COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel, 2.2.2014 „Politische Medaillen – Wie Nationen die olympischen Spiele zur Imageverbesserung nutzen. Autor: Ronny Blaschke Redaktion: Hanns Ostermann Amerikanische Hymne 1968 Mexiko Die Nacht hat sich über Mexiko City gelegt, als Tommie Smith und John Carlos ihr gewöhnliches Leben aufgeben. Es ist der 16. Oktober 1968, im olympischen Finale über 200 Meter haben die amerikanischen Läufer Gold und Bronze gewonnen. Nun stehen sie auf dem Siegerpodest, in schwarzen Socken, ausgeleuchtet von Scheinwerfern. Tommie Smith und John Carlos senken ihre Köpfe, recken jeweils eine Faust nach oben, eingehüllt in Handschuhe, das Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Interview IOC-Präsident Brundage Mexiko Für Smith und Carlos ist es eine Rebellion gegen Rassismus – für die Wächter Olympias ist es ein Affront. Ihr Grundgesetz, die Olympische Charta, verbietet politische oder religiöse Botschaften an Sportstätten. Die Läufer müssen am selben Abend das Olympische Dorf verlassen. Zurück in den USA werden sie mit Hass überzogen, mit Morddrohungen. 16 Jahre werden vergehen, ehe Smith und Carlos bei den Sommerspielen in Los Angeles rehabilitiert werden. Siegermusik und Eröffnungsrede Olympische Spiele sind Leistungsmessen gestählter Körper. Es geht um die Goldmedaille, um Unterhaltung, Heldenkult. Siegermusik und Eröffnungsrede Doch wie politisch darf Sport sein, wie politisch muss Sport sein? Die Funktionäre predigen Neutralität, aber nicht selten missachten sie ihre Geschäftsgrundlage. Sitzen neben Politikern auf der Tribüne, loben Werte wie Fleiß, Fairness, Toleranz. Sprechen von Völkerverbindung und Entwicklungshilfe. „Wer möchte da an Politik denken?“, fragt Diethelm Blecking. Der Historiker und Sportwissenschaftler aus Freiburg blickt kritisch auf den politischen Einfluss des Sports: „Sport schenkt Freude, Sport emotionalisiert, Sport hebt uns über unseren Alltag hinaus, hebt gerade auch die kleinen Leute bei Identifikation über ihren Alltag hinaus und ist deswegen missbrauchbar durch Diktaturen. Man kann ihn aber auch für demokratische Prozesse, für Partizipation nutzen.“ Politik ist die Steuerung von Staat, Gesellschaft, Gemeinwohl. Politik ragt schon immer in den Sport hinein: Im antiken Griechenland fechten Stadtstaaten ihre Rivalitäten bei den Panhellenischen Spielen aus. Im 19. Jahrhundert stärken die Turner die Nationalbewegung. Jahrzehnte später stützt die Arbeiterbewegung durch Sport ihren Klassenkampf. Für sie alle ist Sport mit seinen Regeln und Hierarchien ein Instrument der Abgrenzung: Die Griechen gegen die Barbaren, die Turner gegen die Franzosen, die sozialistischen Proletarier gegen die Bürgerlichen. Sport stärkt Gegensätze: „Wir“ gegen „die Anderen“. Olympia Neuzeit Fanfare / Ansprache Coubertin Pierre de Coubertin belebt 1896 die Olympischen Spiele, weil er „nationale Egoismen“ überwinden will. Olympia wird dennoch zur Bühne für Propaganda und Protest: 1906 schwenkt der Weitspringer Peter O'Connor die irische Flagge, er will für die Unabhängigkeit seines Landes von Großbritannien demonstrieren. 1908 weigert sich das finnische Team, hinter der Fahne Russlands zu marschieren, das damalige Großfürstentum will sich vom Riesenreich lossagen. Sport zeichnet sich als Brennglas politischer Konflikte ab: Auf der Laufstrecke oder dem Spielfeld treten Athleten gegeneinander an. Athleten – und Botschafter von Staaten, Regierungen, auch Diktaturen. Olympia 1936 Rede Hitler Endgültig verliert der Sport seine Unschuld in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mussolini nutzt die Fußball-WM 1934 in Italien als Werbung für seinen Faschismus. Zwei Jahre später wollen Adolf Hitler und Joseph Goebbels bei den Olympischen Spielen in Berlin der Welt vorgaukeln, wie weltoffen die Nationalsozialisten sein können. Olympia 1936 Rede Goebbels Die Wiederaufnahme des Sportbetriebs nach dem Krieg wird von mäßigen Zuschauerzahlen begleitet. Ab den sechziger Jahren richten Veranstalter ihre Wettbewerbe am Fernsehpublikum aus. Attraktive Frauen werden in Wettkampfpausen ebenso ins Bild gerückt wie nationale Symbole. Sponsoren binden ihre Zahlungen an Fernsehübertragungen. Reporter pflegen Superlative und Militärrhetorik, sprechen über den „Kampf um Medaillen“, den „Krieg im Strafraum“. Mit der Kommerzialisierung wächst der Drang vieler Regierungen, Sportereignisse austragen zu wollen. Sie erhoffen sich Aufbruch, Prestige, Nationalgefühl. Politik im Gewand des Unpolitischen. DDR-Sport Der Sport gerät zwischen die Fronten des Kalten Krieges: Goldmedaillen werden zu ideologischen Trophäen, Funktionäre steigen zu Staatsmännern auf. Walther Tröger ist in jener Zeit ein Moderator zwischen West und Ost. Fast sechzig Jahre hat er Ämter im deutschen Sport ausgeübt, im Deutschen Basketballbund, als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, als Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, des IOC. „Und ich habe alle Bundespräsidenten persönlich kennengelernt, alle Bundeskanzler persönlich kennengelernt. Und manchmal sitzt man auch in gemütlicher Runde beieinander, und dann kommt auch eine Stimmung von Auge zu Auge auf, ich habe nie Probleme damit gehabt. Und wir haben auch sehr freundschaftliche Beziehungen zum Teil gehabt. Wobei ich jetzt sage: Selbst Politiker biedern sich manchmal beim Sport an, weil sie sich davon Vorteile verschaffen. Aber das war gar nicht nötig: ich habe schnell ein unbefangenes Verhältnis zu Politikern gehabt, bin mit Länderministern oder Bundestagsabgeordneten heute noch befreundet, mit denen ich sehr viel zusammen gemacht habe.“ Die Nationalisierung schreitet voran. Im Ostblock werden Sportler in Armee, Polizei und Staatsdienst versorgt, wie Soldaten werden sie vor Olympia auf den Dienst am Vaterland eingeschworen. Ende 1979 besetzen sowjetische Truppen Afghanistan. Das Olympische Komitee der USA beschließt, die Spiele in Moskau zu boykottieren, 64 Komitees schließen sich an, auch das deutsche. Rede Helmut Schmidt „Und das haben wir 1980 erlebt, bei dem Boykott, der überhaupt nichts gebracht hat, wo der Sport als einziger, gezwungen von der Politik, ein Opfer bringen musste. Es war ein Nadelstich, und alle anderen, Kultur, Kirchen, Wirtschaft, Politik haben die Beziehung weitergeführt mit der Sowjetunion. Nur der Sport war in Moskau nicht vertreten.“ Kein sowjetischer Soldat zieht wegen des Sportboykotts aus Afghanistan ab. Vier Jahre später folgt die Retourkutsche: Die Ostblockstaaten bleiben den Spielen in Los Angeles fern. Die olympische Idee gilt der Friedenstiftung und dem Abbau von Vorurteilen, doch nun droht sie zu einem Basar von Machtspielen zu verkümmern. Der Westen hinkt dem Staatssport des Ostens hinterher, er stärkt nun seine Strukturen, lässt sich in die Jagd nach Ruhm und Medaillen treiben. Es ist eine Zeit, in der Sport und Politik auch in der Bundesrepublik zusammenrücken. Eine Zeit, die eine Generation von Athleten und Funktionären prägt. „Ich war Landesvorsitzender der Jungen Union in Berlin und stellvertretender Parteivorsitzender der CDU und ich habe all diese Posten aufgegeben, als ich dann in den Sport gewechselt bin.“ Manfred von Richthofen gehört dem deutschen Sport über Jahrzehnte an, als Lehrer, Trainer im Hockey, Direktor des Landessportbundes Berlin, Präsident des Deutschen Sportbundes. Was hat er in der Partei für den Sport gelernt? „Mitgenommen habe ich sicher die andere Sprache. Es ist nicht notwendig, dass man mal in einer politischen Partei tätig gewesen ist. Aber da hinein zu riechen und einen engen Umgang mit Politikern zu führen, halte ich nach wie vor für zwingend. Sie brauchen taktisches Gespür. Ich habe mich immer dafür ausgesprochen, dass unsere Sportfunktionäre auch in Kursen erleben, wie man mit den öffentlichen Händen gut umgeht. Ich meine, dass sich vieles nicht unterscheidet, dann, wenn es um höhere Positionen und einflussreiche Positionen geht. Obwohl bei vielen Festtagsreden des Sports ja betont wird, wie edler doch die Sportfunktionäre einzuordnen sind – das bezweifele ich.“ Musik Chinesische Klänge Die Olympischen Spiele haben noch keinen Krieg beendet, keinen religiösen Konflikt gelöst, doch es gibt sie: Diplomatie durch Sport. Zum Beispiel in China, Anfang der siebziger Jahre. Durch Verfolgung und Hungersnöte sind Millionen Chinesen gestorben, die Volksrepublik droht auszubluten. Auch sportlich ist das Riesenreich isoliert: seit 1952 nehmen Chinesen nicht mehr an Olympia teil, weil der Weltsport das abtrünnige Taiwan akzeptiert. Ping Pong - Geräusche In dieser Zeit möchten die Chinesen ihre Beziehung zu ihrem Klassenfeind auf eine neue Basis stellen. 1971 laden sie das amerikanische Tischtennisteam nach Peking ein, 18000 Chinesen erleben im Sportpalast erstmals leibhafte „Imperialisten“. Die Wettkämpfe sind das Rahmenprogramm für geheime Treffen des amerikanischen Außenministers Henry Kissinger mit der chinesischen Führung. Ihnen folgt im Februar 1972 der Besuch des US-Präsidenten Richard Nixon bei Mao. Sportpolitik im Sinne des Wortes, in die Geschichte eingegangen als „Pingpong-Diplomatie“. Rede Nixon „Sport kann durchaus auch dazu führen, Annäherung wieder herzustellen. Ob das Israel oder Palästina ist, ob das im bürgerkriegsgeschüttelten Haiti ein Spiel der brasilianischen Nationalmannschaft ist. Hier hat es in der Vergangenheit eine Fülle von Ereignissen gegeben, in denen Sport auch durchaus seine positiven Effekte und Elemente zum Ausdruck gebracht hat.“ Jürgen Mittag ist Sportpolitik-Professor an der Sporthochschule in Köln, er analysiert Ausschlüsse und Streit um Protokollfragen des Sports. Die Olympia-Boykotte im Kalten Krieg werden noch heute diskutiert. Die Wirkung des Druckmittels Sport? In allen Fällen: bescheiden. Doch wo kommt der Sport weiter als Politik? Ein Blick nach Südafrika, während der Apartheid. Seit den fünfziger Jahren rekrutieren die Südafrikaner ihre Spitzenathleten aus der weißen Minderheit, Schwarze dürfen nicht gegen sie antreten. Sportverbände wie das IOC oder der Weltfußballverband Fifa dulden die Diskriminierung. Erst nach dem Einreiseverbot des schwarzen US-Tennisspielers Arthur Ashe verbannen die meisten Verbände Südafrika aus ihren Sportstrukturen. Vor Olympia 1976 in Montreal verlangen fünfzehn afrikanische Staaten den Ausschluss Neuseelands. Dessen Rugbymannschaft hatte mehrfach in Südafrika gespielt, ohne ihre farbigen Ureinwohner, ohne die Maori. Das IOC weigert sich, der Forderung nachzugeben – dreißig Länder boykottieren die Spiele. Sportpolitik-Professor Jürgen Mittag sagt, durch Sportboykotte sei mehr Druck auf Südafrika ausgeübt worden als durch Wirtschaftssanktionen. Musik Die Politische Neutralität ist eine systemische Lüge des Sports. Denn Politik ist mehr als Partei und Parlament – Politik ist Werte-Debatte, Reflektion von Moral und Teilhabe an Gesellschaft. Funktionäre wollen das nur wahrhaben, wenn ihnen „Neutralität“ eine Nähe zur Macht verschafft. Meist ist „Neutralität“ ihr Schutzschild: vor schwierigen Diskussionen, vor schwierigen Entscheidungen. Musik 1978 findet die Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien statt. Seit zwei Jahren steht das Land unter einer Militärdiktatur, die Oppositionelle foltert, verschleppt, tötet. In Deutschland fordern Menschenrechtsorganisationen von der Nationalmannschaft Hilfe für Flüchtlinge. Wilfried Gerhard, Pressereferent des Deutschen Fußball-Bundes, antwortet: „Wir fühlen uns nicht dafür zuständig, als Sportverband politische Systeme zu begutachten, anzugreifen oder zu rechtfertigen.“ Musik WM-Song mit Udo Jürgens Die deutschen Fußballer konzentrieren sich auf Spiel und Gesang. Und was halten sie von Politik? „Also die politischen Zustände in Argentinien interessieren mich überhaupt nicht, muss ich ehrlich zugeben, ich konzentriere mich auf die Fußball-Weltmeisterschaft.“ „Nachher kommen wir rüber und sprechen uns da drüben aus und dann werden wir selbst verhaftet.“ „Das ist eine Sache der Regierung. Und die müssen da eben handeln und entscheiden. Da haben wir überhaupt nichts mit zu tun.“ Reporter fragt Berti Vogts: „Bedrückt es Sie, dass in Argentinien die Menschenrechte verletzt werden?“ „Meinen Sie, dass wenn diese Fußball-Weltmeisterschaft in der Sowjetunion stattfinden würde, ob Sie dasselbe Interview auch machen würden?“ Die Nationalspieler Klaus Fischer, Sepp Maier, Ronnie Worm und Berti Vogts verkörpern 1978 eine Ignoranz, die Sportverbände über Jahrzehnte prägen wird. Toleranter verhält sich der DFB in Argentinien gegenüber einem anderen „Politiker“. Gegenüber Hans- Ulrich Rudel, bekannt geworden durch solche Aussagen: „Wir gedenken auch des Reichsministers Heß, der unverständlicher Weise noch heute im Zuchthaus in Spandau schmachten muss. Anstelle den Friedensnobelpreis in Empfang zu nehmen, leidet er.“ Hans-Ulrich Rudel, Wehrmachtsoffizier, Ritterkreuzträger, Fluchthelfer für NSVerbrecher. Die Militärjunta lädt das Vorbild für alte und neue Nazis zur WM nach Argentinien ein, und auch der DFB öffnet für ihn sein Quartier in Ascochinga. Der damalige Verbandspräsident Hermann Neuberger: „Ich glaube, die NPD, für die er immer sprach, ist eine zugelassene Partei. Und wenn der Vorsitzende der zugelassenen kommunistischen Partei gekommen wäre und hätte auf diesem Weg Zutritt bekommen nach Ascochinga, hätte ich mich genauso verhalten.“ Atom-Explosion Mururoa-Atoll im Südpazifik startet Frankreich 1995 eine weitere Serie von unterirdischen Atomwaffentests. Dem weltweiten Protest schließt sich die Schweizer Fußball-Nationalmannschaft an, vor ihrem Länderspiel in Göteborg entrollen die Spieler ein Transparent, gerichtet an den französischen Präsidenten: „Stop it Chirac“. Nachrichten Schweizer Fernsehen Imke Duplitzer „Die Olympischen Spiele oder jeder Athlet und Fußballer, und alles was mit Sport zu tun hat, verkaufen eine Idee, dass man mit fairen Mitteln einen fairen Wettkampf bestreitet und dann als Vorbild, als Held da rausgeht, weil man eben besonderes geleistet hat.“ Imke Duplitzer, eine der erfolgreichsten Fechterinnen Deutschlands. „So viele unkrititsche Menschen wie im Leistungssport habe ich selten irgendwo gesehen. Es heißt, wir Sportler übernehmen eine bestimmte Verantwortung: für uns, für unsere Mannschaft. Mittlerweile ist es leider in der Sportwelt so, dass die Verantwortung, die Sportler übernehmen, nur noch sehr gering ist. Weil sie Manager haben, weil sie Sponsoren haben, weil sie Verbände haben, die für diese Athleten denken und lenken. Und der Athlet im Grunde nur noch das dumme Vieh ist, was möglich schnell läuft, hoch springt, auch noch gut aussieht und ansonsten willig die Klappe zu halten hat. Wenn ich als erstrebenswerte heilige Kuh hin gestellt werde, dann muss ich auch ein bisschen mehr auf dem Kasten haben, als 100 Meter in acht Sekunden zu laufen, wenn das irgendwann mal möglich sein sollte.“ Demo gegen Menschenrechtsverletzung Tibet Vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 kritisiert Imke Duplitzer den Umgang der chinesischen Führung mit Menschenrechten. Sie boykottiert die Eröffnungsfeier und bezeichnet das IOC als „Feudalherrscher-Club“, der sich nicht für Athleten interessiere. Fortan wird sie Probleme bei der Einreise nach China haben. Sponsoren findet sie kaum. Renn-Geräusche Im April dieses Jahres macht die Formel 1 Station im Golf-Königreich Bahrain. Während Rennwagen im Kreis fahren, foltert das Regime Oppositionelle. Der deutsche Weltmeister Sebastian Vettel sagt, er könne als Sportler politisch wenig ausrichten. Stattdessen wolle er sich auf „wichtige Dinge“ konzentrieren, die Reifentemperatur. „Ein Sportler kann schweigen und kann nach außen neutral zu dieser politischen Situation stehen.“ Wenzel Michalski, Deutschland-Chef von Human Rights Watch. „Wenn ein Sportler sagt: ich verstehe ja die ganze Kritik nicht, ich bin hier, um Sport zu treiben, das hat damit gar nichts zu tun, die empfangen mich hier nett. Dann schon fungiert der Sportler als Sprachrohr für das Regime. Das ist genau das, was so ein Regime möchte: dass eine Normalität vorgegaukelt wird.“ Sportverbände wollen lukrative Märkte erschließen, so finden Wettbewerbe in Ländern statt, in denen Menschenrechte eingeschränkt sind: Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, die Eishockey-WM 2014 in Weißrussland, die Basketball-EM 2015 in der Ukraine, die Fußball-WM 2018 in Russland und vier Jahre später in Katar. Nutzen Verbände bei ihrer Sichtung auch Recherchen von Menschenrechtsorganisationen? „Nein, die haben noch nie Kontakt mit uns gesucht, weil ja die offizielle Linie immer ist: Sport und Politik sind völlig zu trennen. Wir würden schon Sportverbänden gegenüber einen Vortrag halten oder mit denen so reden, sie über unsere Richtlinien aufklären und wie man sich in welchen Situationen verhalten kann.“ München 2018 Empörter Landwirt Die Bewerbungsphase für die Olympischen Winterspiele 2018 wurde in der Kandidatenstadt München und ihrer Außenstelle Garmisch-Partenkirchen von Protesten und Bürgerbegehren begleitet. Schrecken demokratische Prozesse die obersten Sportfürsten bei ihren Entscheidungen ab? Gunter Gebauer ist Philosoph an der Freien Universität Berlin, ein Vordenker des deutschen Sports. „Dann hat man eigentlich den Eindruck, dass sich die internationalen Verbände das Leben jetzt leicht machen und sich sozusagen auf den Schultern der absolutistisch regierten Länder ausruhen wollen. Wird ihnen sehr viel versprochen, was ein normales demokratisches Land nicht ohne weiteres versprechen kann. Es wird versprochen: innere Sicherheit, Ruhe im Land, unbegrenzt viele materielle Möglichkeiten, Steuerfreiheit und die Freiheit vor öffentlicher Diskussion. Ich glaube, demokratisch geführte Länder haben es sehr, sehr schwer, sich da durchzusetzen.“ Die Menschenrechte sind der Konsens der Weltpolitik. Sportverbände haben sich nie auf einen ernst zu nehmenden Werte-Katalog einlassen können: Wofür soll der Sport eintreten? Wogegen muss der Sport Stellung beziehen? Thomas Bach ist Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes und Vize des IOC. Er sagt, das IOC sei keine Weltregierung, die Nationen in gut und böse teilt. Er sagt auch, Olympia würde wie in China eine jahrelange Debatte anstoßen. Amnesty International entgegnet, nach den Spielen in Peking habe sich die Lage für Regimegegner verschlechtert. Ist Demokratie im Sport relativ? Der langjährige Funktionär Walther Tröger: „Das IOC ist ein Ganzes aus 115 Mitgliedern, aus über 200 NOK’s. Von diesen 115 Mitgliedern sind über die Hälfte keine Nordamerikaner und keine Europäer – und die entscheiden mit. Und die sagen: China hilft uns. Und China ist für uns eine Demokratie. Und die entscheiden dann eben für China.“ Blatter-Rede Die milliardenschweren Konzerne IOC und Fifa unterliegen an ihrem Standort Schweiz dem Vereinsrecht. Die Entscheidungen über wichtige Wettbewerbe treffen nicht große Kongresse, sondern kleine Führungszirkel, mit 13, 17 oder 24 Mitgliedern. Auch deutsche Verbände beharren auf Autonomie, sie seien staatlich unabhängig und nur sich selbst verantwortlich gegenüber. Tatsächlich? Der Sportmanagement-Experte Christoph Breuer von der Sporthochschule Köln beziffert die Förderung des Sports durch Bund, Länder und Kommunen auf mehr als sechs Milliarden Euro im Jahr. Nicht eingerechnet: Steuerausfälle in gemeinnützigen Vereinen, Sicherheitskosten bei Großveranstaltungen, Gehälter der Sportlehrer, Bürgschaften für klamme Profiklubs. Bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver waren fast die Hälfte der 153 deutschen Athleten Soldaten. Die Bundeswehr schließt oder einhundert Standorte. Die rund 750 Mitglieder der Sportförderkompanien sind nicht betroffen. Wer kontrolliert diesen Apparat, der staatlich unabhängig sein will, aber ohne Steuergeld implodieren würde? Wer beobachtet Funktionäre, die vorgeben unpolitisch zu sein? Funktionäre, die sich selbstbewusst auf die Schultern klopfen, weil Sport Integration, Gesundheit oder Mobilität im Alter fördert. Die aber Schulter zuckend die Verantwortung an den Staat weitergeben, weil Sport mit Doping, Gewalt oder Wettmanipulation zu kämpfen hat. Wer betont das Offensichtliche: dass es Autonomie im staatlich gestützten Sport nicht geben darf? „Im besten Fall kontrolliert der Sportausschuss, kontrollieren wir als kritische Abgeordnete den Sport. Dazu muss man das aber wollen. Dazu muss man auch Sachen in Frage stellen und vielleicht auch andere Quellen nutzen als nur die Quellen des Sportes. Wenn ich mich ausschließlich informieren lasse über den Sport, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich da etwas kritisch hinterfrage, gering.“ Viola von Cramon ist Abgeordnete der Grünen und Mitglied des Bundestags- Sportausschusses. Sie hat oft auf die Menschenrechtsproblematik der Ukraine hingewiesen, neben Polen Gastgeber der Fußball-EM in diesem Jahr. Sie hat Briefe an die Organisatoren geschrieben, Pressemitteilungen verschickt, Kleine Anfragen im Bundestag gestellt. Timoschenko Ukraine Von Cramon will die Aufmerksamkeit auch auf Sotschi lenken und die Winterspiele 2014: auf Umweltschäden, Zwangsumsiedlungen, die Verfolgung von russischen Oppositionellen. Doch sie hat nicht den Eindruck, dass alle ihrer Ausschuss- Kollegen dasselbe Ziel verfolgen. Sportausschuss Der Sportausschuss wurde 1969 ins Leben gerufen, anlässlich der Spiele 1972 in München. Das Gremium soll kontrollieren, dass Steuermittel das Gemeinwohl stärken, nicht die bloße Jagd nach Medaillen. Einige der aktuell 18 Mitglieder sind selbst im Sport aktiv: Die Ausschuss-Vorsitzende Dagmar Freitag von der SPD ist Vizepräsidentin des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, der einstige Turner und heutige CDU-Abgeordnete Eberhard Gienger war vier Jahre Vizepräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes. Sein Parteikollege Frank Steffel ist Präsident der Reinickendorfer Füchse in Berlin. Viola von Cramon: „Ich halte diese Doppelhut-Funktion für sehr schwierig. Wenn Sie sich vorstellen, dass im Finanzausschuss Vertreter des Bankenverbandes sitzen oder Versicherungsvertreter sitzen oder irgendwie mit der Finanzwirtschaft zu tun hätten – natürlich kommen einzelne aus dem Bankenbereich – aber dass das durchgängig mit Vertretern der Institutionen zu tun hat, die sie eigentlich kontrollieren soll, ich glaube, das würde nicht akzeptiert werden. Und das ist im Sport, ich würde nicht sagen ausschließlich, aber mehrheitlich so.“ Collage Weltrekord Eine angemessene politische Kontrolle des Sports hat es nie gegeben – übernehmen Medien diese Wächterfunktion? Der Sportjournalismus hatte seinen Ursprung nicht in der Absicht, Missstände aufzudecken. In Frankreich rief die Sportzeitung L’Auto 1903 eine Radrundfahrt ins Leben, um ihre Auflage zu steigern: die Tour de France. Jahrzehnte lang verpflichteten Zeitungen Sportler als Berichterstatter. Aus Berichterstattung wurde Inszenierung. Und heute? Politikkorrespondenten berichten kostenfrei aus dem Bundestag, Finanzexperten gratis aus der Börse. Doch Fernsehanstalten müssen hunderte Millionen an Rechteinhaber überweisen, um Olympia oder Fußball übertragen zu dürfen. Journalisten sind Teil einer Unterhaltungsindustrie und haben eine öffentliche Wahrnehmung manifestiert: Sportler sind Leitfiguren. Sie haben politische Kraft, wollen diese aber nicht wahrhaben. Der Philosoph Gunter Gebauer: „Im Sportjournalismus herrscht immer Erleichterung, wenn die Spiele endlich losgehen, weil man dann die politischen Themen los ist. Kritik gegenüber dem Sport ist immer sehr gering, auch wenn Sportler sich daneben benehmen. Sportler haben, glaube ich, das große Glück, im Unterschied zu Politikern, dass man ihnen wirklich nicht auf die Finger guckt.“ Siegermusik und Eröffnungsrede In wenigen Tagen beginnen die Spiele in London. Auch dort zählt das Ergebnis, nicht der Weg dorthin. Der Medaillenspiegel wird wieder zu einer Rangordnung der Völker überhöht. Zum Bühnenbild gehören Einmärsche von Athleten, Flaggen, Hymnen, Rekorde. In einer Welt, in der Länder wirtschaftlich, technologisch und kulturell zusammen rücken, muss der Sport als letzter Spielplatz für Nationenzwist herhalten. Die Grenzen sind auch bei Olympia fließend. 1968 traten die amerikanischen Läufer Tommie Smith und John Carlos in Mexiko City für die schwarze Bürgerrechtsbewegung ein? Wie würde das IOC heute reagieren? Noch immer sind politische Botschaften an Sportstätten verboten. Wenzel Michalski von Human Rights Watch. „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf freie politische Meinungsäußerung. Und wenn das Olympische Komitee das verbietet, dann benimmt es sich genauso wie Staaten zum Beispiel wie Saudi Arabien oder Weißrussland.“ Attentat Israel 1972 In diesem Sommer jährt sich das palästinensische Attentat auf elf israelische Sportler während der Spiele in München 1972 zum vierzigsten Mal. Die israelische Regierung bat um eine Schweigeminute während der Eröffnungsfeier in London, das IOC lehnte ab. 23 arabische Länder werden an den Spielen teilnehmen, 53 muslimische Nationen. Das IOC will kein Mitglied der olympischen Familie vor den Kopf stoßen. Die Funktionäre bezeichnen das als Neutralität. Doch es gibt auch eine andere Bezeichnung dafür, allen gerecht werden zu wollen: Politik.