COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 13. Juni 2012, 19.30 Uhr Der Beginn des Aufbegehrens Die Schwabinger Krawalle 1962 Von Georg Gruber Atmo: Eine Gitarre wird gestimmt oder einfacher Gitarrenakkord 1. O-Ton Wolfram Kunkel, Schauspieler, 1962 Straßenmusikant, Interview 2012 Ich meine, wir hatten damals ein Lied gesungen, ein südrussisches Seemannslied, ich meine vom schwarzen Meer und das hieß "Mein kleiner Seemann". Das kann ich nicht mehr singen, ich habe damals eine extrem hohe Stimme gehabt, ich habe immer diese Oberstimme gesungen, das ist weit von mir weg, das kann ich nicht mehr singen, nein. 2. O-Ton Bewohnerin von Schwabing über Krawalle, O-Ton von 1962 Ich gehöre zu den Leidtragenden, die in der Leopoldstraße wohnen und ich habe leider die ganzen Krawalle von Anfang bis Ende unmittelbar vor meinem Fenster erleben müssen. Und es war ein sehr unschöner Anblick, denn wir sahen, wie Halbstarke mit ihren Bräuten randalierten, Autos anhielten, mit Steinen und Fußtritten demolierten, am Weiterfahren behinderten, ebenfalls einheimische und ausländisch Touristenbusse, die völlig festfuhren, die nicht zurück konnten, selbst Straßenbahnen wurden angehalten und durch Twisttänze am Weiterfahren gehindert, bis also ein völliges Verkehrschaos entstand und eine Massenhysterie und nach leider einer viel zu langen Zeit endlich die Polizei erschien. Und es ist keineswegs so, dass die Polizei die Bevölkerung nur drei Mal aufgefordert hätte, die Straße zu räumen, sondern sie tat es unendlich viele Mal, also hat die Massen förmlich angefleht, verlassen sie die Leopoldstraße. 3. O-Ton: Frau, Opfer von Polizeigewalt, O-Ton von 1962, (mit Straßenatmo) Aber da kam schon die Polizei mit dem Gummiknüppel an und sagte: sofort Café räumen, aber sie ließen uns keine Zeit, der Aufforderung nachzukommen, sondern schlug sofort auf die Leute ein, die überhaupt keine Chance hatten, weg zu kommen. Und wir versuchten weg zu kommen, aber alle Tische und Stühle fielen um und es war ein Durcheinander und im Laufe bekam ich natürlich auf den Hinterkopf einen Schlag mit dem Gummiknüppel und auf den Rücken auch. Und ich versuchte weg zu kommen und es gelang mir dann schließlich auch. Musikakzent Autor Schwabing war Anfang der 60er Jahre das angesagte Viertel in München, bevölkert von Künstlern, Studenten, Touristen. Es gab Kneipen mit Live-Musik, Eiscafés, Pflastermaler und Straßenmusikanten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts war Schwabing besonders: Maler, Literaten, Intellektuelle, Freigeister, Revolutionäre aller Sorten trafen sich in Salons und Lokalen. "Schwabing ist kein Ort, sondern ein Zustand", dieser Satz, den Fanny Gräfin zu Reventlow damals geprägt hatte, galt auch nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 50er und 60er Jahren. 4. O-Ton Elmar Altvater, 2012 Schwabing war halt damals so eine bohemienhafte Gegend, die einzige eigentlich in Deutschland, und da gingen halt alle die hin, die mal etwas anderes erleben wollten. Und da war die Universität, die auch in Schwabing lag, oder am Rande von Schwabing, zwischen Innenstadt und dem Zentrum Schwabings, wenn man so will. Autor Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater. Er studierte im Sommer 1962 in München. 5. O-Ton Wolfram Kunkel Das Besondere an dem Stadtteil waren schlicht die Künstler, die Schriftsteller, Sänger, Maler, Bildhauer, damals gab es auch sehr interessante Gruppen, die Gruppe SPUR oder Netzwerke gab es verschiedene. Und dann waren interessante Leute wie Herr Kunzelmann, Kommunarde Kunzelmann, der dann auch merkwürdige Schriften rausgab, also es hat einen alles neugierig gemacht, was da an Leben war. Autor Der Schauspieler Wolfram Kunkel. Im Sommer 1962 war er 19 und Lehrling in einem Betrieb für Feinmechanik und Optik. Auf dem Weg zur Arbeit radelte er immer durch Schwabing. 6. O-Ton Kunkel Und es war ein durchaus unbürgerliches Leben, es war aber auch Raum für unbürgerliches Leben, es gab sehr schöne Hinterhöfe, mit ehemaligen Glasereien und Schreinereien, also Handwerksbetrieben, wo dann Leute sich noch ein Atelier leisten konnten, was ja heute nicht mehr der Fall ist, ist ja alles wegsaniert. Und heute ein Atelier in Schwabing, da müsste einer schon Millionär sein. Musikakzent / Gitarrenakkord unter dem Autor aufblenden Autor Nach der Arbeit machte Wolfram Kunkel oft Musik - und löste so ungewollt die Schwabinger Krawalle aus, die mehrere Nächte lang die bayerische Landeshauptstadt erschütterten und Aufsehen im In- und Ausland erregten. 21. Juni 1962, Fronleichnam: Ein lauer Sommerabend, der erste nach vielen Regentagen. Wolfram Kunkel spielt mit vier Freunden Volkslieder aus aller Welt, auf der Leopoldstraße, die zugleich Flaniermeile und viel befahrene Verkehrsachse ins Zentrum der Stadt ist. 7. O-Ton Wolfram Kunkel 2012 Die Leute waren begeistert, es kam Publikum ohne Ende, bis halt der Fußweg rappelvoll war. Und nach einiger Zeit fuhr eben eine Funkstreife vor und die haben wir erst gar nicht wahrgenommen, weil so viele Leute da standen. Und die bahnten sich dann einen Weg zu uns durch und sagten, wir sollen aufstehen, sofort mitkommen, und die haben auch noch nachgeholfen, durchaus, und wurden dann in die Funkstreife bugsiert. Autor Ein Anwohner hatte sich beschwert. Die Zuhörer sind empört, rufen "Vopo! Vopo!" und "Nazipolizei!" und wollen die Musiker befreien, heben das Polizeiauto hoch und lassen es wieder fallen. Aus einem Hinterreifen wird die Luft herausgelassen. 8. O-Ton Wolfram Kunkel 2012 Und die haben dann versucht, mit dem kaputten Reifen trotzdem loszufahren, was aber nur dazu geführt hat, dass man nur ein paar zig Meter gekommen ist und auf der Straße versucht hat zu wenden. Es war ja ein Mordsverkehr auch, der wurde natürlich auch immer mehr gestört und gestoppt, durch die vielen Leute, die dann da auch uns eigentlich befreien wollten. Und wir wurden dann in eine andere Funkstreife verfrachtet und in die Ettstraße gebracht, auf die Wache. Autor Wo Wolfram Kunkel die Nacht bis zum nächsten Morgen verbringen muss, in einer Zelle mit anderen "Unruhestiftern". So dicht gedrängt, dass sie nicht mal am Boden sitzen können. Walter Renner war an diesem Abend als Polizist im Einsatz, er lebt damals in Schwabing, geht in die gleichen Kneipen wie die Studenten. Seine Funkstreife ist zur Verstärkung in die Leopoldstraße gerufen worden. Für ihn kommen die Auseinandersetzungen nicht überraschend: 9. O-Ton Polizist Walter Renner, Interview 2012 Ich würde sagen, ab Winter ist es schon los gegangen, dass wir gemerkt haben, rund um die Universität, Ausgangspunkt war eigentlich die Universität, dass rund um die Universität es schwieriger geworden ist, Einsätze zu fahren. Dass wir angemotzt worden sind, dass nicht ohne weiteres das gemacht worden ist, was wir angeschafft haben, das war ganz ein normaler Verkehrsunfall, dann hat das schon nicht mehr so richtig funktioniert. Wir sind so unterschwellig beschimpft worden, und es hat sich eine Spannung aufgebaut, ich würd mal sagen, zwischen Studenten und Polizei. Polizei aber als der Vertreter der Obrigkeit, als Vertreter der Staatlichkeit, es war so eine Art Vorahnung, Freunde, das dauert nicht mehr lang, da kommt einiges auf uns zu. Autor Während Wolfram Kunkel in der Zelle sitzt, strömen immer mehr Menschen auf die Leopoldstraße, vor allem junge Leute, Studenten, Lehrlinge, Akademiker. Bis die Polizei die Straße mit Gummiknüppeln räumt. Am nächsten Abend ist Wolfram Kunkel wieder frei, er trifft sich mit seinen Freunden im "Schwabinger Nest". Wieder füllt sich die Leopoldstraße mit Menschen, spontan und unorganisiert. Auf Fotos sieht man gut gelaunte, ordentlich gekleidete junge Männer und Frauen. 10. O-Ton Wolfram Kunkel 2012 Und so gegen 10, 11 Uhr, in dieser Zwischenzeit rückten Leute mit den Eisbechern immer mehr zum Verkehrsstraßenrand und dann zum Teil schon auf die Straße. Immer mehr Leute versuchten schlendernd die Leopoldstraße zu überqueren und dann aber sich da auch zu unterhalten und Klümpchen zu bilden, bis der Verkehr lahm gelegt war und Straßenbahn nicht mehr fahren konnte. Dann wurde auch getanzt auf der Straße, man schleckte da sein Eis, mitten auf der Straße, bis dann halt die Polizei wohl einschreiten musste, und die kam ja dann auch bald vom Siegestor her mit Megaphonen und bedrohten die Leute eben, sie sollten abhauen, sonst würden sie irgendwann mal härter durchgreifen und da wurde ja dann auch ordentlich durchgegriffen. Das habe ich miterlebt, ich habe auch selber einen Schlag abbekommen von einem Gummiknüppel, ich hatte keine Ahnung, dass das so eine Wucht hat, dass mir gleich das Hemd hinten abgerissen ist, unterhalb vom Kragen. Autor Hoch zu Pferde reiten die Polizisten über den Bürgersteig, zwischen die Stühle, Tische, Sonnenschirme der Cafés. Die Beamten schlagen auf jeden ein, der sich nicht schnell genug davon macht. Abend für Abend wiederholt sich das Schauspiel, fünf Nächte lang dauern die Straßenschlachten mit teilweise bis zu 10.000 Menschen auf der Leopoldstraße. Der Historiker Gerhard Fürmetz: 11. O-Ton Gerhard Fürmetz 2012 Der erste Abend war spontan entstanden, die Polizei war auch nicht darauf vorbereitet, da hat sich dann die Situation einfach hochgeschaukelt und in den Folgetagen ist natürlich sofort in der Presse, vom Rundfunk berichtet worden. Viele, die an diesem ersten Abend dabei waren, sagten sich: Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen, wir müssen am nächsten Tag wieder präsent sein und zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen. Über die Medien hat sich eine Art Werbeeffekt ergeben, viele haben dann auch gesagt: da ist was los , das möchte ich wissen, das will ich mir selber anschauen, was da los ist , da geh ich heute Abend auch hin. 12. O-Ton Polizist Walter Renner Das war jeden Abend das selbe Spielchen, mit Einbruch der Dunkelheit, so gegen 21 Uhr, um die Ecke rum, hat sich die Straße bevölkert, wurde die Leopoldstraße voll gemacht, dann hat sich beim Siegestor eine Polizeikette gebildet, diese Polizeikette waren nicht geschlossene Einheiten der Bereitschaftspolizei, die gelernt haben, in geschlossenen Einheiten zu arbeiten, sondern das waren die ganz normalen Streifenbeamten, die auf den verschiedenen Dienststellen waren und die sind quasi als eine Alarmhundertschaft zusammengerufen worden. Autor Walter Renner war in jenen Nächten ganz normal im Dienst, mit seiner Funkstreife in Schwabing - und kann so gut verfolgen, was sich auf der Leopoldstraße abspielte. 13. O-Ton Walter Renner 2012 Also die Polizeikette ist losmarschiert und hat versucht, diese Straße zu räumen, und dann hat irgendein Beamter einen gesehen, der vielleicht einen Stein gehoben hat oder irgendeine Flasche oder irgend sonst was und anstatt in der Kette zu bleiben, ist er dem sofort nachgelaufen und hat versucht, den festzunehmen, sodass die also spätestens wenn die Polizeikette vom Siegestor aus gesehen, wenn die an der Georgenstraße waren oder spätestens an der Franz-Josephstraße waren, hat es keine Polizeikette mehr gegeben, die hat sich aufgelöst, jeder hat sich irgendeinen geschnappt, der ihm aufgefallen ist und hat versucht, den festzunehmen oder zu vertrimmen, und damit war allgemeine große Rauferei. Autor Er kann sich auch noch daran erinnern, wie sich seine Polizeikollegen über die Einsätze unterhielten. 14. O-Ton Renner 2012 Das war also eine richtige lustige Geschichte. Da hat man quasi ohne Hemmungen drauflos arbeiten und drauflos hauen können und so ist der Erfahrungsaustausch untereinander gewesen. Was ist Dir passiert? Was hast Du erlebt und was hab ich erlebt? Und war´s lustig und war´s toll und so, also dieser Erlebnisfaktor, mal sich anders verhalten zu können, nicht zu dürfen, aber zu können, in der Situation: das hat eine größere Rolle gespielt bei Diskussionen intern. Das hat mit Sicherheit sehr vielen Freude bereitet. Im Grunde - Wirtshausrauferei mal X. Musikakzent / Gitarre 15. O-Ton Straßenumfrage 1962 Mann: Das war das, was der Oberbürgermeister den "gebildeten Pöbel" genannt hat, der hat die Leopoldstraße beherrscht, Mann: Waren Sie in einem Lokal drin und dann sans rauszogen worden und vorne haben´s draufgeschlagen? Mann: Das stimmt, das ist ja klarliegend, dass die Polizei einiges falsch gemacht hat, aber im Großen und Ganzen ist sie ja gezwungen, dass sie aufräumen hat müssen. Mann: Prügelstrafe ist die einzige Sprache, die diese Rowdies verstehen Mann: Die gehören noch viel besser geprügelt. Frau: also dass es eine Hundsgemeinheit war von dene Lausbuben, uns nicht schlafen lassen, und wissen Sie was die gemacht haben? Die haben fortwährend die Polizei provoziert. Mein Gott, Ordnung muss sein. Autor Opfer von Polizeigewalt werden auch Reporter und Fotografen und völlig unbeteiligte Passanten. So wird beispielsweise der amerikanische Vizekonsul gleich an zwei Abenden von Polizisten angegriffen und mit Gummiknüppeln geschlagen. 16. O-Ton 1962 Opfer Polizeiwillkür Frau: Wir gingen quer Richtung Traudenhofstraße auf die Polizei zu und fragen einen jungen Beamten: "Was ist denn hier los? Können wir da rüber gehen, wir wollen unsere Eltern besuchen." Packt der mich gleich hier vorn und schubst mich so zurück. Und dann sag ich: "Was fällt Ihnen ein, mich so anzufassen?" Und die Antwort war gleich einen Gummiknüttel über den Kopf. Hat mein Mann gesagt: "Rühren Sie meine Frau nicht an!" Es war also ein Mords-Durcheinander. "Die ist schwanger!". Und: "Was fällt Ihnen ein!" Dann hab ich wieder eins über den Kopf gekriegt. Und dann haben sie sich über meinen Mann hergemacht, und dann haben sie ihn zu zehnt oder zwölft, weiß nicht wie viele es warn, völlig zusammen geknallt, und haben ihn dann mitgeschleppt und dann haben mich hilfreiche Halbstarke nach Hause gebracht. 17. O-Ton Elmar Altvater Interview 2012 Ich bin da hineingeraten, als ich nach irgendeinem Kneipenbesuch, ich weiß gar nicht mehr, was das war, nach Hause ging, wohnte ja dort. Autor Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater, damals Student, später einer der Köpfe der 68er Bewegung. 18. O-Ton Elmar Altvater, Interview 2012 So gegen Mitternacht muss es ja wohl gewesen sein, und sah dann, wie ein Zivilist von einem Polizisten geschlagen wurde. Und ich in meiner Naivität bin dann zu anderen Polizisten hin gelaufen und wollte Anzeige erstatten. Und was dann passierte, war ganz eindeutig und ganz klar, ich bin eingebuchtet worden und hatte aber mit den Krawallen überhaupt nichts zu tun, und war dann aber mit hineingezogen wie sehr, sehr viele andere auch. Autor Er wird auf die Polizeiwache gebracht und kommt in eine Zelle, wurde mit mehr als 20 anderen zusammengepfercht, die zum Teil verletzt waren und bluten. 19. O-Ton Altvater 2012 Und in der Nacht kam dann also auch die Polizeigewaltigen, um ihre Beute zu besichtigen und einer von ihnen war der Herr Schreiber, der dann später auch Polizeipräsident wurde, der also auch Karriere gemacht hat, der mich dann auch fragte, was ich mache, wie ich heiße? Ich hab das dann auch gemacht, hab gesagt: Ich bin Student. - Ja in welchem Semester? - Und ich sagte: Sechstes oder so war ich damals. - Dann sind Sie ja kurz vor dem Examen? Und dann fügte er hinzu: Sie werden nie Examen machen. Das heißt, er ging davon aus, dass ich verurteilt würde und dann wegen Führungszeugnis oder irgendeiner anderen Geschichte dann gar nicht mehr an einer Universität mein Studium hätte beenden können, das hat mich natürlich besonders schockiert, denn wenn man noch jung ist und auch nicht genau weiß, welche rechtlichen Möglichkeiten man besitzt, dann ist das schon eine ziemlich heftige Drohung und ich hab das auch so empfunden, und nehme diesem Menschen das auch bis heute übel. Autor Es kamen auch Krawalltouristen aus anderen Stadtteilen und sogar aus anderen Städten - auch wenn es, wie der Historiker Gerhard Fürmetz sagt, nicht so viele waren, wie Teile der Medien damals schrieben. Die Urteile der Presse sind gespalten. Auf der einen Seite Kritik an den vermeintlichen "Unruhestiftern", den Studenten. So schrieb das 8-Uhr-Blatt: Zitator (8-Uhr-Blatt, 24. Juni 1962) "Es ist unbedingt zu fordern, dass die studentische Selbstverwaltung von sich aus alles tut, um jenen Teil der Kommilitonen, die sich als Pöbel demaskiert haben, auszustoßen. Wenn die Hörsaalplätze der Radaubrüder auf diese Weise für Würdigere freigemacht würden, wäre das eine gewisse Rehabilitierung für die in ihrem Ruf schwer angeschlagene akademische Jugend." Autor Auf der anderen Seite Kritik an der Polizei. So kommentierte die Münchner Abendzeitung: Zitator (Abendzeitung, 23./24. Juni 1962) Tanz der Gummiknüppel. (...) Was sich ... einige Lederjacken-Bullen der Überfallkommandos am Donnerstagabend ... herausnahmen, war nicht nur ein Missgriff, sondern ganz schlicht ein Skandal." Autor Nach den Krawallen wehrt sich der Münchner Polizeipräsident Anton Heigl in der "Welt am Sonntag" gegen Kritik am Einsatzkonzept der Polizei. Zitator (Anton Heigl, Welt am Sonntag 1. Juli 1962, nach Fürmetz S. 70) "Ich kann nur sagen: Wir haben uns immer wieder und stundenlang alle überlegt, wie wir denn gegen diesen Sauhaufen vorgehen sollen. Wenn ich allen ein Zuckerbrot hätte geben können, ich hätte es getan, wenn sie danach gefolgt hätten. Wir haben wirklich stundenlang überlegt, denn meine Beamten und ich, wir sind keine Schlägernaturen, keine Tyrannen, keine Barbaren. Ich habe in jeder Sekunde daran gedacht, mich so zu verhalten, wie ich es vor meinen Kindern verantworten kann." Autor Auch der Münchner Oberbürgermeister Hans Jochen Vogel, SPD, der damals 36 Jahre alt ist, musste sich kritischen Fragen stellen, wie hier in einer Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks vom 3. Juli 1962, moderiert vom BR-Chefredakteur Hans Heigert. Die Polizei unterstand damals formal nicht dem Bayerischen Innenministerium, sondern der Stadt München, somit hätte der Oberbürgermeister durchaus Einfluss nehmen können auf das Vorgehen der Polizei. 20. O-Ton TV-Sendung BR, 3. Juli 1962 (Vogel): Herr Dr. Heigert, da muss ich jetzt auf den ersten Abend zu sprechen kommen, an dem ich persönlich draußen war. Ich bin das erste Mal Freitag Nacht verständigt worden, ich bin hingekommen, als ein erster Polizeiansatz, nach Berichten ohne Zwangsanwendung, bereits vorüber war, dann bin ich hineingefahren und habe etwa eine Viertelstunde über den Lautsprecher versucht, mit begütigenden und zur Vernunft mahnenden Worten auf die Anwesenden, die ja schon wieder auf der Fahrbahn standen und Fahrzeuge anhielten, einzuwirken. Ich bin dann aus dem Wagen heraus, habe mich unter die Gruppen gemischt, habe bei Vernünftigen Beifall gefunden, eine ganze Menge hat sich zerstreut, eine andere Gruppe hat in Anwesenheit des Oberbürgermeisters weiterhin den Verkehr aufgehalten, Wagen beschädigt und strafbare Handlungen fortgesetzt. 21. O-Ton Wolfram Kunkel 2012 Nach Wochen kamen dann sogar Haussuchungen bei uns, also bei mir, ich wohnte noch bei den Eltern, wurde mein Zimmer auf den Kopf gestellt, man hat sich gefreut über Dostojewski, Tolstoi, Gogol, alles lauter Russen, einen Samowar hatte ich, russische Schallplatten, Tonbandaufnahmen, eine Balalaika. Ja man hat sich gefreut, russische Umtriebe, kommunistische Umtriebe wurden uns unterstellt u.a., es waren ja Anklagepunkte ohne Ende, von Landfriedensbruch, Rädelsführerschaft und Widerstand gegen die Staatsgewalt, man ahnt es ja nicht, was da gebraut wurde Musikakzent Gitarrenakkord Autor In den fünf turbulenten Nächten wurden rund 400 Menschen festgenommen, darunter auch der spätere RAF-Terrorist Andreas Baader, damals ein 19jähriger Schüler. Der Historiker Gerhard Fürmetz: 22. O-Ton Gerhard Fürmetz Es gibt ein Protokoll, ein Vernehmungsprotokoll mit ihm, in diesem Protokoll wird er beschuldigt, andere Personen aufgestachelt zu haben, gegen die Polizei vorzugehen, wohl aber aus einer Empörung über das brutale Vorgehen der Polizei, er hat nicht selbst Hand angelegt, sondern er wurde von einem Polizisten in Zivil, der hat das gehört, dass er zu anderen Passanten, in dieser Richtung was gesagt haben soll, er wurde letztendlich aber dann mangels echter Beweise nicht verurteilt. Autor In den Prozessen, die auf die Krawalle folgten, tat sich die Staatsanwaltschaft schwer, einzelnen Angeklagten eine "Rädelsführerschaft" nachzuweisen. Letztlich erhielten 54 "Unruhestifter" nach teils monatelanger Untersuchungshaft Geld- und Bewährungsstrafen. Wolfram Kunkel hatte 40 DM zu zahlen, wegen Zitator (BayHStA, MJu 24032, Strafbefehle des AG München/Jugendschöffengericht vom 14.08.1962, zitiert nach Gerhard Fürmetz (Hg.) Schwabinger Krawalle, S 182) "einer in Mittäterschaft begangenen Übertretung des groben Unfugs" Autor Die zahlreichen Anzeigen gegen Polizisten wegen "Körperverletzung im Amt" während des Einsatzes und gegenüber Festgenommenen auf der Wache blieben folgenlos, lediglich vier Beamte wurden zu geringen Strafen verurteilt. Kritisch begleitet wurden die Verfahren von einer Bürgerinitiative, die sich im Sommer 1962 gegründet hatte, der "Münchner Interessengemeinschaft zur Wahrung der Bürgerrechte". Musikakzent / Gitarrenakkord Autor Die Schwabinger Krawalle endeten nach einem Wetterumbruch genauso plötzlich, wie sie begonnen hatten. Trotz der massiven polizeilichen Übergriffe erwuchs aus den Ereignissen keine politische Bewegung, dafür war die Zeit noch nicht reif. Dennoch war es vielleicht so etwas wie ein erstes Aufleuchten dessen, was kommen sollte. Zitator (Volkhard Brandes, Über einen vergessenen Aufbruch in die Revolte, S 37) "Es ist nicht nur Empörung, die die Menschen auf die Straße treibt." Autor Schreibt der Verleger Volkhard Brandes, der die Krawalle als Student miterlebt hatte. Zitator Volkhard Brandes "Es ist auch die Lust, sich selbst einmal jenseits der so eng gesteckten Normen und Schranken dieser Gesellschaft zu erfahren - und sei es auch nur für einen Moment und mag die Strafe für viele auch schmerzhaft gewesen sein. Einmal in Schwabing nicht nur sein Eis im "Rialto" schlecken oder sein Bier im "Leopold" in sich reinschütten, sondern mitmischen, wenn die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden." Autor Für den späteren APO-Aktivisten Dieter Kunzelmann waren die unruhigen Schwabinger Sommernächte des Juni 1962 ein Erweckungserlebnis besonderer Art - obwohl er zwar in Schwabing lebte, an den Ereignissen aber gar nicht beteiligt gewesen war. Zitator "Zum ersten Mal hatte ich erlebt, dass Hunderte von Menschen sich mit Gitarre spielenden ,Gammlern' solidarisierten und dass es nur eines banalen Anlasses bedarf, Ruhe und Ordnung schnell in ein prächtiges Chaos umschlagen zu lassen. Diese Erfahrung beeindruckte mich so tief, dass ich in den folgenden Jahren keine Gelegenheit ausließ, sie in anderer Form noch einmal erleben zu dürfen." 23. O-Ton Altvater Ich glaube, das war ein Kräuseln der Wasseroberfläche, als ein Wind darüber sauste, aber der Wind hörte dann sehr schnell auf und die Wasseroberfläche blieb sehr ruhig, bis 1966 oder 65 vielleicht. Autor Elmar Altvater sieht in den Schwabinger Krawallen lediglich eine "kleine Jugendrevolte", ohne Verbindung zur 68er Bewegung. 24. O-Ton Elmar Altvater 2012 Es gab kein revolutionäres Potential in Schwabing, oder auch in München nicht, zu jener Zeit überhaupt nicht, an der Münchner Universität , der damalige SDS hatte, ich glaube, ich täusche mich nicht, 11 Mitglieder, 11 von 20.000 Studenten, an dieser größten deutschen Universität gab es linke kritische Studenten eigentlich überhaupt nicht, eine Minderzahl, und es gab unter dem Lehrpersonal auch keine, die da hätten auch so Impulse geben können, weder theoretischer noch politischer Art, und das änderte sich alles erst nach 1966 67, 68 , vorher war da nix in München und in den anderen deutschen Städten eigentlich auch nicht. Autor Folgen hatten die Sommernächte des Juni 1962 für die Münchner Polizei. Bundesweit zum ersten Mal wurde ein Polizeipsychologe eingestellt. Manfred Schreiber, der damals einer der Verantwortlichen für den Polizeieinsatz war und 1963 Polizeipräsident wurde, entwickelte die sogenannte "Münchner Linie", die mehr auf Deeskalation setzte, als auf Konfrontation. Der Historiker Gerhard Fürmetz: 25. O-Ton Fürmetz 2012 Ein differenzierter Einsatz, nicht mehr mit geschlossenen Einheiten wahllos auf große Menschenmengen zu gehen, sondern zu versuchen, überhaupt solche Protestereignisse im Keim zu ersticken, in dem man unglaublich präsent war mit Streifentätigkeit, mit mehr oder weniger dezenter Überwachung potentieller Krisenorte. Die Münchner Polizei hat über Jahre hinweg in den Sommermonaten in Schwabing unglaublich viel Präsenz gezeigt, um von vornherein ein Protestereignis, wie damals in München 1962 im Entstehen zu verhindern, gepaart übrigens auch die Münchner Linie mit einem sehr, sehr harten Vorgehen gegen tatsächlich identifizierte Protestteilnehmer, die dann von der Justiz in der Regel sehr hart abgeurteilt wurden. Also insofern ist die Münchner Linie keineswegs eine weiche Linie, wie das dann oft auch kolportiert wurde, sondern im Gegenteil eine konsequente und harte Linie, die allerdings in der Öffentlichkeit, in den Medien viel weniger negative Schlagzeilen erzeugt hat, dann in der Folgezeit und die die Münchner Polizei auch sozusagen besser präpariert hat für die großen Protestereignisse der späten 60er Jahre. Autor In München wurden Polizeibeamte speziell für Demonstrationseinsätze geschult. Walter Renner: 26. O-Ton Polizist Walter Renner 2012 Da gibt es das berühmte Bild von dem Unterhak-Mayer, der in der ersten Reihe mit den Demonstranten, links und rechts eingehängt, ist mitmarschiert in der Uniform, durchaus dadurch auch beeinflusst. Der hat auch mal einen Rechtsschwenk marsch gemacht, und dann sind die in eine Seitenstraße reinmarschiert. Ich kann mich erinnern, an einem Tag ist der Demonstrationszug schlichtweg dreimal um den Schwabinger Bräu rummarschiert, in der eine rechtsradikale Veranstaltung war, an dem Tag wars halt nix, also so hat man das auch angefangen, Dinge zu lösen und zu entspannen, das ist schon gut gewesen dann, wo es teilweise in anderen Städten noch ziemlich rund gegangen ist, Berlin vor allen Dingen. Musikakzent aus heutiger Zeit (evtl. auch mit heutiger Atmo gemischt) Autor Schwabing hat heute nicht mehr viel mit dem Schwabing von 1962 gemeinsam, schon lange ist es nicht mehr das angesagte Ausgehviertel in München. Die Mieten sind teuer, zu teuer für viele Künstler und Studenten, die Kneipen nicht mehr das, was sie mal waren, viele sind verschwunden. Wo früher beispielsweise das "Schwabinger Nest" war, ist heute eine Parfümerie. Der ganz normale Gentrifizierungsprozess, der auch in anderen Städten abläuft. Doch es gibt Ansätze, den Schwabinger Geist wiederzubeleben, zum Beispiel im "Vereinsheim", einer Kneipe mit Kleinkunstbühne, in der vormals die "Schwabinger Gisela" residierte. Auf der Leopoldstraße flanieren die Touristen. Menschenaufläufe gibt es dort auch immer wieder, allerdings ganz andere als in den Sommernächten 1962: 27. O-Ton Polizist Walter Renner 2012 Da macht man heute nicht mehr lang rum, wenn ein Fußballspiel ist, das hat man ja bei der Weltmeisterschaft 2006 unmittelbar erlebt, da war bei jedem Spiel, bei dem Deutschland beteiligt war in irgendeiner Form, Minuten später war die Leopoldstraße zu, das hat man auch bei der Polizei schon gewusst, dann hat man schon Beamte gehabt, die eben am Odeonsplatz Umleitungen gemacht haben. Aus, fertig. Das löst sich im Laufe der Nacht wieder, dann leitet man den Verkehr um und die Sache ist vorbei. Also da regt sich heute keiner mehr auf, deswegen versuchen, die Straße zu räumen, das macht man heute nicht mehr. Autor Etwas mehr Pragmatismus, etwas mehr Bürgernähe bei den Ordnungshütern: Nicht nur die Schwabinger Welt hat sich seit den Krawallen an jenen heißen Junitagen vor 50 Jahren etwas verändert... Musikakzent / Gitarrenakkord Zitator, 8 Uhr-Blatt, 24. Juni 1962, zitiert nach Gerhard Fürmetz (Hg.), Schwabinger Krawalle. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Klartext Verlag, Essen 2006, ISBN 3-89861-513-8, S. 111 Fürmetz, S. 114 Volkhard Brandes, Über einen vergessenen Aufbruch in die Revolte. Schwabinger Nächte '62, in: päd.extra 14, 1986, S. 37 Dieter Kunzelmann, zitiert nach: Aribert Reimann, Dieter Kunzelmann: Avantgardist, Protestler, Radikaler, S. 93 1