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Zum ersten Mal sieht die Menschheit den Erdball aus der Weltraum-Perspektive, in Farbe: den blauen Planten in der kosmischen Finsternis des Weltalls. Die Erde: eine überschaubare Einheit, ein in sich geschlossener Lebens- und Überlebensraum. Atmo 02: 0:06 "That is one small step for a man, one giant step for mankind." weiter sphärische Musik SPR. 1: Ein magischer Moment der Menschheitsgeschichte: drei Menschen im All und rund um den Globus sitzen die Menschen vor Fernsehgeräten und erleben das Geschehen live mit. Unvorstellbar, wenige Generatio- nen zuvor. Atmo 03: Kurzausschnitt Apollo 11 / sphärische Musik wird langsam ausgeblendet SPR. 1: Angefangen hat die Entwicklung unmittelbar nach 1789, in der Franzö- sischen Revolution. Denn mit der Revolution kam die Telegrafie. Die Botschaft überholte den Reiter, der sie traditionell über Land trug. Im August 1794 geriet ein Mitglied des Wohlfahrtsausschusses vor dem Konvent in Paris ins Schwärmen: Zitator: "Durch diese Erfindung verflüchtigen sich gewissermaßen die Ent- fernungen." O-Ton 01: (Hoppe) Die Entstehung der optischen Telegrafie in Frankreich war sehr mit dem Auf- kommen der Revolution, mit der Verteidigung der Revolution und dann vor allem mit dem Ausbau des napoleonischen Imperiums verbunden. SPR. 1: Professor Joseph Hoppe, stellvertretender Direktor des Deutsches Technikmuseum Berlin. O-Ton 02: (Hoppe) Sie war genau für diesen Zweck gedacht. Sie war ein Monopolkommunikations- mittel, das ausschließlich vom Staat und fast ausschließlich vom Militär des Staa- tes genutzt wurde, das auch strikter Geheimhaltung unterlag, wo Bürgerliche und Gemeinweseninteressen überhaupt keinen Zugang hatten. SPR. 1: Bis in die entlegensten Ecken seines Reiches uneingeschränkt zu herr- schen, war das Leitbild eines jeden absolutistischen Regenten. Als die Französische Revolution der Monarchie ein blutiges Ende setzte, wur- de aus der Einheit des absolutistisch regierten Fürstenstaates die Ein- heit der Nation. Und die musste sich zur Wehr setzen. Die europäi- schen Fürsten griffen das revolutionäre Frankreich an, und die Franzo- sen nutzten als erste die technische Beschleunigung der Informations- übermittlung für ihre Kriegführung. Musik: Ca ira einblenden SPR. 2: Im Jahr 1791 entwickelte der französische Physiker Claude Chappe eine Apparatur, die erstmals Telegrafie möglich machte. Auf ex- ponierten Plätzen wie Berggipfeln oder Kirchtürmen wurden seltsam anmutende Holzkonstruktionen gesetzt - fünf Meter hoch, die quer- liegenden Balken und die an ihren beiden Enden befestigten Holzarme waren über Rollen und Seile schwenkbar. Der Telegrafist konnte 196 verschiedene Zeichen setzen. Sein Kollege auf der nächsten Tele- grafenstation, die acht bis zwölf Kilometer entfernt stand, beobachtete durch ein Fernrohr das Geschehen und gab die verschlüsselten Code- Zeichen weiter. Von Paris nach Straßburg benötigte eine Meldung 37 Minuten. Der französische Nationalkonvent war begeistert und ließ das optische Telegrafen-Netz zügig ausbauen. Napoleon profitierte davon, er erfuhr frühzeitig von feindlichen Vormärschen, und mit seinem Siegeszug auf dem europäischen Kontinent gelangte die neue Technik auch nach Spanien, nach Köln und Berlin, nach Mailand und Venedig. SPR. 1: Enthusiastische Zeitgenossen sahen ein neues Zeitalter herauf- dämmern: Die Chiffrier-Methode hielten sie für Vorboten einer Uni- versalsprache, einer Sprache, in der sich im Geiste der Aufklärung und im globalen Austausch die offenen Fragen der Wissenschaft be- antworten lassen; einer Sprache, in der sich alle Menschen ver- ständigen können und die der Welt den Frieden bringt. Atmo 04: Pferdetrappeln aufblenden, dann unterlegen SPR. 1: Für die Menschen damals war es unvorstellbar, dass Informationen schneller am Ziel sind, als ein Mensch sich fortzubewegen vermag. Die Schnellpostkutsche der von Thurn und Taxis betriebenen Kaiser- lichen Reichspost rauschte im gestreckten Galopp mit durchschnittlich 20 Kilometern pro Stunde über Stock und Stein. Die Armeen Wallen- steins, merkt Stefan Zweig an, seien kaum rascher vorwärts gekommen als die Legionen Cäsars. Atmo 04 evtl. noch mal kurz hochziehen SPR. 2: Immerhin: die Römer hatten sich schon etwas einfallen lassen. War an der Grenze zu Germanien Gefahr in Verzug, griffen die auf dem Limes stationierten Vorposten zur Posaune und versetzten die Soldaten in den Kastellen in Alarmbereitschaft. Ein einfaches und durchaus wirksames Frühwarnsystem, das für die Übermittlung komplexer Informationen allerdings ebenso ungeeignet war wie Rauchzeichen und Zurufe. SPR. 1: Nun aber, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, konnte ein Telegrafist in Sekundenschnelle die Stellung der Balken und ihrer Arme ablesen. Binnen einer halben Stunde hatte ein im Hauptquartier erteilter militä- rischer Befehl einen 300 Kilometer entfernten Außenposten erreicht. Ross und Reiter hätten für dieselbe Strecke dreißig Mal so lang ge- braucht. Die optische Telegrafie beschleunigte nicht nur die Über- tragungsgeschwindigkeit, sie erhöhte auch die Menge der über- mittelten Nachrichten. O-Ton 03: (Hoppe) Telegrafie sagte man eigentlich damals weniger gerne. In Deutschland sprach man von Fernsprechkunst, ein wunderbares Wort, weil dem Ganzen damit noch ein Stück Bewunderung zuteil wurde, was im nüchternen Begriff Telegraphie nicht so richtig zum Ausdruck kommt. Also es wurde schon als ein kleines Wunderwerk verstanden, das die neue Zeit, die sich schon ansatzweise als Zeitalter von Wissen- schaft und Aufklärung, von Rationalität verstand, mit sich gebracht hatte. SPR. 1: Der Flügeltelegraf markiert den Beginn der technisch beschleunigten Kommunikation. Aber Regen, Nebel, Dunkelheit machten den optischen Telegrafen anfällig. Zugleich wuchs der Bedarf an rascher Informationsübermittlung. Denn dank der Dampfmaschine begann der Mensch, sich schneller durch die Landschaft zu bewegen. Atmo 05: Dampflok (schon unter dem Text oben aufblenden) SPR. 1: Der kommunikationstechnische Fortschritt stellte sich mehr und mehr in den Dienst der Eisenbahngesellschaften, die Mitte des 19. Jahr- hunderts wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie benötigten für ihre Signaltechnik schnellere Übertragungsgeschwindigkeiten, als die optische Telegrafie bot. Informationen über Abfahrtszeiten, Verspätungen, technische Defekte mussten den Zügen vorauseilen. So kam im 19. Jahrhundert jene Eigendynamik in Gang, die die Welt veränderte. Gemeinsam mit seinem Göttinger Physiker-Kollegen Wilhelm Eduard Weber führte Carl Friedrich Gauß 1833 ein bahnbrechendes Experiment zur Nachrichtenübertragung durch. SPR. 2: Gauß und Weber verbanden die Göttinger Sternwarte mit dem physika- lischen Institut, sie erzeugten durch elektromagnetische Induktions- spulen unterschiedliche Spannungsimpulse, durch die die Kompass- nadeln an den beiden Enden synchron ausgerichtet wurden. SPR. 1: Die elektromagnetisch ferngesteuerten Bewegungen der Nadel ermög- lichten den Schreibtelegrafen, den der Amerikaner Samuel Morse 1837 erfand. SPR. 2: Der Sender gibt einen Text ein, indem er die Taste unterschiedlich lang gedrückt hält und so den Stromkreis öffnet und schließt. Die elektrischen Impulse huschen durch die Elektroleitung zum Empfänger und steuern dort einen Magneten, dessen Anker die Impulse auf einen beweglichen Stift überträgt. Seine ratternden Auf- und Abwärts- bewegungen werden auf einen vorbeiziehenden Papierstreifen als Punkte, Striche von verschiedener Länge und unterschiedlich langen Pausen übertragen. Atmo 06: Telegrafie-Geräusch SPR. 1: Die Geschwindigkeit des elektrischen Stroms erwies sich als un- schlagbar. Nicht nur die Eisenbahngesellschaften hatten gefunden, was sie suchten. Staatliche Stellen zogen nach. 1838 ließ Preußen die ersten Apparate im Generalstab und im königlichen Schloss aufstellen. 1848 wurde die optische Telegrafenlinie von Berlin nach Köln auf elektromagnetischen Betrieb umgestellt, im selben Jahr eine Ver- bindung von Frankfurt nach Berlin errichtet. Atmo 07: Telegrafie-Geräusch SPR. 2: Noch überwand die neue Technik nur begrenzte Räume. Waren es beim optischen Telegrafen die Sichtverhältnisse, die die Übertragung behinderten, stieß die elektronmagnetische Telegrafie vor Flüssen, Seen und vor den Weltmeeren an ihre Grenzen. O-Ton 04: (Hoppe) Wenn irgendwo das Wort "Sternstunde der Menschheit zutrifft, dann mit Sicher- heit hier. SPR. 1: Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum Berlin über den Tag, an dem das Problem gelöst wurde und den Stefan Zweig zur Stern- stunde der Menschheit erkor. O-Ton 05: (Hoppe) Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist von einer erheblichen Verdichtung in- ternationaler Beziehungen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, des Gebietes des Handels, auch der Börsenaktionen gekennzeichnet. Was aber wirklich fehlte, war das kommunikative Band, das diese Menschenräume, diese Erdräume, diese Wirtschafts- und Güterräume miteinander in Verbindung brachte. SPR. 1: 28. Juli 1858: An diesem Tag wurden Alte und Neue Welt, Europa und Nordamerika, durch ein Kabel miteinander verbunden. Ein halbes Jahrhundert nach Napoleons Flügeltelegrafen war interkontinentales elektromagnetisches Telegrafieren möglich. Zitator: "Elf Tage nach Abfahrt der beiden Schiffe können die "Agamemnon" und die "Niagara" an der vereinbarten Stelle in der Mitte des Ozeans die große Arbeit beginnen." SPR. 1: Schreibt Stefan Zweig. Zitator: "Heck gegen Heck wenden sich die Schiffe einander zu. Zwischen beiden werden nun die Enden des Kabels vernietet. Das eiserne und kupfernde Tau sinkt zwischen den beiden Schiffen in die Tiefe bis zu dem untersten, von keinem Lot noch erforschten Grund des Ozeans." O-Ton 06: (Hoppe) So etwas wie Meeresgeologie oder Meeresgeographie war ja zu Mitte des 19. Jahrhunderts relativ unbekanntes Territorium. Warum sollte man sich um den Meeresgrund groß kümmern, man hatte relativ gute Karten und wusste, wo be- stimmte Untiefen waren. Mehr brauchte man ja eigentlich nicht zu wissen. Für die Kabelverbindung war es aber nun wichtig, über einen möglichst lange Distanz hinweg einen möglichst gleichmäßigen, ebenen Verlauf des Meeresbodens zu fin- den, damit das Kabel nicht in irgendwelche Schluchten hineinfiel. Insofern war auch hier wissenschaftliche Forschung von Nöten und war Beginn dessen, was man heute Tiefseeforschung nennen würde. Man hat ganz lange versucht heraus- zufinden, wo in welchen Meeren die günstigsten Routen gegeben sind, um solche Kabel zu verlegen, und das war tatsächlich das sogenannte Telegrafen-Plateau zwischen Neufundland und Europa. SPR. 1: Das Transatlantikkabel, schreibt Stefan Zweig, vermählte das junge Amerika mit der Alten Welt. Ein halbes Jahrhundert, nachdem in Frankreich in mühsamer Handarbeit und auf Sichtkontakt Nachrichten von einem Flügeltelegrafen zum nächsten wanderten, schickte Königin Victoria eine Botschaft über den großen Teich, der dank elektro- magnetischer Induktion derart schnell den Atlantik überwand, dass die Empfänger in New York zu glauben scheinen, die Queen stünde ihnen höchstpersönlich gegenüber. Zitator: "Das Wunder von gestern ... " SPR. 1: schließt Stephan Zweig seine Erzählung über die Sternstunde der Menschheit, Zitator: "... ist die Selbstverständlichkeit von heute geworden. Sich hörend, sich schauend, sich verstehend lebt die Menschheit nun gleichzeitig von einem bis zum andern Ende der Erde." Atmo 08: Telegrafie-Geräusch SPR. 1: Noch war es aufwendig und teuer, sich von Kontinent zu Kontinent verbinden zu lassen. 1866 kostete zwischen Europa und Amerika ein Telegramm mit 20 Wörtern 400 Mark, jedes weitere Wort 20 Mark zu- sätzlich. Frühe Nutznießer waren vor allem Spekulanten. Die ersten Telegrafenstellen außerhalb der staatlichen Behörden, darauf verweist Joseph Hoppe, entstanden an den Börsen. O-Ton 07: (Hoppe) Man hat damals auch schon mit Warenterminspekulationen begonnen. Die Preise von Waren, bevor die Ware überhaupt auf dem Markt eintraf, waren dem Markt ausgesetzt. Dann war es extrem wichtig zu wissen, wie ist denn jetzt die Ernte in einem bestimmten europäischen Land, wenn man von irgendwo anders her Weizen importieren konnte. Da war man sehr viel früher in die Lage versetzt durch Vorab- Kontrakte, von möglichen Preissteigerungen eines dann doch stärker nach- gefragten oder weniger stark nachgefragten Gutes zu profitieren. Also, der Grund- satz ist, die Information ist schneller als die Ware, das ist das ganz, ganz ent- scheidende, das die Telegrafie mitgebracht, ein unglaublich wichtiger Satz für das 19. Jahrhundert, die Information löst sich ab von dem Kreislauf der Güter, der Waren und Menschen und bekommt eigene Kanäle und Geschwindigkeiten. SPR. 1: Johann Wolfgang von Goethe reiste nicht wesentlich schneller als der Apostel Paulus. Das Höchstmaß irdischer Fortbewegung, schreibt Ste- phan Zweig, sei seit Menschengedenken der Lauf des Pferdes, das rollende Rad, das geruderte oder segelnde Schiff gewesen. Das Tempo galt hingegen als Teufels Werk, eine Schöpfung des großen Ver- führers. Im 19. Jahrhundert aber wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, die die Welt aus den Fugen hob. Geschwindigkeit wurde das Maß aller Dinge. In der Wirtschaft, in der Kommunikation. Atmo 09: Morsezeichen SPR. 1: 1837 hatte Samuel Morse den Schreibtelegrafen erfunden und 1844 den Code entwickelt, der die Übermittlung differenzierter sprachlicher Botschaften möglich machte: das Morsen. Allerdings verlangte die Reduktion der Informationsübermittlung auf wenige Zeichen einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise, wie man sich anderen mitteilte. Musik: Reinhard Mey: "Ankomme Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine. Ankomme Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine." SPR. 1: Der Telegrammstil, der sprachliche Äußerungen auf einfache, kurze Satzstrukturen verkürzt und dabei keine Rücksicht auf grammatikali- sche Gesetzmäßigkeiten nimmt, setzte sich weltweit durch, wo Handel getrieben und Geld verdient wurde. O-Ton 08: (Hoppe) Es gab spezielle Verschlüsselungsbücher, wo ganze Sätze zu einem einzigen Wort zusammengefasst wurden. Diese Bücher lagen dann in den verschiedenen Kontoren, man bekam dieses Wort zugesandt, hat nachgeguckt und wusste, was einem die Gegenseite sagen wollte. Musik: Stockhausen Nr. 27, Solist, 1968; ein Solist mit Kurzwellenempfänger SPR. 1: Jede Neuerung in der Kommunikationstechnik weckte neue Phantasien und Bedürfnisse. Wenn Zeichen übertragen werden können, warum nicht auch Klänge, Musik, Wörter, ganze Sätze? Der Gedanke an eine Übertragbarkeit der menschlichen Stimme, die Umwandlung von Schall in elektrische Signale animierte Tüftler - allen voran den amerikanischen Autodidakten Alexander Graham Bell. SPR. 2: Eher per Zufall entdeckte er, dass sich Sprache wiedergeben lässt, wenn der Stromfluss nicht unterbrochen, sondern verändert wird. Eine Membran dient dabei als Schallwandler, der einen druckabhängigen Widerstand steuert. Sein Patent meldete Bell 1876 an - der Grundstein für die Telefongesellschaft AT&T, einen der größten amerikanischen Konzerne, war gelegt. Atmo 10 Altes Telefontuten, evtl. unter Text stehen lassen SPR. 1: Bald überzogen Fernsprechkabel wie Spinnennetze die großen Städte, verbanden sie untereinander, erschlossen auch das flache Land, über- wanden Flüsse, Berge, Landesgrenzen und 1956 endlich auch den At- lantik. Atmo 11 Altes Telefontuten wieder frei stehen lassen SPR. 1: Aber auch das drahtgebundene Fernsprechnetz wies Nachteile auf. Schiffe waren auf offener See für Nachrichten nahezu unerreichbar. Die Lösung des Problems hatte Heinrich Hertz, der 1888 elektro- magnetische Funkwellen für die drahtlose Übertragung nutzte. Am 1. Mai 1904 gründeten Siemens & Halske und die AEG gemeinsam eine Gesellschaft für drahtlose Telegrafie und gaben ihr den Namen "Tele- funken". SPR. 1: Mit der drahtlosen Telegrafie, schreibt der Marburger Wirtschafts- historiker Peter Borscheid in seinem Buch "Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung", beginne in der Geschichte des Informationstransports eine neue Etappe: Zitator: So wie in der Zeit der Thurn und Taxis eine Beschleunigung des Land- transports auf die wenigen Postlinien eingeschränkt blieb, so war auch nach 1850 der fast lichtschnelle Informationstransport auf die Tele- grafen- und Telefonlinien begrenzt. Dagegen verbreiten Funkwellen die Informationen flächendeckend, sie erobern den ganzen Raum, sie ermöglichen einen Rundfunk. Sie sind omnipräsent." O-Ton 09: Achtung, Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin. Im Voxhaus.... SPR. 2: 29. Oktober 1923: Im Voxhaus in Berlin schlägt die Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland. Anfangs sitzen wenige hundert Hörer an Rundfunkgeräten - innerhalb von zwei Jahren ist schon die Millionen- grenze überschritten. SPR. 1: Das erste Massenmedium ist entstanden: Ein Mensch spricht, ein Stück wird aufgeführt, ein Orchester spielt - und Millionen in Nah und Fern hören zu. Der kommunikationstechnische Fortschritt beflügelt die Phantasie. 1930 eröffnet Albert Einstein die Berliner Funkausstellung mit einer großen Vision: O-Ton 10: (Albert Einstein, Rede zur Eröffnung der Berliner Funkausstellung, 22.08.1930) "Was speziell den Rundfunk anlangt, so hat er eine einzigartige Funktion zu er- füllen im Sinne der Völkerversöhnung. Denket auch daran, dass die Techniker es sind, die erst wahre Demokratie möglich machen. Denn sie erleichtern nicht nur des Menschen Tagewerk, sondern machen auch die Werke der feinsten Denker und Künstler, deren Genuss noch vor kurzem ein Privileg bevorzugter Klassen war, der Gesamtheit zugänglich und erwecken so die Völker aus schläfriger Stumpfheit. SPR. 1: Der Rundfunk hat die Tür in eine neue Welt aufgestoßen. Früher Un- vorstellbares ist Realität geworden: dass Stadt und Land, eine ganze Nation, gleichzeitig einer Stimme, einem Ereignisse lauschen kann. Albert Einstein träumt von wahrer Demokratie und Völkerversöhnung. Drei Jahre später macht Josef Goebbels mit brutaler Deutlichkeit klar, dass der Rundfunk auch für das Gegenteil genutzt werden kann. Nie zuvor haben Herrscher ihr Volk so direkt erreichen und indoktrinieren können wie der 1933 zum Reichskanzler ernannte Adolf Hitler und sein Propagandaminister Josef Goebbels. Der verkündet im Berliner Haus des Rundfunks: O-Ton 11: (Joseph Goebbels, 25. März 1933, im Haus des Rundfunks in Berlin) Wir machen gar keinen Hehl draus, der Rundfunk gehört uns und niemandem sonst und den Rundfunk werden wir in den Dienst unserer Idee stellen und keine andere Idee soll hier zu Worte kommen. SPR. 1: Statt Frieden, Demokratie und Völkerversöhnung - Führergehorsam, Hass und Krieg. O-Ton 12: (DLR-Archiv) Das Judentum erweist sich erweist sich wieder einmal als die Inkarnation des Bö- sen, als plastischer Dämon des Verfalls und als Träger eines internationalen kulturzerstörerischen Chaos. SPR. 2: Rundfunk im Dienst einer totalitären Partei: Das erste Massenmedium verliert seine Unschuld. O-Ton 13: (Goebbels, DLR-Archiv) Was die Presse für das 19., das wird der Rundfunk für das 20. Jahrhundert sein. Seine Erfindung und praktische Ausgestaltung für das Gemeinschaftsleben der Menschen ist von einer wahrhaft revolutionären Bedeutung. Wir leben im Zeitalter der Masse, die Masse fordert mit Recht, dass sie an den großen Geschehnissen der Zeit inneren Anteil nimmt. Der Rundfunk ist hier erster und einflussreichster Mitt- ler zwischen geistiger Bewegung und Volk, zwischen Idee und Menschen. Das er- fordert andererseits eine klar erkannte und ebenso klar zum Ausdruck gebrachte Tendenz. SPR. 1: Angesichts dieser skrupellosen Ausnutzung des ersten Massen- mediums weckt die nächste technische Revolution keine utopischen Hoffnungen mehr: Wenn Töne übertragen werden können, warum nicht auch Bilder? In den 1930er Jahren wird mit der Übertragung von Bildern noch experimentiert. Zwanzig Jahre später wird das Fernsehen zum Massenmedium. Atmo 12: Alte Tagesschaufanfare aus den 50er Jahren SPR. 1: Das Fernsehen verändert den Alltag, es vereinheitlicht den Feierabend: Die Nation sitzt abends vor dem Bildschirm, sieht die Tagesschau, den Krimi, die Unterhaltungsshow. Atmo 13: Melodie einer älteren TV-Serie ("Der Kommissar" o. ä.) aufblenden SPR.1: Aus heutiger Sicht sind Rundfunk und Fernsehen bereits Massen- medien alter Art: Eine Sendezentrale schickt Töne und Bilder in alle Welt, und die Empfänger hören oder sehen zu, was ihnen geboten wird. Die kommunikationstechnische Revolution, die dieses hierarchi- sche, einseitige Sender-Empfängerverhältnis überwindet, beginnt in den 1980er Jahren mit der Verbreitung von "Personal Computern", Kleinrechnern, die in jeden Haushalt passen und die in den 1990er Jahren wie von Zauberhand miteinander verbunden werden. SPR. 2: WorldWideWeb lautet das Zauberwort, bevor sich der Begriff Internet durchsetzt. Musik Techno-Musik, unter den Text gelegt SPR. 1: Was um 1800 mit der Flügeltelegrafie seinen Anfang nahm, scheint heute der Vollendung entgegen zu gehen: ein wahrhaft grenzüber- schreitendes Kommunikationsnetz, das Raum und Zeit aufhebt und in dem sich jeder bewegen, austauschen und positionieren kann. Das globale Netz legt sich über uns wie die Atmosphäre über unseren Planeten. E-mails lösen die herkömmlichen Briefe ab, Facebook und Twitter ermöglichen weltweiten Austausch innnerhalb selbst festgelegter Freundeskreise oder das Verschicken von Botschaften an ein großes Publikum. Der einzelne ist Sender und Empfänger, nicht nur Pantoffelkinokonsument einer Fernseh- anstalt. Musik ausblenden SPR. 1: Hat diese massenmediale Revolution das Potential, Demo- kratisierungsträume zu erfüllen? Mehr Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen ist möglich, wird auch praktiziert. Die Revolutionen in der arabischen Welt wären ohne die neuen Medien kaum denkbar. Hackerbewegungen und Wikileaks erzwingen mehr Transparenz. Andreas Hepp, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bremen, gibt allerdings zu bedenken: O-Ton 14: (Hepp) Umgekehrt muss man sich einfach vergegenwärtigen, was ist das Internet. Das Internet ist nichts anderes als die Containerschifffahrt, das heißt, bestimmte In- formationsfolgen werden in gleiche Einheiten zerlegt und können deswegen über eine bestimmte Infrastruktur zu verschiedensten Adressaten verschickt werden. Das hat erst einmal nichts Demokratisches, das hat oftmals auch nicht Elitäres, sondern nur eine bestimmte Form der Möglichkeiten von Senden technischer Informationen. Wie Sie das nutzen, ... das ist eine ganz andere Ebene. Sie können genau so gut das Internet dazu verwenden, um reaktionäre Gruppen zu organisieren, um Menschen zu überwachen oder um sich über ir- gendwelche demokratische Entscheidungsprozesse auszudrücken oder darüber zu reflektieren. Das Internet per se hat keine Wirkung auf das eine oder andere. SPR. 1: In dieser Hinsicht unterscheidet sich die neueste kommunikations- technische Revolution nicht von denen der letzten 200 Jahre: Sie hat ein Janusgesicht. Sie verändert das Leben und das Zusammen- leben, aber sie stößt nicht die Tür auf zu einer besseren Welt auf. SPR. 2: Marshall McLuhan, der Medienguru der Sechziger Jahre, ist der Urheber zweier Slogans, die das neue Zeitalter charakterisieren: "the medium is the message" - das Medium ist zum zentralen Schauplatz, zum Inhalt unseres Lebens geworden. Und: "the global village", das globale Dorf. SPR. 1: Sind wir wirklich medial auf eine Weise miteinander vernetzt, dass wir in einem globalen Dorf leben? Andreas Hepp sagt: O-Ton 15: (Hepp) Heutzutage können Sie al-Dschazira, CCN-International und viele andere Kanäle selbst live über Satelliten oder Internet verfolgen. Es hängt von Ihrer Sprachkompetenz ab, welchen Zugang Sie haben. ... Insofern muss man sehr vorsichtig sein zu sagen, nur weil wir eine Globalisierung der Medien- kommunikation, haben wir so etwas wie ein global village. ... Wenn Sie sich einfach mal zugespitzt selbst die Frage stellen, wie viele web-Seiten Sie in den letzten Monaten angesehen haben, die nicht deutsche Web-Seiten sind, kommen die meisten Leute zu einem sehr ernüchternden Ergebnis und müssen sagen, na ja, im Endeffekt schaue ich mir bestimmte www-Seiten von be- stimmten Zeitschriften oder Magazinen an, ich gucke mir die social-web-Seiten von bestimmten Freunde an und kaufe bestimmte Sache online ein. Aber das war´s. SPR. 1: In den 200 Jahren seit der Einführung des Flügeltelegrafen hat sich die Welt offenbar mehr verändert als der Mensch. Auch das Internet schafft keine paradiesischen Verhältnisse von Demokratie und Völkerversöhnung, aber früher unvorstellbare Möglichkeiten, welt- weit miteinander zu kommunizieren. Atmo 14: Telegrafie-Atmo, unter den Text legen (vielleicht gar bis zum Schluss) SPR. 1: Bleibt die Frage, was eigentlich aus dem guten, alten Telegramm geworden ist - jenem Symbol aus der Frühzeit der beschleunigten Kommunikationstechnik? Musik: Reinhard Mey: "Ankomme Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine. Ankomme Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine." SPR. 2: Zu Glanzzeiten übermittelte die Deutsche Bundespost 13 Millionen Telegramme pro Jahr, in den Wochen nach dem Mauerfall gar 18 Millionen Stück. Die wenigen Telefonleitungen zwischen den bei- den deutschen Staaten waren heillos überlastet. Teuer waren Tele- gramme damals immer noch - teurer als ein Ferngespräch, weshalb vereinfacht und abgekürzt wurde. SPR. 1: Wie heute in einer sms, obwohl sie nicht mehr als maximal 13 Cent kostet. Wer es dennoch nicht lassen kann, sucht sich im Internet ei- ne Schmuckkarte heraus, und hofft darauf, dass das persönlich überbrachte Telegramm den erwünschten Eindruck beim Empfän- ger hinterlässt. Eine Schmuckkarte mit 30 Wörtern kostet 22,55 Eu- ro, bei Zustellung an Sonn- und Feiertagen werden weitere 10,50 Euro fällig. Eine Hamburger Privatfirma verspricht den "Sameday"- Dienst, die Zustellung des Telegramms noch am selben Tag. Das ist nicht schneller, als 1830 eine Nachricht von Berlin nach Koblenz mit dem optischen Telegrafen benötigte. Musik: Reinhard Mey: La, la, la, la." 14