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Es gibt keine polnische Stadt ohne Grunwald- Straße. Grunwald ist unser größter nationaler Mythos. Atmo 2: Auf dem Gelände zwischen Grunwald und Stebark (eh. Tannenberg) Erzähler Szymon Drej spricht über die Schlacht von Grunwald, die in Deutschland unter dem Namen "Schlacht bei Tannenberg" bekannt ist. Grunwald und Tannenberg sind zwei nur wenige Kilometer voneinander entfernte Dörfer am südwestlichen Rand der masurischen Seenplatte - im ehemaligen Ostpreußen. Der Historiker Szymon Drej leitet das Grunwald-Museum, zu dem nicht nur ein Ausstellungsgebäude gehört, sondern auch eine weitläufige Erinnerungslandschaft. Auf 100 Hektar Feld, Wald und Wiese stehen zahlreiche Denkmäler, die Reste einer mittelalterlichen Backsteinkapelle und ein modernes Amphitheater, ein Campingplatz mit Cafeteria und eine gerade fertig gestellte Kassenhalle. Es gibt Parkplätze in Hülle und Fülle sowie ein paar Holzbuden, in denen Menschen aus der Umgebung Wappen, Schwerter und anderen Ritterkitsch feilbieten. Atmo 3: Szene aus dem Film "Krzyzacy" von Aleksander Ford Erzähler Vor 600 Jahren wurde hier eine der größten Schlachten des Mittelalters geschlagen. Ein polnisch-litauisches Heer samt russischen und tatarischen Verbündeten kämpfte gegen die Truppen des Deutschen Ritterordens. Vom frühen Vormittag bis zur Abenddämmerung des 15. Juli 1410 lieferten sich rund 40.000 Soldaten, die meisten von ihnen zu Pferde, ein grausames Gemetzel. Das polnisch-litauische Heer unter König Wladyslaw Jagiello siegte. Ulrich von Jungingen, der Hochmeister des Deutschen Ordens, kam auf dem Schlachtfeld zu Tode. Der 15. Juli 1410 markiert den Anfang vom Ende des Ordensstaats im Baltikum. Seit dem 13. Jahrhundert hatten die überwiegend deutschen Ordensritter das dünn besiedelte Land östlich von Danzig in Besitz genommen. Sie hatten deutsche Siedler geworben, die Landwirtschaft entwickelt, Städte gegründet und moderne staatliche Strukturen durchgesetzt. Die Niederlage der Ordensritter auf dem Schlachtfeld bei Grunwald und Tannenberg ermöglichte den Aufstieg Polen-Litauens zur europäischen Großmacht für mehrere Jahrhunderte. Im Gedächtnis der Polen prägte sich das Ereignis unter dem Namen Grunwald ein, in der Erinnerung der Deutschen - Tannenberg. Atmo 4: Szene aus dem Film "Krzyzacy" von Aleksander Ford Erzähler Heute kennen fast alle Polen die Geschichte vom Triumph des großen Königs Wladyslaw Jagiello und seiner tapferen Soldaten über die bösen Kreuzritter aus dem Kino. Über 32 Millionen Menschen haben den dreistündigen Monumentalfilm "Die Kreuzritter" des polnisch-jüdischen Regisseurs Aleksander Ford von 1960 gesehen. Dieser Zuschauerrekord wurde bis heute von keinem anderen polnischen Film gebrochen. Ford verfilmte einen literarischen Klassiker, den 1900 veröffentlichten und nach wie vor beliebten Roman "Die Kreuzritter" aus der Feder des Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz. Atmo 5: Im Warschauer Nationalmuseum vor dem Bild von Jan Matejko, Atmo unter dem folgenden Text stehen lassen Erzähler Noch bedeutender als das Buch und der Film war für die Erinnerung der Polen an die historische Schlacht gegen den Deutschen Orden ein Gemälde. Der Krakauer Historienmaler Jan Matejko fertigte seine "Schlacht bei Grunwald" im späten 19. Jahrhundert an, in Öl auf über 40 Quadratmetern Leinwand. Vor einer in Rauch und Flammen aufgehenden Landschaft sind die Schlachtszenen gruppiert. Links dominiert der Ordenshochmeister Ulrich von Jungingen, dessen Pferd sich aufbäumt, während er von zwei Fußkämpfern den Todesstoß versetzt bekommt. In der Mitte dirigiert der litauische Fürst Witold das Kampfgeschehen. Der Polenkönig Wladyslaw Jagiello verbirgt sich - gleichsam über den Dingen stehend - am oberen rechten Rand. Matejkos gigantisches Bild, 1878 der Öffentlichkeit vorgestellt, ist bis heute das in Polen bekannteste Kunstwerk. Es hängt im Warschauer Nationalmuseum; dessen stellvertretende Leiterin ist Katarzyna Murawska-Muthesius: O-Ton (2) Katarzyna Murawska-Muthesius, Sprecherin (Übersetzerin) Dieses Bild sollte die nationale Einigkeit festigen und den Glauben daran, dass die Polen als Volk noch nicht verloren waren, dass sie den Feind besiegen konnten und dass Polen eine nationale Wiedergeburt erleben würde. Dafür, dass er dieses Bild gemalt hatte, erhielt Matejko bereits kurz nach der Fertigstellung - wenn auch rein symbolisch - das Zepter eines Königs im Interregnum, in einem Staat, der seiner Macht und seiner nationalen Identität beraubt worden war. Matejko wurde also sozusagen zum polnischen König gekrönt. Das Bild fand eine unglaublich enthusiastische Aufnahme. Erzähler Als Matejko im späten 19. Jahrhundert sein Bild schuf, waren die Polen seit etlichen Jahrzehnten eine Nation ohne König und ohne Staat. Die Nachbarn Russland, Österreich und Preußen hatten Polen erobert und die Beute unter sich aufgeteilt. Im preußisch-deutschen Teilungsgebiet, das sich zum Teil mit dem Terrain des ehemaligen Ordenstaates deckte, tobte zu Matejkos Zeiten der Bismarcksche Kulturkampf. Nicht nur die katholische Kirche wurde drangsaliert; polnische Landbesitzer wurden enteignet, der Gebrauch der polnischen Sprache wurde zurückgedrängt. In Matejkos Heimatstadt Krakau, die Österreich zugefallen war, ging es toleranter zu. Hier formierte sich eine polnische Nationalbewegung. Matejkos "Schlacht bei Grunwald" begeisterte die Patrioten derart, dass der Künstler noch vor der Fertigstellung Eintrittsgeld für den Besuch seines Krakauer Ateliers verlangte und sich damit die beachtliche Summe von 3.000 Gulden verdiente. Matejko hatte die richtige Idee zum rechten Zeitpunkt, erklärt die Warschauer Kunsthistorikerin Maria Poprzecka: O-Ton (3) Maria Poprzecka, Sprecherin (Übersetzerin) Eigentlich stellte dieses Bild keine unmittelbare Reaktion auf den Bismarckschen Kulturkampf dar. Der Impuls lag vielmehr in Matejkos Begeisterung für die Zeit der Jagiellonen-Könige des Mittelalters. Nichtsdestoweniger nahm man das Bild, als es 1878 fertig war, als ein Werk mit eindeutig antipreußischer und antideutscher Botschaft wahr. Und diese antideutschen Funktionen und antideutschen Interpretationen steigerten seine Bedeutung immer weiter. Erzähler In Wirklichkeit hatte Preußen selbst ein zwiespältiges Verhältnis zum Deutschen Orden. Im 15. Jahrhundert rebellierten zahlreiche preußische Stände und Städte, darunter Danzig, gegen den bei Grunwald beziehungsweise Tannenberg entscheidend geschwächten Ordensstaat und unterstellten sich lieber der polnischen Krone. Im 16. Jahrhundert ging das baltische Imperium der katholischen Mönchsritter endgültig zugrunde, weil sich der letzte Hochmeister, Albrecht von Brandenburg, auf die Seite der Reformation schlug. Albrecht verwandelte den Ordenstaat in das protestantische Herzogtum Preußen, in dem man das Erbe der Kreuzritter über Jahrhunderte geringschätzte. Zu einer Wende kam es erst im 19. Jahrhundert, wie Igor Kakolewski, Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, ausführt: O-Ton (4) Igor Kakolewski, Sprecher (Übersetzer) Die Erinnerung erwacht Anfang des 19. Jahrhunderts. Nun werden die Kreuzritter in einem positiven Licht dargestellt. Die ersten Spuren dieser positiven Erinnerung stammen aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon. 1813 führt man in Preußen das Eiserne Kreuz ein, den ersten Orden ohne Rücksicht auf Rang und Stand. Erzähler Der preußische König Friedrich Wilhelm III. stiftet das schwarze Kreuz auf weißem Grund als militärischen Tapferkeitsorden. Sein Architekt und Bildhauer Karl Friedrich Schinkel entwirft die Form eines Tatzenkreuzes, das sich eng an das schwarze Ritterkreuz auf den weißen Mänteln der Ordensritter anlehnt. Es ist die nun aufkeimende, dem Mittelalter zugewandte deutsche Nationalromantik, die das Kreuzrittertum auch für den protestantischen Preußenstaat attraktiv erscheinen lässt. 1862, kurz vor der Gründung des kleindeutschen Reichs unter preußischer Führung, stilisiert der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke den mittelalterlichen Deutschen Orden zum Bollwerk der deutschen Zivilisation gegen die slawische Barbarei. Treitschke avanciert damit zum publizistischen Vorreiter des Bismarckschen Kulturkampfs der siebziger Jahre. In Deutschland gilt die Niederlage des Ordens von 1410 nun zunehmend als Niederlage des Abendlandes, die wettzumachen sei. Die Stunde der militärischen Revanche gegen die slawischen Feinde schlägt im Sommer 1914. O-Ton (5) Paul von Hindenburg - Archiv Ihr habt einen vernichtenden Sieg errungen. Mehr als 90.000 Gefangene, ungezählte Geschütze und Maschinengewehre, mehrere Fahnen und viele sonstige Kriegsbeute sind in unseren Händen. Nebst Gott, dem Herrn, ist dieser glänzende Erfolg eurer Opferfreudigkeit, euren unübertrefflichen Marschleistungen und eurer hervorragenden Tapferkeit zu danken. Es lebe seine Majestät, der Kaiser und König! Hurra! Erzähler Paul von Hindenburg dankt am 31. August 1914, einen Monat nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, seinen Soldaten. In den Tagen zuvor hatten sie unter seinem Oberbefehl einen großen Sieg errungen. Der Feind war nicht Polen wie 1410, sondern die kurz zuvor nach Ostpreußen eingedrungene russische Armee. Die Schlacht spielte sich auch nicht in Tannenberg ab, jedoch in der Nähe. Man beschloss, sie nach Tannenberg zu benennen. So münzte Deutschland die Niederlage der Ordensritter von 1410 in einen Sieg von 1914 um. O-Ton (6) Robert Traba Hindenburg und Ludendorff waren nicht sicher am Anfang, wie sie die Schlacht nennen. Erzähler Robert Traba ist Leiter des Zentrums für historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. O-Ton (7) Robert Traba Dann kam die Idee von General Hoffmann, diese Schlacht als Antwort auf die Schlacht von 1410 als zweite Tannenberg zu nennen. Das war eine nationale Antwort nach 500 Jahren: Revanche, wir sind Sieger. Und Hindenburg-Mythos entsteht auch sofort - nicht nur in Ostpreußen, sondern in ganz Deutschland. Erzähler Der Mythos vom Tannenberg-Sieg 1914 mit Hindenburg in der Hauptrolle entfaltet seine Wirkungsmacht in den kommenden Jahren vor allem in Ostpreußen, am Ort des Geschehens. Diese Provinz wird infolge der Versailler Nachkriegsordnung vom übrigen Deutschland getrennt. Polen erlebt nach eineinhalb Jahrhunderten der Teilungen seine Wiedergeburt als Staat. Dieser Staat erhält einen Landkorridor zur Ostsee durch deutsches Gebiet und bringt Ostpreußen in eine Insellage. Darüber hinaus beansprucht Polen Gebiete im südlichen Ostpreußen - dort, wo viele Menschen nicht nur Deutsch, sondern auch Polnisch sprechen. Ein Plebiszit entscheidet 1920 diese Streitfrage. Über 97 Prozent im Abstimmungsgebiet votieren für den Verbleib bei Deutschland, darunter auch die allermeisten Ostpreußen polnischer Muttersprache. Robert Traba kommentiert: O-Ton (8) Robert Traba Überwiegende Teile Masurens haben Polnisch oder Masurisch als polnischen Dialekt praktisch bis '39 gesprochen. Das ist nicht dasselbe, dass sie Polen waren. Das ist wiederum diese falsche Vorstellung, dass wenn jemand Polnisch spricht, muss Pole sein. In diesen Grenzgebieten war das anders. Die Masuren haben lange Zeit Polnisch gesprochen, aber für sie war Tannenberg 1410 eine riesige Niederlage und nicht der Sieg wie im polnischen nationalen Bewusstsein zum Beispiel. Erzähler 1927 entsteht auf dem Schlachtfeld von 1914 eine Gedenkstätte für Hindenburgs Tannenberg-Sieg. Etwa 20 Kilometer von der Ortschaft Tannenberg entfernt bauen Berliner Architekten eine Ritterburg im Stil der neuen Sachlichkeit mit acht Türmen, Jugendherberge und Ehrenhof. Ein Sportstadion ist angegliedert. Die Gedenkstätte soll das ostpreußische Bollwerk gegen die "Slawenflut" verkörpern. Sie erinnert an den Sieg über die Russen, ist aber vor allem gegen den neu gegründeten polnischen Staat gerichtet. Zur Einweihung am 18. September 1927 spricht der zwei Jahre zuvor zum Reichspräsidenten gewählte ehemalige Oberbefehlshaber Paul von Hindenburg. O-Ton (9) Paul von Hindenburg - Archiv Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlands ausgezogen, und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt. In den zahllosen Gräbern, welche Zeichen des deutschen Heldentums sind, ruhen ohne Unterschied Männer aller Parteifärbungen. Sie waren damals einig in der Liebe und Treue zum deutschen Vaterlande. Darum möge an diesem Erinnerungsmale stets innerer Hader zerschellen. Es sei eine Stätte, an der sich alle die Hand reichen, welche die Liebe zum Vaterlande beseelt und welche die deutsche Ehre über alles geht. Erzähler Das Tannenberg-Denkmal wird zum Wallfahrtsort der Deutsch-Nationalen. Aus allen Teilen Deutschlands strömen die Besuchergruppen heran, während sich die in Preußen regierende Sozialdemokratie in hilfloser Zurückhaltung übt. Die NSDAP versucht die Tannenberg-Gedenkrituale von Beginn an für sich zu vereinnahmen. Das gelingt ihr endgültig nach der Machtergreifung Hitlers. Als Hindenburg 1934 stirbt, wird er gegen seinen Willen auf dem Gelände des Tannenberg-Denkmals beigesetzt. Während sich Deutschland im Tannenberg-Ruhm von 1914 sonnt, ist in der polnischen Republik der Zwischenkriegszeit die Erinnerung an den ruhmreichen Sieg von 1410 ein wenig in den Hintergrund geraten. Auch das 40 Quadratmeter große Schlachtengemälde des Historienmalers Jan Matejko wird nicht mehr so ernst genommen wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die Kunsthistorikerin Maria Poprzecka erklärt die vorübergehende Abnahme des Interesses so: O-Ton (10) Maria Poprzecka, Sprecherin (Übersetzerin) Als Künstler wird Matejko jetzt ganz und gar verdrängt. Er gilt als Kitschproduzent und altbackener Trödler. Auf einmal scheint seine Kunst völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Politisch wiederum sieht Polen zwischen den Weltkriegen Bedrohungen vor allem im Osten, von Seiten der Sowjetunion - viel stärker als von Seiten Deutschlands. Die Bedrohung durch Deutschland macht man sich erst sehr spät bewusst. Daher ist die politische Wirkung des Bildes in dieser Zeit schwach. Erzähler Das verändert der Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen 1939 radikal. Matejkos Darstellung der Schlacht von 1410 ist wieder brandaktuell. Auch den Nationalsozialisten ist klar, dass dieses Bild zu einem mächtigen Symbol des polnischen Widerstands werden könnte. Sie wollen es um jeden Preis in Besitz nehmen. Doch die Polen können es verhindern. Gleich nach Kriegsausbruch bringen sie Matejkos Riesengemälde in einer konspirativen Aktion aus dem Warschauer Museum und transportieren es auf abenteuerlichen Wegen an einen geheimen Ort in die Nähe von Lublin, wo "Die Schlacht von Grunwald" bis Kriegsende in einem Futteral unter der Erde lagert. Zur Sicherheit verbreitet der polnische Untergrund noch eine Falschmeldung über den Rundfunk, das Bild befinde sich in Großbritannien. Daraufhin geben die Deutschen die Suche auf. Nach der Niederlage Hitlerdeutschlands gräbt man Matejkos "Schlacht bei Grunwald" wieder aus. Das Bild, das gemäß kommunistischer Lesart von einem nationalromantischen, dem Mittelalter zugewandten Erzkatholiken, Antisemiten und Reaktionär geschaffen wurde, erlebt im kommunistischen Polen seine große Renaissance. Katarzyna Murawska-Muthesius, stellvertretende Direktorin des Warschauer Nationalmuseums, sieht es so: O-Ton (11) Katarzyna Murawska-Muthesius, Sprecherin (Übersetzerin) Matejko passt in viele politische Zusammenhänge. Er passt zum nationalen Mythos, er passt zum Mythos vom Sozialismus. Matejkos Bild wurde zum beliebtesten Bild der sozialistischen Ära. Mit ihm konnte man herausstellen, dass die vereinten slawischen Völker die Macht des westlichen Europa brechen konnten. Die beiden Figuren, die den Ordensmeister Ulrich von Jungingen zu Tode bringen, diese zwei in Leder gekleideten Gestalten, sie bildeten den augenfälligen Beweis, dass eben der slawische "Barbar", der Mann aus dem Volk triumphieren kann über den in schönste Gewänder gehüllten Eindringling, den Gewaltherrscher aus dem Westen. Erzähler Ein geborstener Ritterhelm neben einem kaputten Stahlhelm, dazu zwei Raben und der Titel: "Grunwald 1410, Berlin 1945". So steht es auf einem kommunistischen Plakat nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Grenze an Oder und Neiße sei eine Vollstreckung des Testaments von Grunwald, heißt es auf anderen Plakaten. Die polnischen Kommunisten stellen die Niederlage Hitlerdeutschlands als ihren endgültigen Sieg über den deutschen Drang nach Osten dar. Nach den bitteren Erfahrungen der nationalsozialistischen Besatzungspolitik findet diese Propaganda Widerhall in allen Bevölkerungsgruppen. Der polnische Staat verliert seine Ostgebiete und wird weit über 100 Kilometer nach Westen verschoben. Die Deutschen müssen diese nun polnischen Gebiete verlassen. Auch Ostpreußen samt Grunwald und Tannenberg liegt jetzt in Polen. Ohne Verzug demontieren die neuen Machthaber das deutsche Tannenberg-Denkmal für Hindenburgs Sieg von 1914. Die Zerstörung dieses Denkmals hatten bereits die Nationalsozialisten eingeleitet, erzählt Robert Traba von der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin: O-Ton (12) Robert Traba Am Anfang haben selbst die Nationalsozialisten zerstört, um das deutsche Heiligtum nicht in die Hände der Feinde zurückzugeben, obwohl, das war ungeheuer schwierig zu zerstören, das war richtig eine kleine Burg. Um das deutsche Heiligtum nicht in die Hände der Feinde zurückzugeben. Und dort wurde Hindenburg beigesetzt, also wurde seine Leiche nach Marienburg gebracht, noch kurz vor der Offensive der Roten Armee. Den zweiten Schritt der Zerstörung machte die Sowjetarmee, wurde auch gesprengt, und die Reste die neuen Einwohner. Erzähler Überall in Ostpreußen transportierte man nach Kriegsende Ziegelsteine von deutschen Bauwerken ab, um damit das zerstörte Warschau wieder aufzubauen. Die Reste des deutschen Tannenberg-Denkmals sollen bei der Errichtung der neuen kommunistischen Parteizentrale im Stadtzentrum von Warschau Verwendung gefunden haben. Die Marienburg bei Danzig hingegen, einst Machtzentrale des Ordensstaates, die vom polnischen Königreich 1457 erobert und die im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört wurde, ließ das kommunistische Polen vorbildlich restaurieren, um dort ein Museum einzurichten. Das Komitee für den Wiederaufbau der Marienburg konstituierte sich 1957, zum 500. Jahrestag dieses Sieges über die Kreuzritter. Zur selben Zeit verließen die letzten Deutschen die Stadt Marienburg. Der Historiker Igor Kakolewski sieht darin eine besondere politische Inszenierung. O-Ton (13) Igor Kakolewski, Sprecher (Übersetzer) Bei dieser Gelegenheit, also gemeinsam mit den Feierlichkeiten zum Jubiläum der Übernahme der Marienburg durch Polen vor 500 Jahren, hat man die Ausreise der letzten Deutschen aus der Stadt Marienburg organisiert, der Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Marienburg geblieben waren. Und das eben ist eine Form des Exorzismus in der Geschichtspolitik. Erzähler Ein Jahr später, 1958, liefert der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland den polnischen Kommunisten Propagandamaterial frei Haus. Der Katholik Konrad Adenauer lässt sich vom Deutschen Orden, seit langem nur noch eine katholische Wohlfahrtsorganisation mit Sitz in Wien, die Ehrenmitgliedschaft verleihen. Adenauer posiert für die Kameras im weißen Ordensmantel mit schwarzem Ritterkreuz. Von nun an kann man dieses Bild nahezu täglich in der polnischen Presse betrachten. Auch als Plakat wird es massenhafte Verbreitung finden - eine ideale Waffe im Kampf gegen die Ansprüche Westdeutschlands und seiner Vertriebenenverbände auf Revision der Oder-Neiße-Grenze. Der polnische Parteichef Wladyslaw Gomulka attackiert Adenauer unermüdlich als Kreuzritter, hier am 15. Juli 1960, aus Anlass des 550. Jahrestags der Schlacht von Grunwald beziehungsweise Tannenberg. O-Ton (14) Wladyslaw Gomulka - Archiv Sprecher (Übersetzer) Die Wolfsnatur des deutschen Imperialismus hat sich nicht geändert - von Ulrich von Jungingen bis Konrad Adenauer. Aber die Zeiten haben sich geändert. Der Weg nach Osten wurde dem deutschen Imperialismus ein für alle Mal verschlossen. Es versperrt ihn der durch eine gemeinsame Ideologie vereinte, die Friedenswache haltende Bund der Unterzeichnerstaaten des Warschauer Pakts, die unantastbare Einheit des sozialistischen Lagers, seine stetig wachsende politische, wirtschaftliche und militärische Macht. Erzähler Als Gomulka diese Worte 1960 zum 550. Jahrestag des polnischen Siegs von 1410 spricht, erreicht der kommunistische Grunwald-Kult seinen Höhepunkt. Atmo 7: Pfadfinder, Zeremonie 1960 Erzähler Gemeinsam mit den sozialistischen Verbündeten, darunter auch Vertretern der DDR, feiert man ein großes Fest auf dem historischen Schlachtfeld. Ein musealer Komplex wird eingeweiht, der fünfzig Jahre später, 2010, zum 600. Jahrestag der Schlacht, renoviert und erweitert wird. Seit einem halben Jahrhundert führt Stanislaw Reda Besucher über das Terrain. O-Ton (15) Stanislaw Reda, Sprecher (Übersetzer) In den kommunistischen Zeiten gab es viel mehr Besuchergruppen als heute. Jede Schule hatte einmal im Jahr einen Ausflug im Programm. Für Süd- und Mittelpolen war das Ausflugsziel Masuren und bei so einem Ausflug nach Masuren besichtigte man als erstes das Schlachtfeld von Grunwald. Das waren wirklich viele Ausflüge. Aber auch die Erwachsenen, die zur Erholung nach Masuren kamen, denn hier gab es viele Ferienheime, besuchten bei dieser Gelegenheit Grunwald. Erzähler Obwohl der polnische Sieg über den Deutschen Orden 1410 bei Grunwald beziehungsweise Tannenberg in der kommunistischen Geschichtspolitik die ganze Zeit präsent ist, verblasst der Mythos allmählich. Die seit den sechziger Jahren erstarkende demokratische Opposition, aber auch die im Kommunismus einflussreiche katholische Kirche setzen auf eine Annäherung an die Bundesrepublik. Als die Bundesrepublik 1970 die Oder-Neiße-Grenze anerkennt, verliert Grunwald noch mehr an politischer Brisanz. Der Zeithistoriker Antoni Dudek nennt dafür weitere Gründe: O-Ton (16) Antoni Dudek, Sprecher (Übersetzer) Immer mehr Polen reisten damals in die Bundesrepublik Deutschland. Sie konnten sehen, dass dies kein aggressiver Staat war. Dann kam 1980 die Revolution von Solidarnosc. Sie verringerte die Empfänglichkeit der Menschen für die offizielle Propaganda, die auch in den achtziger Jahren weiterhin antideutsch war. Erzähler Die antideutsche Propaganda mit dem Grunwald-Mythos im Hintergrund wird in den achtziger Jahren zunehmend zum Gegenstand der Satire, und dies nicht nur unter antikommunistischen Oppositionellen, sondern auch in den staatlichen Medien. Nach dem politischen Umbruch von 1989 sieht es aus, als hätten alle polnischen Politiker ihr Interesse an der Schlacht von Grunwald verloren. Nun schlägt die Stunde ihrer Kommerzialisierung. Atmo 8: Ritterturnier in Grunwald Erzähler Seit 1998 spielen Freizeitritter aus aller Herren Länder Jahr für Jahr an einem Samstag Mitte Juli die historische Schlacht von 1410 noch einmal nach. Mit 4.000 aktiven Teilnehmern und bis zu 100.000 Zuschauern gehören Schlachtrekonstruktionen von Grunwald-Tannenberg zu den größten Spektakeln dieser Art weltweit. O-Ton (17) Szymon Drej, Sprecher (Übersetzer) Sie kommen sogar aus den Vereinigten Staaten, was mich wundert, aber sie kommen. Einmal hatten wir sogar einen Schwarzen hier, der mit seiner mittelalterlichen Ritterrüstung ebenfalls aus den USA angereist kam und mitkämpfte. Aus Asien kommen sie nicht. Es kommen Weißrussen, natürlich Litauer, Russen, es kommen Deutsche, viele Engländer und viele Franzosen, um hier teilzunehmen. Erzähler ... erläutert Szymon Drej, der Direktor des Grunwald-Museums. O-Ton (19) Szymon Drej, Sprecher (Übersetzer) Natürlich gibt es gewisse Regeln, nach denen die Schlacht geschlagen wird. Es gibt ein Drehbuch für diesen Wettkampf, damit nicht zufällig die Kreuzritter gewinnen. Es gewinnen immer die polnisch-litauischen Truppen. Vielleicht ändert sich das irgendwann. Trotz des Drehbuches kommt es oft vor, dass die Kämpfer während des inszenierten Wettbewerbs plötzlich Feuer fangen und beginnen, sich ernsthaft zu schlagen. Einmal hat hier ein Ritter sogar ein Auge verloren. Danach haben sie sich dann etwas beruhigt. Erzähler Doch ist Grunwald 2010 - 600 Jahre nach der Schlacht - wirklich nur noch ein Spiel ohne Nationalismus, ohne Ideologie und ohne Politik? Die Kunsthistorikerin Maria Poprzecka, Spezialistin für das berühmte Gemälde von Jan Matejko, ist da nicht so sicher: O-Ton (20) Maria Poprzecka, Sprecherin (Übersetzerin) Ich habe mir die Frage gestellt, bis zu welchem Grad dieses Jubiläum und auch das Gemälde von Matejko politisch instrumentalisiert werden. Natürlich, es hat sich alles etwas beruhigt. Aber ich habe bemerkt, wie das Präsidentenehepaar Kaczynski, Gott hab sie selig, das Jahr 2010 zum Jahr des großen Grunwald-Jubiläums ausgerufen hat, und zwar vor dem Hintergrund von Matejkos Bild. Es ist doch immer noch der Hintergrund mit dem höchsten Prestigewert, den man in Polen kennt. 1