weitem nichts selbst originär erschaffen, sondern nur tun, was wir ihr sagen, selbst dieses vehemente Nein zeigt ja, dass es plötzlich eines solchen vehementen Neins bedurfte, weil man dachte, sie könne vielleicht denken." Zitatorin Ada 12: "Ich glaube nicht, dass Sie auch nur die Hälfte meiner Vorausahnungen besitzen und das Vermögen, alle möglichen Eventualitäten zu sehen. Wahrscheinliche und unwahrscheinliche gleichermaßen." Sprecher 6: Ada Lovelace an Charles Babbage Autorin 29: Ada beschränkt sich nicht darauf, die Möglichkeiten der Maschine auf dem Papier auszuloten. Sie möchte ein ganz praktisches Beispiel geben, wie die Operation mit Lochkarten funktionieren soll. Und erstellt eine Tabelle, in der jeder einzelne Schritt zur Berechnung einer Zahlenreihe, der Bernoulli-Zahlen, in Form von Maschineninstruktionen aufgeführt ist. O-Ton 13 Krämer Das heißt, die Formel zu haben wäre so etwas wie ein Algorithmus, aber zu programmieren heißt, einen Algorithmus in eine Maschinensprache umzusetzen, so dass die Maschine Schritt für Schritt weiß, was sie zu tun hat. Autorin 30: Mit ihrem "Diagramm für die Berechnung der Bernoulli-Zahlen durch die Maschine" schreibt Ada Lovelace - ohne es zu wissen - das erste Computer-Programm. Wohlgemerkt ohne, dass es einen Computer - oder auch nur einen Vorläufer - gibt, der es ausführen könnte. Die Analytical Engine existierte nur auf dem Papier, sie wurde niemals gebaut... O-Ton 14 Dotzler "Von dieser Papierform her wissen wir aber, dass sie schon aus im Grunde allen Bauteilen einer modernen Rechenanlage hätte bestehen sollen. Als einem Rechenwerk, einem Speicherwerk, Ein- und Ausgabeschnittstelle und so weiter. Autorin 31: Ein Computer, wie wir ihn heute kennen - nur eben gebaut aus Zahnrädern und Hebeln und angetrieben von einer Dampfmaschine. Ada Lovelace gilt bis heute als Pionierin der Programmiertechnik. O-Ton 15 Krämer "Das Besondere ihrer Programmiertechnik war, dass sie arbeitete mit Techniken, die auch heute noch beim Programmieren üblich sind, also bedingten Verzweigungen, Subroutinen, und so in Schleifen und Mehrfachschleifen, also tatsächlich das, was auch heutige Programmierer tun, wobei der Witz eines Programms ja ist, dass eine Maschine eben nicht nur stur abarbeitet, sondern sich auch noch in der Prozedur entscheidet, abhängig vom Ergebnis eines Zwischenschrittes, welchen Weg eine Maschine einschlägt. Diese Idee, eine Maschine so zu instruieren, dass sie mitten im Prozess Entscheidungen fällen kann, die abhängig sind von den Ergebnissen, die sie vorher ermittelt hat, ob sie jetzt sozusagen rechts oder links weitergeht, um es mal metaphorisch zu sagen, das geht tatsächlich auf sie zurück." Besondere Musik/Atmo, wiederkehrend zu Texten zum zeitgeschichtlichen Kontext Sprecher 7 (sachlich, aufzählend): Umbrüche 4 Der technologische Fortschritt stellt Raum und Zeit auf den Kopf: Mit der Eisenbahn lassen sich Reisezeiten auf einen Bruchteil minimieren. Auch die neuen Kommunikationssysteme, der Telegraph, der Postdienst, sind in der Lage, große Distanzen schnell zu überwinden. Mit dem ersten Zugfahrplan erhält Zeit, erhält Pünktlichkeit eine ganz neue Bedeutung. Eine landesweite Zeitnorm, die Greenwich Zeit, wird eingeführt. Autorin 32: Die Geschwindigkeit, mit der sich die Gesellschaft verändert, fasziniert und überwältigt Ada. Hysterie, lautet ihre Selbstdiagnose. Depressionen kommen dazu und eine schlechte körperliche Konstitution. Sie sucht sich mit den schönen Künsten abzulenken, spielt mehrere Stunden täglich Harfe und trägt sich mit dem Gedanken, Opernsängerin zu werden. Gegen die Schmerzen und ihre Nervosität wird ihr inzwischen fast gewohnheitsmäßig Opium verschrieben. Genau so gewohnheitsmäßig machen Gerüchte die Runde, die Ada heimliche Affären nachsagen. Um ihre Wettschulden zu begleichen - Ada glaubt, eine totsichere Formel für Pferdewetten gefunden zu haben - verpfändet sie die Familienjuwelen. Leidenschaft und gesellschaftliche Konventionen. Schon wider hadert Ada Lovelace mit den ihr gesetzten inneren wie äußeren Grenzen. O-Ton 16 Krämer Die ganz großen Geister schaffen nicht aus dem Glück des erlebten Alltags heraus sondern sind wahrscheinlich kreativ, weil sie zur gleichen Zeit mit tiefen Problemen der Erfahrung von sich selbst sowie ihrer Umwelt konfrontiert sind. Und es kann durchaus sein, dass es eine Wechselbeziehung gibt zwischen diesen Zerrissenheiten, die das Kindliche, Jugendliche und überhaupt das Leben von Ada Lovelace kennzeichneten, und ihrem Drang zu akademischer, wissenschaftlicher, technischer Kreativität. Man wird nicht bezweifeln können, dass hohe Kreativität auch etwas mit extremen Erfahrungen zu tun hat, die nicht immer nur gute und schöne Erfahrungen sein müssen. Musik Autorin 33: Im Jahr 1852 stirbt Ada Lovelace mit 36 Jahren an Gebärmutterkrebs. Ihr ganzes Leben war bestimmt von zwei Polen: Ihrer vernunftbetonten Mutter und ihrem leidenschaftlichen Vater. Am Ende gewann Lord Byron. Auf ihren eigenen Wunsch hin wurde Augusta Ada Lovelace neben ihrem Vater in der Familiengruft bei Newstead Abbey beigesetzt. Ihre Mutter blieb der Beerdigung fern. Zitator Byron 4: "Trotz allen Strebens, ob man mein Blut mit eifersücht'ger Gier aus deinem Herzen sög - es ist vergebens, Du wirst mich lieben, treu dem Heiligsten des Lebens." Musik Ende F4 (Frau1) Epilog: Sprecher 8: 1890 werden erstmals Lochkarten genutzt, um den Zensus der Vereinigten Staaten zu organisieren. F5 (Frau1) 1931 baut das MIT, das Massachusetts Institute of Technology, den ersten elektromechanischen Analogrechner. Sprecher 9: 1946 geht mit dem ENIAC der erste digitale Universalrechner in Betrieb - einhundert Jahre nachdem Lovelace und Babbage über der Analytical Engine brüteten. 1