COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht ver- wertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen ab- geschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DeutschlandRadio Berlin Literatur Redaktion: Dorothea Westphal ES: 24.11.2009, 19:30 Uhr Mann ohne Ufer Zum 50. Todestag des Hamburger Schriftstellers Hans Henny Jahnn von Michael Marek 1.Sprecher: Erzähler 2.Sprecher: Zitate D e u t s c h l a n d R a d i o, 1 2. N o v e m b e r 2009 Musik 1: Musikcollage Serge Weber "Armut, Reichtum..." Matthias Pintscher Oper "Thomas Chatterton" 2.Sprecher: Armut, Reichtum, Mensch und Tier... O-Ton 2: (Genia Schulz) "Alles, was er tat, war extrem." 2.Sprecher: Trümmer des Gewissens... O-Ton 3: (Hubert Fichte) "Für meine Mutter war Hans Henny Jahnn das Urbild des Perver- sen, des Gewalttätigen." 2.Sprecher: Pastor Ephraim Magnus... O-Ton 4: (Hans Mayer) "Ein gewaltiges, schöpferisches Fließen, das diesen Autor zu einem der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache machen sollte." 2.Sprecher: Der Mensch im Atomzeitalter... O-Ton 5: (Gerd Mattenklott) "Ich glaube, dass er von der Gewalt in einer ambivalenten Weise fasziniert gewesen ist." 2.Sprecher: Fluss ohne Ufer! Musik 1: (Fortsetzung Musikcollage) 1.Sprecher: Hans Henny Jahnn gehört zu den wichtigsten und zugleich unbekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern. Seine expressiven, wuchtigen Texte, ihr antibürgerlicher Gestus haben Kritik und Publikum gleichermaßen verstört - und fasziniert. Bis heute, 50 Jahre nach seinem Tod am 29. November 1959. O-Ton 6: (Hans Mayer) "Ein ganz unbürgerlicher Künstler, der sich nach den Wonnen der bürgerlichen Gewöhnlichkeit verzehrt." 1.Sprecher: Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Hans Mayer: O-Ton 7: (Fortsetzung Mayer) "Sich selbst als Genie spürend und erleidend, dafür jeden Ein- satz wagend, worin alles aufs Spiel gesetzt wird: die eigene Existenz, die der eigenen Familie wie der Freunde. Gleichzeitig aber auf allen Lebensstufen fast süchtig nach Respektabilität - einer durchaus fragwürdigen und von Jahnn auch so verstandenen Art. Ein Außenseiter, der sich unablässig auf bürgerliche Lebenswerte hin zu stilisieren versucht: Ruhm, Funktionen, Ehrenpreise." Musik 8: Musikakzent Serge Weber "Armut, Reichtum...2" 1.Sprecher: Der Hamburger Dichter und Dramatiker war nicht nur ein sprachgewaltiger Autor. Neben seinen literarischen Arbeiten wirkte Jahnn als Orgelbauer und Musikverleger, als Tierzüchter, Hormonforscher und Begründer einer Glaubensgemeinschaft. Dichten und denken, experimentieren und leben gehörten für ihn untrennbar zusammen - mit der Folge... O-Ton 9: (Hans Henny Jahnn) "dass mein Name in Deutschland so gut wie unbekannt geblieben ist, denn ich darf wohl sagen, dass er sogar unterdrückt wur- de." 1.Sprecher: Hans Henny Jahnn: Geboren 1894 im Hamburger Stadtteil Stellingen, Abitur 1914, ein Jahr später Flucht - zusammen mit seinem Freund Gottfried Harms - nach Norwegen, um der drohenden Einberufung zum Ersten Weltkrieg zu entgehen. Dann Rückkehr 1918 und Gründung der heidnischen Glaubens- und Künstlergemeinschaft Ugrino - mit dem Ziel, dem Verfall der Zivilisation durch eine ästhetisch und kultisch vermittelte Lebensform zu begegnen. Mitglied des PEN- Clubs und des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller. 1934, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, Auswanderung auf die dänische Ostseeinsel Bornholm, 1950 Rückkehr nach Hamburg, schließlich Mitbegründer und erster Präsident der Freien Akademie der Künste. O-Ton 10: (Genia Schulz) "Alles, was er tat, war extrem. Es gibt überhaupt nichts, was man sagen kann, das ist irgendwie ausgeglichen", 1.Sprecher: ... resümiert die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Genia Schulz: O-Ton 11: (Fortsetzung Schulz) "Und die Frauen schon gar nicht. Also selbst wenn man beklagt hat, dass er zunehmend aus allen Frauen, die nicht hässlich sind, Mütter macht, dann kann man sagen, auch das ist ein Neid. Wenn man Jahnn gefragt hätte, dann hätte er gesagt: Ich will alles sein. Ich will Pflanze sein und Frau und Mann und irgendetwas dazwischen." Musik 8: Musikakzent Serge Weber "Armut, Reichtum... 2" 1.Sprecher: Als Jugendlicher erklärt sich Hans Henry August Jahn zum weiblich bestimmten Schriftsteller Hans Henny Jahnn. Sein orthographisch sichtbares Coming-Out ist damit vollzogen - ein Skandal für die damalige Zeit: 2.Sprecher: "Warum habt Ihr Euch darauf festgelegt, das Norm zu nennen, wenn ein Mann sein Glied in den Schoß einer Frau einführt? Die Norm gibt es nicht." 1.Sprecher: Der Wechsel in der geschlechtlichen Zuordnung wirkt auch in Jahnns literarischen Texten weiter. Die homoerotische Liebesge- schichte zwischen zwei Männern, dem Musiker Gustav Anias Horn und dem Matrosen Alfred Tutein, bestimmt sein Haupt- und Lebenswerk, den dreiteiligen Romanzyklus "Fluss ohne Ufer". Über 2.000 Seiten ergießt sich dieser gewaltige Erzählstrom - ein ungeheures Buch, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen sucht. Eine Ansammlung von Menschen- und Naturschilderungen, neben skurrilen, grausamen, unheimlichen und anrührenden Episoden ohne jegliches Tabu. O-Ton 12: (Hans Henny Jahnn) "Ich persönlich halte meinen großen Roman "Fluss ohne Ufer" für mein eigentliches Hauptwerk. Ich bin mir völlig darüber klar, dass schon die Form, der Inhalt mir heftige Angriffe bringen werden." Musik 13: Musikakzent Thomas Pintscher "Thomas Chatterton" 1.Sprecher: Der erste Teil, "Das Holzschiff", erzählt eine Kriminalgeschichte auf See: Ein Schiff und seine geheimnisvolle Ladung werden beschrieben. Die Fracht beunruhigt die Mannschaft, es kommt zur Meuterei. Und es geschieht ein Verbrechen: Ellena, die einzige Frau an Bord, wird von Tutein ermordet. Horn, ihr Verlobter, empört sich nicht einmal über die Tat. Er wird schließlich zum Freund, zum Geliebten Tuteins. Erst das Frauenopfer ermöglicht ihre Liebesbeziehung. Am Ende stirbt Tutein. Uwe Schweikert, Herausgeber der Jahnn- Werkausgabe: O-Ton 14: (Uwe Schweikert) "Was für mich eigentlich so der unerträglichste Punkt in der Jahnn-Lektüre war, dass ist dieses hundertseitige Kapitel, wenn Gustav Anias Horn seinen toten Freund einbalsamiert. Das ist die eine Seite, auf der anderen Seite würde ich sagen, das ist natürlich auch wieder eine Qualität, dass er diese Beunruhigung und dieses fast nicht Aushaltbare erreicht. Dass das einer der wunden Punkte und der dunklen Flecken dieser Texte sind." 1.Sprecher: 1915, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, flieht Jahnn mit seinem Jugendfreund Gottfried Harms nach Norwegen. Kon- sequent verweigern sie sich der deutsch-nationalen Kriegsbegeisterung. Ohne Ausbildung und weitgehend mittellos leben die beiden bis 1918 unter erbärmlichen Verhältnissen in der norwegischen Einsamkeit. Dort gehen sie ihrer Leidenschaft nach: der Musik und dem Schreiben: Musik 15: Musikakzent Serge Weber "Norwegischer Tanz" O-Ton 16: (Hans Henny Jahnn) "Ich habe viele Jahre in Norwegen gewohnt, und ich habe Norwegen einmal als meine zweite Heimat bezeichnet. Ich habe in Norwegen, wenn ich so sagen darf, die Natur kennengelernt, denn meine Heimat Stellingen, wo ich geboren wurde, hat alle Eigentümlichkeiten einer Landschaft verloren. Es ist der Wundrand einer Großstadt." Musik 15: Musikakzent Serge Weber "Norwegischer Tanz" 1.Sprecher: Für Jahnn wird Norwegen zur zweiten Heimat: die Stille und die Einsamkeit prägen ihn, die herbe Schönheit der Natur und die nordischen Mythen mit ihren Fabelwesen - ihnen begegnet der Leser in fast allen Werken des Hans Henny Jahnn, zum Beispiel in dem Bauerndrama "Armut, Reichtum, Mensch und Tier". Musik 15: Musikakzent Serge Weber "Norwegischer Tanz" 1.Sprecher: 1920 erhält Jahnn den renommierten Kleist-Preis für sein Erstlingsdrama "Pastor Ephraim Magnus". Es ist die höchste literarische Auszeichnung, die Jahnn je erhalten wird. Das Publikum reagiert verstört auf die blutige Archaik, die Gewalttaten und sexuellen Ungeheuerlichkeiten, die Jahnn in seinem Theaterstück aufhäuft. Musik 13: Musikakzent Thomas Pintscher "Thomas Chatterton" 1.Sprecher: Jakob, eine der Hauptfiguren, will dem weiblichen Körper und seiner Gebäröffnung auf den Grund gehen. Vor Gericht beschreibt der Mörder sein gründliches Ausweiden und Durchwühlen einer toten Frau. Mit dem Hinweis auf Leonardo da Vincis meisterhafte anatomische Studien und Zeichnungen rechtfertigt der Täter sein Vorgehen. Jahnn thematisiert nicht nur das Problem der künstlerischen Wiedergabe von Natur: Wie der Anatom, der einen Leichnam seziert, wie der Schlachter, der einen Tierkadaver ausweidet, entblößt der Schriftsteller mittels Sprache alles Weibliche. Musik 17: Opernausschnitt "Medea" "[Musik] E che? Io son Medea! ... [Musik]" 1.Sprecher: Mord, Blut und Fleisch - auch in seinem Drama "Medea" geht es um Körperlichkeit, um Sexualität und Gewalt. Jahnn erarbeitet eine neue, ungewöhnliche Fassung der antiken Tragödie. Schon seit der ersten Schullektüre beschäftigt ihn die griechische Medea-Sage. Mit seiner 1926 veröffentlichten Version entführt Jahnn den Leser in eine archaische Welt - fern unserer Kultur der Aufklä- rung. Im Unterschied zum Mythos ist seine Protagonistin nicht nur alt und grausam - Medea ist eine Schwarze, eine Afrikane- rin: O-Ton 18: (Hans Mayer) "Der Konflikt der Zivilisation steht im Mittelpunkt und nicht eine Psychologie der Eifersucht. Es ist bereits ein Theater der Grausamkeit in einem heutigen Sinne: eine moderne Tragödie!" 1.Sprecher: Ihre Gabe, dem Ehemann Jason ewige Jugend zu verleihen, wendet sich gegen Medea. Denn der Gatte verliert das Interesse an der alternden Medea. Ausgestoßen und von Jason verraten, übt Medea grausame Rache, mordet selbst die geliebten Söhne. Genia Schulz: O-Ton 19: (Genia Schulz) "Natürlich ist das Konzept unmöglich für die Bühne. Sie muss fett, hässlich, eklig förmlich und schwarz sein. Damit werden ausschließlich negative Zuschreibungen vorgenommen. Dieses Frauenmodell ist eine Männerphantasie, die sicherlich auch etwas von Jahnn selber preisgibt." Musik 20: Musikakzent Szymon Brzoska "The coffins" 1.Sprecher: Homoerotik und Zivilisationskritik, Jugend und Hässlichkeit, Inzest, Eifersucht und Tod - das sind die immer wiederkehrenden Themen seines Werkes. Für Jahnn erschließt sich der Mensch erst durch den Körper: die Wunde als Weg in den Leib. Das Töten, das Aufbrechen und Verletzen von Körpern, das Eindringen in ihr In- neres finden sich als Erzählstränge in Jahnns Dramen, Romanen und Essays. Andererseits hat sich Jahnn zeitlebens als entschiedener Pazifist und Gegner jeder Form von Gewalt verstanden. Irritierend bleibt die Entschiedenheit, mit der er Gewalt ablehnte, in sei- nen Texten aber Gewaltdarstellungen entwarf - ein Widerspruch, den der Berliner Literaturhistoriker Gert Mattenklott so erklärt: O-Ton 21: (Gert Mattenklott) "Ich glaube, dass er von der Gewalt in einer ambivalenten Weise fasziniert gewesen ist. Man kann ja in seinen eher politischen Optionen und Plädoyers in die fünfziger Jahre hinein sehen: eine sehr emphatische Friedensliebe. Und doch ist er ja, literarisch zumindest, wenn nicht auch biographisch von Gewaltanwendungen angezogen gewesen. Und ich glaube, dass bei ihm Gewalt gegen sich selbst wohl auch eine Rolle gespielt hat. Selbstverletzungsphantasien, die im Zusammenhang mit seinen Vermischungsträumen ja öfter auftauchen: die Haut ritzen, ins eigene Fleisch schneiden, um Blut auszutauschen, war für ihn wichtig." 1.Sprecher: Zu den enthusiastischen Fürsprechern Jahnns gehörten zahlreiche Schriftstellerkollegen. Darunter Oskar Loerke, Alfred Döblin, Wolfgang Koeppen, Botho Strauß und Thomas Mann: 2.Sprecher (Thomas Mann): "Mit seinem literarischen Sturm- und Drangtum mag er Anstoß erregen bei anderen, nicht bei mir, dem, als so bürgerlich er auch verschrien wird, das künstlerisch Kühne immer ein Hauptspaß ist." 1.Sprecher: In den zwanziger Jahren kämpft Jahnn gegen den Paragraphen 218, er spricht sich gegen die Todesstrafe aus, gegen Rassismus und Nationalismus. Und er ist ein Gegner der Nationalsozialisten: 2.Sprecher: "Der Feind steht rechts", 1.Sprecher: Mit diesem Fazit schließt Jahnn 1931 eine Rede vor der linken "radikal-demokratischen Partei", die zwischen den beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD vermitteln will: 2.Sprecher: "Ich bin ein sehr großer Antimilitarist und bin wegen dieser Ge-sinnung seit meinem 19. Lebensjahr in tödlicher Gefahr gewesen. Dass ich gegen Hitler eingestellt war, bedarf keines Beweises; aber ich war und bin doch kein Gegner Deutsch- lands, sondern selbst ein Deutscher." Musik 15: Musikakzent Serge Weber "Norwegischer Tanz" 1.Sprecher: Kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung durch- suchen Schutzpolizisten Jahnns Hamburger Wohnung. Er wird in der Öffentlichkeit angegriffen und auf Flugblättern als "Kulturbolschewist", Jude und Homosexueller denunziert. Jahnn verlässt Deutschland und lässt sich auf der dänischen Insel Bornholm nieder. Er kehrt mehrfach für Besuche nach Deutschland zurück - in der illusionären Hoffnung, weiterhin in Deutschland publizieren zu dürfen. Uwe Schweikert: O-Ton 22: (Uwe Schweikert) "Ich habe das mal so bezeichnet, dass Jahnn ein innerer Emigrant im äußeren Exil war. Er war bis 1938 Mitglied der Reichsschrifttumskammer. Er war bis zum selben Jahr auch deut- scher Staatsangehöriger. Danach ist sein Pass nicht verlängert worden. Aber das war ganz legitim, weil er seinen ständigen Wohnsitz im Ausland hatte, galt er rechtlich als ein Auslands- deutscher. Er konnte auch 1941 noch ins Reich reisen." 1.Sprecher: Während seines Exils auf Bornholm lebt Jahnn mit seiner jüdisch-ungarischen Geliebten Judith Kárász zusammen. Seine Texte bleiben den Nationalsozialisten fremd, seine Romanhelden sind eigensinnig, sie ordnen sich nicht unter und lassen sich für Kollektiv und Volksgemeinschaft nicht vereinnahmen. Musik 23: Szymon Brzoska "Praying" 1.Sprecher: Nach seiner Rückkehr aus Bornholm 1946 zeigt sich Jahnn als engagierter Beobachter des literarischen und gesellschaftlichen Le-bens. "Zwischen den Stühlen" heißt eine 1951 von ihm verfasste Polemik, in der sich seine eigene Situation im letzten Le-bensjahrzehnt widerspiegelt: Jahnn klemmt sich zwischen die politischen Lager, passt in keine Schublade, steckt aber auch im Widerspruch zwischen literarischem Schaffen und öffentlicher Wirkungslosigkeit. Jahnn will nicht mehr dem Dunstkreis einer subkulturellen Szene zugeordnet werden. Er will Öffentlichkeit, er will literarische Reputation und materielle Anerkennung. O-Ton 24: (Hubert Fichte) "Jahnn hatte große Schwierigkeiten mit der jungen Bundesre- publik gehabt", 1.Sprecher: Der Schriftsteller Hubert Fichte war Ende der vierziger, Anfang der fünfzige Jahre als Jugendlicher häufig zu Gast bei Jahnn: O-Ton 25: (Fortsetzung Fichte) "die zum einen daher rührten, dass er für das, was er als Gei- stigkeit, als Künstlertum verstand, in der Bundesrepublik überhaupt keinen Platz sah, wo alles nur auf wirtschaftlichen Wiederaufbau hinausging, dass er grundsätzlich den Kapitalismus abgelehnt hat und, seit der Giftgas-Diskussion am Ende der zwanziger Jahre, immer die Perspektive der Apokalypse durch die europäische Menschheit herbeigeführt hat, im Hinterkopf hatte, die dann direkt überging in die Anti-Atombewegung. Und zum anderen die ganz schlichte Tatsache, dass er, der immer sehr den individuellen Menschen propagiert hat, zu sehen, vor Augen hatte, dass es, wie er in seinen Brief schrieb, nicht selten vorkam, er dann in der jungen Bundesrepublik mit Menschen in Behörden zu tun hatte, die vom Nationalsozialismus auf merkwürdige Weise zu Christen gewandelt worden sind. Und es für ihn überhaupt keinen Bruch zwischen der Nazi-Zeit und der jungen Bundesrepublik gab, sondern eine Kontinuität auf der individuellen Ebene." Musik 23: Szymon Brzoska "Praying" 1.Sprecher: An der Seite von Gustav Heinemann, Heinrich Böll und Erich Kästner unterstützt Jahnn die Initiative "Kampf dem Atomtod". 1958 spricht er auf dem Hamburger Rathausmarkt zu 150.000 Demonstranten: 2.Sprecher: "Ein ungeheures Anwachsen der Bürokratien begleitet den Vorgang allmählicher Sinnenschrumpfung. Verameisung, Kollektivierung, Gleichrichtung, Konformismus schaffen kein Mitleid, keine Gerechtigkeit und keine bekömmliche Vernunft. Nicht die atomaren Kräfte an sich werden die Ursache für künftige Katastrophen sein, sondern die unzureichende Herzensbildung einer auf Vorteil und Macht bedachten Rasse." 1.Sprecher: Jahnn verwirft seine Epoche, weil sie das Leben nicht aner- kennt, sondern zerstört und vernichtet: durch Tierversuche und Leib-feindlichkeit, Massenmord und Krieg, Radioaktivität und Technik-Verherrlichung: 2.Sprecher: "Die thermonuklearen Ungeheuer haben sich inzwischen, ganz nach Wunsch ihrer Urheber, im rasenden Tempo weiter entwickelt. Wohin man auch blickt, überall trifft man auf Lebens- verkümmerungen. Wissenschaftler, Staatsleute und Militärs sind nicht ausgenommen." 1.Sprecher: Immer wieder ist es die Ambivalenz des Jahnnschen Naturbegriffes, die in seinen Reden und Essays hervortritt: Einerseits verkörpert die Natur das Lebendige und Schöne, das der Mensch zerstört. Andererseits birgt die Natur das Erschrec- kende, das Unbegreifliche, das Vernichtende. Jahnns Eintreten für Pflanze, Mensch und Tier macht ihn scheinbar zum Propheten des Ökologischen - ein Irrtum, wie Uwe Schweikert hervorhebt: O-Ton 26: (Uwe Schweikert) "Ja, den grünen Jahnn - ich halte das für ein Missverständnis. Schlicht und einfach schon deswegen, weil die Grünen eine prote-stantische Bewegung sind und Jahnn eigentlich mit dem Protestan-tismus wenig am Hut hatte. Also, das würde ich einfach denken, ist eine ahistorische Vereinnahmung. Sicher hat er bestimmte Dinge akzentuiert, die heute wieder ins allgemeine Bewusstsein treten. Zum Beispiel Engagement für Tiere. Und wenn etwas da ist, mit dem man sich beschäftigen kann, dann sind es die Widersprüche oder die Summe der Widersprüche auch." Musik 1: Musikcollage Serge Weber "Armut, Reichtum..." Matthias Pintscher Oper "Thomas Chatterton" 1.Sprecher: Dass sein literarisches Werk mit "Fluss ohne Ufer" beendet ist, wird Anfang der fünfziger Jahre deutlich: Jahnn zieht sich von der poetischen Bühne zurück. In dieses Schaffensloch fällt sein politisch-gesellschaftliches Engagement. Gert Mattenklott erklärt diesen "Genrewechsel" in erster Linie mit den eigentümlichen Gesetzen des Literaturbetriebes: O-Ton 27: (Gert Mattenklott) "Dass er dann später von den vierziger Jahren an stärker essayistisch schreibt, in den Fünfzigern erst recht, das hat wieder denselben Grund, dass er sah, dass die eher lockere Form des Essays, dass er mit Form eher eine größeres Publikum erreichen konnte. Das ist auch eine zeittypische Bewegung ge- wesen. Jahnn hat ja auch Pamphlete und alles Mögliche in dem Zusammenhang geschrieben, die dann plötzlich einen literarischen und Medienmarkt gehabt haben." 2.Sprecher: "Die Tragödie des Genies besteht darin, dass es nicht weniger ge-ben kann als in ihm ist. Wir müssen durch die Mauer aus abgelagertem Intellekt. Mögen drei oder vier Leser übrig bleiben, die Welt der Andern ist ja pleite." 1.Sprecher: Jahnn träumt vom künstlerischen Welterfolg. Doch der bleibt ihm versagt. Seine Stücke werden nicht in den Theatern gespielt. Von seinem Hauptwerk, "Die Niederschrift des Anias Horn", werden nicht einmal 2.000 Buckexemplare verkauft. Beim zweiten Band von "Fluss ohne Ufer" halbiert sich selbst dieses magere Ergebnis. Ein Debakel. Die höchste Ehrung, die ihm in dieser Zeit zuteil wird, ist 1956 der Lessing-Preis seiner Heimatstadt. Hier, in der Freien und Hansestadt, trägt er entscheidend mit bei zur Gründung der Freien Akademie der Künste. Jahnn wird als ihr Präsident gewählt und zum Generalsekretär des deutschen PEN-Zentrums in Düsseldorf er- nannt. O-Ton 28: Herbert Jäger "Ich glaube, dass das politische Interesse immer sehr von seiner Person ausging, ihren Anlass und Ausgangspunkt in ihrem eigenen Schicksal hatte und es kein versachlichtes Interesse an politi- schen Fragen gab, auch an der Atomfrage letzten Endes nicht." 1.Sprecher: Der Strafrechtler und Kriminologe Herbert Jäger war mit der Familie Jahnn eng befreundet: O-Ton 29: (Fortsetzung Jäger) "Aber ich glaube, dass Persönliche darf man nicht mit dem Privaten identifizieren. Ich denke, es war eine Angelegenheit, über die augenblickliche persönlich-privaten Befindlichkeiten hinaus gehenden Ängste, Phantasien, aber auch Obsessionen, die etwas sehr persönliches sind. Und insofern wird man ihn nie als einen rein objektivierenden Gesprächspartner haben erleben können, sondern doch immer als einen, der immer von momentanen Emotionen auch ausging und von Erlebnissen, die er gehabt hat, etwa in den Auseinandersetzungen mit der Stadt Hamburg oder auch über Hamburg hinaus. Er ist ja dadurch, dass er sehr oft in der DDR war, zunächst in der sowjetischen Zone war, angegriffen worden. Er ist ja sozusagen jemand gewesen, der diese Zweiteilung nicht in sein Leben hat eindringen lassen und mit Schriftstellern und Politikern der östlichen Seite in Kontakt gewesen ist. Und dann die Reaktionen erlebt hat, die dann auf ihn erfolgt sind. Massive Angriffe, auch das taucht in den Briefen auf." 1.Sprecher: Heute fasziniert Jahnn gerade durch die Vielzahl seiner rast- losen Aktivitäten. Und natürlich durch seine einzigartigen Texte, die immer wieder um ganz wenige Themen und Grundüberzeugungen ihres Verfassers kreisen. O-Ton 30: (Ulrich Bitz) "Was mich an diesem Autor immer gereizt hat, war der schiere Aberwitz, wenn man sich vor Augen führt: Jemanden zu haben, der geschrieben hat, Unmengen geschrieben hat seit seiner frühesten Jugend", 1.Sprecher: ... der Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Jahnn-Wer- kausgabe Ulrich Bitz: O-Ton 31: (Fortsetzung Bitz) "jemanden, der sich als Autodidakt eingearbeitet hat in das Gebiet Orgelbau; der sich auseinandergesetzt hat auf eine ihm eigentümliche Art mit der Baukunst; der als Verleger versucht hat, mit Erfolg, Werke alter Orgelmeister zu edieren, dann ist die Summe dieser Aktivitäten das Rätsel, das damit gestellt ist, der Impuls, um an dem Autor weiterzuarbeiten. Weil: Das Disparate war das Herausfordernde gewesen." 1.Sprecher: 1953 entsteht Jahnns Novelle "Die Nacht aus Blei". Sie gehört zu seinen letzten schriftstellerischen Arbeiten. Das Anstößige des Textes liegt in seiner Thematik - eine Mischung aus Sexualität, Gewalt und Tod. Jahnn versucht, den verborgenen homosexuellen Inhalt mittels einer vieldeutigen sprachlichen Metaphorik aufzulösen. Willi Weismann, Jahnns Verleger, bittet seinen Autor vor der Veröffentlichung... 2.Sprecher (Willi Weismann): "wenn irgend möglich Stellen zu vermeiden, die als Päderastie, Homosexualität oder ähnliche angebliche Perversionen ausgelegt werden können". 1.Sprecher: Doch das schmale, 118 Seiten umfassende Buch bleibt so unbekannt, dass daran kaum jemand Anstoß nimmt. Von der literarischen Öffentlichkeit wird es nicht zur Kenntnis genommen. Ganze zwei Rezensionen erscheinen, der Verkauf ist entsprechend gering. Musik 23: Szymon Brzoska "Praying" 1.Sprecher: Die surrealen Geschehnisse in der "Nacht aus Blei", die menschenleere, lichterlose Stadt, nicht zuletzt die dunkle Stimmung der Geschichte kreisen um das Problem der Identität - und den Verlust der Erinnerung. Matthieu, die Hauptfigur, hat keine Geschichte. Man erfährt weder, woher er kommt, noch wer er ist. Hören wir Hans Henny Jahnn "Die Nacht aus Blei": O-Ton 32: (Hans Henny Jahnn) "Ich verlasse dich jetzt. Du musst alleine weitergehen. Du sollst diese Stadt, die du nicht erkennst, erforschen. Matthieu, der den Kopf gesenkt gehalten hatte, blickte auf. Er erkannte dies: dass es Nacht war - ein schwarzer Himmel ohne Sterne -; dass es Häuser gab, gepflasterte Straßen -; dass er an einer Ecke stand, wo die Fliesen unter seinen Füßen aus zwei Richtungen zusammentrafen. Die Häuserfronten waren angestrahlt, erschienen in der gleichmäßigen Farbe des Lichts, nur von Schatten übergossen oder durch Schmutz getrübt. In der Höhe verloren sich die Gebäude im Schwarz des Himmels, unbegrenzt. Und alle Türen und Fenster waren schwarz, als wären es Löcher vor dem Nichts." 1.Sprecher: Jahnns literarisches Niveau ist heute zumindest umstritten. Seine Versuche, Leben und Literatur zu entgrenzen, seine archaische Formensprache und Antimodernität waren für die großen literarischen Strömungen des 20. Jahrhunderts nicht stilbildend. Für die Neoklassizisten der konservativen Revolution war Jahnn zu esoterisch - und zu pazifistisch; für den Marxismus zu eigensinnig. O-Ton 33: (Genia Schulz) "Dann sind wir eigentlich schon im Zentrum von Jahnn, der eben ein Unikat ist, was man so schnell nicht vergleichen kann. Mit wem denn? Und womit denn? Also, ich glaube auch, das ist ganz wichtig, wenn man bedenkt, das ist eine Randfigur geblieben, und ich würde annehmen, sie wird's bleiben. Und gerade dadurch wird sie erhalten bleiben als Randfigur. Eine Figur, die bestimmte Tabus auch bricht in den Texten, wird am Rand bleiben und genau da eben weiter wirken." 1.Sprecher: Wer sich an seinem Werk versucht, der wird von Jahnn ebenso zurückgestoßen wie fasziniert sein. Seine Sprache ist alles andere als schwerelos. Lustig wird es nie und humorvoll erst recht nicht. Wie aber kann man über Leben und Werk des Hans Henny Jahnn angemessen sprechen? Soll man schweigen über seine literarischen Fiktionen, seine sexuellen Obsessionen und seine Poetik des Physischen? Oder brauchen wir für die Beschäftigung mit Jahnn eine andere, eine neue Sprache? Gert Mattenklott: O-Ton 34: (Gert Mattenklott) "Ich glaube, dass wir vor allem eine andere Sprache brauchen, als Jahnn sie selbst gesprochen hat. Und dass Jahnn heute zu lesen nicht heißen kann, ihn den Lesern nahe zu bringen, wie das generell eine unglückliche Vorstellung von literarischen Mittlern und von Vermittlungsagenturen ist. Was nötig ist und mit Liebe sich verbinden lässt, ist ein kritisches Verhältnis zu diesem Autor. Und was die Kritik an Unterscheidungen betrifft an diesem Werk und an Distanzierungen gegenüber der Sprache oder gegenüber den Mythologien, das muss die Liebe nicht unbedingt mindern. Das kann ja auch Liebe sein zu etwas Anderem und Fremden, das man als Fremd auch weiterhin so missen will und sich nicht unbedingt einverleiben muss." 1.Sprecher: Am 29. November 1959 stirbt Jahnn in einem Hamburger Krankenhaus. Da er nicht krankenversichert war, stiftet die Stadt Hamburg 1.000 D-Mark für die letzten Behandlungskosten. Vor seinem Wohnhaus im Hirschpark wird ein Gedenkstein errichtet - ein Findling von der Insel Bornholm. O-Ton 35: (Hans Henny Jahnn) "Ich bin der Meinung, dass es so etwas wie Dichten gar nicht gibt. Der Mensch lebt und wenn er nicht lebt, kann er auch nicht dichten. Es ist ja bekannt, dass ich wegen meiner Unerschrockenheit, meiner Offenheit, wegen meiner Unsitt- lichkeit, wegen meiner Krassheit angegriffen worden bin. In Wirklichkeit bemühe ich mich, Mitleidig und sogar gütig zu sein. Aber es scheint mir notwendig, dass ich meine Er- kenntnisse ausspreche, die ich die Anschauung gewonnen habe, dass der Mensch sich bessern muss, wenn er einer zukünftigen Katastrophe noch entgehen will." Musik 1: Musikcollage Serge Weber "Armut, Reichtum..." Matthias Pintscher Oper "Thomas Chatterton" 28 2 38 19