KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Kostenträger : P 62300 Titel der Sendung : Zornig, zärtlich, leidenschaftlich: Algerien erzählt Eine literarische Erkundung zum 50.Jahrestag der Unabhängigkeit AutorIn : Martina Sabra Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 27.05.2012 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Jörg Hartmann, Simone Kabst, Robert Frank, Maria Hartmann Musikalische : Andreas Münzel Mitwirkung Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Zornig, zärtlich, leidenschaftlich: Algerien erzählt Eine literarische Erkundung zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Von Martina Sabra Deutschlandradio Kultur: 27.5.2012 Redaktion: Barbara Wahlster Zitator Der Mond dringt in mein Zimmer Mit den abendlichen Faltern Mit Flügeln aus Seide und Taft Auf leisen Sohlen Mit zerbrochenen Wörtern Und Stimmen wie Samt Gegen eine Wand, die azurblaue Wasser trennt Schaut meine traurige Sehnsucht Nach meiner Mutter Schränke Wo sich die gestärkten Bettücher stapeln Zwischen Moschus und Parfüm Mein Gedicht ist wertlos Solange die Tinte der Erinnerung weder trocknet noch überlebt. Aus: Rachid Boudjedra: Befruchtung, Algier 1983, Übersetzung aus dem Arabischen von Issam Beydoun. Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 1991 Sprecher Rachid Boudjedra, 1983 Zitator Das große Geheimnis dieses Landes ist seine unendliche Kraft zur Selbsterneuerung. Es liegt am Boden, aber es steht immer wieder auf. Wenn jeder - ob Freund, ob Feind - glaubt, dass nun das Ende gekommen sei, erhebt es sich wie Phönix aus der Asche. Fatalerweise vermag es nicht, sein Geschick zu lenken. Da übersteht es todbringende Verheerungen, aber nutzt seine Chance nicht, sondern läuft abermals ins Unglück. Aus: Wassini Laredsch: Die Hüterin der Schatten oder Don Quichotte in Algier (1996) Übersetzung aus dem Arabischen Kristina Stock, Lenos Verlag, Basel 1999 Sprecher Wassini Laredsch, 1996 Erzählerin Der fünfte Juli. Tag der algerischen Unabhängigkeit, Proklamation des souveränen Staates. 1962 war das. Viele glaubten damals fest, dass alles gut werden würde. Manches ist tatsächlich besser geworden. Doch das meiste ist nicht gut. Die Algerier verzweifeln: An ihren Generälen, ihrer Korruption, ihren Machos und ihren maroden Wasserleitungen; an ihrer Identität, an der Sprachenfrage, am Familienrecht; an der Frauenquote im Parlament, an Frankreich und an den islamischen Fundamentalisten. Nicht zu vergessen: der Fluch des Öls. In seinem Roman "Erzähl mir vom Paradies" aus dem Jahr 2003 lässt der Romancier und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Boualem Sansal eine illustre Truppe schon etwas bejahrter algerischer Zeitgenossen zu Wort kommen. Die Saufkumpane treffen sich in einer Kneipe, die von mehreren Bombenanschlägen verwüstet wurde. Die Stimmung schwankt zwischen Resignation und Galgenhumor. Zitator Die Ruine wurde liebevoll auf den Namen "Bar des Amis" getauft. (...) Im Grunde fühlen wir uns dort wohl, sind weder glücklich, noch unglücklich; in der Schwebe. Wo die Welt aufhört, fängt Algerien an, und irgendwo drin, auf einem schwankenden Nachen, wie durch ein Wunder am Leben, warten wir. Auch die Tapferen kommen mal zum Zuge. Aus: Boualem Sansal: Erzähl mir vom Paradies (Algier 2003), übersetzt von Regina Keil- Sagawe, Merlin Verlag 2011 Erzählerin Algerien verzweifelt. Und doch - oder vielleicht gerade deshalb? - schreiben die Algerier und AlgerierInnen zum Verzweifeln schöne, starke, Texte. Cool-realistisch wie Yasmina Khadra; erotisch, brutal, poetisch verdichtet, tiefenpsychologisch auslotend wie Assia Djebar und Rachid Boujedra; sarkastisch-fantastisch wie Boualem Sansal; pikaresk und provozierend wie Wassini Laredsch. Die algerische Literatur - das sind Gedichte, Geschichten und Romane, so lebenshungrig, energiegeladen und kreativ, wie sie vielleicht nur Menschen schreiben können, die extreme existentielle Erfahrungen gemacht haben. Boualem Sansal drückt es so aus: O-Ton 1: Boualem Sansal Bei uns geht es immer ums Ganze, um die Existenz. Wir schreiben gewaltsame Geschichten, in gewaltsamer Sprache. Wir kommen vom Mittelmeer und wir sind leidenschaftliche Menschen. In einem Land ohne Geschichte gibt es keine Leidenschaft. Erzählerin Woran liegt das? Die algerische Verlegerin Selma Hellal, Mitinhaberin des Verlages Editions Barzakh in Algier, stellt sich diese Frage auch. Sie sieht einen Zusammenhang mit den beiden kollektiven Traumata der algerischen Gesellschaft: Der Unabhängigkeitskrieg von 1954-1962, der von allen Seiten mit extremer Grausamkeit ausgefochten wurde; und der Bürgerkrieg, die 1990er Jahre, als die algerische Bevölkerung einem monströsen Terror ausgesetzt war. O-Ton 2: Selma Hellal Für viele Menschen, die in den 1990er oder in den 1950er Jahren schreckliche Dinge erlebt haben, ist die Literatur das wichtigste Ausdrucksmittel. Damit meine ich nicht die simple Gleichung "Es braucht ein bisschen Tragik, um kreativ zu sein". Aber ich bin sicher, dass das, was in den 1990er Jahren passiert ist, der Kreativität und der Vorstellungswelt der Algerier eine unglaubliche Kraft gegeben hat. Erzählerin Der 5. Juli 1962: Algerien wird ein souveräner Staat. Es ist das Ende von 130 Jahren Fremdherrschaft und das Ende eines achtjährigen, extrem grausam geführten Befreiungskrieges gegen Frankreich. Die algerische Gesellschaft ist traumatisiert und zersplittert. Viele Autoren, die in der aktuellen algerischen Literaturszene eine Rolle spielen, haben persönliche Erinnerungen an diese Zeit. Es sind einschneidende Erlebnisse, die sie tief geprägt haben, und die sie auch heute, kurz vor dem Rentenalter, immer noch nicht loslassen. Die Romanautorin Maissa Bey verliert ihren Vater 1956. Er ist Lehrer, wird vor den Augen seiner Familie verhaftet und vom französischen Militär zu Tode gefoltert. O-Ton 3: Maissa Bey Ich war erst sechs, und doch traten bereits Begriffe wie Krieg und Folter in mein Leben. All das hat dazu geführt, dass ich mich geflüchtet habe, in eine total virtuelle Welt, nämlich die Welt der Literatur. Die Bücher gaben mir das, was ich um mich herum nicht sah und nicht fand." Erzählerin Auch der arabischsprache Romanautor Wassini Laredsch wächst als Halbwaise auf. Sein Vater hatte den Job in Frankreich gekündigt und war nach Algerien zurückgekehrt, um sich der Nationalen Befreiungsfront FLN anzuschließen. 1959 wird er festgenommen. Wassini Laredsch sieht ihn nicht wieder. O-Ton 4: Wassini Laredsch Er wurde zu Tode gefoltert. In Tlemcen ist das passiert. Ich war fünf Jahre alt. Ich habe einige eher unscharfe Fotos von meinem Vater. Wenn ich sie anschaue, bin ich immer sehr berührt. Für mich ist dieser Krieg eine sehr große Wunde. Alles, was ich geschrieben habe, diente dem Zweck, über diese Verletzung hinwegzukommen. Erzählerin Frankreichs Armee hat in Algerien gewütet. Aber auch unter den Algeriern selbst gab es brutale Gewalt. Bereits während des Algerienkrieges kämpfen verschiedene Fraktionen innerhalb der Befreiungsbewegung FLN um die Macht. Nach dem Waffenstillstand zwischen Frankreich und der Befreiungsbewegung FLN im Frühjahr 1962 geraten die sogenannten "Harkis" zwischen die Fronten: Einheimische, die - teilweise zwangsverpflichtet - beim französischen Militär gearbeitet haben. Der Romanautor Boualem Sansal ist damals 12 Jahre alt und wohnt mit seiner Mutter mitten in Algier. Vom Balkon der elterlichen Wohnung blickt er auf die Straße zum Hafen. O-Ton 5: Boualem Sansal Die letzten Monate waren schlimm. Und dann begannen die Massaker an den Harkis. Einmal sah ich einige junge Männer, die sich eine Frau und ihren Verlobten griffen. Ich glaube, einer von beiden hatte als Dolmetscher der Franzosen gearbeitet und bei Folterverhören die Fragen und Antworten übersetzt. Nun war die französische Armee abgezogen und die Übersetzer blieben zurück. Ich habe mit angesehen, wie die beiden brutal ermordet wurden. Man hat sie an den Haaren durch die Straße geschleift, sie mit Messern und Tritten traktiert. Alles war voller Blut. Dem Mädchen haben sie einen Stock zwischen die Pobacken geschoben. Sie haben ihr den Stock von hinten hineingeschoben, damit er aus dem Mund wieder herauskommen sollte. So haben sie sie getötet. Musikakzent Erzählerin Die jüngere Geschichte Algeriens ist eine Abfolge kollektiver Traumata. Existenzielle Gewalterfahrungen, massiv und so dicht hintereinander, dass die Menschen kaum Zeit haben, sich von einer Katastrophe zu erholen, bevor die nächste sie ereilt. Stoff für starke, menschliche Romane und Geschichten. Aber die großen algerischen Autoren erzählen nicht nur von politischer Gewalt. Die Strahlkraft der algerischen Literatur hat viele Aspekte. Einer ist die Sehnsucht der Frauen nach Freiheit, eine Sehnsucht, die die große Assia Djebar seit ihren ersten Romanen in den 1950er Jahren immer wieder umkreist. Ein anderer Aspekt ist die oft verkannte Vielschichtigkeit der algerischen Identität. Zitator Ich liebe Und das ist die erste Sünde, die ich begehe Ich spiele alle Formen des Endes durch Und stoße am Ende auf den Anfang Er führt mich zu meiner Seele Ich habe keine Seele Lasst ab von mir Nur noch einen Traum habe ich Tötet nicht in mir den Konflikt. Die beiden sind ineinander verschlungen, vermischt ihre Sicht Und das Meer weiß: mein Schiff Verlor sein Segel. Quelle: Bouzid Herzallah, arabisches Gedicht, deutsche Übersetzung: Staiwi Rawagah. Quelle deutscher Text: www. lyrikline.org, Linkadresse (am 29.4.2012) (http://lyrikline.org/index.php?id=163&author=bh03&poemId=8508&cHash=650fee8f01 Erzählerin Der algerische Dichter Bouzid Herzallah schreibt auf Arabisch. Auch sein Landsmann Habib Tengour wuchs mit Arabisch als Muttersprache auf. Heute schreibt er auf Französisch. Sprecher Habib Tengour. Geboren 1947 in Mostaghanem. Ab 1959 in Frankreich. Abitur, Studium der Soziologie in Paris. Aktive Teilnahme an der 1968er Bewegung. 1972 Rückkehr nach Algerien: Militärdienst, Direktor des neu gegründeten sozialwissenschaftlichen Institutes der Universität Constantine. 1976 erster Lyrikband: "Tapapakitakes - die Insel der Lyrik". 1991 wegen politischer Verfolgung zurück nach Frankreich. Bis heute rund zwei Dutzend Veröffentlichungen: Lyrik, Prosagedichte, zwei Romane. Lebt zwischen Frankreich und Algerien. Musikakzent Erzählerin Habib Tengours Heimatstadt Mostaghanem ist ein Zentrum der islamischen Mystik in Algerien; der Vater war Arabischlehrer. Habib Tengour schreibt auf Französisch, doch formal finden sich in ein seinem Werk zahlreiche Bezüge auf die klassische arabische Lyrik und auch auf den Koran. Tengour betrachtet auch die großen europäischen Erzählungen als sein Erbe - allen voran die Seefahrten des Odysseus, auf die er sich in seinem Werk immer wieder beziehen wird. Und: Er sieht das Exil nicht als Mangel, sondern als Weltanschauung. "Das Exil ist mein Beruf" lautet ein Zitat von ihm, das zum geflügelten Wort geworden ist, ebenso wie seine denkwürdige Feststellung: "Der Maghrebiner ist immer anderswo und verwirklicht sich nur dort." In seinem 2003 verfassten Gedicht "Die ferne Insel", eine Anspielung auf die Wortwurzel von Algerien - arabisch "Djazair", die Insel - besingt Tengour die Unmöglichkeit, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Zitator Wie weit reicht Charybdis, wo lauert schon Scylla? Und wer setzt das Ziel fest, wenn abgelegt wird? Wir werden zu Illegalen im eigenen Boot Können Wachskugeln vor Verirrung schützen? Du bist der einzige, der immer noch dem Wellengang trotz Du allein horchst noch auf den Sirenengesang Es ist sehr wohl ein Spiegel und das weißt du auch Doch es führt kein Weg in den Hafen zurück Lang ist's her Sprecherin Das Feldlager vor Aulis Zitator Du hattest eine List ersonnen, die Anker zu lichten Die Anführer allesamt angeschmiert Sprecherin Gute Gründe die man gern glaubt Zitator Um nicht in Streit und Hader zu verfallen Als wär's ein Bespiegelungsspiel Ein Ende wird es niemals geben Doch Unterweggssein befreit nicht davon, sich abzusondern und nachzudenken. Aus: Habib Tengour: "Die ferne Insel". In: Seelenperlmutt. Lyrik Französisch-Deutsch, übertragen von Regina Keil-Sagawe, Verlag Hans Schiler , Berlin 2009 Erzählerin Als Sozialwissenschaftler untersucht Habib Tengour in den 1980er Jahren islamische Volksbräuche in Algerien. Die verbreitete Annahme, dass das Individuum eine westliche Erfindung sei, dass die Nordafrikaner und die Araber sich nur über die Gruppe definieren, lässt er nicht gelten. O-Ton 6: Habib Tengour Das ist ein Klischee. Die Araber haben immer die Differenz zugelassen. Das Problem ist, dass der Westen ein falsches Verständnis vom Ich hat. Diese absolute Individualität - man will schockieren, um zu schockieren. ICH habe dies und das als einziger gemacht, und so fort. Doch das ist nicht das Ich, das ich meine. Das "Ich" ist immer gleichzeitig ich und der andere. Man baut sich selbst im Spiegel der anderen auf. Dichter sind nie ganz allein. Erzählerin Der Spiegel ist ein wiederkehrendes Motiv bei Habib Tengour. Die Metapher weist darüber hinaus auch auf ein Strukturelement der zeitgenössischen algerischen Literatur: Der andere als Spiegel des Ich, die anderen als Spiegel des Wir, das Jetzt als Spiegel des Vergangenen - und umgekehrt. Schon der Verfasser des ersten modernen algerischen Romans Kateb Yacine hatte seinen berühmten, 1956 erschienenen Roman "Nedjma" als ein komplexes Verwirrspiel angelegt. Vielstimmigkeit, gebrochene Perspektiven wie durch ein Kaleidoskop sind seit "Nedjma" ein Markenzeichen algerischer Romane, ebenso wie intertextuelle Bezüge, oder das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit. Wo hört die Realität auf, wo beginnt die Literatur? Was bedeutet Erinnerung? Diese Neigung zum Spiel mit verschiedenen Ebenen findet sich auch bei der arabischsprachigen Romanautorin Ahlam Al Mosteghanemi. Sprecher Ahlam Al Mostaghanemi. Geboren um 1950 in Tunis, als Tochter eines algerischen Exiloppositionellen. 1962 Rückkehr nach Algerien. Schule und Studium der arabischen Literatur in Algier. Bestsellerautorin. 1993: Der Roman "Gedächtnis des Leibes". Erzählerin Als Algerien 1962 unabhängig wird, hoffen viele auf Demokratie. Doch es kommt anders. 1963 wird Algerien zum Einparteienstaat unter der Führung der FLN, auf der Basis von Sozialismus und Islam. Schon bald machen sich Willkür, Korruption und Zensur breit. Aus der Feder der arabischsprachigen Schriftstellerin Ahlam Al Mostaghanemi stammt ein experimenteller Liebesroman, der dieses Scheitern eindringlich thematisiert. Khaled, ein algerischstämmiger Kunstmaler in Paris, hat im Unabhängigkeitskrieg gekämpft, dann aber enttäuscht das Land verlassen. Obwohl der Krieg über zwanzig Jahre her ist, plagen ihn immer noch Schuldgefühle und die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Als er bei einer Ausstellung zufällig die Tochter eines alten Kampfgefährten wiedertrifft, beginnt für Khaled ein schmerzlicher, aber letztlich heilender Prozess der Aufarbeitung. Zitator Ich hatte dir die Hand gereicht, ohne den Armreif aus den Augen zu lassen. Urplötzlich erwachte die Erinnerung an ein ganzes Leben. Wann hatte ich zum letzten Mal einen solchen Armreif gesehen? Es musste dreißig Jahre her sein. Ich hob die Augen. Unsere Blicke begegneten sich für einen langen Moment. Du schautest auf meinen fehlenden Arm. Ich betrachtete deinen Armreif. Jeder von uns trug seine Erinnerung mit sich. Aus: Ahlam Al Mosteghanemi. Gedächtnis des Leibes (Dhakirat Al Jasad), Dar Al Adab, Beirut 1993. Übersetzung aus dem Arabischen: Martina Sabra Erzählerin Khaled verliebt sich in die junge Frau. Doch Hayat interessiert die Beziehung eher, weil sie Stoff für einen Roman braucht. Ihre Zukunft ist bereits beschlossen: Sie soll in Constantine, Khaleds Heimatstadt, einen wohlhabenden Bürgersohn heiraten. Khaled wird zur Hochzeit eingeladen. In Constantine angekommen, erkennt er seine ehemalige Heimatstadt nicht mehr wieder. Die 1980er Jahre sind in Algerien die Zeit der Privatisierungen und des Übergangs zur Marktwirtschaft. Viele ehemalige Kampfgefährten haben sich als FLN-Funktionäre kräftig an den öffentlichen Kassen bedient. Nun sitzen sie in Prunkvillen und halten die Türen zu, um nicht zu sehen, wie das Land immer tiefer in die Krise rutscht. Am Ende des Romans reist Khaled noch einmal zur Beerdigung des Bruders nach Constantine. Zitator Als ich das Land verlassen hatte, war das Atmen verboten. Nun war es verboten, sich frei im Land zu bewegen. (...) Ein Grenzbeamter, kaum älter als die Unabhängigkeit ohne jegliche Rücksicht auf meine Trauer oder meinen amputierten Arm, stoppt mich und brüllt: ,Was hast du zu verzollen?!' (...) Während andere mit Luxuskoffern die VIP-Tür passieren, durchwühlt der Beamte meine armselige Reisetasche und findet schließlich ein Manuskript. Ich spüre eine Träne, und die unbändige Lust, ihm zu sagen: Mein Sohn, ich verzolle meine Erinnerungen! Aus: Ahlam Al Mostaghanemi: Gedächtnis des Leibes, Beirut 2003. Übersetzung aus dem Arabischen: Martina Sabra Erzählerin Die wirtschaftliche Krise führt in den 1980er Jahren zu einem Erstarken der radikalen Islamisten. Das Regime versucht, soziale Proteste zu neutralisieren, indem es religiöse Kräfte stärkt. Die Resultate lassen nicht lange auf sich warten: Überall im Land entstehen illegale Moscheen, in den Straßen sind immer häufiger Prediger unterwegs, die einen radikalen Islam propagieren, es gibt erste vereinzelte Zwischenfälle mit bewaffneten Islamisten. 1984 verabschiedet die Einheitspartei ein neues, konservatives Familienrecht, das am Islam orientiert ist und Frauen extrem benachteiligt. Parallel wird mehr schlecht als recht die Arabisierung von Schulen und Hochschulen vorangetrieben. Das Arabisch, das die Menschen in Algerien auf der Straße sprechen ist vom Hocharabischen ungefähr so weit entfernt wie das Schwyzerdütsche vom Hochdeutschen. Und was noch schlimmer ist: Viele Arabischlehrer trichtern den Kindern mit der Sprache auch islamistisches Gedankengut ein. Der Schriftsteller Boualem Sansal erinnert sich: O-Ton 7: Boualem Sansal Sie haben unseren Kindern Arabisch beigebracht, und gleichzeitig haben sie das Denken islamisiert. Die Eltern erkannten ihre Kinder nicht mehr wieder. Sie selbst sprachen Französisch, Deutsch, Englisch. Die Kinder sprachen plötzlich Arabisch, fingen an zu beten und griffen ihre Verwandten an, allen voran ihre Mütter und ihre Schwestern. Erzählerin Die Lage in Algerien wird immer angespannter. Am 5. Oktober 1988 revoltiert die algerische Bevölkerung. Über 20 Jahre vor dem arabischen Frühling passiert in Algerien die erste Revolution gegen ein verkrustetes arabisches Regime. Musik: Khaled "La Camel" Erzählerin Die Revolution von 1988 scheint zunächst erfolgreich zu sein: 1989 wird nach fast dreißig Jahren Diktatur die Einheitspartei FLN aufgelöst. Die neue Verfassung etabliert ein Mehrparteiensystem, Wahlen werden vorbereitet. Doch bei den Kommunalwahlen gewinnen 1990 haushoch die Islamisten. Als sich bei der Parlamentswahl 1991 ebenfalls ein Sieg der Islamischen Heilsfront FIS abzeichnet, lassen die Generäle Panzer auffahren und brechen die Wahlen ab. Die Islamisten gehen daraufhin in den bewaffneten Untergrund. Sie bekämpfen den algerischen Staat, den Westen und alle, die sie für deren Verbündete halten. Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller gehören Anfang der 1990er Jahre zu den ersten, die dem Terror zum Opfer fallen. Es gibt Todeslisten. Die gebildete Elite Algeriens ist im Visier. Musikakzent Zitator Tahar Djaout, Journalist und Schriftsteller: Kopfschuss, Mai 1993 Zitatorin Youssef Sebti, Dichter und Ingenieur: Erstochen, Dezember 1993 Zitator Abdelkader Alloula, Dramatiker. Erschossen, März 1994 Erzählerin Viele algerische Intellektuelle werden in den ersten Jahren des Bürgerkrieges auf bestialische Weise abgeschlachtet. Fast alle Schriftsteller und Intellektuelle fliehen ins Ausland. Aber auch aus der Ferne ist der Horror kaum zu ertragen. Viele Autoren schreiben sich das Entsetzen, die Trauer, die Wut in Form von Essays, Nachrufen oder Prosadichtung von der Seele. Assia Djebar verfasst ihr berühmtes poetisches Requiem "Weißes Algerien". Viele algerische Autoren greifen zur Lyrik oder zu Mitteln der Verfremdung, um das eigentlich Undarstellbare erzählen zu können. Der arabischsprachige Romanautor Wassini Laredsch wählt eine Mischung aus Satire, Groteske und Schelmenroman. Sprecher Wassini Laredsch. 1954 in Tlemcen geboren. Studium der arabischen Sprache und Literatur in Oran und Damaskus. 1994 Flucht nach Frankreich. Professor für Literatur an der Sorbonne in Paris und an der Universität Algier. Lebt in Algerien und Frankreich. Zitator Algier, geliebte Hure, du... Das ist er, der erste Satz, kurz und doch ausreichend, um diese altmodische, halbverrostete Schreibmaschine zum Klappern zu bringen. Zu ihr bin ich übrigens rein zufällig gekommen, und zwar bei einer Versteigerung im Kulturministerium, als jenes eine neue Einrichtung erhielt. Eine einmalige Gelegenheit, meint ihr? Eine Schreibmaschine zu einem Spottpreis? Naja. Einfach, wie ich nun einmal bin, nutze eben auch ich - wie die meisten Menschen dieser Stadt - meine Beziehungen reichlich aus. Aus: Wassini Laredsch: Die Hüterin der Schatten oder Don Quichotte in Algier (1996). Aus dem Arabischen von Kristina Stock, Lenos Verlag, Basel 1999 Erzählerin In seinem Roman "Die Hüterin der Schatten", der 1996 - mitten im Bürgerkrieg - erschien, erzählt Wassini Laredsch die Geschichte einer Kastration. Hassan Hssissen, ein dienstbeflissener kleiner Beamter im Ministerium für algerisch-spanische Beziehungen, wird abgestellt, einen spanischen Reporter zu unterstützen, der über seinen Urahn Miguel de Cervantes recherchieren will. Bei ihren Rundgängen durch Algier und dem Besuch diverser Mülldeponien erfahren die beiden Details über Korruption und Schwarzmarktstrukturen, von denen sie eigentlich nichts wissen sollten. Als Warnung schneiden Gangster einer Bande Hassan Hssissen das Glied und die Zunge ab. Doch der unbedarfte Hsissen behält trotz der fürchterlichen Verstümmelungen, die man ihm zufügt, seine Unterwürfigkeit und seinen Patriotismus. Ein Kunstgriff, der es Laaredsch erlaubt, mit einem Augenzwinkern harsche Kritik an den Drahtziehern des algerischen Regimes zu üben, dem "Grünen Clan". Zitator Der Grüne Clan ist wie Gott, es gibt nicht seinesgleichen. Er glaubt nur an sich selbst, und nichts erfreut ihn so sehr wie das Khakigrün. (...) Der Clan gehört zur Familie der vielarmigen Kraken. Einer von den vielen Armen reicht, um selbst über Tausende von Kilometern Lauschfunktionen auszuüben, ein anderer widmet sich voll und ganz dem Erdrosseln, der dritte schwingt vor der UNO große Reden über Menschenrechte... Aus: Wassini Laredsch: Die Hüterin der Schatten oder Don Quichotte in Algier (1996). Aus dem Arabischen von Kristina Stock, Lenos Verlag, Basel 1999 Erzählerin Nicht nur die Islamisten gehen in den 1990er Jahren extrem brutal vor. Auch der algerische Staat ist nicht zimperlich. Folter ist in den algerischen Gefängnissen an der Tagesordnung. Und längst nicht alle Opfer sind Terroristen. Adlène Meddi, ein junger algerischer Krimiautor schildert in seinem 2002 erschienenen Roman "Die türkische Kopfnuss" eine Szene, die auf die Menschenrechtsverletzungen durch das Regime anspielt. Der Detektiv Moncef Chergui trifft im Hausflur seinen frommen, etwas durchgeknallten Nachbarn Athman. Zitator Im Treppenhaus verstellt mir Athman den Weg. In der Dunkelheit des Morgens erinnert seine weiße Djellaba auf der Wendeltreppe an die Silhouette eines gefallenen Engels oder eines abgewrackten Djinns. Seine übertrieben weit aufgerissenen Augen werden eingerahmt von einem Bart und einer Mähne, die gegen die Schwerkraft in alle Richtungen abstehen. Er breitet die Arme weit aus. Engelsflügel oder weitgeöffnete Türen zur Hölle? Meine Fresse - schon die zweite Predigt an diesem Morgen! Athman war eigentlich ein harmloser Bruder, minimal aggressiv. Er grüßte sogar meine Tochter. Doch eines Nachts, im Ramadan 1994, holte ihn die Sicherheit. Als er zwei Wochen später zurückkam, erkannte ich ihn nicht wieder. Weil sie ihn für einen "Afghanen" hielten, hatten sie ihn gekocht wie einen Chilenen und aufgehängt wie einen Mongolen. Dabei waren die Nachbarn im Haus ganz sicher, dass der Arme lediglich von einem guten Geist besessen war - wegen seiner exemplarischen Lebensweise und seiner unerschütterlichen Frömmigkeit. Aus: Adlene Meddi: Le casse-tête turc. Editions Barzakh, Algier 2002. Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra Erzählerin "Die türkische Kopfnuss", der Debütroman des 1975 geborenen algerischen Journalisten Adlène Meddi, gehört zu einem Genre, das im Nahen Osten und in Nordafrika bis vor wenigen Jahren nahezu unbekannt war: der Kriminalroman. Warum es in der arabischsprachigen Welt bislang kaum Krimis gibt, ist eine offene Frage. Stehen die konservativen Moralvorstellungen im Weg? Die verbreitete Zensur? Klar ist: Algerien ist das erste Land in der arabischen Region, dessen Krimis es in internationale Bestsellerlisten geschafft haben. Zu verdanken ist das dem Talent von Yasmina Khadra. Sprecher Yasmina Khadra alias Mohammed Moulessehoul. Geboren 1956. Ab dem neunten Lebensjahr Karriere beim algerischen Militär. International erfolgreichster algerischer Schriftsteller. Erzählerin Yasmina Khadra schrieb während der Zeit des Bürgerkriegs in den 1990er Jahre aus Sicherheitsgründen unter dem Namen seiner Ehefrau. Erst mit seiner Flucht nach Frankreich im Jahr 2001 lüftete er seine wahre Identität. Mittlerweile kann Yasmina Khadra wieder in Algerien auftreten. Er ist international vor allem wegen seiner Krimis bekannt. Er hat aber auch einen exzellenten Roman über den Terror der 1990er Jahre geschrieben, indem er die sozialen und psychologischen Mechanismen beschreibt, die dazu führen, dass Menschen den moralischen Kompass verlieren und zu allem fähig werden. Der Roman "Die Lämmer des Herrn" spielt in einem kleinen Dorf in Westalgerien. Junge Dorfbewohner, die früher Außenseiter waren, treten plötzlich mit langen Hemden und dichten Bärten als Emire auf und wollen den Ältesten des Dorfes verbieten, für einen Marabut, einen islamischen Heiligen, ein Grabmal zu bauen. Ein Konflikt bahnt sich an. Niemand merkt, dass im Hintergrund jemand die Fäden spinnt, dem Gott und das Vaterland völlig egal sind. Zane ist kleinwüchsig, ein Paria und wird deshalb einfach übersehen. Zitator "Tej Osmane und sein Fundamentalistentrupp paradieren über den Platz. Je mehr Beachtung man ihnen schenkt, um so höher heben sie das Kinn. Ihr Guru hat die Alten auf den hintersten Rang verwiesen. Diese sind sich der Konsequenzen sehr wohl bewusst und nicht bereit, das einfach so hinzunehmen. Hoch oben auf einer Mauer hockt Zane, der Zwerg, und spielt den Nachtvogel. In seinen geweiteten Pupillen flackert ein Feuer, das Angst macht. Er weiß, dass der Augenblick der Vergeltung naht, die Zeit arbeitet schon jetzt für ihn." Aus: Yasmina Khadra: Die Lämmer des Herrn (1998). Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2004 Erzählerin Zane, der Kleinwüchsige, ist von klein an wegen seiner Behinderung gehänselt worden. Jetzt beobachtet er mit Genugtuung, wie die Sozialstruktur des Dorfes auseinanderfällt. Er weiß: Es geht nicht ums Punktesammeln fürs Paradies oder darum, dass der Islam regiert. Die eigentliche Frage ist, wie man sich am effizientesten das Haus oder die Frauen des Nachbarn unter den Nagel reißt. Der öffentliche Schreiber Dactylo, Alter Ego des Autors Yasmina Khadra, beobachtet den Werteverfall mit Grausen. Zitator "Dactylo hatte damit gerechnet, dass die Leute reagieren und die Greuel zumindest verurteilen würden. Doch im Café, auf dem Markt und in der Moschee weicht die Aufregung nach und nach der Freude über eine neue Form der Unterhaltung. Man fängt an, die spektakulären Attentate in gewisser Weise bravourös zu finden, den Mördern bescheinigt man abenteuerliche Verwegenheit, und für die Hinrichtungen finden sich Rechtfertigungen. Als man eines Morgens auf dem kommunalen Parkplatz zwischen rauchenden Karosserien den verkohlten Körper von Maza, dem Pförtner entdeckt, erklären die Leute jedem, der es hören will, dass Maza korrupt und einfach widerwärtig zu den Bergbewohnern gewesen sei, die ins Rathaus kamen, und dass er, wenn man bedenkt, wie er den armen Issa Osmane einst schikanierte, seine Strafe voll und ganz verdiene. "Wer sich nichts vorzuwerfen hat, kann ruhig schlafen," so redet man. "Diejenigen, die es getroffen hat, waren wahrlich keine Engel." Aus: Yasmina Khadra: Die Lämmer des Herrn (1998). Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2004 Musikakzent Erzählerin Im sogenannten "schwarzen Jahrzehnt", werden schätzungsweise 150.000 Menschen getötet. Ganze Dörfer werden ausradiert. 1999 beendet die Islamische Heilsfront FIS den bewaffneten Kampf. Der neue Präsident Abdelaziz Bouteflika lässt per Referendum das sogenannte "Gesetz der zivilen Eintracht" absegnen, eine begrenzte Amnestie für islamistische Untergrundkämpfer. Das Gesetz wird von Menschenrechts- und Opferorganisationen kritisiert. Doch die große Mehrheit der stimmberechtigten Algerier stimmt dafür. In den kommenden Jahren kehrt das Land sehr allmählich zur Normalität zurück. Es gibt wieder Straßencafés. Kinos und Theater sind noch geschlossen, doch algerische Superstars wie Cheb Khaled oder Rachid Taha, die in den 1990er Jahren aus Sicherheitsgründen nicht auftreten konnten, planen wieder Konzerte in ihrem Heimatland. Die Jugend von Annaba, Algier und Oran traut sich wieder, tanzen zu gehen. Musik Erzählerin Mit dem Ende des Bürgerkrieges wird auch das Angebot in den Buchläden wieder größer. Im Jahr 2000 gründen der studierte Architekt Sofian Hadschadsch und seine Frau Selma Hellal in Algier den Verlag "Barzakh". Der Verlag ist auf algerische Belletristik und Kultur spezialisiert und veröffentlicht Bücher in französischer und arabischer Sprache. Barzakh ist eine Institution - im Jahr 2010 erhielten Sofiane Hadschadsch und Selma Hellal den niederländischen Prinz-Claus-Preis für ihr verlegerisches Engagement. Doch trotz solcher Lorbeeren - in Algerien sei Belletristik nach wie vor ein schwieriges Geschäft, erzählt Selma Hellal. Wenn ein Buch gut laufe, bedeute das zweitausend Exemplare. Selbst Bestseller wie die von Rachid Boudjedra erreichten in Algerien maximal fünf- bis sechstausend verkaufte Exemplare. Immerhin: Seit 2003 finanziert das algerische Kulturministerium einheimischen Verlegern eine bestimmte Anzahl Bücher pro Jahr. Selma Hellal: O-Ton 8: Selma Hellal Es gibt eine Kommission, jeder Verlag kann pro Jahr zehn Titel vorschlagen. Das Ministerium kauft 2000 Exemplare. Das ist die beste Methode, uns zu finanzieren. So können wir auch Bücher herausgeben, an denen wir nicht so viel verdienen, die uns aber inhaltlich wichtig sind. Zum Beispiel haben wir gerade drei Romane des 2005 verstorbenen Autors Sadek Aissat herausgegeben. Ohne die Unterstützung des Ministeriums wäre das nicht möglich gewesen. Erzählerin Der Verlag Barzakh gibt auch eine Anzahl Bücher in Kooperation mit einem französischen Verlag heraus. So erhält das kleine algerische Unternehmen günstig Zugang zum französischen Markt. Auf die Kaufbereitschaft des algerischen Lesepublikums allein möchte Selma Hellal nicht setzen. Die sei zwar nicht so schlecht wie oft behauptet, sagt sie, aber unterm Strich schwer einzuschätzen. O-Ton 9: Selma Hellal "Leider haben wir keine Soziologen, die sich mit der Frage befassen. Ich kann ihnen nur sagen, was ich in der Praxis erlebe. Es wird oft behauptet, dass die Algerier keine Bücher läsen. Aber gehen Sie mal im Herbst auf die internationale Buchmesse in Algier - da haben Sie den Eindruck, dass ganz Algerien sich verabredet hat, um während dieser 10 Tage Messe Bücher zu kaufen. Erzählerin Am Abdelkader-Platz, unweit des Viertels Bab El Oued im Zentrum von Algier, befindet sich die Buchhandlung "Tiers Monde", "Dritte Welt". Seit 1999 gehört der Buchladen dem algerischen Verlag Casbah. Abderrahmane Ali Bey, ein sympathischer Mittfünfziger mit Schnurrbart und strahlend blauen Augen, arbeitet seit 1977 hier. Kaufen die Leute Literatur? Ja, sagt Ali Bey, aber es komme auf das Buch an. Die Kriminalromane von Yasmina Khadra zum Beispiel seien wahre Renner. Bei einer Signierstunde mit ihm habe das Publikum kürzlich fast den Laden gestürmt. Doch insgesamt kauften die Algerier zur Zeit eher Sachbücher, vor allem zur jüngeren Geschichte des Landes. O-Ton 10: Abderrahmane Ali Bey Allgemein kann ich sagen, dass die Algerier seit fünfzehn, sechzehn Jahren hauptsächlich nach politischer und zeitgeschichtlicher Literatur fragen. Früher waren viele Bücher verboten, die Zensur war sehr stark. Die Leute sind neugierig, ob es Wahrheiten und Fakten gibt, die sie noch nicht kennen. Erzählerin Manche Bücher sind in Algerien immer noch verboten oder zumindest schwer zu bekommen. Ein Grund dafür ist die Zensur; ein anderer, dass viele algerische Autoren ihre Werke zuerst in Paris veröffentlichen. Damit sind ihre Bücher für die algerischen Leser zu teuer. Arabische Übersetzungen der frankophonen algerischen Literatur sind rar. Doch die meisten Kunden wollen ohnehin eher französischsprachige Bücher, erzählt Abderrahmane Ali Bey von "Tiers Monde". Auch die Verlegerin Selma Hellal beobachtet, dass französischsprachige Literatur besser "geht" als arabische - und das, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung als Muttersprache Arabisch spricht. O-Ton 11: Selma Hellal Das liegt auch an diesem schizoiden Bildungssystem. Bis zum Abitur lernt man auf Arabisch. Aber wenn man an der Uni Naturwissenschaften studiert, oder Medizin oder Meereskunde, dann nur auf Französisch. Erzählerin Algerien ist trotz der Arabisierungsbemühungen mehrsprachig geblieben. Seit 2002 ist die Berbersprache Tamazight in der Verfassung als "Nationale Sprache" anerkannt. Französisch ist zwar keine Amtssprache, aber es gehört zum Alltag - schließlich hat fast jede Familie Verwandte im frankophonen Ausland. Wassini Laredsch findet diese Mehrsprachigkeit sehr wichtig, obwohl er alle seine Romane auf Arabisch schreibt. O-Ton 12: Wassini Laredsch Dass wir Französisch sprechen, ist eine fundamentale Errungenschaft, die wir bewahren müssen, neben der arabischen Sprache. Mit Hass kommt man nicht weiter. Atmo: Straße Algier Erzählerin Mit seinem Haarkranz und seinem schelmischen Lächeln wirkt der hochgewachsene Laredsch ein bisschen wie ein großer Bruder von Roberto Benigni. Wenn man ihn beobachtet, wie er auf dem Weg ins Café auf dem Trottoir mitten in Algier mit Bekannten tratscht, dann kann man kaum noch glauben, dass er 1994 fliehen mußte, weil radikale Islamisten ihn mit dem Tod bedrohten. Laredsch unterrichtet heute parallel an der Pariser Sorbonne und an der Uni Algier Master-Studierende in arabischer Literatur. Musik Erzählerin Die Algerier sind zum Alltag zurückgekehrt. Mit dem Gesetz über die nationale Eintracht von 1999 und dem Gesetz über die nationale Versöhnung von 2005 wurde der algerischen Gesellschaft ein Neuanfang verordnet - inklusive Eingliederungsmaßnahmen für reuige islamistische Kämpfer und punktuelle Hilfen für Opfer. Eintracht und Versöhnung - ohne Gerechtigkeit und ohne Wahrheit. Kann das gehen? Sprecher Maissa Bey. Geboren 1950 in einem kleinen Dorf südlich von Algier. Wegen guter Noten ab 1960 Besuch des französischen Lycée Fromentin in Algier. Französischlehrerin in Sidi Bel Abbès. Gründerin und Vorsitzende der Frauengruppe "Sprechen und Schreiben, Parole et Ecriture" in Sidi Bel Abbes. Über ein Dutzend Romane, mehrere Bände mit Kurzgeschichten. Atmo: Nacht, Straße, Schritte Zitatorin Der Wind ist kühl, er bläst mir unter das Hemd. Mir ist kalt. Ich gehe etwas schneller, um mich aufzuwärmen. Nur noch ein paar Meter. Zwei Straßen trennen mich von unserer Haustür, von der, die auf mich wartet. Die Nacht zieht sich zusammen. Ich kann nicht weglaufen. Ich höre einen Atemzug, ein Keuchen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Über meinem Gesicht ein Gesicht der Finsternis Die Nacht verdichtet sich in diesen Augen Er murmelt mir etwas ins Ohr. Er spricht sie aus, die Opferungsformel. Ganz allein schreibt sich der Name Gottes in mich ein. Die Nacht reisst auf und zerfällt zu Krümeln in einer Sekunde der Ewigkeit. Mama, Ya Yemma! Aus: Maissa Bey: Puisque Mon Coeur est Mort, Editions Barzakh, Algier 2010, Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra Erzählerin Mit dieser Szene beginnt der Roman "Nun, da mein Herz gestorben ist" von Maissa Bey aus dem Jahr 2010. Naadir, ein junger Mann Mitte zwanzig, wird von einem Terroristen kaltblütig ermordet. Seine Mutter bleibt allein zurück. Sie ist geschieden, Naadir war ihr einziger Sohn. Zu dem unerträglichen Schmerz des Verlustes kommt die Angst, vielleicht an Nadirs Tod mitschuldig zu sein. Hat sie als alleinlebende, berufstätige, in religiösen Dingen liberale Frau die Islamisten provoziert? Um nicht durchzudrehen, beginnt die Mutter, Briefe an ihren Sohn zu schreiben. Sie bringt alles zu Papier: Ihre Trauer, ihre Wut, ihren Neid auf die Überlebenden, ihren verzweifelten Wunsch nach Vergeltung. Sprecherin Hast du jemals eine Pistole in der Hand gehabt? Hast du dieses besondere Gefühl gespürt, diese Mischung aus Angst und Allmacht? Dieses Gewicht in der Kuhle zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Berührung mit dem Metall, das sich langsam erwärmt. (...) Wärst du stolz, wenn du wüsstest, dass deine Mutter Talent zum Schießen hat? Das hat man mir jedenfalls nach der ersten Schießübung gesagt, die ich mit Hakim absolviert habe. Ich habe eine halbe Stunde lang trainiert. Die Polizisten fanden es glaube ich ganz lustig, einer kleinen Frau zuzusehen, die vor der Waffe in ihrer eigenen Hand Angst hat. Und die vor allem sehr schlecht ihre Abneigung überwinden kann. Aus: Maissa Bey: Puisque Mon Coeur est Mort, Editions Barzakh, Algier 2010, Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra Erzählerin Maissa Bey ist eine der wenigen Autorinnen, die während des Bürgerkrieges in Algerien geblieben sind. Sie sei nie bedroht worden, sagt sie. Doch sie erlebte das Drama vieler Familien aus nächster Nähe. Mit dem Roman "Nun, da mein Herz gestorben ist" will Maissa Bey eine Debatte über den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit anstoßen. Sie will die Algerier dazu bewegen, das Trauma der 1990er Jahre nicht per Dekret verdrängen zu lassen. O-Ton 13: Maissa Bey Ich bin dafür, das sogenannte "Gesetz über die Nationale Versöhnung" von 2005 in Frage zu stellen. Denn wir werden in Algerien nichts ausrichten können, wenn die Wahrheit nicht zur Sprache gebracht wird, und wenn nicht alle Beteiligten die Tatsachen anerkennen. Doch die Mächtigen haben einen einen totalen Blackout über hunderttausende Familien verhängt. Diese Familien müssen mit einem Schmerz leben, der einfach totgeschwiegen werden soll. Musikakzent O-Ton 14: Adlene Meddi Es gibt einen Konsens, dass wir in den 1990er Jahren ein Trauma erlebt haben. Aber gleichzeitig ist es sehr schwierig, über diese Zeit zu sprechen. Die Menschen versuchen, zu vergessen, indem sie konsumieren. Als in den 1990er Jahren die Massaker passierten, war der Ölpreis sehr niedrig. Als der Frieden zurückkam, Anfang der 2000er Jahre, stieg der Ölpreis wieder, die wirtschaftliche Lage verbesserte sich. Damit fiel es leichter, zu vergessen. Man schaute Satellitenfernsehen und dann ging es darum: wer hatte als erster einen Wagen mit Vierradantrieb, wer hatte als erster einen Plasmabildschirm. Sprecher Adlène Meddi. Geboren 1975 in Algier. Aufgewachsen im Vorort El Harraasch. Abitur und Journalistikstudium in Algier. Master in Soziologie. Aktuell Redakteur und Reporter der französischsprachigen algerischen Tageszeitung "El Watan Weekend". Mitinitiator eines unabhängigen algerisch-französischen Multimediaprojektes über den algerischen Befreiungskrieg. Schreibt poetische Krimis, im Stil des französischen Roman Noir. Erzählerin 2008 erschien Meddis zweiter Roman "Das Gebet des Mauren". Der Krimi kann als politischer Schlüsselroman gelesen werden, er ist aber auch ohne Kenntnis der zeitgeschichtlichen Hintergründe spannend. Die Handlung spielt in den 2000er Jahren. Kommissar Djo ist eigentlich schon pensioniert. Doch da er einer alten Bekannten einen Gefallen schuldet, lässt er sich überreden, noch einmal einen Fall anzunehmen. Zu spät begreift der grauhaarige Ermittler, dass er in eine Falle tappt. Hochrangige Drahtzieher des Mordens in den 1990er Jahren - Militärs und Islamisten - benutzen ihn als Spielball für eine blutige Abrechnung. Ein aussichtsloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Zitator Freitag, 6. Februar. Mitternacht (...). Revolver im Anschlag, wie finstere Halbmonde. Der Schuß, der uns erschafft und der uns vernichtet. Straflose Schüsse, unsichtbar, so anonym wie die Vögel am Himmel und die Friedhöfe in der Ferne. Ist das Algier? (...) Der Himmel und das Meer können diese Stadt in die Zange nehmen, denn ihre Vororte leben nun endlich besser, nachdem sie fünfzehn Jahre lang zugrundegerichtet wurden. Das Zentrum ist nach draußen gewandert. Algier ist Algier nur noch für die Nostalgiker und für die Handvoll Touristen, die nach ein bisschen urbanem Exotismus suchen. (...) Algier ist eine Rattenfalle. Ein Friedhof oder eine Stadt, eine Sintflut von Steinen und Lichtern. Algier, du sollst leben! Wie deine Kakerlaken und deine Helden. Vergewaltigt wie unsere Kindheiten, ermordet wie unsere Projekte. Ob aus der Ferne oder aus der Nähe - du bist größer als Gott, der dich im Übrigen nicht leiden kann. Algier, schönste Stadt der Welt seit der Schöpfung (...) Algier, töte mich. Adlène Meddi, La Prière du Maure, Jigal/Barzakh Editions, Marseille/Algier 2008. Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra O-Ton 15: Adlene Meddi Zitator Borges, der argentinische Schriftsteller sagt: der Krimi ist eine der letzten Möglichkeiten, etwas Ordnung in das allgemeine Chaos zu bringen. Es gibt ein Verbrechen, eine Ermittlung, einen Täter und eine Verurteilung. Im Algerien der 2000er Jahre gibt es ein Verbrechen, eine Ermittlung, aber keine Verurteilung. Das ist eine Frage, die mich als Algerier sehr bewegt, als jemand, der in seiner eigenen Familie Opfer zu beklagen hat, die von islamistischen Gruppen getötet wurden. Musikakzent Atmo - Junge Leute auf Straße, im Hintergrund Gnawa-Trommler, Straßenmusiker. Kurz frei stehen lassen, unter folgendem Text liegen lassen Erzählerin April 2012. Im Zentrum von Algier, am Eingang zur Universität. Junge Männer und Frauen, meist um die zwanzig, stehen in kleinen Gruppen zusammen. Sie telefonieren, schwatzen, lärmen. Das Wochenende steht bevor. Manche warten auf den Bus, andere sind auf dem Weg zur letzten Vorlesung. Die jungen Leute wirken aufgekratzt und fröhlich. Dass überall Polizisten stehen, scheinen sie zu ignorieren. Offiziell sind die Polizisten zum Schutz da. Faktisch verhindern sie Demonstrationen. Laut offiziellen Statistiken hat es in Algerien allein im Jahr 2011 insgesamt elftausend soziale Protestaktionen gegeben. Dennoch: eine breite Bewegung mit klaren politischen Zielen ist bislang nicht in Sicht. Sprecher Kaouther Adimi. Geboren 1986. Schule und Studium in Algier. 2009 Umzug nach Paris. Schreibt, seit sie zwanzig ist, Kurzgeschichten. Erzählerin 2010 veröffentlichte Kaouther Adimi in Algier und Paris ihren ersten Roman. Titel: "Die Schattenseite der Anderen". Eine Hauptfigur des Romans ist Yasmine. Vor wenigen Jahren war sie noch Studentin. Jetzt hält sie selbst Vorlesungen. Die neue Generation kommt ihr fremd vor. Angepasst, konsumorientiert, fromm. Keine Spur von Rebellion. Zitatorin Gleich beginnt der Unterricht. Ein Schwung Studentinnen und Studenten drängt in den Vorlesungssaal. Sie nehmen Platz, fein säuberlich nach Clans unterteilt. Gleich bei der Tür sitzen die Vernünftigen. Bneet Famiilya, wie man sie hier nennt, die Mädels aus gutem Hause: Keine Schminke, keine Jungs, keine Zigaretten, kein Blaumachen. Den Blick brav gesenkt, rosige Bäckchen, schüchternes Lächeln im Mundwinkel. Sie nehmen in der ersten Reihe Platz und heben den Finger, zögernd und sich entschuldigend. Papa arbeitet bei einer Bank, Mama ist Dozentin. Gleich daneben, der Verein der Brüder. Weißes Langhemd, sommers und winters, im Winter zwangsläufig grau. Schwarzer Bart, nicht zu lang, damit es keine Probleme gibt. (...) Von den kichernden Mädels mit Makeup halten sie sich fern. Muss sein. Sobald ein Jahr vergangen ist, hat die Frau einen Teufel mehr auf der Schulter. Die teuflische Frau. Danach kommen die fashion victims - so nennen sie sich selbst. Papa arbeitet irgendwas mit Medien und Mama ist Innenarchitektin. Der neueste Modeberuf. Sie tragen rote Basketballstiefel, orangefarbene Pullover, grüne Jeans. (...) In der finstersten aller Ecken drücken sich die Pärchen herum. Da sie ständig aneinanderkleben, sieht man nur ihre Rücken. Sie sind für niemanden zu sprechen, die Welt kann sie mal gern haben und der Himmel sowieso. Aus: Kaouther Adimi: L'envers des autres, Actes Sud Paris 2011. Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra Erzählerin Kaouther Adimis Roman "Die Schattenseite der anderen" spielt im Algier der 2010er Jahre. Yasmine und ihr Bruder Adel, beide über 30 und beide ledig, leben noch bei der Mutter, in einem Mehrfamilienhaus mit vielen neugierigen Nachbarn. Beide haben keine Lust auf eine bürgerliche Existenz. Sie versuchen, ihre kleinen Fluchten zu leben, ohne in Konflikt mit der extrem konservativen Umgebung zu geraten. Doch als Yasmine Streit mit einem Liebhaber bekommt, bricht sich die Gewalt unverhofft Bahn. Yasmines Bruder Adel zahlt einen hohen Preis. Zitator Chakib spuckt mir ein einziges Wort ins Gesicht: "Weichling!" Er packt mich am Kragen. Ich denke an meine Mutter, die sich mit dem Bügeln viel Arbeit gemacht hat. (...) Kamel zog mir die Hose runter. Er atmete geräuschvoll. Seine Hände tasteten meinen Körper ab, die schmale Taille. Ehe ich ins Nichts abtauchte, genau in dem Moment, da ich das Bewusstsein verlor, nahm ich das Geräusch von Blitzgeräten wahr und einen grellen Lichtschein auf meinen geschlossenen Lidern. Danach kann ich mich an nichts erinnern. Danach, das ist jetzt. Aus: Kaouther Adimi: L'envers des autres, Actes Sud Paris 2011. Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra Musik Intro Ya Rayah Erzählerin Die algerische Gesellschaft scheint immer noch mit sich zu ringen. Friedhofsruhe oder Aufarbeitung der schmerzlichen Vergangenheit? Diktatur der alten Garde oder demokratischer Aufbruch? Abschottung oder Öffnung? Die algerischen Literaturschaffenden haben diese Fragen schon beantwortet. Sie holen verschüttete Traumata an die Oberfläche. Sie prangern das Patriarchat, Willkür und Korruption an. Sie sind postmoderne Nomaden mit hybriden Identitäten; zornige, zärtliche, leidenschaftliche Freibeuter im Ozean der kulturellen Globalisierung. Ihren Platz in der Weltliteratur haben sie sicher. Musik Schluss 13