Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag 09. Mai 2015, 11.05 – 12.00 Uhr Hohe Kunst und tiefer Sumpf – Das Teatro Massimo in Palermo Mit Reportagen von Karl Hoffmann Redakteurin am Mikrofon: Johanna Herzing Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Leben und Leben lassen – dieser Devise folgt Nicola, ein Fischhändler auf einem Markt in Palermo: Hier lebt es sich zwar ganz gut, es sind gesellige Leute. Aber natürlich gibt’s auch solche, die von der rechten Bahn abkommen. Die landen dann in dem anderen Theater: dort, wo die Justiz spielt. Aber die Menschen sind nun mal nicht alle gleich, jeder hat seinen eigenen Charakter. Wer redlich bleiben will, geht seiner Arbeit nach, wer das nicht will, lässt es eben bleiben. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Doch so gelassen sieht es nicht jeder. Der Intendant am städtischen Opernhaus: Die Mafia ist nach wie vor präsent. Die einzige Möglichkeit den Kampf gegen die Mafia zu gewinnen ist, in Kultureinrichtungen zu investieren. Ob es nun Theater, Bibliotheken, Museen oder Schulen sind. Dort entscheidet sich unsere Zukunft. Hohe Kunst und tiefer Sumpf – Das Teatro Massimo in Palermo. Gesichert Europas mit Reportagen von Karl Hoffmann. Am Mikrofon begrüßt Sie: Johanna Herzing. Sizilien und vor allem Palermo – jahrzehntelang und selbst heute noch wird oft im gleichen Atemzug die „Ehrenwerte Gesellschaft“, die Mafia genannt. Mordserien, Verfall, Elend und Gefahr – die Insel und vor allem ihre Hauptstadt gaben ein erschreckendes Bild ab. Und es schien, als würde sich daran auch nichts ändern. Doch dann leiteten zwei Bombenattentate die Wende ein: die Mordanschläge auf die beiden Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino Anfang der 90er Jahre führten zum Umdenken bei Politikern und Bürgern. Maschinengewehre, Soldaten, Prozesse in Luftschutzbunkern – so rückte der italienische Staat der Cosa Nostra zu Leibe. Und Palermo? … rief die Renaissance aus, den sogenannten „Palermitaner Frühling“, eine kulturelle und gesellschaftliche Wiedergeburt. Symbol dieses Neubeginns wurde das Teatro Massimo, Palermos gigantisches Opernhaus: 7.700 Quadratmeter Fläche, ursprünglich mehr als 3000 Sitzplätze - der historistische Bau ist eines der größten europäischen Opernhäuser. Seine Akustik wird viel gerühmt und etliche Virtuosen standen hier schon auf der Bühne. Doch die Mafia hat in Palermo nicht nur Menschen zu Opfern gemacht, sondern auch das Teatro Massimo: Fast ein Vierteljahrhundert lang hat sie sich hier eine goldene Nase verdient. Die sogenannte Sanierung des Gebäudes zog sich von 1974 bis 1997 hin. Eine Zeit, in der in dem Opernhaus kein einziges Konzert zu hören war, dafür dauernd der Presslufthammer. Palermos Frühling schließlich hat der Stadt das Massimo zurückgegeben. Heute wird hier wieder gesungen, musiziert und – repräsentiert: Reportage 1: Die Prinzessin und ihr Hofstaat Belle Epoque vom Feinsten. Wanddekorationen im altrömischen Stil, die dunkelrote Farbe blättert an manchen Stellen ab, wo Feuchtigkeit eingedrungen ist. Im Zentrum des Kaffeehaus-Saales eine prachtvolle feingliedrige Kenzia-Palme. Drumherum kleine schwarze Tische und mit Leder gepolsterte rote Stühle. Hohe Fenster nach draußen, in der Ecke ein Flügel samt Pianist und eine etwas betagte Sängerin mit tiefem Dekolletee, Seidenstola, glitzerndem Schmuck an Händen und Unterarmen. Hier kommen immer noch all jene her, die sich für nobel und adelig halten, auch wenn die einst edle Kleidung inzwischen leicht nach Mottenpulver riecht. Sie fehlen nie bei den Premieren. Anstelle eines Personalausweises tragen sie ihre Ahnentafel mit sich herum und am Ende der Vorstellung sind sie zu müde um zu applaudieren. Antonio Piella, ein wohlbeleibter Mittsechziger ist zwar kein Adeliger, aber auch er gehört eindeutig zum Inventar des Teatro Massimo. Und die Sängerin ist seine Gattin. Salonmusik zur Feier des Tages. Ein wunderbarer hoher, bisher ungenutzter Raum im Parterre, rechts von der großen Freitreppe ist nun für das Publikum geöffnet worden. Endlich hat das drittgrößte Theater Europas auch ein eigenes Café. Ein weiterer Schritt hin zur Normalität, sagen die passionierten Opernfreunde. Sie erinnern sich noch immer Schaudern an die Zeiten, in denen das Theater geschlossen war. Fast dreißig Jahre lang war das Theater geschlossen. Eine echte Schande für unsere Stadt! Das wichtigste Denkmal von ganz Palermo geschlossen! Hier bei uns sagt man: wir treffen uns am Massimo. Jeder kennt es. Weil es so riesig ist findet man sich vielleicht erst nach längerer Suche, aber es ist der Treffpunkt in der Stadt. Die Wiedereröffnung hat auch die braven Bürger wieder aus ihrem Dornröschenschlaf geholt. Nerzstolen und Familienschmuck können nun wieder angelegt werden. Die Freunde des Massimo haben sich zu einem Verein zusammengeschlossen, deren Präsidentin eine echte Prinzessin ist: Costanza Tasca d’Almerita, Prinzessin von Camporeale, eine elegante, noch immer schlanke Dame aus dem sizilianischen Hochadel, dezent gekleidet, würdevoll und erstaunlich rüstig trotz ihrer 78 Jahre. Sie ist im Teatro Massimo praktisch groß geworden. Ich besuche es, seit ich zehn Jahre alt bin. Und ich liebe es sehr. Ich war sehr glücklich, als es nach langer Zeit wiedereröffnet wurde. Zur Einweihung spielten die Berliner Philharmoniker, das beste Orchester auf der ganzen Welt, dirigiert von Claudio Abbado, der leider verstorben ist. Es ist das intellektuelle Zentrum der Stadt. Verdi, Paganini, Rubinstein waren in Palermo zu Gast. Richard Wagner hat lange in der prachtvollen Villa der Fürsten Tasca D’Almerita gewohnt und hier einen ganzen Akt des Parzival vollendet. Und Claudio Abbado schätzte die Küche der Tascas so sehr, dass die Prinzessin, die ihrerseits Abbado über alle Maßen bewunderte, dessen Lieblingsspeisen einst persönlich mit dem Flugzeug nach Berlin oder Salzburg brachte. Schöne Zeiten, die vergangen sind. Die Mafia hat die Stadt und das Kulturleben ruiniert. Glanz und Glamour von einst existieren nur noch in den schwelgerischen Erinnerungen der alten Prinzessin. Früher ging nur die Elite der Stadt ins Teatro Massimo. Halt alle die es sich leisten konnten. Heutzutage steht das Theater allen offen, und es bietet ja auch Programme für junge Leute. Und vielleicht ist das ja auch besser so. Antonio, der Mann der tief dekolletierten Sängerin pflichtet augenzwinkernd bei. Ein Glück, dass es solche Neuerungen im Theater gibt, auch wenn die alten Herrschaften über die jungen Leute die Nase rümpfen, weil sie nicht mehr in Anzug und Krawatte ins Theater kommen. Das stört sie. Im Theatercafé mit den leicht verblassten Malereien aus dem vorletzten Jahrhundert hingegen geht die Vorstellung weiter. Das Publikum macht sich zu Darstellern, die Dame mit dem Diamantkollier hebt ihr Proseccoglas, prostet dem soignierten Herrn mit untadeliger Krawatte und goldgefasstem Amethyst am rechten Ringfinger zu und ist glücklich. Es ist doch herrlich, dass sich endlich etwas tut, dass Bewegung hier reinkommt. Literatur 1 Johann Wolfgang von Goethe: „Italienische Reise“ Palermo, Montag, den 2. April 1787 Durch die wunderbare, aus zwei ungeheuern Pfeilern bestehende Pforte, die oben nicht geschlossen sein darf, damit der turmhohe Wagen der heiligen Rosalia an dem berühmten Feste durchfahren könne, führte man uns in die Stadt und sogleich links in einen großen Gasthof. Der Wirt, ein alter behaglicher Mann, von jeher Fremde aller Nationen zu sehen gewohnt, führte uns in ein großes Zimmer, von dessen Balkon wir das Meer und die Reede, den Rosalienberg und das Ufer überschauten, auch unser Schiff erblickten und unsern ersten Standpunkt beurteilen konnten. Über die Lage unseres Zimmers höchst vergnügt, bemerkten wir kaum, daß im Grunde desselben ein erhöhter Alkoven hinter Vorhängen versteckt sei, wo sich das weitläuftigste Bett ausbreitete, das, mit einem seidenen Thronhimmel prangend, mit den übrigen veralteten stattlichen Mobilien völlig übereinstimmte. Ein solches Prunkgemach setzte uns gewissermaßen in Verlegenheit, wir verlangten, herkömmlicherweise Bedingungen abzuschließen. Der Alte sagte dagegen, es bedürfe keiner Bedingung, er wünsche, daß es uns bei ihm wohl gefalle. (…) Wir vergnügten uns an der unendlich mannigfaltigen Aussicht und suchten sie im einzelnen zeichnerisch und malerisch zu entwickeln, denn hier konnte man grenzenlos eine Ernte für den Künstler überschauen. Geduld hat das Teatro Massimo schon immer abverlangt. Nicht nur während der langen Sanierungs-Phase. Schon die eigentliche Erbauung des Theaters zog sich hin: mehr als 20 Jahre gingen ins Land. Giovanni Battista Basile, der Architekt des Teatro Massimo, hat das Bauwerk gar nicht mehr fertig gesehen; er starb noch vor der Eröffnung. Immer wieder fehlte das Geld, das gigantomanische Projekt wurde immer teurer. Vollendet hat den Bau dann Basiles Sohn. Am 16. Mai 1897 wurde das Massimo eingeweiht, mit „Falstaff“ von – wie könnte es auch anders sein: Giuseppe Verdi. Ein zeitgenössisches und vor allem heiteres Werk, das damals beim Publikum mehr als gut ankam. Überhaupt, die Oper! Ganz Italien - und eben auch Sizilien - war geradezu opern-verrückt, auch kleine Städte hatten ihr jeweils eigenes Haus. Komponiert wurde nach dem Geschmack des Publikums, das Ideal waren „schöne Melodien“, der Betrieb der Häuser musste sich ja rechnen. Auch das Teatro Massimo von heute soll sich rentieren und will ein breites Publikum erreichen, nicht mit Gassenhauern, sondern mit Raritäten und einem Programm, das Groß und Klein, Arm und Reich ansprechen soll. Die kulturelle Wiedergeburt von Palermo, sie soll kein elitäres Projekt sein: Reportage 2: Rundgang durch das Theater Es ist früher Morgen. Noch ist Daniela Gjorgjeva alleine in der Sala delle Nazioni Unite, einem der reichgeschmückten Nebensäle des Theaters. Daniela ist groß und sehr kräftig. Sie passt gut zu ihrem Kontrabass. Erst seit einem Jahr spielt die gebürtige Bulgarin im Orchester des Teatro Massimo. Palermo ist einmalig schön, ganz verschieden von allen anderen Städten in Italien. So reich an Kultur! An jeder Ecke ist eine Kirche, ein Museum. So viel Reichtum, man kann es oft gar nicht fassen. - Und die Leute? Sind ausgesprochen gastfreundlich. - Und doch ist immer wieder von der Mafia die Rede?! Also ich bekomme davon nichts mit. Ich fühle mich sehr wohl hier. Die Stadt ist sicher. Gestern war ich spätnachts noch alleine unterwegs – alles ist ruhig hier. Daniela blickt auf ihr Notenblatt, sie übt für die Kindervorstellung, die in Kürze beginnen wird. Ein Stück, das extra für Kinder geschrieben wurde. Es ist wichtig, dass sie schon von klein auf ins Theater kommen und sich hier wie zuhause fühlen. Sie sind ja unser Publikum von morgen. Wenig später hat sich eben dieses Publikum eingefunden. 300 Grundschüler sind zu der eigens für sie veranstalteten Matinee gekommen. Mucksmäuschenstill sitzen sie auf hohen roten Samtstühlen. Ein Tenor der sich zum angeberischen Orchesterchef aufschwingt, seine Musiker von oben herab dirigiert und mitten in der Vorstellung die schlimmste aller Unsitten begeht: sein Handy klingelt und er säuselt seiner Angebeteten Dinge zu, worüber sich wiederum die Musiker mokieren. Das junge Publikum ist begeistert; der ganze Saal kichert und lacht. Die Sala delle Nazioni, also der Raum, in dem die Kindermatinee stattfindet, wurde im Jahr 2000 aus einem wichtigen Grund der UNO gewidmet. Damals fand in Palermo eine internationale Konferenz gegen das organisierte Verbrechen statt. Eine entscheidende Etappe im langen Kampf der Stadt gegen die Cosa Nostra. Ein Zeichen des Aufbruchs im Kulturtempel der Stadt, der von da an auch ein Symbol der Recht- und Gesetzmäßigkeit sein sollte. Doch um als Symbol zu wirken, braucht das Theater auch viele Besucher. Platz genug gibt es. Zum Beispiel im Saal der Familienwappen, in dem sich die Spender des Theaterbaus, die Familien des Hochadels, Ende des 19. Jahrhunderts selbst ein kleines Denkmal setzten. Auch hier blättert langsam die Originalfarbe ab – der Charme der Dekadenz. Der Raum ist ideal für kleine Konzerte, mit denen noch mehr Gäste, vor allem Touristen zu den Führungen ins Theater gelockt werden sollen. Der Theaterchor gibt ein Ständchen, es sind Liebeslieder von Brahms. Für den Maestro Piero Monti, den Chorleiter, ist die Kultur eine wichtige Waffe gegen die Kriminalität. Aber der Staat würde die Mittel für die Theater kürzen, statt ihnen zu helfen. Die Stadt kann stolz sein auf das wachsende Kulturangebot des Teatro Massimo, Mit den neuen Kammerkonzerten wollen wir unseren Besuchern ein Repertoire anbieten, das nicht so oft gespielt wird, obgleich es wunderbare Werke sind. Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit dem, was unser Staat mit der Kultur macht. In Deutschland betragen die Ausgaben für die Kultur inzwischen 4 Prozent des Staatshaushalts. Der italienische Staat stellt nur 0,4 Prozent der Haushaltsmittel bereit. In diesem Bereich sind wir auf Dritte-Welt-Niveau. Dabei ist Kultur unverzichtbar um Gesetzlosigkeit, Unwissenheit und die Verrohung der Gesellschaft zu bekämpfen. Die fatalen Auswirkungen der „Unkultur“ lassen sich an Ort und Stelle besichtigen. 23 Jahre lang war das Teatro Massimo geschlossen. Eigentlich sollten nur feuersichere Notausgänge eingebaut werden, was nur wenige Monate in Anspruch nehmen sollte. Doch dann übernahm die Mafia die Regie im Opernhaus und setzte sich fest wie die Made im Speck. Sie zerstörte mutwillig funktionierende Einrichtungen und forderte immer neue öffentliche Gelder für die angeblich notwendige Instandsetzung. In dem weitläufigen Gebäude konnten beliebig neue Baustellen eröffnet werden. Wahrscheinlich über 100 Millionen Euro wanderten so in dunkle Kanäle. Am schlimmsten wüteten die kriminellen Baumeister im großen Saal, wo gerade das Orchester probt: Ein prachtvoll ausgeschmückter hufeisenförmiger Raum mit Goldverzierung, Murano- Lüstern und samtgepolsterter Bestuhlung vor einem riesigen roten Vorhang. Nach der Wiedereröffnung hat es beinahe eineinhalb Jahrzehnte gedauert, bis das Teatro Massimo - und damit auch Palermo - nun wieder mit dem aufwarten können, was sie auszeichnet. Und das ist nicht eben wenig, bestätigt Gastdirigent Sebastian Lang Lessing: Ein wunderschöner Saal, und es ist sehr groß. Also man muss schon Farbe bekennen. Man muss schon richtig reingehen in den Klang, sonst füllt es nicht den Raum. Ich muss sagen, es ist ein sehr diszipliniertes und arbeitswilliges Orchester, die sind unheimlich engagiert, sehr gute Bläser. Ich komme schon seit vielen Jahren nach Palermo. Ich liebe die Stadt sehr. Es ist ein rustikales Bild, das Leoluca Orlando, Oberbürgermeister von Palermo, gerne bemüht: es ist das Bild vom sizilianischen Karren. Der habe zwei Räder und wenn eins fehlt, dann fährt der Wagen nicht gerade aus. Genauso sei es im Kampf gegen die Mafia. Das eine Rad sind für ihn Polizei und Justiz, die gegen die Kriminellen kämpfen. Das andere Rad aber die Kultur, die Schulen, die Theater, die Orte der Zivilgesellschaft, so jedenfalls sieht es Orlando. Entsprechend handelt der Politiker und selbst seine Kritiker gestehen ein, dass er Erfolge vorweisen kann: Die Mafia ist zwar längst nicht erledigt, aber sie ist zumindest zurückgedrängt worden. Morde am helllichten Tag, wie sie in den 80er Jahren in Palermo fast schon alltäglich waren, gibt es nicht mehr. Die Cosa Nostra agiert jetzt eher im Verborgenen, hat sich einen Tarnmantel übergeworfen. Bürgermeister Orlando bekämpft sie in seiner mittlerweile 4. Amtszeit mit dem bewährten Rezept, dem sizilianischen Karren. Das Teatro Massimo ist seine Bastion des zivilen Palermos – auch wenn es mitunter herrschaftlich daher kommt. Reportage 3 Der Bürgermeister und sein Intendant Die Königsloge ist das Allerheiligste im Teatro Massimo. 27 Plätze für einen ganzen Hofstaat, der allerdings nie hier Platz nahm. Bis zur Abschaffung der Monarchie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat kein italienischer König das Teatro Massimo besucht. Geblieben ist die prachtvolle Mahagonie-Verkleidung in der Loge und in dem vorgelagerten “Salone del Sovrano” dem Salon seiner Hoheit. Einst den gekrönten Häuptern vorbehalten wird der Salon heute auch an Privatleute vermietet, für Familienfeiern und Empfänge. Und auch für offizielle Anlässe ist der Salon ein würdiger Rahmen. Die Direktion des Theaters, Chor- und Orchesterleiter und auch der Bürgermeister haben sich eingefunden – für einen guten Zweck. Einige Tausend Euro, die beim vergangenen Neujahrskonzert an Spenden zusammengekommen sind, werden heute einer Sozialeinrichtung überreicht, die sich um Kinder in den vernachlässigten Stadtrandvierteln kümmert. Dort kann die Mafia noch immer auf den Konsens vieler sozial benachteiligter Bürger zählen, die mit Armut, Arbeitslosigkeit und Marginalisierung zu kämpfen haben. Obwohl das Teatro Massimo selbst ständig in Geldnöten ist, soll es einen konkreten Beitrag für die Benachteiligten in der Stadt leisten, sagt Oberbürgermeister Leoluca Orlando, nachdem der offizielle Part der Veranstaltung vorbei ist: Auch die Leute, die nicht Musik kennen, die nicht Musik lieben, denken, das Opera-Haus ist unser Symbol. Deswegen ich denke, dass wir brauchen immer mehr harmonische Verhältnisse haben zwischen einem Theater und einer Stadt. Leoluca Orlando steht zwischen den Stuhlreihen. Der große stämmige Mann ist längst selbst ein Symbol von Palermo. Das Massimo ist sein zweites Zuhause, sein Steckenpferd und sein Stolz. Als Oberbürgermeister ist er auch gleichzeitig Präsident der Stiftung, die den Theaterbetrieb leitet. Nach den Mafia-Attentaten gegen die Richter Falcone und Borsellino vor über 20 Jahren hatte es einen Aufschrei in der Bevölkerung geben. Leoluca Orlando wurde damals zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt. Mit ihm begann der sogenannte „Palermitanische Frühling“, eine neue Kultur in der Stadtverwaltung, die in der Wiedereröffnung des Teatro Massimo gipfelte. Seither habe sich die Stadt grundlegend verändert, meint Orlando, der als junger Mann einst auch in Deutschland studierte. Ich bin stolz heute zu sein Oberbürgermeister in einer Stadt, wo Mafia regiert nicht mehr die Stadt Palermo. In Vergangenheit wir haben viele Oberbürgermeister von Palermo, die waren Freunde von Mafiaboss. Da war einmal ein Oberbürgermeister, der nicht Freund von Mafiaboss war, er war DER Mafiaboss. Gleichzeitig. Mafiaboss und Bürgermeister von Palermo! Verstehen Sie? Welche Änderung wir haben heute und ich möchte sagen, Palermo ist eine wunderschöne Stadt. Sieht sich Oberbürgermeister Orlando als Feldherr im Kreuzzug gegen die Mafia, so ist Intendant Francesco Giambrone sein General, der die Armee der Kulturschaffenden gegen die Mafia in Stellung bringen muss. Von der königlichen Loge zum Büro des Intendanten sind es nur wenige Schritte. „Sovraintendente“ steht über der dunklen zweiflügeligen Eichentüre, die meistens offensteht. Es weht ein neuer Wind in dem altehrwürdigen Gebäude, seit Giambrone letztes Jahr sein Amt antrat. Seit der Wiedereröffnung vor über 15 Jahren hat das Teatro Massimo diese Funktion nach und nach verloren. Es war, als wäre es erneut geschlossen worden. Geöffnet nur noch für die besseren Leute. Und wir versuchen jetzt, daraus ein Theater für alle zu machen. Denn wenn ein Theater -mal abgesehen davon ob es nun gute oder schlechte Vorstellungen liefert- immer nur halb voll ist, kann man es eigentlich gleich zumachen. Theatralisch klingt, was Giambrone, ein kultivierter und jovialer Palermitaner, mit sehr kurzgeschnitten grauen Haaren, als seine erste Amtshandlung und symbolischen Neuanfang beschreibt: Ich habe angeordnet, das große Gittertor an der Haupttreppe zu öffnen. - Warum, hat man mich gefragt. - Macht das Tor auf! - Aber es findet doch gar keine Vorstellung statt. - Macht das Tor auf! Das Theater ist doch in Betrieb, also macht das Tor auf. - Aber wenn wir das Tor aufmachen, dann werden sich die Leute auf die große Treppe setzen. - Ja genau das sollen sie doch tun! - Sie werden alles dreckig machen! - Dann werden wir eben wieder sauber machen. - Es könnte sich ja jemand verletzen. Oben an der Treppe sind zwei große Löwenstatuen. Wer sich da drauf setzt, könnte runterfallen. - Dann werden wir einen Komparsen abkommandieren, der aufpasst, dass niemand auf die Löwen klettert. - Und so sieht es jetzt aus: Früher hatten wir grade mal 70 Besucher, die tagsüber das Theater besichtigten, heute sind es durchschnittlich 300. Zufrieden lehnt sich Giambrone in seinem Sessel zurück. Das kulturelle Angebot seines Theaters wächst und obwohl die Verwaltung der Autonomen Region Sizilien jüngst wieder mal die Zuschüsse um eine Million Euro gekürzt hat, besteht Intendant Francesco Giambrone weiter auf einer Senkung der Eintrittspreise. Jetzt sind fast alle Vorstellungen ausverkauft. Der Mafia, die eigentlich das Kulturleben in der Stadt völlig zum Erliegen bringen wollte, hat man damit wenigstens im Theater ein Schnippchen geschlagen. Aber man müsse wachsam sein, sagt Giambrone. Die Mafia ist nach wie vor präsent und sie hatte ja auch eine entscheidende Rolle bei der Schließung des Theaters über 23 lange Jahre. Man kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Mafia eine großen Nutzen aus der Schließung gezogen hat. Schon allein wegen der Abermillionen, mit der dann viele dunkle Geschäfte in der Stadt finanziert wurden. Die hat sich übrigens nicht gewehrt, sondern tatenlos zugesehen - das ist das wahre Problem in Palermo. Die einzige Möglichkeit den Kampf gegen die Mafia zu gewinnen ist es, in Kultureinrichtungen zu investieren. Ob es nun Theater, Bibliotheken, Museen oder Schulen sind. Dort entscheidet sich unsere Zukunft. Literatur 2 Palermo, Donnerstag, den 5. April 1787 Gegen Abend machte ich eine heitere Bekanntschaft, indem ich auf der langen Straße bei einem kleinen Handelsmanne eintrat, um verschiedene Kleinigkeiten einzukaufen. Als ich vor dem Laden stand, die Ware zu besehen, erhob sich ein geringer Luftstoß, welcher, längs der Straße herwirbelnd, einen unendlichen erregten Staub in alle Buden und Fenster sogleich verteilte. »Bei allen Heiligen! sagt mir«, rief ich aus, »woher kommt die Unreinlichkeit eurer Stadt, und ist derselben denn nicht abzuhelfen? Diese Straße wetteifert an Länge und Schönheit mit dem Corso zu Rom. (…) In Neapel tragen geschäftige Esel jeden Tag das Kehricht nach Gärten und Feldern, sollte denn bei euch nicht irgendeine ähnliche Einrichtung entstehen oder getroffen werden?« »Es ist bei uns nun einmal, wie es ist«, versetzte der Mann; »was wir aus dem Hause werfen, verfault gleich vor der Türe übereinander. Ihr seht hier Schichten von Stroh und Rohr, von Küchenabgängen und allerlei Unrat, das trocknet zusammen auf und kehrt als Staub zu uns zurück. Gegen den wehren wir uns den ganzen Tag. Aber seht, unsere schönen, geschäftigen, niedlichen Besen vermehren, zuletzt abgestumpft, nur den Unrat vor unsern Häusern.« Die Sizilianer kehren ihrer Insel schon lange den Rücken. Lohn und Brot gab es hier nie genug für alle, jedenfalls nicht in diesem und auch nicht im vergangenen Jahrhundert. Viele wanderten aus, oft schweren Herzens. Als Rentner kamen sie dann auf die Insel zurück. Wer nicht wohlgeboren war, die Heimat aber dennoch nicht verlassen wollte, der musste Glück haben, dem Elend zu entkommen. Und auch heute noch wird auf Sizilien die Armut oft vererbt. Die Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, ist hier noch immer höher als auf dem italienischen Festland und die Mafia tut viel dafür, dass es so bleibt. Schulen, Ausbildungsstätten – das Interesse der „Cosa Nostra“ gilt anderen Dingen. In den sozial schwachen Vierteln von Palermo rekrutiert sie den Nachwuchs. Der Palermitaner Frühling hat hier einen schweren Stand: Reportage 4: Die Werkstätten Palermo ist eine merkwürdige Stadt. Es gibt Adressen die nicht einmal jene kennen, die in der Nachbarschaft wohnen. Hausnummer und Straßennamen sucht man vergebens. Die riesige Theaterwerkstatt des Teatro Massimo, ausgelagert an den Stadtrand im Problemviertel Brancaccio ist eine unübersehbare zweistöckige Fabrikhalle. Wo die Werkstätten des Teatro Massimo sind? – Also hier bestimmt nicht – probieren Sie es mal in der anderen Richtung! Fast 30 Theaterleute sind hier im Viertel tätig, aber vielen Bewohnern entgeht das völlig. Man kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, zu viel über die Nachbarschaft zu wissen ist nicht gut. Im Erdgeschoss des schlichten kastenförmigen Baus aus Beton und Glas befindet sich eine große Lagerhalle. Mittendrin: Renzo Milan, der technische Direktor des Theaters. Er ist verantwortlich dafür, dass der Schein zuverlässig trügt. Nichts in dieser Halle ist das, was es vorgibt, zu sein: Hier ist alles nachgemacht: Holz das keines ist, Marmor der kein Marmor ist, aber auf den ersten Blick völlig echt aussieht. Natürlich können meine Mitarbeiter auch richtige Möbel bauen, aber im Theater braucht man sie gar nicht. Hier, dieser Laternenpfahl zum Beispiel. Erst wird er gestrichen, damit er etwas älter wirkt, dann nochmal behandelt und am Ende sieht dieses Stück Holz aus als wär' es aus Messing. Vorbei geht es an falschen Prozessionsstandarten, einem riesigen Arsenal aus gefährlichen Speeren, alle federleicht und aus Holz. Im oberen Stockwerk haben wir noch viel mehr davon, wir haben auch viele Gewehre und Schwerter. Die stellen wir, wenn es geht, selber her. Man muss sich immer vor Augen halten, dass all diese Gegenstände auf einen Zuschauer wirken müssen, der mindestens 15 Meter weit weg sitzt. Auch wenn es Attrappen sind, sie müssen echt aussehen. Im Theater geht es oft blutig zu. Verdis Helden etwa liefern sich Gefechte; begehen Mord und Selbstmord, es wird gemeuchelt und gemetzelt. Zum Glück gleicht das Melodram der Oper der Gewalt in der rauen Wirklichkeit nicht im Mindesten. Und dennoch muss wenigstens genügend Illusion erzeugt werden, damit die Szene des tödlich verletzten Heldentenors auf der Opernbühne auf keinen Fall lächerlich wirkt. Christian Lanni steht vor einer riesigen auf dem Boden liegenden Leinwand. 200 Quadratmeter gemalter Hintergrund für die Oper Cavalleria Rusticana. Normalerweise arbeitet Lanni hier ungestört und in aller Ruhe, doch vor einiger Zeit hatte er unerwartet viele Zuschauer bei seiner Arbeit: Ende letzten Jahres konnten die Bewohner des Brancaccio unsere Werkstätten besichtigen. Es kamen eine Menge Jugendliche, die ihren Augen kaum trauten. Sie konnten nicht glauben, dass in ihrem anrüchigen Viertel solch eine Einrichtung existiert. Das war eine sehr gute Initiative. Noch ist es nicht so weit, dass sich wenigstens einige der von Mafia, Arbeitslosigkeit, Drogensucht und Kleinkriminalität bedrohten Jugendlichen im Brancaccio der Theaterkultur nähern. Weder die Stadtverwaltung, noch das Teatro Massimo haben das Geld für Praktika, Schnupperlehren und dergleichen. Aber Renzo Milan, der seinem Mitarbeiter Lanni über die Schulter schaut, wartet bereits auf eine Initiative, die demnächst aus EU-Mitteln finanziert werden soll. Das sind Programme für Jugendliche, die in sozial benachteiligten Gegenden aufwachsen. Wir werden bald mit Kursen beginnen, für angehende Schneider und Elektriker. Einfachere Berufe wohlgemerkt. Denn wer Bühnenbildner werden will, hat ohne eine vernünftige Schul- und Akademieausbildung keine Chance. Dabei wird in einigen Bereichen des Theaterbetriebs dringend Nachwuchs gebraucht. Zum Beispiel in der Schneiderei, die in einem großen klassizistischen Altbau im Viertel Capo auf halben Weg zwischen Theater und Justizpalast untergebracht ist. Diese Schere liegt immer auf dem Tisch hier. Wenn die Tänzer oder die Chormitglieder zur Anprobe kommen, nehmen sie sie oft in die Hand und bewundern sie, die ist aber toll und so…. - Und ich kriege beinahe einen Herzinfarkt... Das kann ich bestätigen, da kommt Nino ins Schwitzen. Denn wenn diese Schere runterfällt, dann kannst du sie wegwerfen. Nino beschwört die Leute: legt die Schere hin, die ist für mich so wichtig wie für euch eure Füße. Marja Hoffmann, Kostümbildnerin und Chefin am Teatro Massimo, lehnt sich über ihren Arbeitstisch und lächelt ihrem Kollegen zu. Sie weiß, was sie an ihm hat. Denn Schneidermeister Nino Pollari ist einer der letzten seiner Zunft. Seine Chefin wünscht sich, dass er ihr noch lange erhalten bleibt. Marja Hoffmann, Mitte 40 , schlank, hochgewachsen mit mittellangen dunkelblonden Haaren und einer randlosen Brille, leger gekleidet in Jeans. Sie stammt aus Berlin und kam schon Mitte der 80er Jahre nach Palermo, sehr zum Entsetzen der Verwandtschaft. Sie bekam einen Job, als das Teatro Massimo nach der langen Schließung wiedereröffnet wurde. Und sie war so gut in ihrem Fach, dass man ihr schließlich die Leitung der Schneiderei überließ. Das gab den Ausschlag dafür, dass sie für immer in Palermo blieb, trotz Mafia, Schutzgeld und Chaos. Aus dem Fenster ihres hellen großen Büros sieht sie auf die verwinkelte Dachlandschaft des Capo-Viertels. Natürlich gibt es dort auch Mafiosi, sagt Marja Hoffmann, aber die Berlinerin im mediterranen Chaos sieht noch viel mehr: Es ist schon irgendwie wie ne Aufführung, es ist schon wie ein Theaterstück, die Märkte, oder im Sommer auf der Straße, oder die Plätze. Palermo ist – also man muss sich einfach nur hinsetzen und zugucken, es ist irgendwie wie im Theater sitzen und sich 'ne Aufführung angucken, von der Geräuschkulisse her, es geht mir auch wie im Theater, es ist alles mehr gesungen und geschrien statt gesprochen, das ist ein ganz krasser Unterschied zu Deutschland. Literatur 3 Auf meine wiederholte Frage, erwiderte er, die Rede gehe im Volke, daß gerade die, welche für Reinlichkeit zu sorgen hätten, wegen ihres großen Einflusses nicht genötigt werden könnten, die Gelder pflichtmäßig zu verwenden, und dabei sei noch der wunderliche Umstand, daß man fürchte, nach weggeschafftem misthaftem Geströhde werde erst deutlich zum Vorschein kommen, wie schlecht das Pflaster darunter beschaffen sei, wodurch denn abermals die unredliche Verwaltung einer andern Kasse zutage kommen würde. Das alles aber sei, setzte er mit possierlichem Ausdruck hinzu, nur Auslegung von Übelgesinnten, er aber von der Meinung derjenigen, welche behaupten, der Adel erhalte seinen Karossen diese weiche Unterlage, damit sie des Abends ihre herkömmliche Lustfahrt auf elastischem Boden bequem vollbringen könnten. Und da der Mann einmal im Zuge war, bescherzte er noch mehrere Polizeimißbräuche, mir zu tröstlichem Beweis, daß der Mensch noch immer Humor genug hat, sich über das Unabwendbare lustig zu machen. Laut, chaotisch und sehr lebendig – so wirkt Palermo auf die meisten Besucher. Und wäre es mal anders, die Touristen wären vermutlich beleidigt. Besonders gut bedient wird diese Erwartungshaltung auf dem Markt: er ist eine Sinnenfreude, eine Augenweide, ein akustischer Platzregen. Vom Teatro Massimo aus ist man schnell mittendrin; nur ein paar Meter sind es bis zum „Mercato del Capo“. Hier bieten Händler ihre Waren an. Mit großer Stimmgewalt, fast sind sie Konkurrenz zu den Tenören im Opernhaus. Doch bei aller Buntheit und Lebendigkeit: Der Pizzo, das Schutzgeld, wird auch hier weiterhin eingesammelt. Und so ist der Mercato del Capo ein Sinnbild für Palermos Zwickmühle. Denn nicht nur das Teatro Massimo ist ganz in der Nähe des Marktes, gleich nebenan befindet sich auch der gewaltige Justizpalast. Reportage 5: Zwischen Theater und Justizpalast: Der Markt Fischhändler Mimmo lockt die Kundschaft an, sein Kollege Nicola gleich nebenan preist die bunte Auslage, empfiehlt seine Spezialität, eine glibberige weißliche Masse, die „Neonata“, die „Neugeborenen“, unzählige gerade geschlüpfte Sardinen, deren Fang eigentlich nicht erlaubt ist. Das ist die Neonata, die gibt es nur in dieser Jahreszeit. Das daneben sind frischer Kabeljau, Schollen, Tintenfische, zarte junge Kraken, Schwertfisch, der wird in der Meerenge von Messina gefangen, Meerbarben, Doraden, ein wenig von allem. Nicola hat den Fischladen im Freien von seinem Vater geerbt und der von seinem Großvater. Er ist 32 Jahre alt, mittelgroß - die dunkle Haut, die schwarzen Augen lassen nordafrikanische Urahnen vermuten. Nicola ist stolz auf die Familientradition. Er zeigt auf seinen Lagerraum in dem halbverfallenen Palazzo, der hinter seinem Stand aufragt. Dort hängt ein altes Foto mit der Aufschrift „Gniupiddù“. Das war der Spitzname meines Vaters. Er ist leider schon tot, vor sieben Jahren ist er gestorben. Er war ein wundervoller Mensch. Er war außergewöhnlich - ganz abgesehen davon, dass er eben mein Vater war. Ich habe neun Geschwister. Unser Vater hat uns alle ordentlich unter die Haube gebracht, alle glücklich verheiratet. Wir sind eine sehr harmonische Familie. Alle glücklich und zufrieden voller gegenseitigem Respekt. Diesen Zusammenhalt gäbe es nicht nur in seiner Familie, sagt Nicola. Für ihn, ist es das, was das Capo auszeichnet. Das Viertel zwischen Teatro Massimo und Justizpalast hat aber leider auch seine Schattenseiten, das gibt er zu: Hier lebt es sich zwar ganz gut, es sind gesellige Leute. Aber natürlich gibt’s auch solche, die von der rechten Bahn abkommen. Die landen dann in dem anderen Theater: dort, wo die Justiz spielt.. Aber die Menschen sind nun mal nicht alle gleich, jeder hat seinen eigenen Charakter. Wer redlich bleiben will, geht seiner Arbeit nach, wer das nicht will, lässt es eben bleiben. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es im Viertel einen – sagen wir mal - Anführer gibt, der sich um die illegalen Geschäfte kümmert, Drogenhandel vor allem, und der auch die Schutzgelder kassiert, was auf dem Markt aber niemand zugeben würde. Ein paar Meter von Nicola entfernt, baut Gemüsehändler Kevin seinen Stand auf. Amerikanischer Name, aber Palermitaner durch und durch, sagt der junge Mann, während er ein paar grüne Salatköpfe ordnet. Endiviensalat, Melanzane siciliane, heimische Auberginen, und tunesische, das sind die runden, die brät man wie Schnitzel paniert in der Pfanne, dann hier Tenerumi, das dort sind Zucchinisprossen, sie werden mitgekocht und mit Nudeln serviert. Dort vorne sehen Sie frisches Rübenkraut, daneben Broccoli, Kürbisblüten, grüne Bohnen und frische Saubohnen zum roh Essen. Und dann frischer wilder Fenchel, auch das eine Spezialität mit Nudeln und Sardinen. Kevin ist wie die übrigen Standbesitzer stolz auf seinen Markt. Die Nähe des Theaters verleiht dem antiken Markt einen Hauch von Vornehmheit, findet er. Und auch das Gerichtsgebäude werte ihn eindeutig auf. Ich gehe sogar ab und zu mal ins Teatro Massimo, und schaue mir die eine oder andere Vorstellung an. Palermo ist eine schöne Stadt. Im Vergleich zu früher ist die Stadt natürlich moderner geworden. Unser Markt hier ist vornehmer als die anderen in der Stadt. Und deshalb ist natürlich auch unsere Kundschaft was Besseres. Vom Justizpalast hier in der Nähe kommen viele Richter, Staatsanwälte und Advokaten zu uns zum Einkaufen, das ist die bessere Gesellschaft Palermos. Das Straßenbild hält sich mit solcher Eleganz allerdings eher zurück. Von Kevins Gemüsestand aus blickt man hinunter bis zum Ende des Marktes. Rechter Hand die Kirche der unbefleckten Empfängnis, deren restaurierte Barockfassade einzigartige Kunstwerke mit Marmorintarsien birgt. Die prachtvolle Kirche in der lauten schmutzigen recht heruntergekommenen Marktstraße - ein Gegensatz, der vor allem die Touristen fasziniert. Im Sommer werden wir förmlich überrollt. Tausende von Besuchern jeden Tag. Das ist kein Witz! Hohe Kunst und tiefer Sumpf – Das Teatro Massimo in Palermo. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Karl Hoffmann. Die Tagebucheinträge stammten aus Johann Wolfgang von Goethes „Italienischer Reise“, erschienen im Fischer Verlag. Gelesen hat sie Hendrik Stickan. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Bette. Am Mikrofon war Johanna Herzing. 1