Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, den 13. November 2010, 11.05 ? 12.00 Uhr Europas Gaumen ? Die Markthallen von Rungis mit Reportagen von Hans Woller Moderation: Ursula Welter Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar ? Les visages ... .. "Wir arbeiten nicht, wir amüsieren uns. Es ist das Glück schlechthin !" Die Markthallen von Paris sind längst vor die Tore der Stadt gezogen. High-Tech und Hygienevorschriften beherrschen den Handel und doch ist da bis heute ein gutes Stück Seele zu spüren, "wir arbeiten nicht, wir amüsieren uns !". Willkommen zu den "Gesichtern Europas" aus den Markthallen von Rungis, mit Reportagen von Hans Woller. Am Mikrofon ist Ursula Welter. Eine Stadt in der Stadt. "Rungis ? Marché International" - 6 Kilometer Luftlinie von der Pariser Stadtgrenze entfernt. Ein Markt, nicht beschaulich, dafür gewaltig, 250 Hektar groß, größer als das Fürstentum Monaco, umgeben von der Südautobahn, mehreren Zubringern und dem Großflughafen Orly. Wer aufs Gelände will zahlt Mautgebühren, 7 Euro. Der Arbeitstag in Rungis beginnt mitten in der Nacht. Ab 0 Uhr kann gekauft werden in der 300 Meter langen Fischhalle A 4 . Jährlich wechseln hier 150 000 Tonnen Fisch und Meeresfrüchte aus aller Welt den Besitzer. Der Kleinste unter den Großhändlern ist Philippe Poulain, bekannt für besonders hochwertige Qualität . Sein Arbeitstag beginnt um 23 Uhr, bis halb 2 ist bei ihm alles aufgebaut, liegt die fangfrische Ware bereit, die ersten Kunden können kommen: Reportage 1 Philippe Poulain, um die Augen deutliche Spuren von Schlafmangel, zieht Zettelblock und Kugelschreiber aus der Tasche seiner weissen Weste. Er preist das Prachtstück seines Angebots dieser Nacht, einen Heilbutt, der gut 20 Kilo schwer ist. Er sei wunderbar und dick, wie er sein müsse - eine halbe Stunde später hat bereits ein Käufer zugeschlagen, ein schneller Händedruck schließt das Kaufritual ab. "Wir haben vor allem Ware von kleinen Fischkuttern, wollen Fisch, der mit der Leine gefangen wird. Wir verkaufen kaum Importware, sind spezialisiert auf Küstenfischerei. Zur Zeit gibt es wunderschönen Seebarsch, das ist jetzt die Jahreszeit, auch die Daurade ist großartig. Die Auswahl heute ist schon ganz schön , aber es hat am Wochenende kräftig Sturm gegeben und wir haben doch deutlich weniger Ware hier, als üblich. " Der Chef und seine drei Mitarbeiter sind ständig in Bewegung, meist über die mit Eis und Fisch gefüllten Styroporkisten gebeugt, die sie ständig umschichten. Beim Gehen ist Vorsicht geboten, denn der Boden der grell erleuchteten Halle ist durch schmelzendes Eis glitschig geworden. Die ersten Kunden in der kühl-hygienischen Atmosphäre, in der die Farbe Weiss dominiert , sind meist Restaurantbesitzer, die Fische in ganz bestimmten Grössen suchen - Seehecht, Schollen oder Rochen. Dann kommen die Fischhändler von den Märkten der Großregion Paris, zu Wochenbeginn auch einige Einkäufer aus Luxemburg und Belgien "Man muss ein bisschen Psychologe sein im Umgang mit den Kunden und an ihrer Stelle denken, um zu kapieren, was sie wirklich kaufen wollen. Man muss antizipieren, schon vorher wissen , was sie kaufen möchten, das ist wichtig, da bin ich mir sicher. Wenn man den Kunden nicht gleich festhalten kann, dann wird es hart. Es muss schnell gehen, sehr, sehr schnell. " In rasender Geschwindigkeit schreibt er Codenummern der Kunden , Gewicht, Preise und die Namen von Fischsorten auf hellgrüne Zettel , die er später der Buchhalterin weiterreichen wird, markiert mit einem schwarzen Filzstift reihenweise Styroporkisten, die von Gehilfen umgehend zu Stapeln gehäuft und ins Lager auf der Seite der Laderampe gezogen werden. An guten Tagen verkauft Philippe Poulain 2 Tonnen. "Der Fisch fasziniert mich. Ich mag das , wenn ich sehe , wie die Lieferungen ankommen, diese schönen Stücke , manche zwischen 10 und 20 Kilo schwer, die kleinen Fische von 2- 300 Gramm und die Vielfalt , die es hier gibt , nicht zu vergessen die Farben, das ist wirklich phantastisch. Ich finde, wir haben einen wunderbaren Beruf." Vor ihm , im Hauptgang, stauen sich Gabelstapler und Lastkarren jeder Grösse, manchmal geht minutenlang gar nichts mehr. Die Arbeiter in langen, weissen Gummischürzen und in Stiefeln wuchten Kisten und triefende Säcke mit Mies- oder Jakobsmuscheln auf die vollbepackten Karren der Kunden. Nur knapp drei Stunden dauert der eigentliche Verkauf - die Minuten sind gezählt, um nach dem Besten zu suchen " Das natürliche Glänzen des Fisches ist wichtig, wir nennen das den Schlick. Es muss eine Schicht davon drauf sein, das ist natürlich. Und wenn man noch weitergehen will , dann schaut man hinter die Kiemen, da muss es möglichst rot sein , sehen sie, ein richtig helles Rot ? ein wunderbare Ware. " Philippe Poulain , Anfang 50, hat die gegerbte Gesichtshaut von einem , der 30 Jahre lang, Sommer wie Winter, auf den Märkten der Pariser Region Fisch verkauft hat. Seit Ende der 70-er Jahre war er regelmässig als Einkäufer nach Rungis gekommen, als in den Fischhallen noch 150 Großhändler tätig waren: "Damals herrschte hier noch der echte Geist von Rungis, heute sind wir nur noch 20 Großhändler . Diese besondere Stimmung von Rungis ist ein wenig verloren gegangen. Jetzt geht es nur noch um den Kommerz. Man hat die Halle neu gebaut, sie ist sehr schön, aber heute ist der Großmarkt eben extrem strukturiert , jeder ist an seinem Platz , alles ist kühl und sachlich geworden, früher war die Stimmung euphorisch , das war das echte Rungis / Damals war auch die Arbeit , das Verkaufen noch einfacher und weil es einfacher war, waren die Leute lockerer, lustiger. Heute , wenn der Handel los geht, bleibt jeder in seinem Käfig und man muss arbeiten, arbeiten, arbeiten . Der Verkauf ist ein permanenter Stress, erst gegen 5 Uhr, wenn der Handel vorbei ist, können wir ein wenig entspannen. " Philippe Poulain , noch relativ neu im Job als Verkäufer auf dem Markt von Rungis, weiss , dass er ein Risiko eingegangen ist, als er vor 2 Jahren im Fischgroßhandel eingestiegen ist und kann die Probleme, die der Fischfang derzeit hat , nicht einfach beiseiteschieben: " Das alles ist nicht lustig. Man sieht ganz klar, dass weniger Tonnen reinkommen. Es gibt weniger Großhändler, aber eben auch viel weniger Fisch. Wenn wir heute hier noch 150 wären, gäbe es mit Sicherheit nicht genügend Fisch für alle . Man muss ganz klar sehen: die Fischzucht nimmt heute enorme Ausmasse an bei bestimmten Sorten. Ich kritisiere das nicht, denn eines Tages werden wir, trotz allem, gezwungen sein, noch stärker darauf zurückzugreifen." Gegen 6 Uhr laden Kleinlaster, die um die Fischhalle schwirren, wie Bienen um den Stock, die Warenreste ein . Der Asphalt vor der Halle ist bedeckt mit Styroporbrocken und - deckeln , zerschmetterte Holzpaletten liegen herum, zwei Gerippe von mächtigen Lachsen , letzte Eishügel schmelzen vor sich hin . Als die Reinigungstrupps an die Arbeit gehen, ist der Tag angebrochen - das blaue Neonlicht am Giebel der Fischhalle ist erloschen . Jetzt kommt die Stunde der Möwen, die sich mit den Tauben um letzte Bissen streiten - Philippe Poulain wird versuchen, bis Anfang des Nachmittags zu schlafen. Ernst Robert Curtius. Die Französische Kultur. Eine Einführung. Berlin, Leipzig 1930: Literatur 1: "Die französische Zivilisationsidee ist eng verknüpft mit dem Verhältnis der Franzosen zur französischen Erde. Man hat von ihr gesagt, sie sei ein Produkt des Bodens wie der Wein. Sie weist zurück auf die Urbarmachung und Bebauung der Erde, auf die Humanisierung der Natur. Aus dieser Wurzel nährt sich aber auch das Gefühl des Franzosen für sein Land. Das französische Nationalgefühl ist von Anfang an gekennzeichnet durch die Liebe zum heimischen Boden. Es ist die Anhänglichkeit eines seßhaften Volkes an seine Erde." Rungis. Hier laufen die Fäden zusammen. Hier kreuzen sich die Wege der 20tausend Lastwagen, die täglich aus allen Himmelsrichtungen angefahren kommen. Sattelschlepper aus Litauen und Deutschland, aus Italien und Belgien , Holland, Großbritannien, der Türkei. Das Marktvolk, das sind fast 30 000 Menschen täglich: das ist der Einzelhändler, der Metzger, der Einkäufer der Supermarktkette, der LKW-Fahrer, der Käsehersteller. Das sind Laufburschen, Bistroangestellte, Mitarbeiter der Reiniung von Rungis, der Autowerkstatt , der Bankfilialen , des Reisebüros, der martkeigenen Berufsschule ? ein Mikrokosmos. Seit fast 40 Jahren ist Rungis auch die Welt des Deutschen Heribert Bachmann. In mehreren Nächten pro Woche geht Bachmann auf die Suche nach dem Besten vom Besten. Er kauft ein, für Feinkostgeschäfte und ?abteilungen, in München, London, Berlin , Hongkong. Reportage 2: "Ok , dann fahren wir gleich mal zu dem hin . Merci, au revoir. « Frisch rasiert, randlose Brille, wetterfeste Schirmmütze, das gute Tuch des Anzugs unter einem weissen Kittel verborgen, - Heribert Bachmann kommt gerade aus der Geflügelhalle, wo er nach der Qualität der Kapaune und Bressehühner geschaut hat. Nach einem schnellen Cafe zieht es ihn noch zum Obst, nicht zu einem Großhändler , sondern zu Anbauern aus der Region Paris, die ihre eigene Halle haben, zu einem, der Äpfel und Birnen präsentiert , als wären sie kostbarster Schmuck: "Das ist wirklich der Rolls Royce für Äpfel, Birnen , das ist ein Anbauer, der das seit Generationen macht. Die ganze Anlage bei ihm ist genau ausgerechnet, dass das nicht Überproduktion ist, mit dem Wassergehalt und so weiter , dass das also richtig ist, die brauchen nicht sprenkeln. Wir kaufen jetzt hier schon seit Jahren . Diese Ware geht bis nach Hongkong, die geht per Luftfracht nach Hongkong, weil es wirklich einmalig ist vom Geschmack." Der bellende Hund , das ist Heribert Bachmanns Handy- Klingelton . Ein Lieferant bestätigt, dass der Fang, den der Einkäufer zu Beginn der Nacht in der Fischhalle gemacht hat, bereits auf dem Weg nach Deutschland ist. "Im Augenblick gibt es diese Bärenkrebse, die jetzt lebend da sind , die in großen Mengen da sind. Da kann man natürlich schnell Aktionen fahren mit solchen Waren und das ist auch hier einmalig in Paris, weil da die meisten von solchen Waren gebraucht werden. Hier findet man immer wieder Ware, die man sonst in Frankfurt, London oder in den anderen Städten nicht hat. " Der Endfünfziger bewegt sich durch die riesige Gemüsehalle, wo viele per Fahrrad unterwegs sind, wie ein Fisch im Wasser, ist auch nach all den Jahren noch empfänglich für die ganz besondere Atmosphäre des Marktes: "Diese Hektik des Transportes schon mal. Und es muss ja alles schnell gehen. Es ist zum grössten Teil Frischware, wenn man lebende Hummer hat oder Austern , das muss ja in der kürzesten Zeit umgeschlagen werden. Das ist ein Zeitdruck, der da ist, weil es gibt ja Produkte wie Walderdbeeren, sehr empfindliche Produkte, innerhalb von Stunden können die sich verändern . / Man kann alles anlangen, kann alles probieren, hat immer Messer dabei, schneidet alles an , man probiert vor Ort , es ist halt ein anderes Verhältnis, was man hier beim Einkauf hat , das kennt man sonst nicht so . " Noch ist die Einkaufstour für Heribert Bachmann nicht zu Ende. Bei einem Obstgroßhändler muss er noch vorbei , wo man , wie er sagt, die beste "Flugware" findet: "Hier schau ich mir meistens diese Ware aus San Francisco an , Kirschen , und was auch noch interessant ist, das sind die Himbeeren , die da kommen jetzt aus Portugal. Da muss man natürlich aufpassen, desto länger eine Himbeere jetzt unterwegs ist, desto mehr ist sie behandelt. Da haben wir die Kirschen aus Chile . Da sieht man auch , international machen sich die Leute da Konkurrenz , also Chilekirschen und USA ?Kirschen. " Immer wieder schüttelt der Luxuseinkäufer hier jemandem die Hand. Kontakte sind alles, wenn man das Beste vom Besten haben und nichts verpassen möchte "Mit der Zeit kennt man sich. Ist natürlich auch so: wenn einer was besonderes hat, der ruft uns an , sagt: kommt vorbei, ich hab das und das , wir sind schon ein bisschen vorinformiert , wenn Ware kommt . Mit der Zeit wissen wir auch , in dem Moment müsste langsam die und die Ware auf den Markt kommen , da passen wir dann sehr auf, dass wir als erste am Ball sind . Wenn jetzt Ware eng wird, wenn die ersten Trüffel kommen oder auch bei Steinpilzen, da kommen vielleicht nur 10 oder 20 Kisten, da sehn wir dann schon zu, dass wir die bekommen. " Rungis ist für Heribert Bachmann auch eine unerlässliche Informationsbörse. Immer wieder findet er hier Hersteller, die ihn faszinieren und von denen er seine Kunden dann, wenn möglich, direkt beliefern lässt. Im nächsten Monat wird er in Westfrankreich einen besuchen, der Ziegenkäse nach einer ganz neuen Methode macht. Seine Augen glänzen jetzt schon voller Erwartung. "Ich bin immer noch passioniert von der Ware , wenn ich irgendwo ein neues Produkt oder ein Produkt in einer Topkondition vorfinde, das macht mir einfach Spass. Das ist ja genau so , wie wenn man einen gedeckten Tisch hat: das Auge muss stimmen, das muss richtig Geruch haben , das macht einfach Spass. Das hab ich hier gelernt, als ich nach Paris kam und das ist irgendwie Teil meines Lebens geworden. " Literatur 2: "Die Seele Frankreichs weiß nichts von Wandertrieb und Fernsehnsucht. Sie ist gebunden an den altererbten Boden und sie ist ihm verbunden in bäuerlichem Schollenbewußtsein. Der Franzose liebt in seinem Lande die nährende, bebaute Erde. ... Die Erdreligion ist die uralte französische Bauernreligion. Das Naturgefühl der Franzosen ist mehr Erdfrömmigkeit des Landarbeiters und Gärtners als Drang zu den elementaren Kräften, die der germanische Mensch in der Natur sucht. "Der Mensch sozialisiert die Natur", sagt Comte. Das ist französisch gedacht. " Charles de Gaulle hat die entscheidende Frage gestellt: Wie soll man ein Land regieren, in dem es 360 Käsesorten gibt ? Sophie Dessailly behauptet sich in dieser Welt der Käsevielfalt, einer Welt, die von Männern beherrscht wird . Sophie Dessailly ist also eine Ausnahme hier in Rungis. Seit 8 Jahren führt sie auf dem Markt vor den Toren von Paris eine der wichtigsten Käsegroßhandlungen , hauptsächlich beliefert sie Käsegeschäfte im In ? und Ausland , aber auch die großen Supermarktketten. Reportage 3 Sophie Dessailly schlüpft in ihre Fleecejacke, verlässt über eine eiserne Wendeltreppe das Büro , wo sie auf gleich acht Bildschirmen über die duftenden Schätze in der unteren Etage wachen kann. Die resolute Frau in den 40-ern leitet den Familienbetrieb mit heute 70 Mitarbeitern, der 1934 in den alten Pariser Hallen, im Zentrum der Stadt, gegründet wurde. " Man muss für diesen Beruf eine echte Leidenschaft mitbringen, bei den Arbeitszeiten, die wir hier haben . Heute morgen war ich um 5 hier und komme abends erst um 19 Uhr raus. Das schluckt enorm viel Zeit, auch im Familienleben." Am Vortag erst war die Frau mit lila Liedschatten und kurz geschnittenem, blond gefärbtem Haar mehr als 300 Kilometer weit ins Zentralmassiv gefahren, um einen ihrer Zulieferer zu besuchen. Auch dies gehört zu ihrem Job. "Wir stehen in Kontakt mit hunderten Zulieferern, wir haben ungefähr 350, von Großproduzenten bis zu ganz Kleinen. Wir führen natürlich alle französischen Käsesorten, die wichtigsten auf jeden Fall und sind Importeure von Käse aus England, der Schweiz, Holland, ja ganz Europa. " Die kalten Monate im Jahr sind für den Käseabsatz die besten. Sophie Dessailly reibt sich angesichts der Hallentemperatur von 5 Grad die Hände und geht zum Renner dieser Jahreszeit, einem Käse der im Jura hergestellt wird: "Jetzt ist die Zeit des Mont d'Or , von Ende Oktober bis Mitte März , der ist verpackt mit Fichtenholz rund herum / Auch wenn wir wissen, dass ein paar Schimmelflecke nicht schlimm sind, damit er sich verkauft muss die Oberfläche halb weiss, halb gelb sein und die Kruste leicht gewellt. " Sie geht weiter an den Wagenrädern Comté vorbei, streicht über den kräftig riechenden Maroille aus Nordfrankreich und biegt ein in den Gang zum gläsernen Keller für die Käsesorten aus dem Zentralmassiv. Die Regale dort sind gut gefüllt mit mächtigen Exemplaren des Laguiole, des Aubrac und des Cantal , Sorten, die auch ins Ausland verkauft werden "Wir haben sogar einen Kunden in Japan. Der kam anfangs im Laufe von 8 Monaten 5 oder 6 Mal vorbei, um sicher zu sein, dass er sich nicht täuscht und dass wir uns gut verstehen. Jetzt gibt er jede Woche eine Bestellung auf und die haltbaren Sorten liefern wir ein oder zwei Mal im Jahr per Schiff. " Sophie Dessailly verschränkt die Arme , blickt einem Mitarbeiter nach, der gerade drei Paletten Ziegenkäse in verschiedenen Reifestadien einem Kunden hinterher trägt ? der Arbeitsmarkt in Rungis, sagt sie , kennt keine Krise: "In Rungis brauchen wir Leute, die arbeiten wollen und nicht herkommen, auf die Uhr schauen und von der 35 Stundenwoche reden. Wer wirklich arbeiten will, kann hier in jedem Betrieb seinen Platz finden und auch vorankommen. Sei es der, der Aufträge schreibt, der , der die Ware entgegen nimmt, der Lieferant oder der Verkäufer , in Rungis ist jeder Beruf wichtig. Jeder hat eine ganz bestimmte Rolle und jede Rolle ist wichtig." Sophie Dessailly misst einen stolzen Meter 80 und hat Schultern, die Lasten auf sich nehmen können . Vielleicht war ihr das eine Hilfe , um sich in dieser Welt von Männern zu behaupten. "Es ist ein sehr offenes und ehrliches Milieu. Natürlich stimmt es, dass es als Frau nicht leicht war. Ich musste gegenüber all diesen Männern erst mal meine Position wirklich einnehmen. Inzwischen geht es aber sehr , sehr gut. Letztlich ziehe ich es vor, mit Männern zu arbeiten, das ist offener, man sagt sich die Dinge ungeschminkter. Ganz ehrlich, bei Frauen ist das ein wenig komplizierter." Sie selbst hat mit Mühe und Not die Schule hinter sich gebracht , war von zu Hause abgehauen , hatte dann nur widerwillig im Familienbetrieb den Job als Telefonfräulein akzeptiert, heute ist sie stolze Unternehmerin. Irgendwie, so klingt es, verdankt sie dies Rungis ,dem Ambiente und den Menschen hier : " Die Leute hier kennen sich, und zwar wirklich gut, in allen Berufen. Es geht sehr, sehr lebhaft zu. Die meisten sind richtig begeisterungsfähig, ob im Fleisch-, im Gemüse- oder im Fischsektor. Rungis ist kein Milieu, wo man groß studiert hat, viele haben von der Pieke auf gelernt. In meinen Augen ist das die beste Schule überhaupt. Die Menschen sind liebenswürdig und lächeln gerne. Hier pulsiert das Leben und alles ist in Bewegung. Und wir Händler lieben unsere Ware, es macht uns echt Spass, sie anderen näher zu bringen . Rungis ist wirklich etwas besonderes, für mich ist es das Glück schlechthin. " Emile Zola, der große Naturalist unter den französischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, hat dem "Bauch von Paris", dem Markttreiben im Herzen der Stadt, ein literarisches Denkmal gesetzt. Geblieben ist von dieser Zeit wenig, allenfalls Sainte Eustache, die Kirche der Händler, und ein paar Kneipen, die mehr schlecht als recht an die Vergangenheit erinnern. An die Zeiten, da der "Bauch von Paris" noch nicht draußen in Rungis gefüllt wurde, zwischen Südautobahn und Flughafen Orly, sondern mitten in der Hauptstadt . Zur alten Zeit gehörte, dass Berühmtheiten aus der Filmbranche und dem Showbusiness denkwürdige Nächte in den Kneipen und Restaurants der Hallen verbrachten. Seit 1969, seit der Markt ausgelagert wurde, sind diese rauschenden Fest seltener geworden. Obwohl es draußen, in Rungis, nicht an Restaurants und Bistros mangelt. Immerhin: Einen Ort gibt es noch für berühmten Besuch. Die "Caves de Rungis", die Weingroßhandlung von Antoine d'Agostino. 75 Jahre alt, täglich ab 5 Uhr auf den Beinen: Reportage 4: Der kleine,rundliche Mann mit Krawatte unter dem frisch gebügelten Arbeitskittel tritt sehr bescheiden und höflich auf. Monsieur d'Agostinos Beine reichen kaum bis auf den Boden, wenn er auf seinem Stuhl hinter seinem Schreibtisch im 1. Stock der Weingroßhandlung sitzt. Die Wand ist gepflastert mit Fotos: "Da ist der ehemalige Direktor der Tour de France, Jean Marie Leblanc, hier der frühere Rennfahrer Jean Pierre Beltoise und hier der Sänger Henri Salvador. Für Henri Salvador war das hier wie eine Kantine. " Der Sohn italienischer Einwanderer ist ganz besonders stolz auf seine Freundschaft mit dem inzwischen verstorbenen Lino Ventura. Ein großes Photo des Schauspielers und seiner behinderten Tochter ziert den Eingang zu seinem Büro "Wir sind heute noch ein paar Getreue , die mit Madame Ventura und ihrer karitativen Organisation für behinderte Kinder weiterarbeiten. Wir organisieren ein paar Veranstaltungen im Jahr, zum Beispiel Radrennen und festliche Abende in Rungis , immer zum Nutzen der Hilfsorganisation. Zuletzt haben wir hier die Miss Wahl des Departements abgehalten, das hat der Organisation immerhin 53 000 Euro gebracht. " Antoine d'Agostino holt mit Mühe eine Magnumflasche Medoc aus dem Regal , in Erinnerung an seine alten Freunde aus dem Weinbaugebiet im Westen Frankreichs. Freunde, denen er vor mehr als 30 Jahren geholfen hatte, in Rungis diese Weinhandlung aufzubauen, die er später dann selbst übernahm. " Ich habe erst 40 Jahre lang in den Obst- und Gemüsehallen gearbeitet. Als ich dann ein gewisses Alter erreicht hatte, habe ich mich für Ware entschieden, die es nicht so eilig hat, verkauft zu werden, die nicht verkommen kann. Also kümmere ich mich jetzt seit 21 Jahren um Wein. Ich bin ja fast hier geboren worden. Mit 14 habe ich begonnen, in den Hallen zu arbeiten. " Die ersten zwanzig Jahre davon noch in den legendären Hallen im Zentrum von Paris. Antoine d Agostinos Begeisterung für diese "guten , alten Zeiten" hält sich aber in Grenzen: "Die Arbeit war damals vor allem viel, viel schwerer , jede einzelne Kiste musste geschleppt werden / Heute leeren sie einen Sattelschlepper in 20 Minuten , damals haben 10 Leute dazu Stunden und Stunden gebraucht. " Der Mann mit den dezent gefärbten Haaren, die von rechts nach links über die Glatze gekämmt sind, ist die Umgänglichkeit in person, bis heute eine Art Bindeglied zwischen der alten und der neuen Zeit, einer , der die alten Hallen kannte und in den heutigen arbeitet: "Die Mentalitäten haben sich natürlich stark verändert , und doch bleibt auch Rungis ein Ort, wo das Wort noch Gewicht hat, auch wenn das nicht mehr ganz so ist, wie früher. Und doch: es ist ein Milieu, wo das gegebene Wort noch wirklich etwas zählt und das erleichtert doch vieles. " Dem 75 Jährigen, der Geselligkeit ganz groß schreibt, geht eines gründlich auf die Nerven: die zunehmenden Verbote in unserer Gesellschaft, die Alkoholkontrollen etwa und die Verteufelung alkoholisierter Getränke. "In Rungis müsste es eigentlich verboten sein, nach einem Geschäftsabschluss einfach auseinander zu gehen. Es müsste so bleiben wie auf den Viehmärkten früher, wo Geschäfte immer mit Essen und Trinken beendet wurden. Wenn sie heute hier in Rungis in die Bistrots gehen, trinken die meisten Cafe, anstatt einen kleinen Weissen. " Er streckt den Arm aus und weist über die drei Meter hohen Stapel von Weinkisten zur Decke des Lagerraums, wo, wie Wimpel nebeneinander, einige Radfahrertrikots hängen, darunter auch ein gelbes: "Das ist Zeichen meiner Liebe zum Radsport, das war immer meine Welt. Früher hatten wir hier sogar ein Team , das hiess " Rungis MIN" und war das Beste der ganzen Region Paris. Ich bin dem Radsport treu geblieben, hab die Alten bewundert, wie Anquetil , Raymond Poulidor kommt heute noch manchmal hier vorbei, der Radsport ist so was wie meine erste Liebe. " Das Alltagsgeschäft der Weingroßhandlung, die Aufträge für Geschenksendungen von Großunternehmen, Champagnerexport nach Italien oder Bestellungen von Restaurants, regeln schon seit Langem Antoine d Agostinos Sohn und drei Mitarbeiter. Der respektierte Seniorchef macht aber weiter , was er immer schon am besten konnte: soziale Kontakte pflegen. Einen Tag ohne Rungis kann er sich nicht vorstellen: "Die Alten, wie ich , wir lieben Rungis einfach. Das hilft uns beim Älterwerden, beschert uns noch eine gewisse Lebensfreude. Ich halte es da mit dem Komiker Fernand Renaud, der sagte : "Wir gehen nicht arbeiten, wir gehen nicht malochen , wir a ?mü -sieren uns ." Literatur 3: "Wir Deutschen pflegen den Menschen nach seiner Leistung zu bewerten. Wir schätzen die Arbeit um ihrer selbst willen. Wir bemessen ihren Wert nach der Gründlichkeit und Sachlichkeit, mit der sie geleistet wird. ... .. Für unser Gefühl erleidet eine Existenz, die nicht in der Arbeit ihre wesentliche Aufgabe sieht, eine gewisse Einbuße an Würde. Wogegen es dem Franzosen menschenunwürdig dünkt, die Maßverhältnisse zwischen Arbeit und Musse zu verletzen. Er möchte, wenn auch in noch so bescheidener Weise, sich des Lebens freuen. Der Genuß des Daseins ist für ihn ein unbezweifelter Wert. Er mißt den Menschen weniger nach Leistungswerten als nach Seinswerten, und er mißt den Staat an seinem Ertrag für das Glück der Gesamtheit." Der Schutzpatron der Jäger ist der Heilige Hubertus, das "Café Saint Hubert" ist das älteste in Rungis, mitten in der Geflügelhalle liegt es und es lockt auch die an, die nebenan arbeiten, in der Fleischhalle. Die stehen dann im "Saint Hubert" im blutverschmierten, weißen Kittel am Tresen. Mächtige Männer, wenn man so will, denn von den acht Milliarden Euro, die in Rungis im Jahr umgesetzt wurden, geht ein Viertel à conto des Fleischsektors. Aber der Wind weht rauher für die Metzger, die Zunft leidet unter Nachwuchssorgen, vor 20 Jahren noch gab es im Großraum Paris dreitausend Metzger, jetzt sind es halb so viele. Reportage 5 Stephane Dupont steht ab 2 Uhr morgens am Eingang seiner Abteilung neben einer mit Papierstapeln, Telefon und Computer überladenen Konsole. Hinter ihm ein dichter, bordeauxroter Wald aus ganzen Rindern und Rinderhälften, durch den Gestalten in weissen Kitteln huschen , über einen Boden, der mit einer Mischung aus Blut und Sägespänen bedeckt ist. Auf dem Gesicht des Chefs der Firma SOVIA liegt ein fast permanentes Lächeln, wenn er zusieht, wie seine Gehilfen, oft zu zweit, die Massen von Fleisch , an Haken hängend, entlang eines komplizierten, an der Decke befestigten Schienensystem Richtung Auslieferung schieben Es sei wie bei den Menschen auch, keines dieser Rinder gleiche einem anderen und das fasziniere ihn nach wie vor, schmunzelt der Enddreissiger mit der Physis eines Rugbyspielers . Beim Aufzählen der Herkunftsregionen seiner Rinderhälften klingt Stolz durch. Wie andere in Rungis , ob beim Obst und Gemüse, beim Käse oder in der Geflügelhalle, vermittelt Stephane Dupont den Eindruck, dass er hier nicht nur seine Ware präsentiert, sondern einen Teil Frankreichs, seine Regionen, ihre vielfältigen Spezialitäten, letztlich ein Stück Zivilisation. An den mit Zetteln und Stempeln bespickten Rinderrümpfen schieben sich jetzt erste Käufer entlang . Ein physischer Kontakt scheint nötig , um herauszufinden , was das ist, "une belle viande", ein schönes Fleisch, so mancher Kunde riecht regelrecht an den gewichtigen Stücken: "Wir brauchen Rinder zwischen 450 und 600 Kilo und sie müssen Muskeln haben , hier in der Region Paris muss man festes Fleisch bieten . Die Muskeln zählen, die Art und Weise, wie die Tiere gemästet wurden, denn das Fleisch muss ein wenig Fett haben, Petersilie, wie wir sagen, damit es vom Geschmack her besser ist . Unsere Kunden, die Metzger, wählen hier ihr Fleisch selbst aus, sie langen es an, um zu sehen , ob es zart ist, wie es zusammengesetzt ist und welche Farbe es hat. " Der Blick des jungen Großhändlers mit den rosigen Wangen geht hinüber zu seinen Kollegen, wo die Verkaufsräume ganz anders aussehen ? dort hört man im Hintergrund die Fleischsägen, hängen links nur ein paar Rippen, rechts Schweine in allen Grössen, in einem Trog liegen Köpfe , daneben sind ausschliesslich Keulen aufgereiht, ein Kunde schleppt, gebeugt , Schweinerippen auf der Schulter nach draussen , Kartons mit Aufschriften aus Irland, Neuseeland oder UK sind zu sehen? nichts von all dem bei Stephane Dupont "Ich arbeite nur mit französischem Fleisch, zu hundert Prozent, das ist eine Ware, die ziemlich kostspielig ist, da kann man nicht allzu viel zerlegen, wir versuchen , möglichst viele ganze Rinder zu verkaufen." Es sind im Schnitt 120 , die der Sohn und Enkelsohn von Viehhändlern aus der Gegend von Le Mans pro Woche verkauft. Im Alter von 20 ist er , wie man so sagt, nach Paris "hinaufgezogen" : " Es ist ein Beruf, den man vor Ort lernen muss. Eine Handelsschule reicht nicht, der Handel mit ganzen Rindern ist ein ganz spezieller Beruf. Ich hab 5, 6 Jahre gebraucht, bis ich alles verstanden hatte. Man muss lernen, den Grad des Fettgehaltes einzuschätzen , ein Rind erkennen können, das die richtige Farbe hat und wenig Knochen, damit es möglichst viel hergibt ." Stephane Dupont ist einer, der nicht weit über die Grenzen Frankreichs hinaus denkt. Die Kritik, wonach weltweit zu viele Anbauflächen zur Produktion von Viehfutter verwendet werden, scheint ihm noch nicht zu Ohren gekommen "Das macht mir keine Sorgen, die Rindfleischproduktion in Frankreich wird Bestand haben. Mich beunruhigt eher das Verbraucherverhalten. Die jungen Leute essen heute weniger Fleisch als die Älteren. Die Jungen werden nicht mehr dazu erzogen, Fleisch zu essen und die Zusammensetzung der Menüs verändert sich. " Literatur 4: "Die französische Kulturidee umgreift das Ganze des Daseins. In dieser Beziehung ist sie die Fortsetzung der antiken Kulturidee. Sie hat dieselbe Spannweite, die vom Materiellen bis zu den idealen Normen, vom Technischen bis zum Sittlichen geht. Man kann sagen: in Frankreich fängt die Zivilisation schon mit dem Essen an. Die Gastronomie ist Teil der Kultur. Die Mode gehört dazu. Die Höflichkeit gehört dazu. Kurz, alle Lebensformen nehmen an dem Nimbus der Zivilisation teil." Rungis - der weltgrösste Markt für Frischprodukte , der Bauch von Paris , der Gaumen Europas ist ein Ort des Überflusses. Nacht für Nacht landen Tonnen von Lebensmitteln in der markteigenen Müllverbrennungsanlage. Wie ließe sich daraus Nutzen ziehen ? Nutzen für die Bedürftigen, von denen die Stadt so viele kennt ? Die "Nationale Vereinigung solidarischer Lebensmittelgeschäfte Frankreichs" hatte eine Antwort. Sie gründete "Mariannes Obst und Gemüsegarten", eine Initiative, die Hilfsorganisationen mit frischem Obst und Gemüse versorgt, auf dass diese die Lebensmittel kostenlos oder allenfalls zu symbolischen Preisen an die Bedürftigen verteilen. Dabei ist "Mariannes Obst und Gemüsegarten" auch Arbeitgeber für Gestrandete, bietet Jobs zur Wiedereingliederung. Arnauld Langlais, Anfang 30, leitet das Projekt, das es auf dem Großmarktgelände seit Jahren gibt. Reportage 6: Halb Acht am Morgen. Arnauld Langlais , in einer abgewetzten Lederjacke, den Schal eng um den Hals geschlungen, kurzes, stoppeliges Haar , steigt aus seinem Kleinwagen, kommt zurück von seiner täglichen Runde bei den Obst- und Gemüsegroßhändlern . Die Lagerhalle der Initiative mit ihren sechs Kühlräumen liegt am äussersten Rande des Großmarktgeländes von Rungis, zwischen einer sechsspurigen Autobahn und den Zuggleisen. "Wir bekommen jeden Morgen vom Obst und Gemüsesektor eine E Mail, die uns sagt, zu welchen Großhändlern wir fahren sollen, nachdem die Kontrolleure, die bei den Großhändlern waren , entschieden haben, welche Ware weggeschmissen werden muss. Wenn die Kontrolleure sehen, dass man mit einem Teil der Ware noch was anfangen kann, informieren sie die Verwaltung und die gibt uns die Information weiter." Doch die Frischware, die täglich in "Mariannes Obst und Gemüsegarten" aussortiert und neu verpackt wird, reicht für die Bedürfnisse der zahlreichen Hilfsorganisationen in der 11 Millionen Region Paris nicht aus. Also kauft Arnauld Langlais jeden Morgen, bevor das 16 köpfige Team der Wiedereingliederungsmassnahme eintrifft, bei den Großhändlern noch hinzu: " Einige Großhändler waren anfangs von unserer Initiative irgendwie angetan und mit denen arbeiten wir jetzt zusammen. Ich habe zur Zeit drei auf dem Markt, mit denen wir ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Nach anderthalb Jahren kennt man sich ja langsam und diese Leute unterstützen unser Projekt. / Im Grunde sind wir Kunden, wie andere auch, kaufen zum Marktpreis, aber wir können schon handeln und da diese Großhändler das Ziel unseres Projekts verstanden haben, machen sie manchmal schon auch Zugeständnisse. " Arnauld , einer der jüngsten im Team , strahlt großes Engagement aus , schätzt sich sichtlich glücklich, dieses Projekt leiten zu können, dessen Idee auf seine Diplomarbeit zurückgeht : "Ich habe die Machbarkeitsstudie dieses Projekts erstellt. Und am Ende, nachdem ich meine Arbeit abgeliefert hatte, gab es grünes Licht. Die zuständige Behörde hat dem "Verband der solidarischen Lebensmittelgeschäfte" gesagt: macht dieses Projekt ! Ich hatte einen Masterstudiengang hinter mir , "Abfallmanagement und ? verwertung" . Ich hab wirklich Glück gehabt , sozusagen am Anfang des Projekts zu stehen , es dann auch umsetzen zu können, zu sehen , wie es aufgebaut wird und auch funktioniert. Ich glaube , nicht viele Studenten haben eine solche Chance. " Zwei Mitarbeiter haben sich bereits aufgemacht, die in der Nacht angebotene Ware in den Obst- und Gemüsehallen abzuholen. Die anderen, darunter ältere Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter ohne Job , ein Jugendlicher ohne Ausbildung , beginnen in weissen Kitteln und mit Gummihandschuhen in den zwei grössten Kühlräumen die vom Vortag verbliebene Ware zu sortieren . Honigmelonen landen in verschiedenen Körben, Lauchstengel werden unter die Lupe genommen - täglich bekommt die Initiative rund 3 Tonnen frisches Gemüse und Obst , wovon am Ende etwa eine Tonne übrig bleibt , eine weitere muss zur Zeit hinzugekauft werden . "Hier haben wir Fenchel und frische Zwiebeln, das wird heute morgen auch noch sortiert / dort sind noch ein paar Kisten Äpfel und Annanas / Manchmal wird das weggeworfen, weil ein paar Früchte zu reif sind, zwei oder drei in einer Kiste. Es kommt auch vor, dass in einer Palette einige Kisten beschädigt wurden, auch das ist für die Großhändler ein Problem . Es kann auch eine Frage der Grösse sein oder der Farbe ? es gibt alle möglichen Gründe, warum die Dinge weggeworfen werden." Der junge Mann streicht sich über seinen Dreitagebart und schmunzelt, wenn er sich an die Anfänge erinnert, als es galt die Direktion des Großmarktes Rungis von dem Projekt zu überzeugen . "Zunächst waren sie skeptisch über unser Kommen, weil sie fürchteten, dass dadurch vor allem die Verschwendung auf dem Großmarkt in den Vordergrund gerückt wird. Doch wir konnten sie überzeugen, dass gerade andersrum ein Schuh draus wird . Verschwendung gibt es so oder so in Rungis, angesichts der immensen Anzahl von Tonnen, die hier umgeschlagen werden. Wenn die Direktion aber Projekte unserer Art unterstützt, zeigt sie letztlich, dass sie die Verschwendung einschränken will und unsere Initiative wird so für das Image des Großmarkts ein Trumpf. " Arnauld Langlais fragt, ob man denn auch in der Blumenhalle von Rungis gewesen sei, als wäre es unverzeihlich, dieses Stück Poesie verpasst zu haben. Er genehmigt sich seinen dritten Cafe an diesem Morgen, blättert in einem Packen von Listen - die Bestellungen der Hilfsorganisationen für die nächste Woche ? und gibt letzte Anweisungen für den Ablauf des Arbeitstags: "Ich fühl mich in Rungis mittlerweile wirklich integriert, es ist eine Welt die mir gefällt. Ich bin jeden Morgen froh, wenn ich nach Rungis komme, die Großhändler besuche und mit ihnen in Verbindung bleibe. Die Leute sind warmherzig und offen und ich bin sehr glücklich, diese Welt zu entdecken. Zugleich hat alles einen anderen Rhythmus, halb in der Nacht, das mag ich. Man lebt in Rungis ein wenig wie in einer Blase, mir gefällt diese Stimmung. " 2 weitere der 4 Kleinlaster verlassen die Lagerhalle, liefern das Gemüse und Obst, teilweise schon individuell in Plastiktaschen verpackt, an mehrere der 30 verschiedenen Orte im Großraum Paris, wo Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden - die Nachfrage ist steigend . Vor dem Winter hat "Mariannes Obst und Gemüsegarten" sogar noch in einen großen Laster investiert . Arnauld Langlais setzt zum Abschied eine resignierte Mine auf, als wollte er sagen: leider hat mein Projekt immer mehr Erfolg. Rungis, die Markthallen von Paris, sind auch in ihrem modernen Gewand mehr als Rinderhälften , Käselaiber und Entenstopfleber. Ein Stück dieser Welt haben wir Ihnen vorgestellt mit der heutigen Ausgabe der "Gesichter Europas". Die Reportagen hat Hans Woller geschrieben, die Musik hat Babette Michel ausgesucht, die Literaturpassagen stammten aus dem Buch "Die Französische Kultur" von Ernst Robert Curtius und das Vergnügen, Sie durch diese Sendung zu begleiten hatte Ursula Welter. Ich wünsche Ihnen ein genußvolles Wochenende. ----------------- 2