Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 27. September 2010, 19.30 Uhr Countdown Wiedervereinigung - der Weg zur deutschen Einheit Eine Dokumentation von Wolf-Sören Treusch SPRECHER v. Dienst Countdown Wiedervereinigung - Der Weg zur deutschen Einheit Eine Dokumentation von Wolf-Sören Treusch TAKE 1 (Nachrichtensprecher DLF) Nach einer Infas-Prognose, die unmittelbar vor dieser Nachrichtensendung in Berlin bekannt gegeben wurde, hat die 'Allianz für Deutschland' bei der DDR- Volkskammerwahl etwa 48 Prozent der Stimmen erzielt. ... TAKE 2 (Lothar de Maiziere) Am 09. November haben wir alle gesagt: 'Wahnsinn', heute wieder Wahnsinn. TAKE 1 (Nachrichtensprecher DLF) ... Die SPD käme danach auf 21 Prozent, für die PDS, die Nachfolgepartei der SED, seien 15 Prozent der Stimmen abgegeben worden, auf die FDP fielen danach 6 Prozent der Stimmen. TAKE 2 (Lothar de Maiziere) Am 09. November haben wir alle gesagt: 'Wahnsinn', heute wieder Wahnsinn. AUTOR 18. März 1990. Überraschend deutlich gewinnt die 'Allianz für Deutschland' mit ihrem CDU-Spitzenkandidaten Lothar de Maiziere die ersten freien und geheimen Volkskammerwahlen in der DDR. Die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe. TAKE 3 (Ulrike Poppe) An dem Abend bin ich dann zur SPD gegangen, ... TAKE 4 (Willy Brandt) Es ist gar kein Zweifel daran, dass die Mehrheit der Wählerinnen und der Wähler in der bisherigen DDR ... TAKE 3 (Ulrike Poppe) ... und da war die Stimmung [auch] schlecht, ... TAKE 4 (Willy Brandt) ... hat sagen wollen: 'wir wollen die Einheit, wir wollen sie rasch, wir wollen sie ohne wenn und aber, ... TAKE 3 (Ulrike Poppe) ... und die Leute saßen hinter ihren Bierhumpen und bliesen Trübsal, ... TAKE 4 (Willy Brandt) ... und wir wollen sie mit möglichst raschem wirtschaftlichen Anstieg und Aufstieg'. TAKE 3 (Ulrike Poppe) ... und dann ging ich zur PDS ins Staatsratsgebäude, und dort knallten die Sektkorken, denn die Partei hat offenbar nicht erwartet, so viele Stimmen zu bekommen, 17 Prozent, glaube ich, waren es, und dort habe ich dann im ehemaligen Arbeitszimmer von Egon Krenz bis zum Morgengrauen mit den politischen Gegnern diskutiert und bin dann mit einer Ledergebundenen Ausgabe aus dem dortigen Bücherschrank: 'Erich Honecker. Ein Leben für das Volk' unterm Arm nach Hause gewankt. AUTOR Eine große Koalition aus den drei 'Allianzparteien' CDU, DSU und Demokratischer Aufbruch mit SPD und den Liberalen bildet die neue Regierung. Am 12. April wird Lothar de Maiziere zum letzten Ministerpräsidenten der DDR gewählt. TAKE 5 (Lothar de Maiziere) 0'50 [0'15] Es ging jetzt um die Selbstdemokratisierung. Die Volkskammer hätte ja in der ersten Sitzung beschließen können, nach Artikel 23: wir treten bei. Aber ich wollte, dass wir uns der errungenen Freiheit würdig erweisen und unsere Verhältnisse selbst ordnen und den Weg in die Einheit mit erhobenem Haupt gehen können. Und in Würde, dieses Moment der Würde war mir außerordentlich wichtig. Dass wir nicht als Geschlagene kommen, sondern dass wir als der Teil des Volkes, der an der Kriegslast eben 45 Jahre ein bisschen länger tragen musste als die anderen. TAKE 6 (Wolfgang Thierse) Ich erinnere mich, dass das Jahr 1990 ein Jahr ständiger Beschleunigung politischer Entwicklungen war und wir gar nicht die Chance hatten, alles en detail zu diskutieren. ... AUTOR Wolfgang Thierse, SPD. TAKE 6 (Wolfgang Thierse) ... Ja auch die ostdeutschen Verhandlungspartner notwendigerweise unterlegen sein mussten, weil sie selber gar nicht die nötige politische Erfahrung, die nötigen Rechtskenntnisse, die nötige Verwaltungserfahrung hatten, aber wem will ich das vorwerfen. AUTOR "Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr": die Botschaft auf den Spruchbändern der Demonstranten in der DDR ist auch noch im Frühjahr unmissverständlich. Unter Hochdruck arbeiten die Regierungen in Ost und West am Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Innerhalb weniger Wochen ist das Papier unterschriftsreif. Horst Teltschik, Vize-Kanzleramtschef und einer der engsten Berater von Helmut Kohl. TAKE 7 (Horst Teltschik) Das Tempo der deutschen Vereinigung haben die Menschen in der DDR bestimmt. Wir haben hochgerechnet, wenn die Zahlen der Übersiedler täglich so steigt, wie sie im Januar, Februar täglich stiegen, dann haben wir Ende des Jahres eine Million DDR-Bürger bei uns. Und das können wir nicht überleben, und das kann die DDR erst recht nicht überleben. Also müssen wir handeln. Im Prinzip haben die Menschen in der DDR die Bundesregierung ständig gezwungen, Entscheidungen viel früher zu treffen als wir es vorhatten. TAKE 8 (Lothar de Maiziere) Ich habe im November schon in der Modrow-Zeit das sogenannte Schürer-Papier zu Gesicht bekommen, das war eine Wirtschaftsanalyse, die im Grunde genommen auswies: die DDR ist wirtschaftlich am Ende. ... TAKE 9 (Horst Teltschik) Wir hatten keine Ahnung, wie katastrophal der Zustand der DDR tatsächlich war. Sie wissen, dass öffentlich diskutiert wurde, die DDR ist die zehnt-, elftstärkste Industrienation der Welt. ... TAKE 8 (Lothar de Maiziere) ... Da war mir klar: dieser Staat kann so nicht überleben. ... TAKE 9 (Horst Teltschik) ... Der sogenannte Schürer-Bericht, der Bericht für das Politbüro vom Vorsitzenden der staatlichen Planungskommission der DDR, der im Prinzip dokumentiert, dass die DDR pleite war, ein katastrophaler Bericht, wir hatten ihn nicht. ... TAKE 8 (Lothar de Maiziere) ... Abgesehen davon, dass nach dem Fall der Mauer pro Tag 2-3.000 Menschen gingen. Also bis zur Verkündung, dass die Währungsunion kommt, sind rund 600.000 Menschen gegangen. Und wir wussten: es sitzen noch viel mehr Leute auf gepackten Koffern. TAKE 9 (Horst Teltschik) ... De Maiziere, der damalige Ministerpräsident, hat mir dieser Tage gesagt: 'sie hatten ihn, haben aber ihn zurückgehalten, damit wir nicht erschrecken würden vor dem katastrophalen Zustand der DDR und vielleicht manche Entscheidungen nicht treffen würden, die wir getroffen haben'. AUTOR 18. Mai 1990: in Bonn wird der Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unterzeichnet. TAKE 10 (Helmut Kohl) Was wir hier erleben, ist die Geburtsstunde des freien und einigen Deutschland, vor den Augen der Welt wollen wir bekunden als die gewählten, frei gewählten Vertreter der Regierungen beider Teile Deutschlands unseren Willen als ein Volk und als eine Nation gemeinsam unsere Zukunft in einem freiheitlichen, einem demokratischen Staat zu gestalten. Meinen Landsleuten in der DDR rufe ich zu: die Einführung der sozialen Marktwirtschaft bietet ihnen alle Chancen, ja ich sage bewusst: die Gewähr dafür, dass Mecklenburg und Vorpommern, Sachsen und Anhalt, dass Brandenburg, Sachsen, Thüringen bald wieder blühende Landschaften, wirtschaftlich blühende Landschaften sein werden. TAKE 11 (Lothar de Maiziere) 0'10 Welches Land in Osteuropa bekommt schon eine solche gute Startposition wie wir mit diesem Vertrag? AUTOR Der Staatsvertrag legt fest: zum 1. Juli übernimmt die DDR große Teile der Wirtschafts- und Rechtsordnung der Bundesrepublik. Die D-Mark wird offizielles Zahlungsmittel. Löhne und Gehälter werden 1:1 umgestellt, Bargeld und Bankguthaben mit Ausnahme persönlicher Freibeträge 2:1. In den sechs Wochen bis zur Währungsumstellung boomt das Spekulationsgeschäft. Der Ost-Berliner Schriftsteller Thomas Brussig. TAKE 12 (Thomas Brussig) Umrubeln? Ist doch ganz einfach. In der Wechselstube am Bahnhof Zoo kriegst Du für eine D-Mark 8 siebzig Ost. Gestern waren es noch 8 neunzig, aber die Nachrichten von der Währungsunion haben den Kurs etwas nachgeben lassen. Wenn ich heute hundert West in achthundertsiebzig Ost tausche und auf mein Konto einzahle, kriege ich nach der Währungsunion, bei der 2 zu 1 getauscht wird, vierhundertfünfunddreißig West. TAKE 13 (Hans-Dietrich Genscher) Sie müssen sich alle an die neue Algebra, die deutsch-deutsche Algebra gewöhnen: 2 plus 4 ist nicht 6, sondern wird 5, und 12 plus 1 gibt 12. AUTOR Parallel zu den Verhandlungen über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion arbeitet auch die deutsche Diplomatie auf Hochtouren. Deutschland will seinen Weg zur Wiedervereinigung nach außen absichern. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges müssen in den Prozess eingebunden werden. Am 5. Mai findet in Bonn die erste Außenministerkonferenz der sogenannten 2-+4-Verhandlungen statt. TAKE 14 (Hans-Dietrich Genscher) Mit Befriedigung konnte ich Übereinstimmung in folgenden Punkten feststellen: der Wille der Deutschen, ihre Vereinigung ordnungsgemäß und ohne Verzögerung zu vollziehen, wurde von allen Teilnehmern anerkannt. Die Einheit Deutschlands soll zu einem Gewinn für alle Staaten werden. Ziel der Gespräche ist es, eine abschließende völkerrechtliche Regelung und die Ablösung der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten zu erreichen. AUTOR Für die Bundesregierung ist klar: ein vereintes, souveränes Deutschland ist Mitglied der NATO. Dafür braucht sie vor allem das Einverständnis der Sowjetunion. TAKE 15 (Frank Elbe) Das muss man auch aus der Sicht der Sowjetunion verstehen. Über Jahrzehnte hinweg hatte man sowohl Deutschland als auch die NATO dämonisiert. Als den ideologischen Feind, als die Bedrohung der sozialistischen Staaten. AUTOR Frank Elbe, Büroleiter von Hans-Dietrich Genscher und Mitglied der bundesdeutschen 2-+4-Delegation. TAKE 16 (Frank Elbe) Hinzu kam, dass das sowjetische Volk ja einen kolossalen Blutzoll in dem sogenannten Großen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland geleistet hatte. Und nun ist plötzlich eine Situation da, wo die Sowjetunion zustimmen soll, dass das vereinte Deutschland ja nicht nur vereint, sondern auch noch Mitglied in der NATO sein soll. TAKE 17 (Michail Gorbatschow) 0'08 (russisch) AUTOR Am 30. Mai besucht der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow seinen US- amerikanischen Amtskollegen George Bush. TAKE 18 (Reporter) Herr Präsident, sagte Gorbatschow, diese Generation kann Zeuge werden der Ankunft einer unumkehrbaren Periode des Friedens in der Geschichte der Zivilisation. Die Mauern, die jahrelang Völker getrennt haben, sind zusammengebrochen. TAKE 19 (Hans-Dietrich Genscher) Man muss sehen, dass in Moskau ja eine Revolution von oben stattgefunden hatte durch die Politik von Gorbatschow und Schewardnadse, und beide hatten richtig erkannt, dass eine Vertrauensbasis, eine Kooperationsbasis der Sowjetunion im Verhältnis zum Westen mehr Gewinn als Verlust brachte. TAKE 20 (Michail Gorbatschow, übersprochen) Ich war zuerst dafür, dass Gesamtdeutschland nicht der NATO angehört. Es hätte auch dem Warschauer Vertrag beitreten können, aber am besten wäre ein neutrales Land gewesen. Im Zentrum. TAKE 22 (George Bush, übersprochen) 0'17 Ich stand schon die ganze Zeit in enger Verbindung zu Gorbatschow und zu Kohl sowieso. Und beide wussten, dass ich Vertrauen in jeden von beiden hatte. Ich glaube, das half, und das war sicher förderlich für den Wandel. AUTOR Auf der abschließenden gemeinsamen Pressekonferenz in Washington sagt US- Präsident Bush, Ziel sei es, dass ein vereintes Deutschland Vollmitglied der NATO werde. Das hat er mit Gorbatschow offensichtlich abgesprochen. Die Sensation ist perfekt. TAKE 23 (George Bush, übersprochen) Ich habe das Helmut Kohl mitgeteilt, und als ich ihm sagte, was wir vereinbart hatten, war er sehr angetan und überaus erfreut. TAKE 24 (Helmut Kohl) Wir haben eine besonders herzliche Beziehung, George Bush hat uns geholfen wie kein Zweiter neben Gorbatschow in Sachen deutsche Einheit, (Stimme mittig) TAKE 25 (Hans-Hermann Hertle) Dass Deutschland das Recht zugestanden wurde, sein Bündnis frei zu wählen, dieses Recht hat Gorbatschow in seinem Gespräch gegenüber Bush am 31. Mai schon eingeräumt. AUTOR Hans-Hermann Hertle, Zeithistoriker aus Potsdam. TAKE 26 (Hans-Hermann Hertle) Es ist natürlich auch so gewesen, dass über die Details und Konsequenzen, die das Recht Deutschlands haben würde, in der NATO zu bleiben, in Washington nicht gesprochen wurde, diese Details betrafen den Abzug der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der DDR, die Zeitdauer ihrer fortwährenden Stationierung dort, sie betrafen dann auch die ganze Frage: darf die Bundeswehr dann auf dem Gebiet der DDR stationiert sein, all diese Einzelheiten wurden tatsächlich erst im Kaukasus besprochen. AUTOR Bei jenem legendären Treffen in der Jagdhütte Gorbatschows Mitte Juli, bei dem sich Helmut Kohl und Michail Gorbatschow der Öffentlichkeit in Strickjacke präsentieren. Als hilfreich in den Verhandlungen erweisen sich auch die Milliardenkredite, die die Bundesregierung der Sowjetunion zur Verfügung stellt: zunächst fünf Milliarden D- Mark im Juni und dann, zwei Tage vor Unterzeichnung des 2-+4-Vertrages im September, weitere15 Milliarden. Julij Kwizinski, stellvertretender Außenminister der Sowjetunion. TAKE 27 (Julij Kwizinski) Das, was die deutsche Seite bezahlt hat, waren verhältnismäßig kleinere Summen für fest umrissene Zwecke. Das waren der Wohnungsbau für unsere abzuziehende Armee, das waren einige Milliarden für die Finanzierung des Verbleibs der Truppen in der Übergansperiode, weil es für die Sowjetunion schwierig gewesen wäre, diese Summen in Valuta aufzutreiben, ansonsten gab es doch nichts. Man kann uns nicht vorwerfen jedenfalls, dass wir für irgendeine nennenswerte Summe die DDR an den Westen verkauft haben. AUTOR Wenige Tage vor Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion herrscht in beiden Teilen Deutschlands Aufbruchstimmung. Tyll Necker, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. TAKE 29 (Tyll Necker) Es haben mehrere Herren sehr hohe Summen genannt, die bereits in der Pipeline sind, die investiert werden, natürlich wird die Umsetzung eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, wir haben uns aber gegenseitig deutlich machen können, wie viel in Wirklichkeit laufend schon geschieht. TAKE 30 (Günther Krause) Für uns ist es wichtig, dass die Medizin Marktwirtschaft nicht nach ihren Nebenwirkungen bewertet wird, sondern nach ihrem Heilerfolg ... AUTOR Günther Krause, Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten der DDR. TAKE 30 (Günther Krause) ... und dass der kranke Körper DDR nach vierzig-jähriger kommunistischer Misswirtschaft nun endlich die Genesung erfährt, die wir uns alle wünschen. TAKE 31 (Reporter) (Halleluja-Gesänge schon drunter) Ja, hallelujah DM, um 0.00 Uhr am Alexanderplatz, Zehntausende begrüßen jubelnd die Deutsche Mark. Mit Sekt, Silvesterraketen und Hupkonzerten wird gefeiert, überall herrscht wirklich ausgelassene Stimmung. ... ATMO 1 (Hupkonzert und D'land-Rufe) schon drunter, kurz frei, wieder drunter TAKE 32 (Bürger) Es ist wie Silvester, aber es ist kein Vergleich zu Silvester. Bei Silvester wusste man vorher in der DDR, was der nächste Tag bringen wird. Aber hier ist viel Hoffnung, Illusion, Wünsche. Träume, Hoffnung, so viel in eins, das kann man nicht mit Worten ausdrücken. TAKE 31 (Reporter) ... Die Deutsche Bank am Alex, sie zahlt ab Punkt Mitternacht ihr Geld aus, als einzige Bank in der DDR um diese Zeit. TAKE 33 (Nachrichten) Zu tumultartigen Szenen kam es in der Nacht vor einer Filiale der Deutschen Bank am Ost-Berliner Alexanderplatz, TAKE 34 (Reporter/Banker/Bürgerin/Reporter) Zehntausende drängen zum Eingang, die Menschen werden eingekeilt und kommen nicht mehr raus. - (Bankchef) Und das hatten wir unterschätzt, was da los ist. Die Menschenmassen, die vor der Deutschen Bank standen am Alexanderplatz, und dann gingen ja Bilder rund um die Welt, wo die Leute mit der DM schwenkten. Euphorisch schwenkten, bei uns noch die Scheibe eintraten vor der Bank, weil die Menschenmassen so eng davor standen, und die da vorne waren, konnten sich gar nicht mehr retten. - (Bürgerin) Die treten sich ja tot da vorne. Einen Schuh habe ich verloren. - (Reporter) Dann drängen immer mehr Menschen dazu, und andere Personen werden gegen Pfosten und Scheiben gequetscht, einige werden ohnmächtig und bekommen einen Kreislaufkollaps. TAKE 35 (Bürger) Unwahrscheinlich. Durchgeschwitzt bis auf die Unterhose. Aber es hat sich gelohnt: wir haben 400 geholt und 1.000 geholt. Na ja, ein kleines Startkapital erstmal, nicht? AUTOR 1. Juli 1990: die DDR übernimmt die wichtigsten Wirtschafts- und Sozialgesetze der Bundesrepublik. Löhne, Gehälter, Renten, Mieten und andere "wiederkehrende Zahlungen" werden 1:1 umgestellt. Bei Bargeld und Bankguthaben wird nach dem Alter der Antragsteller differenziert. Kinder unter 14 Jahren können bis zu 2.000 DDR-Mark 1:1 umtauschen, 15 bis 59jährige bis zu 4.000, wer älter ist, bis zu 6.000 DDR-Mark. Darüber hinausgehende Beträge werden im Verhältnis 2:1 umgestellt. In etwa 15.000 Bankfilialen, Postämtern und Sonderauszahlungsstellen lassen sich die Bürger der DDR seit dem Morgen D-Mark auszahlen. TAKE 37 (Bürger) Ich war verheiratet mit Kind, also ein Kind, zwei Erwachsene, das Budget, das konnten wir selber gar nicht ausfüllen, was man da 1:1 umtauschen durfte, und dann haben wir auch in der Familie und Bekannten, wie alle damals, diesen Betrag durch Tauschen und durch private Mauschelgeschäfte da ... , aber ich denke, das haben insgesamt alle so gemacht, und ich glaube auch, dass die Leute damit gerechnet haben, die diese Währungsunion durchgeführt haben, dass die Mindestbeträge auf jeden Fall umgetauscht werden. TAKE 38 (Bürger) Irgendwann im Frühjahr 1990 hatte ich eine Mugge, also ein musikalisches Gelegenheitsgeschäft, wie man im Osten sagte, in Tübingen, und da bekam ich ein Honorar von 400 D-Mark, diese Summe habe ich auf dem Jenaer Marktplatz in DDR- Mark getauscht, und zwar galt auf dem Marktplatz der Kurs 1:3, man bekam also für 400 D-Mark 1.200 Ostmark, und dank der Bundesrepublik und ihrer Politik wurde diese Summe mit der Währungsunion 1:1 in D-Mark getauscht. Also 300 Prozent Rendite, war ein guter Deal. TAKE 41 (SFB Abendschau) In den Schaufenstern Westware in Hülle und Fülle. Kaum sah man Erzeugnisse aus der DDR. Wo am vorigen Sonnabend die Bratwurst noch 95 Pfennige Ost kostete, muss man jetzt 2 Mark und 10 in neuer Währung bezahlen. TAKE 42 (Bürger) Das gesamte Sortiment hatte sich von einem Tag auf den anderen radikal verändert, und man ist wie ein Blinder durch die Regale gelaufen, man hat das zusammengesucht, was man zum Leben braucht, konnte dabei aber auch - fast schon tragisch - ältere Damen und Rentnerinnen beobachten, die völlig hilflos durch diese Regale irrten, ... TAKE 43 (Bürgerin) Viele haben sich natürlich noch nicht überlegt, dass sie für hundert Mark West in Zukunft nicht mehr das bekommen würden, was sie für hundert Mark Ost bekommen haben, ... TAKE 44 (Bürger: Richard Schröder) Sämtliche Versicherungen mussten neu geordnet werden. Die Lebensmittel wurden plötzlich teurer, und die Autos wurden plötzlich viel billiger. Man kann schon sagen: es war, wie wenn jemand auswandert, bloß dass wir zuhause geblieben sind. TAKE 45 (Bürgerin: Regine Hildebrandt) Die Freude der einen ist das Leid der anderen. Ich muss es einfach mal sagen, und deswegen bin ich gerade bei der starken Freude über die Westmark hier immer doch versucht zu sagen: 'bitte etwas gedämpfter, und denken Sie an das, was damit noch verbunden ist'. TAKE 46 (Arbeitgeber Ost) Ob der Privatbürger 10.000, 4.000 oder wie viel Mark der DDR in DM umgetauscht hat, das ist nicht das Problem gewesen, sondern das Problem war: die bestehenden DDR-Betriebe hatten ja alle Schulden, weil die sozialpolitischen Maßnahmen der DDR sind ja aus den Betrieben bezahlt worden. Man musste ja irgendwie das, was der Herr Honecker versprochen hatte, bezahlen, und dadurch haben die ganzen Betriebe ja wahnsinnige Schulden gehabt. Und durch den Umtauschkurs 1:1 oder 1:2 für die Betriebe, hatten die auf einmal einen Schrotthaufen an Ressourcen, der nix wert war, und die Schulden waren von 1 Milliarde auf 500 Millionen runter, und die 500 Millionen hieß für viele Betriebe, gleich am nächsten Tag schon Konkurs zu machen, weil klar war, dass die das nie wieder bezahlen können. TAKE 47 (Lothar de Maiziere) Ich hatte von dem SED-Wirtschaftsinstitut ein Papier bekommen, in dem es hieß: 'ein Drittel der DDR-Betriebe wird bei Einführung der DM sofort Konkurs gehen, ein Drittel wird nur mit größten Umstrukturierungsmaßnahmen bestehen können, und nur wenige aus dem Dienstleistungssektor werden gleich bestehen können, und über alles wird es eine Beschäftigung von nur noch einem Drittel geben. AUTOR Im Sommer 1990, das weiß nicht nur Ministerpräsident de Maiziere, steht die DDR kurz vor dem ökonomischen Kollaps. Die erwarteten Investitionen aus dem Westen bleiben zunächst aus. Kanzleramtsberater Horst Teltschik. TAKE 48 (Horst Teltschik) Helmut Kohl hat 1990 viele Gespräche im Bundeskanzleramt mit etwa 50 Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft, der westdeutschen Wirtschaft plus Gewerkschaften geführt. Die Hauptbotschaft war: 'Herr Bundeskanzler. Wenn Sie unser westliches Rechtssystem übertragen, unser Wirtschaftssystem auf die DDR, werden wir investieren'. Und sie haben bei Weitem nicht so viel investiert, wie sie in Aussicht gestellt haben. Weil sie plötzlich gemerkt haben, dass sie genug Kapazitäten haben, um die Versorgung der DDR aus Westdeutschland heraus durchzuführen, und mir hat zum Beispiel ein Unternehmer mal gesagt: 'wir haben zwei Werke in der DDR gekauft, wissend, dass wir sie eigentlich nicht brauchen, aber wir wollten Wort halten gegenüber dem Bundeskanzler'. TAKE 49 (Bürger) Die Betriebe gehen kaputt, sie schließen, und wenn wir auf unserem Territorium, sagen wir das Land Brandenburg oder die DDR, nichts produzieren, nichts verkaufen können, haben wir auch kein Geld, irgendetwas zu kaufen. TAKE 50 (Detlev Karsten Rohwedder) 0'21 Ich habe keine Illusionen über die Zeit, die es braucht, um die fünf neuen Länder der DDR und die Menschen hier wirklich an den Lebensstandard der Bundesrepublik Deutschland heranzuführen. Aber darum geht es ja nicht? Die Frage war ja: geht dieses Land unter? Da kann ich nur sagen: Nein. AUTOR Am 20. August übernimmt der West-Manager Detlev Karsten Rohwedder den Chefposten der Treuhandanstalt. Sie ist für die Sanierung, den Verkauf und die Abwicklung von mehr als 8.000 Volkseigenen Betrieben zuständig. TAKE 51 (Detlev Karsten Rohwedder) 0'49 Zum Schluss müssen wir doch arbeiten, dass wir auch in 20 Jahren noch sagen können: 'wir haben das wohl strukturell und marktwirtschaftlich richtig gemacht', verbraucherorientiert, marktfreundlich, und ich finde, auch diesen Zielen muss sich die Treuhandanstalt verpflichtet fühlen und darf jetzt nicht in der allergrößten Hast - wir haben es ja auch gar nicht nötig, wir sind so reich und so potent - jetzt nun also schnell, schnell, schnell alles versilbern und verhökern, die Treuhandanstalt ist gehalten, das Volksvermögen bestmöglich zu verwerten. Wir sind gehalten und werden das auch tun, bestmöglich diese Dinge zu privatisieren, wir verschenken nichts. AUTOR Im Spätsommer überschlagen sich die Ereignisse: am 19. August zerbricht die große Regierungskoalition der DDR, vier Tage später beschließt die Volkskammer in einer turbulenten Nachtsitzung mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. TAKE 52 (Gregor Gysi) Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 03. Oktober 1990 (Beifall) beschlossen. Ich bedaure, dass die Beschlussfassung im Hau-Ruck-Verfahren über einen Änderungsantrag geschehen ist und keine würdige Form ohne Wahlkampftaktik gefunden hat, denn die DDR - wie sie auch immer historisch beurteilt werden wird - war für jeden von uns mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen das bisherige Leben. AUTOR Am 31. August ist der deutsch-deutsche Einigungsvertrag unter Dach und Fach. TAKE 53 (Lothar de Maiziere) Der Vertrag schafft Klarheit über die Eigentumsfragen. Für die Menschen in der DDR und für den inneren Frieden im vereinten Deutschland ist die Festschreibung der Ergebnisse der Bodenreform von 1945 bis 1949 von zentraler Bedeutung. Der Einigungsvertrag schafft einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf Eigentum und der Tatsache, dass man Geschichte nicht einfach ungeschehen machen kann. Er macht rasche Investitionsentscheidungen möglich, auch dort, wo Eigentumsfragen noch nicht abschließend geklärt sind, eine für die wirtschaftliche Entwicklung besonders zukunftsweisende Regelung. Dieser Vertrag ist sicher eines der bedeutendsten Vertragswerke in der deutschen Nachkriegsgeschichte. TAKE 54 (Dieter Vogel, Regierungssprecher) Der Bundeskanzler hat dieses Vertragswerk als ein Dokument von höchster historischer Tragweite bezeichnet und allen daran Beteiligten für ihre unermüdliche Arbeit daran gedankt. AUTOR Am 12. September stimmen die vier Siegermächte einem vereinten Deutschland zu. TAKE 55 (Moderator) (RIAS-Aktuell-Jingle) Historischer Akt in Moskau. Die Außenminister der Alliierten sowie der Bundesrepublik und der DDR haben den sogenannten Zwei- plus Vier- Vertrag unterzeichnet. Nach den Worten von DDR-Regierungschef de Maiziere ist damit der Kalte Krieg endgültig zu Ende. TAKE 56 (Lothar de Maiziere) Als ich vor diesem Vertrag saß, dachte ich: 'ach Großmutter, jetzt weiß ich, was Gnade ist'. Also es ist ein unverdientes Geschenk, dass man im richtigen Moment an der richtigen Stelle ist und mit seinem Namen etwas besiegeln kann, was noch vor einem Jahr keiner geglaubt hätte. TAKE 57 (Ulrich K. Preuß) Es ist ja doch schließlich das Dokument, das die Folgen des Zweiten Weltkrieges endgültig regelt und zwar in einer Weise, die alle Beteiligten befriedigt, keine unerfüllten Wünsche bzw. Stachel zurücklässt, die zur Quelle späterer Konflikte werden können, ... AUTOR Der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß. TAKE 58 (Ulrich K. Preuß) ... ich finde nach wie vor, dass das Bemerkenswerteste ist, dass ausdrücklich die deutsche Frage gleichsam als historisch erledigt angesehen wird, und zwar in zweierlei Hinsicht, nämlich dass jetzt die Verantwortlichkeiten der vier Siegermächte in Bezug auf Deutschland als Ganzes beendet werden, und zweitens die andere Seite, dass Deutschland seinerseits keinerlei Gebietsansprüche oder sonstige unbefriedigte Wünsche oder Ansprüche stellt, die offen bleiben. Sondern es ist wirklich die endgültige Lösung der deutschen Frage. TAKE 59 (Helmut Kohl) Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich schon, dass wir sagen können: wir sind mit Gottes Hilfe und der Hilfe von einigen Freunden und mit Fortune diesen Weg gegangen. TAKE 60 (Klaus v. Dohnanyi) Ich glaube, er hat die politischen Dinge wirklich richtig gemacht, zum Teil auch bewundernswert richtig, ich finde, wirtschaftspolitisch hat man eine Reihe von wesentlichen Fehlern gemacht. AUTOR Klaus von Dohnanyi, Berater der Treuhandanstalt. TAKE 61 (Klaus v. Dohnanyi) Man hat zu sehr vertraut: der Markt werde es schon richten. Der Markt richtet es allein überhaupt nicht. Sondern man muss den Markt steuern, und da bin ich wieder bei Kohl und seiner Wirtschaftskompetenz, das hat er, glaube ich, so nicht wirklich durchschaut. TAKE 62 (Helmut Kohl) Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Bundesrepublik sind heute ausgezeichnet. Noch nie waren wir besser vorbereitet als jetzt, die wirtschaftlichen Aufgaben der Wiedervereinigung zu meistern. ... TAKE 63 (Helmut Kohl) Ich habe unterschätzt, klar unterschätzt, wie tief die Teilung war. ... TAKE 62 (Helmut Kohl) ... blühende Landschaften geworden sein ... TAKE 63 (Helmut Kohl) ... Anders ausgedrückt: ich habe die über 40 Jahre unterschätzt. TAKE 62 (Helmut Kohl) ... In wenigen Stunden wird ein Traum Wirklichkeit. Nach vierzig bitteren Jahren der Teilung ist Deutschland, unser Vaterland, wieder vereint. Für mich ist dieser Augenblick einer der glücklichsten in meinem Leben. TAKE 64 (Reporter) In diesem Augenblick wird die Fahne hochgezogen, die Menschen jubeln, im Hintergrund hören Sie die Freiheitsglocke vor dem Schöneberger Rathaus, die hier eingespielt wird, es sind nur noch wenige Sekunden, bis der neue Zeitabschnitt beginnt, ... ATMO 2 (Freiheitsglocke und Feuerwerk) nur drunter TAKE 65 (Moderator) Es ist 0.00 Uhr. 3. Oktober 1990. TAKE 64 (Reporter) ... jetzt ist es soweit: die Wiedervereinigung ist vollendet, die Teilung Deutschlands und Europas ist überwunden. ATMOWECHSEL: ATMO 2 (Freiheitsglocke/Feuerwerk) weg, ATMO 3 (Nationalhymne) drunter TAKE 66 (Nachrichtensprecher) Deutschland ist wieder ein vereinigter und souveräner Staat. Bundespräsident von Weizsäcker, der zusammen mit Bundeskanzler Kohl und sämtlichen führenden Politikern Deutschlands vor die nach Zehntausenden zählenden Menschenmenge trat, erklärte: TAKE 67 (Richard v. Weizsäcker) Heute, liebe Landsleute, begründen wir unseren gemeinsamen Staat. Wie gut uns die Einheit menschlich gelingt, das richtet sich nach dem Verhalten eines jeden von uns. Die Geschichte gibt uns die Chance, wir wollen sie wahrnehmen, mit Zuversicht und mit Vertrauen. ATMO 3 (Nationalhymne) hoch, auf Schlussakkord SPRECHER v. Dienst Countdown Wiedervereinigung. Der Weg zur deutschen Einheit. Eine Dokumentation von Wolf-Sören Treusch. Es sprach: der Autor Ton: Christiane Neumann Regie: Rita Höhne Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 18