KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Don’t be cool – Nachdenken über Christa Wolf Autor : Dagmar Just Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 11.03.2014 Besetzung : Stimme 1:Sprecherin : Stimme 2: Sprecherin : Stimme 3. Sprecher o.Ton/ Musik Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Don’t be cool Nachdenken über Christa Wolf von Dagmar Just Stimme 1 - Journalistin Stimme 2 - Christa Wolf, Anna Seghers, die junge Frau Stimme 3 O-Ton Christa Wolf Musik: Edith Piaf: Padam Dave Brubeck: Take five Ennio Moricone: Peur sur la ville/ Angst über der Stadt Franz Schubert: Winterreise - Gute Nacht Cecilia Bartoli: Decio (Leonardo Leo: Zenobia in Palmyra) auf: Sacrificium. Scuola dei Castrati Jim Morrison: The End Geräusche: 1 Nebelhorn (Schifffahrt) 2 Straße Zwischen den fünf Anfängen von Christa-Wolf-Büchern jeweils wie von fern ein Nebelhorn, mal lauter, mal leiser. Der Ton der Sprecherin nachdenkend 2: Es war dieser merkwürdige Sommer. Später würden die Zeitungen ihn Jahr- hundertsommer nennen, trotzdem würde er von einigen seiner Nachfolger noch übertroffen werden, infolge gewisser Veränderungen der Strömungsver- hältnisse über dem Pazifik, die zu einem ‚Umkippen’ des Ozeans und noch unabsehbaren Verschiebungen der Großwetterlage über der nördlichen Halbkugel geführten hätten. Davon wussten wir nichts. Nebelhorn Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Nebelhorn 2: Die arge Spur, in der die Zeit vor uns wegläuft. Vorgänger ihr, Blut im Schuh. Blicke aus keinem Auge. Wörter aus keinem Mund. Gestalten, körperlos. Niedergefahren gen Himmel, getrennt in entfernten Gräbern, wiederaufer- standen von den Toten ... traurige Engelsgeduld. Nebelhorn 2: Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. Nebelhorn 2: Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen. Am liebsten, du weißt es, allein. Nebelhorn (sich entfernend) Hotelzimmer, das Fenster offen, von der Straße Geräusche, in die sich Edith Piafs Padam aus dem Radio eines Cafés mischt 1: --- Bin ich ein Glückspilz?! --- Frühling in Paris! Christa-Wolf-Konferenz! Und mittendrin ich mit meiner verrückten Geschichte! --- Erst entdecke ich diese Wolf-Briefe, die keiner kennt. Dann, ich überlege noch, was damit passieren soll, schneit mir die Nachricht von dieser Konferenz ins Haus: 18. März 2014, Universität Paris Sorbonne IV, internationales Christa-Wolf-Symposium. Als nächstes finde ich heraus, dass der Anlass für diese Briefe ein Essay der Wolf über einen Roman von Anna Seghers war, der seinerseits von einem österreichischen Schriftsteller namens Ernst Weiß handelt, welcher sich im Pariser Exil umgebracht hat. Dann lese ich im Anhang einer Biografie über diesen Weiß seine letzten Briefe, alle auf Hotelpapier, die Adresse: Trianon-Hotel, Rive gauche, Rue de Vaugirard 1. Auf gut Glück gebe ich den Namen in eine Suchmaschine ein und – unglaublich! - das Hotel ist noch da! Nach 74 Jahren! Aufgehübscht natürlich und auf Vier Sterne getrimmt, aber es ist der gleichen Name, der gleiche Ort, das gleiche Haus, der gleiche Blick. Das sehen und buchen ist eins. Dabei habe ich immer noch keine Ahnung, was ich auf dieser Konferenz sagen kann. Nichtmal angemeldet bin ich. Bin einfach nur hier, auf dem Bett von Zimmer 21, Trianon-Hotel Rive Gauche in Paris und habe noch vier Tage Ferien bis zum Konferenzbeginn. Alle Zeit der Welt, um die ganze Geschichte nochmal von Anfang an und Punkt für Punkt, an Ort und Stelle durchzugehen Morricone: Angst über der Stadt (bis Ende Mundharmonika-Teil) 3: „10. März 1940, Paris VI, Rue de Vaugirard 1, Trianon-Hotel. ‚Stefan Zweig war gestern bei mir. Er stieg in den 6. Stock zu meiner Dachkammer hinauf und zwang mich, ihm aus meinem Roman vorzulesen. Danach schenkte er mir 8000 Francs.“ 1: Das ist Ernst Weiß. Er ist 56, studierter Arzt und Schriftsteller, seit fünf Jahren in Paris, im Exil, wo er sich drei Monate nach diesem Brief, im Juni 40, als die Wehrmacht die Stadt besetzt, die Pulsadern aufschneidet, Gift nimmt und stirbt. In dieser Mansarde, genau hier. 2: „Ich wohnte durch Zufall in einem Hotel in der Nähe seines Hotels“ - 1: schreibt Jahre später Anna Seghers. Sie kennt ihn noch aus Berlin und trifft ihn hier, im Café Mephisto, wieder. 2: „Er war furchtbar allein, offenbar, so viel ich weiß, denn ich wage nichts Definitves zu sagen“. 1: Was immer sie fürchtet, es kommt noch schlimmer. Kurz vor ihrer Flucht nach Marseille und weiter bis Mexiko erfährt sie von seinem Selbstmord - 2: Als ich in sein Hotel ging und fragte, ob er noch da sei, sagte die Wirtin ‚nein’ und machte ein komisches Gesicht“. 1: Wenn das Herz Verstand hätte, wäre es tot. Die Seghers – schreibt. Den Exil-Roman Transit. Im Zentrum - ein Schriftsteller namens Weidel, der sich in einem Pariser Hotel - „schmal und hoch, ein Durchschnittshotel in der Rue de Vaugirard“ – das Leben nimmt. Dave Brubeck: Take five (nur den Anfang, leise), darüber: Schnitt. Frühling 1985. Christa Wolf, die Anna Seghers Werke liebt und selbst mit ihr befreundet ist, liest genau diesen Roman in Paris. O-Ton Christa Wolf: Transit gehört zu den Büchern, die in mein Leben eingreifen, an denen mein Leben weiterschreibt, so dass ich sie alle paar Jahre zur Hand nehmen muss, um zu sehen, was inzwischen mit mir und mit ihnen passiert ist. Diesmal war die Pause, in der ich es nicht gelesen hatte, länger als üblich gewesen. Im Frühjahr nahm ich es in einer handlichen Ausgabe ... mit nach Frankreich. Und die Reise bekam eine unerwartete Doppelbödigkeit durch dieses Buch, das ich so genau kannte, doch zum erstenmal an den Schauplätzen las, von und mit denen es handelte. Es fing mit Zufällen an: Dass ich in Paris ganz in der Nähe jener Stätten wohnte, an denen die Verwicklungen um den toten Schriftsteller Weidel ihren Ausgang nahmen; dass ich mich also tagelang auf dem Boulevard St. Germain im Umkreis der Metro-Station Odéon bewegte, schließlich sogar glaubte, die Bank gefunden zu haben, auf der der namen-lose Ich-Erzähler aus Transit den Auftrag bekommt, dem Schriftsteller Weidel in seinem Hotel einen Brief zu überbringen... Als ich das Buch zum ersten Mal las, muss ... mir dieser Weidel ein zufälliger Name gewesen sein, nichts Besonderes, eine Art Chiffre. Ende Musik Mehr als tot kann ein Toter nicht sein; ‚tot’ ist in allen Sprachen der Welt ein Adjektiv, für das es keine Steigerungsstufe gibt. Aber während ich auf der Suche nach einer bestimmten Adresse den ganzen Boulevard Raspail hinauf- ging, ... musste ich mich fragen, ob manche Tote mit der Zeit nicht immer lebendiger werden... Meine Adresse lag dann nahe bei der Rue de Rennes, wo auch Weidels Hotel gestanden hatte - Weidel, der für mich seit langem kein Unbekanner mehr ist – Der mir für den österreichischen Schriftsteller Ernst Weiß steht, mit dem er dessen Schicksal teilt: Auch der (oder der zuerst) brachte sich in dem in Transit beschriebenen Hotel um, als die Wehrmacht heranrückte, im Frühsommer 1940.“ 1: Anna Seghers, Ernst Weiß – alias Weidel, Paris im 2. Weltkrieg, die Gegend um die Rue de Vaugirard mit dem Trianon-Hotel – das ist das Setting des Anfangs von Christa Wolfs EssayTransit: Ortschaften, der im Herbst 1985 ent- stand. Take five (weiter ab der letzten Stelle) und darüber: Im Frühling 85 saß eine junge Frau im Auftrag eines DDR-Verlags über der im Westen erschienenen Ernst-Weiß-Werkausgabe. Sie sollte eins der 16 Bücher für eine Publikation empfehlen. Kurioserweise gab sie aber statt des üblichen zehnseitigen Gutachtens hundert Seiten ab. Sie war arbeitslos und meinte wohl, ihr Fleiß könnte dem Verlag imponieren. --- Sie bekam das vereinbarte Honorar. Danach war sie wieder auf der Straße --- Ich stelle mir vor, dass sie mutlos war und an Ausreise dachte. Darüber wurde es Sommer, Frühsommer 1986. Christa Wolfs Essay erschien, und das änderte alles: 2: „In einer Sinn und Form las ich IhrTransit, und dass Sie Ernst Weiß auch mögen. Vielleicht ist die Vorstellung, Sie könnten sich für meine Gedanken über ihn interessieren, vermessen. Vielleicht auch nicht. Was ist schon vermessen in meiner Lage“ – Ende Musik 1: Das Ende des ersten Briefs, den die junge Frau an Christa Wolf schickte, - eine von Vielen. - Mit einem Abschluss der Literaturwissenschaft in der Tasche und sonst nichts. Kein Netzwerk, kein Hinterland, keine spektakuläre Verhaftung, nur keine Anstellung, weil als ‚politisch unzuverlässig’ einge- stuft, und das Ganze nichtmal in Berlin, sondern in Dresden, auf die hätte keiner gesetzt, Christa Wolf aber antwortete postwendend: 2: „Ihr Brief beeindruckt mich. Ohne Zweifel sind Sie in einer Notlage, ich stelle mir vor, dass Sie mit dem Gutachten über Ernst Weiß etwas geliefert haben, was der Verlag Ihnen so gar nicht abverlangt hat. Ich überlege wie ich Ihnen helfen könnte“. 1: Sie wimmelt nicht ab: (blasiert) sorry, bin grade overbooked und kann überhaupt nichts für Sie tun. Statt dessen - 2: „Glauben Sie, dass Ihre Arbeit über Ernst Weiss eventuell ein Essay ist und dass man ihn Sinn und Form anbieten könnte? Im Rundfunk kann ich nichts für Sie tun – da wird seit einem Jahrzehnt wieder etwas von mir gesendet, gerade jener Aufsatz über Transit ; bisher durfte da nichts von mir gebracht werden, also meine Empfehlungen nützen dem Empfohlenen nichts, sondern schaden eher. Mein Angebot, Ihnen materiell zu helfen, bleibt. Aber wichtiger scheint mir eine moralische Unterstützung... Wenn Sie etwas machen wollen, so machen Sie es – egal, ob es Ihnen anmaßend oder lächerlich erscheint. Mit diesen Anwandlungen kämpft jeder, der schreibt (jede sowieso) und nicht nur, wenn er oder sie damit anfängt. Und abgedankte Germanistin war ich auch, von irgendetwas muss man ja abdanken, wenn man Schriftsteller werden will, nicht?... Ich bin Mitte März wieder in Berlin. Falls dann ein Brief von Ihnen vorliegt, würde ich sofort reagieren. Geben Sie nicht auf und verlieren Sie nicht Mut und Hoffnung. Sie sind nur bis jetzt noch nicht an die richtigen Menschen geraten, die Ihnen begreiflich gemacht hätten, dass Sie gebraucht werden und dass Ihr Beitrag für andere wichtig und wertvoll ist.“ 1: Das ist der Ton der knapp zwei Dutzend Briefe, die Christa Wolf, über drei Jahre verteilt, an sie schrieb. Von 1986 bis 89. Auf der Höhe ihres Ruhms. Zwischen Kassandra und Sommerstück. Büchnerpreis und Nationalpreis. Familie, schweren Krankheiten, erster Rufmordkampagne und Weltruhm --- Ich stieß darauf bei einer Routine-Recherche im Berliner Archiv, und mein Eindruck war: Das ist eine letzte Momentaufnahme der DDR-Intelligenzia. Zwei Frauen, zwei Generationen, zwei Welten in der Agonie ihres Lands, und nichts verbindet sie. Nur Bücher und – nennt man das Respekt? Vertrauen? Empathie? Take Five (leise weiter), darüber: 2: „Ich schlage Ihnen vor, dass ich Ihnen für ein Jahr monatlich 500 Mark schicke. Würden Sie damit einigermaßen auskommen?“ 1: Eine Wohnung von 50 Quadratmetern kostete rund 35 Mark, eine Kinokarte 80 Pfennig, ein halber Liter Bier eine Mark und 6 Mark der teuerste Platz im Theater. 2: „Inzwischen schreiben Sie, was Sie schreiben wollen. Wegen des Geldes machen Sie sich keine Gedanken – Sie sind wirklich nicht die erste, der ich regelmäßig etwas gebe für eine gewisse Zeit – ich bin froh, dass ich es kann, es fehlt mir nicht.“ - 1: Zum gleichen noblen Klub der großzügigen Geister gehören Friedrich Hebbel, Ludwig Wittgenstein, Samuel Beckett. 2: „Noch einmal: Nehmen Sie bitte das Geld nicht als Verpflichtung oder als Bedrückung. Sie sind mir dadurch zu nichts verpflichtet – das würde doch den Sinn dieser Unterstützung in ihr Gegenteil verkehren. Anstatt mehr Freiheit zum Schreiben oder zu irgendetwas anderem hätten Sie dann nur wieder Druck. Ich erwarte gar nichts von Ihnen... Schreiben Sie, wozu Sie Lust haben. Ich schicke im Augenblick das Geld so unregelmäßig ab, weil in unserem Dorf hier keine Post ist, und ich muss immer abwarten, bis ich zu einer Stadt mit einer Post komme, aber ich hoffe, den Betrag für August heute abzuschicken. Bitte, machen Sie sich wirklich frei. Alles Gute, Ihre Christa Wolf“. 1: Der Brief ist „Woserin, 17. August 1987“ datiert. Vier Monate vorher hatte das West-Feuilleton sie zum ersten Mal als so genannte Staatsdichterin attackiert - und parallel dazu die Staatssicherheit einen – Zitat - „Zuwachs an negativen Personen aus dem Bereich der politisch schwankenden Schreibenden“ nach ihren Auftritten konstatiert. Keine Silbe davon an die Adressatin: 2: „Von meinen Krisen lass ich möglichst wenig nach außen, nur wenn’s nicht mehr anders geht. Dafür schreibe ich eben“- 1: Christa Wolf 1970 an Brigitte Reimann. Und dabei blieb sie, bis zuletzt: 2: „Ich denke, dass Sie sich zur Essayistin entwickeln werden oder sollten, und dass dazu alles, was Sie sich an Luft um die Ohren wehen lassen – Lese-Luft und Welt-Luft – nur gut sein kann... Übrigens. Ich habe bei Frau Horn im Kulturministerium angerufen, sie war ziemlich überzeugt, dass es mit Ihrer Reise klar geht, ich habe sie gebeten, mir Bescheid zu sagen, wenn sich Hindernisse einstellen. Schreiben Sie mir eine Karte aus Österreich?“ Schubert: Gute Nacht (bis „Blumenstrauß“), dann darüber weiter: 1: Tatsächlich muss die junge Frau im Frühling 88 in Wien gewesen sein. Ich fand eine Ansichtskarte mit der Kapuzinergruft im Archiv, die sie aber erst aus Dresden schickte: 2: „Es waren sechs schöne Wochen, ich habe viel gesehen und gehört und über Lebensmöglichkeiten nachgedacht. Darum sitze ich auch wieder hier, aber die Sicherheit, die ich in Wien noch fühlte, fehlt mir jetzt. Ich hatte dort ganz ver- gessen, was für ein Hexenkessel unser Land ist. Mit der Reise im Rücken, bin ich plötzlich als Feind zurückgekehrt, ein Blitzableiter und Katalysator für alle möglichen Frustrationen. Und Kunst zählt auch nichts mehr, oder sie ent- steht woanders. Kann man denn, wenn das halbe Land nach Ausreise schreit, nur noch als Ignorant bleiben und von einem „Böhmen am Meer“ schreiben oder schweigen? Wieder, wie vor dieser Reise nach Wien, gehe ich viel spazie- ren und denke oft, ich wäre hier sehr allein ohne Sie.“ 1: Während die Junge ihre Melancholie pflegt, kämpft die Ältere mit dem Tod. 2: „Ich fand Ihre Karte vor, als ich vorige Woche aus dem Schweriner Kranken- haus kam, wo ich fast 8 Wochen gelegen hatte, nach 6 Operationen, die nötig geworden waren, da eine ganz normale Blinddarm-Operation sich als Sepsis im Bauchraum ausgebreitet hatte. Es war eine heikle Situation, noch jetzt bin ich schwach und nicht arbeitsfähig, auch ein wenig problementrückt, habe erfahren, wie das physische Befinden die Person regieren kann.--- Ich glaube Ihnen, dass jetzt eine gewisse Verlorenheit Sie überkommt, dazu ist schwer, von außen etwas zu sagen, gar nicht zu raten. Nur so viel: Ich wünsche mir, dass Sie nicht im undurchdringlichen Beton steckenbleiben.“ 1: Keine Antwort von der Adressatin. Trotzdem trafen sich beide Frauen offen- bar im Februar 89 noch einmal persönlich, denn Christa Wolf erwähnt das in ihrem letzten Brief vom März. Danach verschwindet die andere von der Bild- fläche. Dorthin, woher sie gekommen ist, in die Menge. Cecilia Bartoli: Decio (2.Strophe) , darüber: Hält sie mündlich Kontakt? Wandert sie aus? Heiratet sie? Schreibt sie weiter? Was? Gedichte? Kirchenlieder? Werbetexte? Essays jedenfalls nicht, denn nach dem Weiß-Text taucht ihr Name in keinem Verlagskatalog auf. Er steht in keiner Datenbank einer Bibliothek und nicht im Telefonbuch. Auch im Netz gibt es keine Spur von ihr, und ihre Wohnung ist weitervermietet. 2: „Alles hat seine Zeit: an etwas glauben und sich dafür einsetzen; die Grenzen der eigenen Illusionen zu spüren bekommen; sich besinnen, sich neu orien- tieren und anderes versuchen“ – 1: Zwei Zeilen aus der Erzählung Sommerstück. Ende Musik Es erscheint 1989. Christa Wolf wird 60. Jahr. Fritz J. Raddatz schlägt sie für den Nobelpreis vor, und dann folgt dieser heiße Sommer. Peking, Prag. Massenflucht in Ungarn, und danach der Herbst mit der so genannten Wende. Alles ist auf der Straße. Auch die Wolf tauscht das Romanschreiben gegen operative Genres. Sie enga- giert sich, spricht, berät, protestiert, sucht, notiert, was sie hört und sieht und absolviert zahlreiche öffentliche Auftritte. Ihre Rede vom 4. November auf dem Alexanderplatz endet mit einer Herzattacke. Am 21. steht sie schon wieder „Für unser Land“ auf der Matte. Im Dezember besetzen Bürgerrechtler die Stasi-Zentralen von Erfurt und Leipzig. wo Unterlagen im großen Maßstab vernichtet werden. Daraufhin nimmt die Wolf ihre 1979 begonnene Chronik der eignen Überwachung wieder vor und überarbeitet Was bleibt für den Druck- Jim Morrison: The End (nach den Erkennungstakten weiter) und darüber: Doch das Rad der Politik dreht sich schneller. Als Was bleibt im Juni 90 erscheint, sind schon alle Messen gelesen. Da hat die Mehrheit im eigenen Land die „Allianz für Deutschland“ zur stärksten Macht gewählt - und deren Programm Nie wieder Sozialismus. Da sind ostdeutsche Stasi-Akten kein Thema mehr, sondern die Ankunft im westdeutschen Alltag. Und da trommelt das westdeutsche Feuilleton laut und ungeduldig zum Sturm auf sein so ge-nanntes „Kulturschutzgebiet DDR“. Dies - der Titel einer im Herbst 1990 im Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken erschienenen Kampfschrift des konservativen Feuilletonisten Karl Heinz Bohrer. 3: „Ich glaube nicht, dass die verlorenen Leben und Karrieren der DDR-Intellek- tuellen zu mehr ausreichen als einer schmerzvollen und notwendigen psy- chologischen Einzel- oder Gruppenanalyse. Das wird die gesamtdeutsche Atmosphäre ohnehin stickiger machen. Aber ihr Versuch, zusammen mit hiesigen sympathisierenden Literaten und Intellektuellen soviel wie möglich von der alten Utopie und dem utopischen Habitus individuell und institutio- nell zu retten, wird die neuen freien Räume nicht wieder verschließen können“ 1: So tönt Karl Heinz Bohrer und so tönte es schon in diesem Sommer vor der Wiedervereinigung aus den Christa-Wolf-Kritiken der übrigen westlichen Leitmedien The End weiter und darüber wie ein Rap/Gedicht/Kanon- anfangs leise, dann allmählich schärfer und lauter) 3: Staatsschriftstellerin! --- Gesinnungsästhetik! --- Gesinnungskitsch --- Oberlehrerin --- Rückständig!-- Vormodern! --- Unzeitgemäß! --- weltfremd! --- ästhetisch irrelevant! –--Winselnde Harmlosigkeit! --- politisch überfordert, intellektuell sowieso!---provinziell! --- Furor melancholicus! --- Meisterin des Verlusts! ---Stillhalteliteratur! --- Sedative! --- Privilegiensüchtig! --- Lügen auf hohem Niveau!--- Epochenillusion Sozialismus! --- epochal überholte Zivilisation! –Versungen und vertan! --- Scheitern!--- Versagen! --- Fehlleistung! --- 1: Ausgewählte Schlagworte der Christa-Wolf-Kritik, seit 1990 mantraartig wiederholt Ende Musik 1: (sie schlägt das Fenster zu) Das wird der Sprit für meine Rede. Am Konferenztag sage ich sie mir vor, diese Schmähworte, und sobald der Saal voll ist, stürme ich die Bühne. Ich fange sofort an: „Meine Damen und Herren, Sie haben mich nicht eingeladen, ich rede trotzdem, und Sie werden mich anhören, denn ich habe einen Fund im Christa-Wolf-Archiv gemacht, der Konsequenzen für das Nachdenken über diese Autorin hat. Dafür muss ich zuerst etwas über die Kritik in Deutschland sagen. Nicht, weil die so gut ist, sondern weil die sich an Christa Wolfs Namen angedockt hat und jetzt so zäh daran klebt, dass man nicht mehr über ihre Bücher reden kann, ohne zugleich auch über die Kritik daran zu reden. - Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich gehöre zu keinem Freundes- oder Fankreis der Autorin. Ich verdiene mein Geld auch nicht als Wolf-Interpretin. Ich arbeite als Journalistin. Diesen Fund habe ich zufällig gemacht, und erst da-nach habe ich angefangen, ihre Werke zu lesen. Später kam natürlich auch das unvermeidliche Pro und Kontra dazu. Denn wie Archipenko so schön sagt: Kunst ist für alle da, aber nicht alle sind für die Kunst da. Und das Besondere an ihrer Kunst, das, was mir den größten Eindruck gemacht hat: nichts darin ist cool , keine Seite, kein Satz ist abgebrüht, kaltschnäuzig, gleichgültig. Literatur als Sehnsuchtsort ist ihr Credo. Ist mehr Nein zu dieser Welt möglich? 2: „Sie glaubte, die Gedanken hätten sich aus dem Gefühl entwickelt und sollten den Zusammenhang mit ihm nicht verlieren. Veraltet natürlich, überholt.“ 1: Aus: Medea 2: Ich meine, jeder ist in jeder Phase seines Lebens für das verantwortlich, was er tut oder unterlässt. Da kann absurderweise ein rigoroser, absoluter Maß- stab, den man an sich selber anlegt, es einem leichter machen als der Versuch, mit möglichst großer Wirkung zu handeln, so, dass auch andere einen verstehen und vielleicht zu ähnlichem Handeln (oder Denken) überredet werden können.“ 1: Aus einem Christa-Wolf-Brief. Klar, dass das der Kritik in die Nase fährt. Der Leitmedien-Kritik, die sich als Vorhut der Moderne, Pionier der Moden, Ban- nerführer des Zeitgeists versteht: 3: (wie oben The End und darüber als Rap/Gedicht, das konträre Zitate aus Christa-Wolf-Texten kommmentieren) Keep cool! --- Hilf dir selbst, oder du bist verloren!--- Sei ein konstruktiver Egoist! –-- Spann ab! --- Lehn dich nie zu weit aus dem Fenster --- Sei kein Opfer!, sei clever --- Moral ist was für Schwächlinge!—- 2: „Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends.“ 3: Nur Luxus ist heute noch revolutionär! --- Die Zukunft wird cool sein, oder sie wird nicht sein! --- denn Coolness ist die einzige Überlebensstrategie in dieser spätmodernen Welt, Coolness--– Bist du cool, gehört dir die Welt, bist du’s nicht, bist du ein Loser--- 2: „Würde ein Maler imstande sein, die Abtrennung eines jeden von sich selbst, vom anderen, von der ihn umgebenden Natur aufs Papier zu bringen?“ 1: Noch einmal kein Ort, nirgends 3: No risk, no fun! Don’t worry, be happy! No risk, no fun – don’t worry--- 2: „Ich muss meine Angst eindämmen! Ich darf nicht aufhören zu denken!“ 1: Das ist Medea. 3: :“Es geht darum, die Kälte als Effekt von Rationalismus und Funktionalismus zu nutzen, um sich in der Affirmation der Entfremdung selbst zu stilisieren, und nicht als Opfer der modernen Zeiten, sondern als ihr Konsument und Vordenker“. 1 Ulf Poschard 2: „Mein lieber Jason, es ist so eingerichtet, dass nicht nur die, die Unrecht erdulden müssen, auch die, die Unrecht tun, ihres Lebens nicht froh werden, Überhaupt frage ich mich, ob die Lust, andere Leben zu zerstören, nicht daher kommt, dass man am eigenen Leben so wenig Lust und Freude hat.“ Morrisons ‚The End’ 1: Die Günderrode, Kassandra, Medea und selbst dieser Mantel, der overcoat of Mr. Freud – alles Fanale gegen den Zeitgeist, Kampfansagen gegen den Kniefall vor der Quote, Schlachtrufe gegen die massenhafte Unterwerfung unter den Gott der Anpassung! 2: Ich habe mich immer gefragt, woher das Gute in der Welt kommt. 1: Gottfried Benn 3: Gesinnungskitsch ---Oberlehrerin --- Rückständig!-- Vormodern! --- Unzeitgemäß! --- weltfremd! --- ästhetisch irrelevant! –-- Versungen und vertan! ---Verschenkt und gescheitert! 1: Gegen Mauern anschreiben – ein Schicksal, das sie mit einigen Autoren in diesem Jahrhundert teilt. Aber dabei noch Poesie erschaffen, um ein Welt- publikum zu erreichen – ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. 2: „Übrigens schreibe ich nicht mit leichter, sondern mit schwerer Hand, anders als Sie glauben, und die Hand wird immer schwerer - “ 1: Aus einem der Briefe von ihr. Und es zeigt: ihre Arbeitsweise ist das genaue Gegenteil zu der ihrer Kritiker. Sie arbeitet drei, vier, fünf Jahre an einem Text, damit Kunst daraus wird. Eine Erzählung, ein Roman. Die Kritiker aber brechen sie an einem kurzen Nachmittag auf das Format eines politischen Leitartikels herunter - 3: Gesinnungsästhetik --- Staatsschriftstellerei --- Lüge 2: „Die Dichtung ist verwandt mit dem Wesen der Utopie, was heißt: sie hat einen schmerzlich-freudigen Hang zum Absoluten. Doch die Mehrheit der Menschen erträgt nicht das laut geäußerte Ungenügen an dem reduzierten Leben, mit dem sie sich abfinden muss“ 1: Vielleicht müssen wir die Kritik erst erfinden, die die Dichter liebt, statt sich an ihnen zu rächen und die Welt, vielleicht müssen wir sie uns erst ausden- ken, in der Christa Wolf gelesen werden könnte? Musik ‚The End’ wird immer leiser und geht über in: Nebelhorn (das wie am Anfang, nur jetzt zwischen den Schlusssätzen, erklingt und sich gegen die Musik durchsetzt, die immer leiser wird und schließlich ganz verschwindet) 2: „Sie sagte noch: Also ist es kein Rückzug, was du hier betreibst in Stille und Abgeschiedenheit, sogar in Schönheit? Ich sagte: Du musst verrückt sein. Siehts Dir danach aus? Nicht mehr, sagte sie, während wir vorsichtig im Halbdunkel die Treppe hinuntergingen. Gut, dass ich hier gewesen bin. Unten ging das Licht an, sie riefen nach uns.“ Nebelhorn 2: „Was meiner Stadt zugrunde liegt und woran sie zugrunde geht. Dass es kein Unglück gibt außer dem, nicht zu leben. Und am Ende keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben.“ Nebelhorn 2: „Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“ Nebelhorn 2 „Denn höher als alles schätzen wir die Lust, gekannt zu sein. Ich Glückliche wusste gleich, wem ich es erzählen könnte, kam zu dir, sah, dass du hören wolltest und begann: Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen. Am liebsten, du weißt es, allein.“ Nebelhorn 2: Sie zieht die Tür hinter sich zu.“ 1