COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur / Die Reportage Titel: Die Reste der Revolution - Ägypten kurz vor der Wahl Autor: Fredy Gareis Regie Einstieg Atmo Tahrir-Platz: Ägypten, Ägypten Gesänge Laut schallen die Gesänge über den Tahrir-Platz. Auf dem Balkon im 10. Stock eines angrenzenden Hochhauses steht Sharif Barakat, blickt auf die Masse von fast einer Million Menschen hinab. Sieht, wie sie durch die Straßen toben, ihre rot-weiß- schwarzen Fahnen schwingen und mit Soldaten auf Panzern für Familienfotos posieren. Es ist der 18 Februar 2011 und die Ägypter haben vor einer Woche Mubaraks Rücktritt erzwungen, sein Regime abgeschüttelt wie eine lästige Fliege. Der arabische Frühling steht in voller Blüte, und das wollen sie heute noch mal so richtig feiern. Doch Sharif wird es langsam zu viel. O-Ton 1 Sharif (englisch) Es ist toll diese Menge an Menschen zu sehen. Aber langsam wird daraus eine Art Karneval mit Zuckerwatte und Popcorn. Mir wäre es lieber, wenn die Menschen Forderungen stellen. Es gibt noch so viel zu tun und wir müssen konzentriert bleiben. Länge 0:15 Die Arbeit, sagt er, fängt jetzt erst an. Denn Großteile des Systems Mubarak sind noch da. Regie Atmo Tahrir Der 30-jährige und seine Freunde verlassen das Gebäude mit einem Stapel bedruckter Zettel unterm Arm. Regie Blende zu Atmo Feuerwerk Sie laufen mitten in die Party hinein, kämpfen sich durch die frenetische Menge. Während die noch Mubaraks Fall feiert, haben Sharif und seine Freunde schon die ersten freien Wahlen nach Mubarak im Blick. O-Ton 2 Sharif (englisch) Ich versuche den Leuten zu erklären, was wir unbedingt ändern müssen. Es geht darum, dass wir einen neuen Artikel in die Verfassung bringen, der den nächsten Präsidenten zwingt, seine Macht zu beschneiden. Ich will mich einfach nicht auf den guten Willen des nächsten Präsidenten verlassen - man weiß nie wer kommt. Länge 0:18 Nach ein paar Minuten hat Sharif seine Freunde in dem Ameisenhaufen Tahrir verloren. Doch der schlanke, junge Mann, gleitet buddhagleich durch die Menge und ein Lächeln umspielt seine Lippen. In den Wochen der Proteste ist der Platz zu seiner zweiten Heimat geworden - und zur Geburtsstätte eines neuen demokratischen Geistes. O-Ton 3 Sharif (englisch) Es gab Sozialisten, Kommunisten und Moslembrüder. Und alle saßen an einem Tisch und haben Ziele und Forderungen formuliert. Das war für mich ein Wunder und ein Symbol, dass wir zu Demokratie fähig sind. Länge 0:14 Wenig später schält sich Sharif aus der Menge auf die Brücke des 6. Oktober, um ein Taxi nach Hause zu nehmen. Auf der anderen Brückenseite steht das Gebäude der Nationalen Demokratischen Partei, komplett ausgebrannt. O-Ton 4 Sharif (englisch) Mir war schon am 28. Januar klar, dass hier was großes passiert. Da haben wir die Polizei überwältigt, und die Zentrale der Partei nieder gebrannt. Das war ein Stich direkt ins Herz der Regierung. Und das schon nach drei Tagen. Das war absolut unvorstellbar. Länge 0:19 Regie Atmo Taxi Über 300 Menschen sterben bei den Protesten, viele sitzen immer noch in Haft, einige werden vermisst. Bis auf einen sind Sharifs Freunde glimpflich davon gekommen. Einige, sagt er, hatten sogar regelrecht Spaß. O-Ton 5 Sharif (englisch) Ein paar haben die Zigarrenboxen von den Schreibtischen geklaut und sogar den Stuhl des Vorsitzenden des Parlaments. Mit dem sind sie dann auf der Straße herumgefahren. Es gab einfach dieses Gefühl: Wir haben gewonnen, wieso also sollten wir nicht einfach ein bisschen Spaß haben? Länge 0:16 Regie Atmo Wohnung Kurz nachdem Sharif seine Wohnung betritt, kommen auch seine Freunde und schmeißen sich neben ihm auf die Couch. Während der Poteste ist sein Appartement jeden Tag Treffpunkt für alle die, die in Schichten auf dem Tahrir-Platz ausharren. Die jungen Männer und Frauen reden über Ägyten, aber auch Bahrein und Lybien. Wie wichtig es ist, jetzt eine Partei zu gründen. Denn sie wissen: die Chancen für einen friedlichen Übergang im Nahen Osten hängen auch davon ab, ob die Demokratie in Ägypten Fuß fassen wird. Alle glauben fest daran - sind euphorisiert von der Überdosis Freiheit, die sie erkämpft haben. O-Ton 6 Achmed (englisch) Am zweiten Tag kam das Tränengas. Am dritten Tag die Gummigeschosse. Am vierten Tag scharfe Munition und Vandalen auf Kamelen. Wie soll man damit umgehen, außer sich nach einer Weile zu fragen, was wollt ihr denn sonst noch tun? Ihr habt mich schon verprügelt. Es ist genug jetzt. Länge 0:26 Regie Dialog Gruppe Die Stimmung ist so ausgelassen. Wie die Menge auf dem Tahrir-Platz, feiert auch die Gruppe bis tief in die Nacht. Regie Atmo Anwaltsbüro Aber lange schlafen ist nicht. In einem Anwaltsbüro nicht weit von Sharifs Wohnung treffen sich die Freunde früh am nächsten Morgen. Schwere Holztische bilden ein U, umringt von Vitrinen voll mit Gesetzestexten. Etwa 30 junge Männer und Frauen zwischen 25 und 35 sind gekommen, auf den Tischen liegen Touchpads und Smartphones. Beim Diskutieren wechseln sie ständig von Arabisch ins Englische. Die jungen Anwälte, Ingenieure und Filmemacher wohnen fast alle im Stadtteil Zamalek, in dem man morgens Cappucino schlürft und abends in der Bodega versackt. Ein Viertel mit überraschend ruhigen Straßen und Botschaftsvillen. Aus der Bewegung soll nun ein politischer Körper werden und später eine Partei. Es geht um die Ausrichtung, die Ziele: säkular wollen sie sein, liberal, links, aber die Straße zur Demokratie ist noch lang. Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Sharif Barakat wirft sich auf die Couch und versucht sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. Es ist Freitagmorgen der 21. Oktober, gerade mal 10 Uhr und die Revolutionsparty ist acht Monate her. Um eine Palme in der Ecke ist ein Band in ägyptischen Landesfarben gewickelt, an der Wand hängt ein gerahmtes Bild der Zeitung vom Tag nach Mubaraks Sturz. Sharif schaltet den Fernseher ein, gerade laufen die Nachrichten. Regie Blende zu Atmo Nasser 3 (Gaddafi News), kurz stehen lassen Sharif lehnt sich nach vorne und fährt mit der Hand über die kurzen, schwarzen Haare. Gaddafi ist tot. O-Ton 8 Sharif 1 Es ist gut, dass Gaddafi weg vom Fenster ist. So haben die Libyer jetzt nicht das gleich Problem wie wir mit Mubarak - alle sind so durch den Prozess abgelenkt. Aber die Libyer können sich statt auf die Vergangenheit auf die Zukunft konzentrieren. Länge 0:17 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Die Vergangenheit, das ist der Rausch der Revolution, das Gefühl es geschafft zu haben, endlich gehört zu werden. Doch nun, kurz vor den Wahlen, sind nur noch die Reste der Revolution da. Die Aufbruchstimmung ist verpufft. Überschattet von Monaten voller Unsicherheit und Grabenkämpfe. O-Ton 9 Sharif 3 Ich bin jetzt wesentlich pessimistischer als noch vor sechs Monaten. Es ist ziemlich traurig, weil ich eigentlich sehr zuversichtlich war. Aber die Zeit vergeht und ich merke, dass das Militär immer noch an der Macht ist, die Muslimbrüder immer stärker, aber die Liberalen leider nicht. Länge 0:23 Regie Blende zu Atmo Sharif 2 (Prediger) Während draußen der Muezzin zum Gebet ruft, macht sich Sharif ernsthaft Sorgen um die liberalen Kräfte in Ägypten. In den Tagen nach der Revolution entstehen fast ein Dutzend neue Parteien. Sharif tritt der Partei für Gerechtigkeit bei, die aus dem Meeting im Februar hervor geht. Um anerkannt zu werden, muss auch sie 5000 Mitglieder vorweisen. Gewählt werden soll in zwölf Stufen, bis März 2012. Doch das Militär ändert ständig das Wahlrecht; was heute gilt, ist morgen obsolet. O-Ton10 Sharif 4 Wir reden die ganze Zeit über Politik, von morgens bis abends. Gestern musste ich auf der Party für zwei Stunden ein Embargo ausrufen. Du kannst über das Militär reden, über die Islamisten, die Wahlen, wer wohl Präsident wird und du kannst wehmütig über die 18 Tage im Januar und Februar reden. Eigentlich eine gute Sache, aber gestern wollten wir auch mal wieder so sein wie vor der Revolution. Worüber haben wir damals geredet? Es fällt schwer, sich daran zu erinnern. Länge 0:38 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Jede Woche entstehen neue Koalitionen - und in der nächsten Woche zerbrechen sie wieder. Die kollektive Einheit des Tahrir weicht dem Klein-Klein des politischen Alltags; ein gemeinsames Ziel vielen Einzelinteressen. Die Revolutionäre sind müde. O-Ton 11 Sharif 7 Ich schäme mich ein bisschen. Viele meiner Freunde sind recht inaktiv wie ich auch. Aber weil ich mich für politisch interessierter halte, hätte ich viel aggressiver sein sollen: ich hätte drängen und bitten sollen, anrufen und mit den Leuten reden, aber das habe ich nicht und deswegen fühle ich mich schuldig. Länge 0:25 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 Schuldig weil er glaubt, die liberalen Kräfte können nicht gegen die Mubaraktreuen oder die Islamisten ankommen. Damit hegt er die gleichen Ängste wie der Westen. Regie Blende zu Atmo Sharif 18 (umblättern) Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Zeitung und ein Flyer, den Sharifs Bruder mitgebracht hat. Es ist die Zeitung der Salafisten, eine noch konservativere Abspaltung der Muslimbrüder. Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Auf Seite 23 stößt Sharif auf eine Kuchengrafik, in dem den Salafisten gemeinsam mit der Muslimbruderschaft ein Stimmenanteil von 45 Prozent vorausgesagt wird. Sharif legt die Zeitung zur Seite, nimmt sich den Flyer vor, eine Art Parteiprogramm. O-Ton 12 Sharif 33 Wenn du Islam wählst, bekommt du Gerechtigkeit. Wenn du Islam wählst, bekommst du Gleichheit. Wenn du Islam wählst, wird es keine Diktatur geben. Wähle Islam und Gott wird die Wirtschaft reparieren und jeder wird reicher. Länge 0:23 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 Angewidert legt Sharif den Flyer zur Seite und reibt sich die Augen. Wie wird sein Ägypten nach der Wahl aussehen? O-Ton 13 Sharif 34 Wie mein Vater so schön sagt, wenn du für die Islamisten stimmst, wird es deine letzte Stimmenabgabe sein. Wenn die einmal an der Macht sind, ist es aus mit der Demokratie. Es gibt dann schließlich nur eine Meinung, und das ist die von Gott. Länge 0:22 Regie Blende zu Atmo Salafis 9 (Straße) Von Sharifs Stadtteil sind es nur ein paar Kilometer nach Imbaba. Während die junge Elite in Zamalek Sushi mit Stäbchen isst, suchen sich Kinder in Imbabda Lebensmittelreste aus dem meterhohen Müll in der Straße. In den letzten Wochen haben hier erst die Muslimbrüder ein Büro aufgemacht, dann die Salafisten - ein Schlüsselstadtteil. Regie Blende zu Atmo Salafis 2 (Autoausstieg mit Predigt) Machmoud Zaid, einer der jungen Salafisten, ist unterwegs zu einer Wahlveranstaltung seiner Partei. Zwischen zwei Bauten aus rotem Backstein ist eine Bühne aufgebaut und aus den Lautsprechern tönt es ohrenbetäubend. Regie Blende zu Atmo Salafis 4 Predigt, stehen lassen. Am Eingang begrüßt Machmoud ein paar Kollegen. Auf der Bühne beginnen die Parteiführer zu reden. Regie Blende zu Atmo Salafis 6 stehen lassen. Die Menschen sollen sich an die Sharia halten, nicht an die Verfassung. Der Kapitalismus: gescheitert. Die Anwesenden, ein Meer aus etwa 300 weiß gekleideten Bartträgern, nicken. Während er spricht, streicht er sich ständig den Bart und spielt mit seinem Rosenkranz. Wie so viele der Muslimbrüder und Salafisten zur Zeit, geht der 31jährige von Tür zu Tür, fragt was die Menschen brauchen, unterhält sich mit den Ärmsten und sammelt Stimmen für die Partei des Lichts. O-Ton 15 Machmoud 5 Die Sharia ist doch schon in der Verfassung. In der alten ist sie erwähnt im zweiten Zusatz. Die Sharia ist Grundlage für die Gesetzgebung und das soll sie auch bleiben. Länge 0:17 Regie Blende zu Atmo Salafis 7 (predigt) Zum Abschied sagt Machmoud noch, dass Ägypten ein besserer Ort sein wird, wenn die Islamisten gewinnen. Ein paar der weiß gekleideten Bartträger nicken, eine Frau ist weit und breit nicht zu sehen. Regie Blende zu Atmo Neeven 2 (Büroatmo) Dabei haben gerade sie eine starke Rolle bei der Revolution gespielt. Jetzt aber sehen sie sich konfrontiert mit einem Militärrat, in dem keine Frau sitzt und mit Islamisten, die von Frauenrechten nichts halten. Neeven Ebeid von der New Women Foundation schließt die Tür hinter sich und setzt sich an ihren Schreibtisch. Die 35-jährige hat nicht viel Zeit, die Kinder müssen in die Schule, die Leute müssen aufgeklärt werden, doch will sie ihrem Ärger Luft machen. O-Ton 16 Neeven 1 Ich bin so frustriert, weil der Militärrat einfach macht was er will, weder gibt er Macht an die Parteien ab, noch erleichtert er das Wahlrecht. Außerdem befürchte ich, dass nicht viele Frauen ins neue Parlament bekommen werden. Länge 0:20 Regie Blende zu Atmo Neeven 3 (Büro) Gerade ist Neeven aus Suez zurück - Schülern das Wahlrecht erklären. Denn auf dem Land, sagt sie, wissen viele nicht, was auf sie zukommt. Vor allem beunruhigt sie der Verkauf von Stimmen. (O-Ton 17 Neeven 6 Hör auf deine Stimme zu verkaufen. Eine Packung Zucker oder eine Flasche Öl sind es einfach nicht wert. Frauen, die ihre Stimmen verkaufen, werden morgen die Konsequenzen spüren. Heute gibt er dir noch Süßigkeiten, aber morgen beschneidet er deine Rechte. Länge 0:29 Regie Blende zu Atmo Neeven 3 Die Frau mit den krausen Locken hat die Revolution von Anfang an unterstützt. Heute blickt auch sie skeptisch in die Zukunft. Kurz vor der Wahl ist das Gefühl fast greifbar, wie sehr sich die Menschen den Geist von Tahrir herbeiwünschen. Doch die Ereignisse der letzten Monate drängen Tahrir immer weiter in den Hintergrund. O-Ton 18 Neeven 2 Ich habe Angst vor den Wahlen. Ich glaube, es wird viel Blut fließen. Es wird viel Diskriminierung geben, gegen Frauen, gegen Kopten, gegen alle, die anders sind. Ich habe versucht ruhig zu bleiben, aber ich kann einfach diesen Jungen Mina Daniel nicht vergessen. Länge 0:33 Mina Daniel und Maspero sind zum Symbol geworden für das verschwundene Vertrauen in die Armee, für die Angst vor einer jahrelangen Militärherrschaft. Anfang Oktober demonstrieren Muslime und Christen in Kairo für Religionsfreiheit und Toleranz. Sie ziehen vor das Masperogebäude, das das Staatsfernsehen beherbergt und immer noch ein Ort der Propaganda ist. Der Protest ist friedvoll, doch dann schreitet die Armee ein. Mit schweren Panzerwagen fährt sie einfach in die Menge, schießt mit scharfer Munition. 27 Menschen sterben in dieser Nacht. Darunter der Junge Mina Daniel. Jedesmal wenn Neeven anfängt von Maspero zu reden, steigen ihr die Tränen in die Augen - vielleicht haben wir nur einen Diktator gegen den nächsten getauscht, sagt sie, dann steht sie auf, um ihre Kinder zur Schule zu bringen. Regie Blende zu Atmo Nasser 19 (Cafe Riche) Ein paar Meter entfernt vom Tahrir liegt das Café Riche. Seit der Revolution Treffpunkt für junge und alte Intellektuelle und Aktivisten. Regie Blende zu Atmo Nasser 3 (gaddafi) Nasser Abdelhamid setzt sich an einen der Tische, im Ohr hat er einen Stöpsel und spricht in ein Mikro. Im Hintergrund laufen immer noch die Nachrichten von Gaddafis Tod. Nasser ist 29 Jahre alt und hat den ernsten Blick eines Imams. Er ist ein Freund von Sharif und Mitglied der Koalition der Revolutionsjugend. Schon im Alter von 14 Jahren hilft er seinem Vater bei dessen Wahlkampf. Nun soll Nasser selbst für das Parlament kandidieren. O-Ton 19 Nasser 6 (arabisch) Ironischerweise war ich gar nicht richtig glücklich, als Mubarak weg war. Mein Kollege Mustafa fragte mich: warum sind wir nicht glücklich? Jeder ist am feiern! Ich meine, Gott sei dank war er weg, aber ich habe schon die Zukunft gesehen und wieviel Arbeit noch vor uns liegt. Jeder dachte daran, nach Hause zu gehen, und vier Tage zu schlafen, aber wir haben sofort ein meeting einberufen. Um vier nachmittags ging unsere erste Pressemitteilung raus. Länge 0:43 Regie Blende zu Atmo Nasser 19 (Café Riche) Regie Blende zu Atmo Nasser 6 (Tel) Gleich wird es wieder ein Meeting geben, ein Notfall-Treffen, in dem es um die Richtung der jungen Koalitionäre gehen soll, doch Journalisten will Nasser nicht dabei haben. Regie Blende zu Atmo Nasser 7 (Vater erzählt), kurz stehen lassen Inzwischen ist Nassers Vater eingetroffen. Der Mann mit dem grauen Schnauzer will sich einbringen, etwas von seiner Erfahrung weitergeben. Er sagt, dass Nasser auf keinen Fall die Koalition verlassen soll. Sein Sohn aber ist skeptisch. Er spürt, dass gleich beim Treffen die Fetzen fliegen werden. Steht auf und geht. Regie Blende zu Atmo Nasser 19 (Café Riche) stehen lassen Eine Stunde später tritt Nasser wieder durch die dunkle Tür. Er reißt sich den Stöpsel aus dem Ohr und setzt sich an den Tisch. Seine Augenbrauen kommen sich gefährlich nahe. O-Ton 20 Nasser 3 Klar, ich bin traurig, dass ich nicht kandidiere. Ich hätte die Chance als Unabhängiger auf eine Liste zu kommen, aber ich wollte mit der Koalition etwas bewegen, weil ich glaube, dass wir alle anderen Bewegungen hätten dadurch pushen können. Länge 0:33 Regie Blende zu Atmo 19 (Cafe Riche) Es ist chaotisch in diesen Tagen. Wer kandidiert, und wer nicht? Nasser jedenfalls kandidiert nicht. Sagt nur "beim nächsten Mal" und "das Parlament wird sowieso nicht lange halten". Regie Blende zu Atmo Sharif 7 (Autofahrt) Unterdessen ist Sharif auf dem Weg zum Tahrir-Platz. Er fährt vorbei an den festgemachten Booten am Nil - der Tourismus hat sich immer noch nicht erholt, die Wirtschaft des Landes liegt am Boden. Regie Blende zu Atmo Sharif 9, Autotür schlägt zu Regie Blende zu Atmo Sharif 14 (Prediger), kurz stehen lassen. Neben einer Kentucky Fried Chicken Filiale, die gleich in den ersten Tagen der Revolution zerstört wurde, predigt ein alter Mann mit Hut und grauem Bart. Räsoniert über die Diktatur, den nächsten Präsidenten und darüber, dass jeder Bürger die gleichen Rechte wie das Landesoberhaupt haben sollte. In den vergangenen Monaten ist Sharif immer wieder hier. Auch wenn es nicht mehr das gleiche ist. O-Ton 22 Sharif 27 Du kannst noch so oft auf die Straße gehen, du bekommst nicht, was du willst. Wir haben immer gesagt: Falls alles den Bach runter geht, marschieren wir einfach auf den Tahrir. Aber es funktioniert leider nicht mehr, es sind einfach zu wenige mittlerweile. Länge 0:15 Regie Blende zu Atmo Sharif 12 (Flyer) stehen lassen Während von der Mitte des Platzes eine Anti-Assad Demo losmarschiert, bleibt Sharif vor einem jungen Mann stehen, der Flyer austeilt. Es geht um eine schwarze Liste für Ex-NDPler, Leute aus dem alten Regime. Die Organisatoren haben eine Datenbank ins Internet gestellt, für jede Stadt und jede Provinz, ingesamt 10 000 Namen. Regie Blende zu Atmo Sharif 13 (Gespräch mit Mann vom Land) Sharif beginnt ein Gespräch mit einem Mann vom Land. Der erzählt ihm, dass bei ihm im Dorf der Wahlkämpfende immer noch mit Mubarak sympathisiert und wohl auch gewinnen wird. O-Ton 23 Sharif 25 Die meisten unserer politischen Diskussionen enden mit den Worten, Rabben Yustur. Das heißt: möge Gott alles Schlechte von uns abwenden, oder Gott hilf uns. Was wiederum heißt, dass die Lage ziemlich mies ist. Länge 0:19 Ein nachdenklicher Sharif steigt in seinen Wagen, Regie Blende zu Atmo Sharif 6 (Autotür schlägt zu) und fährt weg. In eine ungewisse Zukunft. Regie Blende zu Atmo Seif 11 (Büro) Ein paar hundert Meter Richtung Nil, begibt sich Sharifs Freund Seif Khirfan zur Arbeit. Damals war er gemeinsam mit seinem Freund auf dem Tahrir, gleich am ersten Tag wird auf ihn geschossen. O-Ton 24 Seif 25 Es war am ersten Tag, gleich am 25. Vor der Revolution war ich überhaupt nicht politisch aktiv, aber dann bin ich zum Tahrir mit meinem Schild und ich habe wirklich geglaubt, dass ich es mit einer humanen Regierung zu tun habe, die das alles schon verstehen wird. Aber eine Stunde später wurde ich mit einer Schrotflinte beschossen. Das war der Moment, in dem ich aufgewacht bin und meine Kindheit hinter mir gelassen habe. Länge 0:41 Regie Blende zu Atmo Seif 11 (Büro) Zur Zeit der Revolution ist Seif noch Chirurg. Doch nun arbeitet der 29-jährige mit den wachen, grünen Augen als Journalist bei 25-TV, einem der neuen kleinen unabhängigen TV-Stationen in Sichtweite des Propagandakolosses Staatsfernsehen. Seif hat eine eigene Show, "Sprich mit mir" heißt sie, bei der er durch das Land fährt, und Leuten Raum gibt für ihre politische Ideen und Meinungen. O-Ton 25 Seif 4 Ein kleiner, junger Arzt, davon gibt es doch genügend hier. Aber Journalisten, die die Wahrheit versuchen nach draußen zu bringen sind dieser Tage immer noch sehr selten. In Ägypten sind die Medien ein viel wichtigeres Werkzeug, weil sie noch tatsächlich die Politik verändern können, und wenn das passiert, dann wirkt sich das auch auf andere Bereiche aus, wie zum Beispiel die Medizin. Länge 0:31 Regie Blende zu Atmo Seif 6 (Show) Seif schneidet mit einem Kollegen einen Fernseh-Beitrag über religiöse Toleranz, auch ihn haben die Ereignisse von Maspero stark mitgenommen. Für viele der schlimmste Gewaltausbruch seit dem schwarzen Mittwoch, als Mubarak Schergen auf Kamelen in die Menge schickt. Auf dem Land, sagt Seif, ist alles noch viel schlimmer. O-Ton 26 Seif 9 Auf dem Land arbeitet die Armee ganz offensichtlich mit Schergen zusammen, komplett schamlos. Du kannst sehen, wie sie versuchen, die Lebensmittel und Benzin zu kontrollieren. Sie versuchen die Menschen auszuhungern, ihnen Angst zu machen, um so die Revolution zu ersticken. Länge 0:54 Regie Blende zu Atmo Seif 11 (Büro) Immer noch herrschen Notstandgesetze und über 12 000 Zivilisten finden sich vor einem Militärtribunal wieder. Einige werden geschlagen, gefoltert. Mitte vergangener Woche verhaftet das Militär einen Blogger, weil er zu kritisch war. Das Vertrauen in die Armee - es ist zum größten Teil verschwunden. Vielleicht, befürchten viele Ägypter, läuft es hier nicht anders als in Libyen oder im Jemen. Regie Blende Seif Atmo Seif 11 Vom Studiofenster kann Seif auf den Nil blicken. Links liegt das ägyptische Museum, dahinter der Tahrir. Der junge Mann wirkt nachdenklich. Hat, genau wie Sharif, Neeven und Nasser, Angst vor dem, was kommt. In Tunesien, wo der arabische Frühling angefangen hatte, gewinnt ein paar Tage später die islamistische Nahda-Partei die Wahlen. O-Ton 27Seif 8 Aber wie heißt es so schön: die Nacht ist am dunkelsten kurz vor dem Morgengrauen. Nach der Revolution werden wir auf einmal mit den ganzen schlechten Sachen des Systems konfrontiert: von Zensur bin hin zur Sektiererei. Zuerst ist es ziemlich hässlich, aber dann gewöhnst du dich daran und verstehst langsam wie es läuft. Und genau dann werden wir bekommen, was wir wollen. Länge 0:39 Regie Blende Seif Atmo Seif 5 (Am Schnittplatz/Kollegen) Die 18 Schrot-Kugeln, die ihn am 25. Februar treffen, hat Seif übrigens nie entfernen lassen. Er behält sie als Andenken an die Revolution. Egal, wie die Wahlen am Sonntag ausgehen. Deutschlandradio Kultur / Die Reportage Titel: Die Reste der Revolution - Ägypten kurz vor der Wahl Autor: Fredy Gareis Regie Einstieg Atmo Tahrir-Platz: Ägypten, Ägypten Gesänge Laut schallen die Gesänge über den Tahrir-Platz. Auf dem Balkon im 10. Stock eines angrenzenden Hochhauses steht Sharif Barakat, blickt auf die Masse von fast einer Million Menschen hinab. Sieht, wie sie durch die Straßen toben, ihre rot-weiß- schwarzen Fahnen schwingen und mit Soldaten auf Panzern für Familienfotos posieren. Es ist der 18 Februar 2011 und die Ägypter haben vor einer Woche Mubaraks Rücktritt erzwungen, sein Regime abgeschüttelt wie eine lästige Fliege. Der arabische Frühling steht in voller Blüte, und das wollen sie heute noch mal so richtig feiern. Doch Sharif wird es langsam zu viel. O-Ton 1 Sharif (englisch) Es ist toll diese Menge an Menschen zu sehen. Aber langsam wird daraus eine Art Karneval mit Zuckerwatte und Popcorn. Mir wäre es lieber, wenn die Menschen Forderungen stellen. Es gibt noch so viel zu tun und wir müssen konzentriert bleiben. Länge 0:15 Die Arbeit, sagt er, fängt jetzt erst an. Denn Großteile des Systems Mubarak sind noch da. Regie Atmo Tahrir Der 30-jährige und seine Freunde verlassen das Gebäude mit einem Stapel bedruckter Zettel unterm Arm. Regie Blende zu Atmo Feuerwerk Sie laufen mitten in die Party hinein, kämpfen sich durch die frenetische Menge. Während die noch Mubaraks Fall feiert, haben Sharif und seine Freunde schon die ersten freien Wahlen nach Mubarak im Blick. O-Ton 2 Sharif (englisch) Ich versuche den Leuten zu erklären, was wir unbedingt ändern müssen. Es geht darum, dass wir einen neuen Artikel in die Verfassung bringen, der den nächsten Präsidenten zwingt, seine Macht zu beschneiden. Ich will mich einfach nicht auf den guten Willen des nächsten Präsidenten verlassen - man weiß nie wer kommt. Länge 0:18 Nach ein paar Minuten hat Sharif seine Freunde in dem Ameisenhaufen Tahrir verloren. Doch der schlanke, junge Mann, gleitet buddhagleich durch die Menge und ein Lächeln umspielt seine Lippen. In den Wochen der Proteste ist der Platz zu seiner zweiten Heimat geworden - und zur Geburtsstätte eines neuen demokratischen Geistes. O-Ton 3 Sharif (englisch) Es gab Sozialisten, Kommunisten und Moslembrüder. Und alle saßen an einem Tisch und haben Ziele und Forderungen formuliert. Das war für mich ein Wunder und ein Symbol, dass wir zu Demokratie fähig sind. Länge 0:14 Wenig später schält sich Sharif aus der Menge auf die Brücke des 6. Oktober, um ein Taxi nach Hause zu nehmen. Auf der anderen Brückenseite steht das Gebäude der Nationalen Demokratischen Partei, komplett ausgebrannt. O-Ton 4 Sharif (englisch) Mir war schon am 28. Januar klar, dass hier was großes passiert. Da haben wir die Polizei überwältigt, und die Zentrale der Partei nieder gebrannt. Das war ein Stich direkt ins Herz der Regierung. Und das schon nach drei Tagen. Das war absolut unvorstellbar. Länge 0:19 Regie Atmo Taxi Über 300 Menschen sterben bei den Protesten, viele sitzen immer noch in Haft, einige werden vermisst. Bis auf einen sind Sharifs Freunde glimpflich davon gekommen. Einige, sagt er, hatten sogar regelrecht Spaß. O-Ton 5 Sharif (englisch) Ein paar haben die Zigarrenboxen von den Schreibtischen geklaut und sogar den Stuhl des Vorsitzenden des Parlaments. Mit dem sind sie dann auf der Straße herumgefahren. Es gab einfach dieses Gefühl: Wir haben gewonnen, wieso also sollten wir nicht einfach ein bisschen Spaß haben? Länge 0:16 Regie Atmo Wohnung Kurz nachdem Sharif seine Wohnung betritt, kommen auch seine Freunde und schmeißen sich neben ihm auf die Couch. Während der Poteste ist sein Appartement jeden Tag Treffpunkt für alle die, die in Schichten auf dem Tahrir-Platz ausharren. Die jungen Männer und Frauen reden über Ägyten, aber auch Bahrein und Lybien. Wie wichtig es ist, jetzt eine Partei zu gründen. Denn sie wissen: die Chancen für einen friedlichen Übergang im Nahen Osten hängen auch davon ab, ob die Demokratie in Ägypten Fuß fassen wird. Alle glauben fest daran - sind euphorisiert von der Überdosis Freiheit, die sie erkämpft haben. O-Ton 6 Achmed (englisch) Am zweiten Tag kam das Tränengas. Am dritten Tag die Gummigeschosse. Am vierten Tag scharfe Munition und Vandalen auf Kamelen. Wie soll man damit umgehen, außer sich nach einer Weile zu fragen, was wollt ihr denn sonst noch tun? Ihr habt mich schon verprügelt. Es ist genug jetzt. Länge 0:26 Regie Dialog Gruppe Die Stimmung ist so ausgelassen. Wie die Menge auf dem Tahrir-Platz, feiert auch die Gruppe bis tief in die Nacht. Regie Atmo Anwaltsbüro Aber lange schlafen ist nicht. In einem Anwaltsbüro nicht weit von Sharifs Wohnung treffen sich die Freunde früh am nächsten Morgen. Schwere Holztische bilden ein U, umringt von Vitrinen voll mit Gesetzestexten. Etwa 30 junge Männer und Frauen zwischen 25 und 35 sind gekommen, auf den Tischen liegen Touchpads und Smartphones. Beim Diskutieren wechseln sie ständig von Arabisch ins Englische. Die jungen Anwälte, Ingenieure und Filmemacher wohnen fast alle im Stadtteil Zamalek, in dem man morgens Cappucino schlürft und abends in der Bodega versackt. Ein Viertel mit überraschend ruhigen Straßen und Botschaftsvillen. Aus der Bewegung soll nun ein politischer Körper werden und später eine Partei. Es geht um die Ausrichtung, die Ziele: säkular wollen sie sein, liberal, links, aber die Straße zur Demokratie ist noch lang. Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Sharif Barakat wirft sich auf die Couch und versucht sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. Es ist Freitagmorgen der 21. Oktober, gerade mal 10 Uhr und die Revolutionsparty ist acht Monate her. Um eine Palme in der Ecke ist ein Band in ägyptischen Landesfarben gewickelt, an der Wand hängt ein gerahmtes Bild der Zeitung vom Tag nach Mubaraks Sturz. Sharif schaltet den Fernseher ein, gerade laufen die Nachrichten. Regie Blende zu Atmo Nasser 3 (Gaddafi News), kurz stehen lassen Sharif lehnt sich nach vorne und fährt mit der Hand über die kurzen, schwarzen Haare. Gaddafi ist tot. O-Ton 8 Sharif 1 Es ist gut, dass Gaddafi weg vom Fenster ist. So haben die Libyer jetzt nicht das gleich Problem wie wir mit Mubarak - alle sind so durch den Prozess abgelenkt. Aber die Libyer können sich statt auf die Vergangenheit auf die Zukunft konzentrieren. Länge 0:17 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Die Vergangenheit, das ist der Rausch der Revolution, das Gefühl es geschafft zu haben, endlich gehört zu werden. Doch nun, kurz vor den Wahlen, sind nur noch die Reste der Revolution da. Die Aufbruchstimmung ist verpufft. Überschattet von Monaten voller Unsicherheit und Grabenkämpfe. O-Ton 9 Sharif 3 Ich bin jetzt wesentlich pessimistischer als noch vor sechs Monaten. Es ist ziemlich traurig, weil ich eigentlich sehr zuversichtlich war. Aber die Zeit vergeht und ich merke, dass das Militär immer noch an der Macht ist, die Muslimbrüder immer stärker, aber die Liberalen leider nicht. Länge 0:23 Regie Blende zu Atmo Sharif 2 (Prediger) Während draußen der Muezzin zum Gebet ruft, macht sich Sharif ernsthaft Sorgen um die liberalen Kräfte in Ägypten. In den Tagen nach der Revolution entstehen fast ein Dutzend neue Parteien. Sharif tritt der Partei für Gerechtigkeit bei, die aus dem Meeting im Februar hervor geht. Um anerkannt zu werden, muss auch sie 5000 Mitglieder vorweisen. Gewählt werden soll in zwölf Stufen, bis März 2012. Doch das Militär ändert ständig das Wahlrecht; was heute gilt, ist morgen obsolet. O-Ton10 Sharif 4 Wir reden die ganze Zeit über Politik, von morgens bis abends. Gestern musste ich auf der Party für zwei Stunden ein Embargo ausrufen. Du kannst über das Militär reden, über die Islamisten, die Wahlen, wer wohl Präsident wird und du kannst wehmütig über die 18 Tage im Januar und Februar reden. Eigentlich eine gute Sache, aber gestern wollten wir auch mal wieder so sein wie vor der Revolution. Worüber haben wir damals geredet? Es fällt schwer, sich daran zu erinnern. Länge 0:38 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Jede Woche entstehen neue Koalitionen - und in der nächsten Woche zerbrechen sie wieder. Die kollektive Einheit des Tahrir weicht dem Klein-Klein des politischen Alltags; ein gemeinsames Ziel vielen Einzelinteressen. Die Revolutionäre sind müde. O-Ton 11 Sharif 7 Ich schäme mich ein bisschen. Viele meiner Freunde sind recht inaktiv wie ich auch. Aber weil ich mich für politisch interessierter halte, hätte ich viel aggressiver sein sollen: ich hätte drängen und bitten sollen, anrufen und mit den Leuten reden, aber das habe ich nicht und deswegen fühle ich mich schuldig. Länge 0:25 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 Schuldig weil er glaubt, die liberalen Kräfte können nicht gegen die Mubaraktreuen oder die Islamisten ankommen. Damit hegt er die gleichen Ängste wie der Westen. Regie Blende zu Atmo Sharif 18 (umblättern) Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Zeitung und ein Flyer, den Sharifs Bruder mitgebracht hat. Es ist die Zeitung der Salafisten, eine noch konservativere Abspaltung der Muslimbrüder. Regie Blende zu Atmo Sharif 19 (Wohnung) Auf Seite 23 stößt Sharif auf eine Kuchengrafik, in dem den Salafisten gemeinsam mit der Muslimbruderschaft ein Stimmenanteil von 45 Prozent vorausgesagt wird. Sharif legt die Zeitung zur Seite, nimmt sich den Flyer vor, eine Art Parteiprogramm. O-Ton 12 Sharif 33 Wenn du Islam wählst, bekommt du Gerechtigkeit. Wenn du Islam wählst, bekommst du Gleichheit. Wenn du Islam wählst, wird es keine Diktatur geben. Wähle Islam und Gott wird die Wirtschaft reparieren und jeder wird reicher. Länge 0:23 Regie Blende zu Atmo Sharif 19 Angewidert legt Sharif den Flyer zur Seite und reibt sich die Augen. Wie wird sein Ägypten nach der Wahl aussehen? O-Ton 13 Sharif 34 Wie mein Vater so schön sagt, wenn du für die Islamisten stimmst, wird es deine letzte Stimmenabgabe sein. Wenn die einmal an der Macht sind, ist es aus mit der Demokratie. Es gibt dann schließlich nur eine Meinung, und das ist die von Gott. Länge 0:22 Regie Blende zu Atmo Salafis 9 (Straße) Von Sharifs Stadtteil sind es nur ein paar Kilometer nach Imbaba. Während die junge Elite in Zamalek Sushi mit Stäbchen isst, suchen sich Kinder in Imbabda Lebensmittelreste aus dem meterhohen Müll in der Straße. In den letzten Wochen haben hier erst die Muslimbrüder ein Büro aufgemacht, dann die Salafisten - ein Schlüsselstadtteil. Regie Blende zu Atmo Salafis 2 (Autoausstieg mit Predigt) Machmoud Zaid, einer der jungen Salafisten, ist unterwegs zu einer Wahlveranstaltung seiner Partei. Zwischen zwei Bauten aus rotem Backstein ist eine Bühne aufgebaut und aus den Lautsprechern tönt es ohrenbetäubend. Regie Blende zu Atmo Salafis 4 Predigt, stehen lassen. Am Eingang begrüßt Machmoud ein paar Kollegen. Auf der Bühne beginnen die Parteiführer zu reden. Regie Blende zu Atmo Salafis 6 stehen lassen. Die Menschen sollen sich an die Sharia halten, nicht an die Verfassung. Der Kapitalismus: gescheitert. Die Anwesenden, ein Meer aus etwa 300 weiß gekleideten Bartträgern, nicken. Während er spricht, streicht er sich ständig den Bart und spielt mit seinem Rosenkranz. Wie so viele der Muslimbrüder und Salafisten zur Zeit, geht der 31jährige von Tür zu Tür, fragt was die Menschen brauchen, unterhält sich mit den Ärmsten und sammelt Stimmen für die Partei des Lichts. O-Ton 15 Machmoud 5 Die Sharia ist doch schon in der Verfassung. In der alten ist sie erwähnt im zweiten Zusatz. Die Sharia ist Grundlage für die Gesetzgebung und das soll sie auch bleiben. Länge 0:17 Regie Blende zu Atmo Salafis 7 (predigt) Zum Abschied sagt Machmoud noch, dass Ägypten ein besserer Ort sein wird, wenn die Islamisten gewinnen. Ein paar der weiß gekleideten Bartträger nicken, eine Frau ist weit und breit nicht zu sehen. Regie Blende zu Atmo Neeven 2 (Büroatmo) Dabei haben gerade sie eine starke Rolle bei der Revolution gespielt. Jetzt aber sehen sie sich konfrontiert mit einem Militärrat, in dem keine Frau sitzt und mit Islamisten, die von Frauenrechten nichts halten. Neeven Ebeid von der New Women Foundation schließt die Tür hinter sich und setzt sich an ihren Schreibtisch. Die 35-jährige hat nicht viel Zeit, die Kinder müssen in die Schule, die Leute müssen aufgeklärt werden, doch will sie ihrem Ärger Luft machen. O-Ton 16 Neeven 1 Ich bin so frustriert, weil der Militärrat einfach macht was er will, weder gibt er Macht an die Parteien ab, noch erleichtert er das Wahlrecht. Außerdem befürchte ich, dass nicht viele Frauen ins neue Parlament bekommen werden. Länge 0:20 Regie Blende zu Atmo Neeven 3 (Büro) Gerade ist Neeven aus Suez zurück - Schülern das Wahlrecht erklären. Denn auf dem Land, sagt sie, wissen viele nicht, was auf sie zukommt. Vor allem beunruhigt sie der Verkauf von Stimmen. (O-Ton 17 Neeven 6 Hör auf deine Stimme zu verkaufen. Eine Packung Zucker oder eine Flasche Öl sind es einfach nicht wert. Frauen, die ihre Stimmen verkaufen, werden morgen die Konsequenzen spüren. Heute gibt er dir noch Süßigkeiten, aber morgen beschneidet er deine Rechte. Länge 0:29 Regie Blende zu Atmo Neeven 3 Die Frau mit den krausen Locken hat die Revolution von Anfang an unterstützt. Heute blickt auch sie skeptisch in die Zukunft. Kurz vor der Wahl ist das Gefühl fast greifbar, wie sehr sich die Menschen den Geist von Tahrir herbeiwünschen. Doch die Ereignisse der letzten Monate drängen Tahrir immer weiter in den Hintergrund. O-Ton 18 Neeven 2 Ich habe Angst vor den Wahlen. Ich glaube, es wird viel Blut fließen. Es wird viel Diskriminierung geben, gegen Frauen, gegen Kopten, gegen alle, die anders sind. Ich habe versucht ruhig zu bleiben, aber ich kann einfach diesen Jungen Mina Daniel nicht vergessen. Länge 0:33 Mina Daniel und Maspero sind zum Symbol geworden für das verschwundene Vertrauen in die Armee, für die Angst vor einer jahrelangen Militärherrschaft. Anfang Oktober demonstrieren Muslime und Christen in Kairo für Religionsfreiheit und Toleranz. Sie ziehen vor das Masperogebäude, das das Staatsfernsehen beherbergt und immer noch ein Ort der Propaganda ist. Der Protest ist friedvoll, doch dann schreitet die Armee ein. Mit schweren Panzerwagen fährt sie einfach in die Menge, schießt mit scharfer Munition. 27 Menschen sterben in dieser Nacht. Darunter der Junge Mina Daniel. Jedesmal wenn Neeven anfängt von Maspero zu reden, steigen ihr die Tränen in die Augen - vielleicht haben wir nur einen Diktator gegen den nächsten getauscht, sagt sie, dann steht sie auf, um ihre Kinder zur Schule zu bringen. Regie Blende zu Atmo Nasser 19 (Cafe Riche) Ein paar Meter entfernt vom Tahrir liegt das Café Riche. Seit der Revolution Treffpunkt für junge und alte Intellektuelle und Aktivisten. Regie Blende zu Atmo Nasser 3 (gaddafi) Nasser Abdelhamid setzt sich an einen der Tische, im Ohr hat er einen Stöpsel und spricht in ein Mikro. Im Hintergrund laufen immer noch die Nachrichten von Gaddafis Tod. Nasser ist 29 Jahre alt und hat den ernsten Blick eines Imams. Er ist ein Freund von Sharif und Mitglied der Koalition der Revolutionsjugend. Schon im Alter von 14 Jahren hilft er seinem Vater bei dessen Wahlkampf. Nun soll Nasser selbst für das Parlament kandidieren. O-Ton 19 Nasser 6 (arabisch) Ironischerweise war ich gar nicht richtig glücklich, als Mubarak weg war. Mein Kollege Mustafa fragte mich: warum sind wir nicht glücklich? Jeder ist am feiern! Ich meine, Gott sei dank war er weg, aber ich habe schon die Zukunft gesehen und wieviel Arbeit noch vor uns liegt. Jeder dachte daran, nach Hause zu gehen, und vier Tage zu schlafen, aber wir haben sofort ein meeting einberufen. Um vier nachmittags ging unsere erste Pressemitteilung raus. Länge 0:43 Regie Blende zu Atmo Nasser 19 (Café Riche) Regie Blende zu Atmo Nasser 6 (Tel) Gleich wird es wieder ein Meeting geben, ein Notfall-Treffen, in dem es um die Richtung der jungen Koalitionäre gehen soll, doch Journalisten will Nasser nicht dabei haben. Regie Blende zu Atmo Nasser 7 (Vater erzählt), kurz stehen lassen Inzwischen ist Nassers Vater eingetroffen. Der Mann mit dem grauen Schnauzer will sich einbringen, etwas von seiner Erfahrung weitergeben. Er sagt, dass Nasser auf keinen Fall die Koalition verlassen soll. Sein Sohn aber ist skeptisch. Er spürt, dass gleich beim Treffen die Fetzen fliegen werden. Steht auf und geht. Regie Blende zu Atmo Nasser 19 (Café Riche) stehen lassen Eine Stunde später tritt Nasser wieder durch die dunkle Tür. Er reißt sich den Stöpsel aus dem Ohr und setzt sich an den Tisch. Seine Augenbrauen kommen sich gefährlich nahe. O-Ton 20 Nasser 3 Klar, ich bin traurig, dass ich nicht kandidiere. Ich hätte die Chance als Unabhängiger auf eine Liste zu kommen, aber ich wollte mit der Koalition etwas bewegen, weil ich glaube, dass wir alle anderen Bewegungen hätten dadurch pushen können. Länge 0:33 Regie Blende zu Atmo 19 (Cafe Riche) Es ist chaotisch in diesen Tagen. Wer kandidiert, und wer nicht? Nasser jedenfalls kandidiert nicht. Sagt nur "beim nächsten Mal" und "das Parlament wird sowieso nicht lange halten". Regie Blende zu Atmo Sharif 7 (Autofahrt) Unterdessen ist Sharif auf dem Weg zum Tahrir-Platz. Er fährt vorbei an den festgemachten Booten am Nil - der Tourismus hat sich immer noch nicht erholt, die Wirtschaft des Landes liegt am Boden. Regie Blende zu Atmo Sharif 9, Autotür schlägt zu Regie Blende zu Atmo Sharif 14 (Prediger), kurz stehen lassen. Neben einer Kentucky Fried Chicken Filiale, die gleich in den ersten Tagen der Revolution zerstört wurde, predigt ein alter Mann mit Hut und grauem Bart. Räsoniert über die Diktatur, den nächsten Präsidenten und darüber, dass jeder Bürger die gleichen Rechte wie das Landesoberhaupt haben sollte. In den vergangenen Monaten ist Sharif immer wieder hier. Auch wenn es nicht mehr das gleiche ist. O-Ton 22 Sharif 27 Du kannst noch so oft auf die Straße gehen, du bekommst nicht, was du willst. Wir haben immer gesagt: Falls alles den Bach runter geht, marschieren wir einfach auf den Tahrir. Aber es funktioniert leider nicht mehr, es sind einfach zu wenige mittlerweile. Länge 0:15 Regie Blende zu Atmo Sharif 12 (Flyer) stehen lassen Während von der Mitte des Platzes eine Anti-Assad Demo losmarschiert, bleibt Sharif vor einem jungen Mann stehen, der Flyer austeilt. Es geht um eine schwarze Liste für Ex-NDPler, Leute aus dem alten Regime. Die Organisatoren haben eine Datenbank ins Internet gestellt, für jede Stadt und jede Provinz, ingesamt 10 000 Namen. Regie Blende zu Atmo Sharif 13 (Gespräch mit Mann vom Land) Sharif beginnt ein Gespräch mit einem Mann vom Land. Der erzählt ihm, dass bei ihm im Dorf der Wahlkämpfende immer noch mit Mubarak sympathisiert und wohl auch gewinnen wird. O-Ton 23 Sharif 25 Die meisten unserer politischen Diskussionen enden mit den Worten, Rabben Yustur. Das heißt: möge Gott alles Schlechte von uns abwenden, oder Gott hilf uns. Was wiederum heißt, dass die Lage ziemlich mies ist. Länge 0:19 Ein nachdenklicher Sharif steigt in seinen Wagen, Regie Blende zu Atmo Sharif 6 (Autotür schlägt zu) und fährt weg. In eine ungewisse Zukunft. Regie Blende zu Atmo Seif 11 (Büro) Ein paar hundert Meter Richtung Nil, begibt sich Sharifs Freund Seif Khirfan zur Arbeit. Damals war er gemeinsam mit seinem Freund auf dem Tahrir, gleich am ersten Tag wird auf ihn geschossen. O-Ton 24 Seif 25 Es war am ersten Tag, gleich am 25. Vor der Revolution war ich überhaupt nicht politisch aktiv, aber dann bin ich zum Tahrir mit meinem Schild und ich habe wirklich geglaubt, dass ich es mit einer humanen Regierung zu tun habe, die das alles schon verstehen wird. Aber eine Stunde später wurde ich mit einer Schrotflinte beschossen. Das war der Moment, in dem ich aufgewacht bin und meine Kindheit hinter mir gelassen habe. Länge 0:41 Regie Blende zu Atmo Seif 11 (Büro) Zur Zeit der Revolution ist Seif noch Chirurg. Doch nun arbeitet der 29-jährige mit den wachen, grünen Augen als Journalist bei 25-TV, einem der neuen kleinen unabhängigen TV-Stationen in Sichtweite des Propagandakolosses Staatsfernsehen. Seif hat eine eigene Show, "Sprich mit mir" heißt sie, bei der er durch das Land fährt, und Leuten Raum gibt für ihre politische Ideen und Meinungen. O-Ton 25 Seif 4 Ein kleiner, junger Arzt, davon gibt es doch genügend hier. Aber Journalisten, die die Wahrheit versuchen nach draußen zu bringen sind dieser Tage immer noch sehr selten. In Ägypten sind die Medien ein viel wichtigeres Werkzeug, weil sie noch tatsächlich die Politik verändern können, und wenn das passiert, dann wirkt sich das auch auf andere Bereiche aus, wie zum Beispiel die Medizin. Länge 0:31 Regie Blende zu Atmo Seif 6 (Show) Seif schneidet mit einem Kollegen einen Fernseh-Beitrag über religiöse Toleranz, auch ihn haben die Ereignisse von Maspero stark mitgenommen. Für viele der schlimmste Gewaltausbruch seit dem schwarzen Mittwoch, als Mubarak Schergen auf Kamelen in die Menge schickt. Auf dem Land, sagt Seif, ist alles noch viel schlimmer. O-Ton 26 Seif 9 Auf dem Land arbeitet die Armee ganz offensichtlich mit Schergen zusammen, komplett schamlos. Du kannst sehen, wie sie versuchen, die Lebensmittel und Benzin zu kontrollieren. Sie versuchen die Menschen auszuhungern, ihnen Angst zu machen, um so die Revolution zu ersticken. Länge 0:54 Regie Blende zu Atmo Seif 11 (Büro) Immer noch herrschen Notstandgesetze und über 12 000 Zivilisten finden sich vor einem Militärtribunal wieder. Einige werden geschlagen, gefoltert. Mitte vergangener Woche verhaftet das Militär einen Blogger, weil er zu kritisch war. Das Vertrauen in die Armee - es ist zum größten Teil verschwunden. Vielleicht, befürchten viele Ägypter, läuft es hier nicht anders als in Libyen oder im Jemen. Regie Blende Seif Atmo Seif 11 Vom Studiofenster kann Seif auf den Nil blicken. Links liegt das ägyptische Museum, dahinter der Tahrir. Der junge Mann wirkt nachdenklich. Hat, genau wie Sharif, Neeven und Nasser, Angst vor dem, was kommt. In Tunesien, wo der arabische Frühling angefangen hatte, gewinnt ein paar Tage später die islamistische Nahda-Partei die Wahlen. O-Ton 27Seif 8 Aber wie heißt es so schön: die Nacht ist am dunkelsten kurz vor dem Morgengrauen. Nach der Revolution werden wir auf einmal mit den ganzen schlechten Sachen des Systems konfrontiert: von Zensur bin hin zur Sektiererei. Zuerst ist es ziemlich hässlich, aber dann gewöhnst du dich daran und verstehst langsam wie es läuft. Und genau dann werden wir bekommen, was wir wollen. Länge 0:39 Regie Blende Seif Atmo Seif 5 (Am Schnittplatz/Kollegen) Die 18 Schrot-Kugeln, die ihn am 25. Februar treffen, hat Seif übrigens nie entfernen lassen. Er behält sie als Andenken an die Revolution. Egal, wie die Wahlen am Sonntag ausgehen. Abmoderation: Freddy Gareis über die Reste der Revolution in Ägypten. Nächsten Sonntag begeben wir uns nach Griechenland - in ein Land im Ausnahmezustand. Alkyome Karamanolis beschreibt den Alltag und die Verzweiflung der Griechen, die nicht wissen, wie es weitergehen soll. Nächsten Sonntag um 13.05 Uhr in der Reportage. Jetzt geht es erstmal weiter mit dem Neonlicht, einen schönen Sonntag noch.